Liebe, Lust & Lösegeld

Mörderische Höhepunkte

herausgegeben von Ingrid Schmitz

LangenMüller

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© für das eBook: 2016 LangenMüller in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

© für die Originalausgabe: 2008 LangenMüller in der F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

Umschlagmotiv: gettyimages, München

eBook-Produktion: F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

ISBN 978-3-7844-8317-7

Inhalt

Nessa Altura: Der Mammograf

Oliver Buslau: Der Spanner

Sabine Deitmer: Alles Verrückte

Angela Eßer: Straßen bei Nacht

Nina George: Der perfekte Mann

Carsten Germis: 96 Matching-Punkte

Norbert Horst: Auge in Auge

Gabriele Keiser: Liebesgrüße

Beatrix M. Kramlovsky: Worin ich gut bin

Ralf Kramp: Schöne Aussichten

Tatjana Kruse: Teamwork

Sandra Lüpkes: Einer geht noch rein

Sabina Naber: Rollentausch

Niklaus Schmid: Lieben Sie Katzen, Herr Nachbar?

Ingrid Schmitz: Im Freien

Gabriele Seewald: Gute-Nacht-Geschichte

Klaus Stickelbroeck: Tödliches Vorspiel

Die Autorinnen und Autoren

Der Mammograf

Nessa Altura

Ferdinand war Fotograf, wenn er im Dienst war. Wenn er Urlaub hatte, betrieb er einen anderen Beruf. Hatte sich spezialisiert. Er zählte nicht mehr zu den Jüngsten. Im Gegenteil – im Fotoatelier war er der Älteste, der Senior, wie man das rücksichtsvoll nannte. Spezialgebiet: Porträts. Darin konnte ihm keiner das Wasser reichen. Immer rief man nach ihm, wenn es galt, anspruchsvolle Fotos für Bewerbungen, Liebesgaben oder Familienpatriarchen zu machen.

Er wollte Menschen fotografieren. Liebte Ausschnitte, die etwas vom Charakter enthüllten. Teile von Menschen. Gesichter. Jedenfalls im Arbeitsalltag.

Im Urlaub wollte er ebenfalls Teile von Menschen fotografieren, aber ganz andere – im Urlaub war Ferdinand Mammograf. Am Strand war das kein Problem, besonders nicht in den Strandbereichen, die der Freikörperkultur gewidmet waren. Ferdinand hob dann seine Kamera, fragte freundlich, ob er ein Porträt machen dürfe, überreichte sein Kärtchen. Wenn je einmal eine nachfragte, was nicht häufig vorkam, verschickte er das Porträt. Die Tatsache, dass er neben den Gesichtern auch das, was darunter war, fotografierte, hatte noch nie zu Problemen geführt. Dass im Labor die Köpfe abgeschnitten wurden, konnte keiner wissen.

Diesmal machte er Urlaub in Österreich, in der Vorsaison. Ausgesucht hätte er sich die Alpen nicht, aber ein alter Klassenkamerad hatte ihm sein Apartment angeboten, gratis, und da hatte Ferdinand nicht Nein sagen können. Zumal zurzeit Ebbe in seiner Kasse herrschte. Sylt im letzten Jahr war ein teures Pflaster gewesen.

Gab es Naturparadiese in den Bergen? Sicher, auf den Karten waren die Naturschutzgebiete ausgewiesen, aber das waren nicht die Paradiese, die Ferdinand meinte. Wo seine Modelle finden? Sennerinnen auf Almen? Gab es das überhaupt noch? Überdies war es für den Viehauftrieb viel zu früh im Jahr, auch die Freibäder waren noch geschlossen.

Wehmütig dachte Ferdinand an seine Sammlung. Da lagen sie, zu Hause – sortiert nach Birnen, Melonen, Äpfeln, Tomaten, Pflaumen, Kirschen –, in flachen Schubladen, Negative über Negative, Farbabzüge, Schwarz-Weiß-Fotos, Dias. Von jedem etwas, und immer paarweise.

Und aus diesem Urlaub sollte nichts hinzukommen? Das konnte, das durfte nicht sein, dachte Ferdinand. In seinem Alter war keine einzige Urlaubssaison zu verschwenden. Er strengte seine grauen Zellen, die unterhalb seiner noch dichten Haar­pracht wohnten, mächtig an. Ferdinand war ein attraktiver Mann. Das kam ihm auf der Jagd nach Wild vor der Linse zupass.

Im Wellenbad von Alpmaden? Geschenkt – in Hallenbädern zogen die Frauen sich nicht aus. In der Hotelsauna? Lächerlich – dort hätte man ihn kaum mit einer Kamera hineingelassen. Auf den Sonnenterrassen in den Bergstationen? Man hätte es versuchen können, aber Ferdinand litt unter Höhenangst und es war ihm ein Graus, sich eine Bergfahrt in einem Sessellift oder gar in einer Gondel auch nur vorzustellen. Nächtens an erleuchteten Hotelfenstern lauern? Eine Möglichkeit, gewiss, aber Ferdinand fühlte sich zu alt dafür. Das hatte er in seiner Jugend getan und so manchen Fund gemacht … Er dachte lächelnd an das Avocado-Paar, das er in Berlin ergattert hatte, als die Stadt noch nicht die wirbelnde Hauptstadt von heute gewesen war. Avocados waren selten. Es brauchte dazu dieses gemüsige, ölreiche Etwas reifer Frauen …

Vorsicht, Ferdinand, rief er sich zu, gerate nicht ins Schwärmen, sondern denk praktisch! Irgendetwas mussten doch auch die Gebirgsregionen zu bieten haben. Vielleicht konnte er eine neue Rubrik aufmachen.

Enzianformen? So tütig …? Esskastanien? Nein, die wuchsen in Österreich nicht, soweit er informiert war. Tannenzapfen? Schon eher. Aber zuerst musste er die Vorlagen haben, danach konnte er sich den Kopf über die Rubrifizierung zerbrechen.

Schließlich entschied Ferdinand sich für die Miedergeschäfte. Nicht eben originell, zugegeben, aber irgendwo musste man beginnen. Er wählte die kleine Kodak im Zigarettenschachtelformat. Setzte den gestern erstandenen Tirolerhut auf den Kopf – man brauchte schließlich immer etwas, um das Corpus Delicti abzudecken, falls man in Gefahr geriet – und verließ das Apartmenthaus zielgerichteten Schrittes. In Alpmaden mussten doch betuchte weibliche Feriengäste zu finden sein, die die Zeit in den Läden am Ort totschlugen – nicht umsonst gab es da ein Spielkasino und die vielen Bankhäuser, in denen die Männer ihr Schwarzgeld einzahlten, während ihre Frauen versuchten, es auszugeben. Vielleicht gab es ja auch die eine oder andere Bäuerin, die zum Miedereinkauf von den abgelegenen Höfen in die tal­seitigen Orte stieg, um sich dort zu versorgen. Oder gut ausgestattete Kellnerinnen, die Halt brauchten, wenn sie die Maßkrüge schleppten, oder auch ganz junge Mädchen, die in der guten Gebirgsluft plötzlich zur Frau heranreiften …

Ferdinands Laune besserte sich zusehends. Er betrat forschen Schrittes eine Kaffeebar, die einem kleinen, aber feinen Wäschegeschäft gegenüberlag. Die schmale Gasse war munter und belebt.

Ferdinand beobachtete Menschen aller Art, die schwatzend umherschlenderten, von links nach rechts bummelten, um die eine oder andere Aus­lage – Schmuck aus Halbedelsteinen, Speisekarten, Schnitzereien, Schinken, Landhausmode, Postkarten – zu betrachten. Sah Wanderern nach, die Kniebundhosen trugen, musterte Tirolerhüte mit wippenden Gamsbärten, studierte wippende T-Shirts, wippende Äpfelchen, wippende Gesäße in Bermuda­shorts, wippende kurze Röckchen mit Söckchen darunter … Vielleicht hätte er sich lieber auf Knie spezialisieren sollen, es gab da ein paar fototechnisch interessante Exemplare … Aber nein, er konnte von seiner Berufung nicht lassen, für alles andere war es schon viel zu spät. Schuster, bleib bei deinem Leisten, sagte er sich.

Niemand wollte in das Wäschegeschäft gehen. Anscheinend hatten alle Touristinnen ihre besten Stücke von zu Hause mitgebracht, sodass kein akuter Bedarf bestand. Ferdinand fragte sich, wie lange das Geschäft wohl überleben würde. Fast bekam er Mitleid mit der Besitzerin, die er durch die Glasscheibe des Schaufensters apathisch hinter ihrer ­Theke stehen sah. Bald würde die arme Frau um einen Kredit bitten müssen. Körbchengröße D, das sah sein erfahrenes Auge sofort.

Ferdinand gab sich einen Ruck. So erfolglos durfte der Nachmittag nicht beginnen. Er zahlte seinen Kaffee und seine Butterbrezel, strich sich die Krümel aus dem Mundwinkel und betrat das verwaiste Geschäft.

»Pfüad S’ Gott, der Herr!«

Ferdinand lüftete den Tirolerhut. »Ich suche ein Mitbringsel für meine Frau«, sagte er direkt in das ­erfreute Gesicht der Ladnerin hinein. »Ein Dirndl habe ich schon gekauft, aber nun brauche ich ein passendes Mieder dazu.«

Die Frau nickte, wartete.

»Das Dirndl«, sagte Ferdinand, »ist – ähem – ziemlich freizügig, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich brauche etwas, dass den – ähem – Busen sexy macht, so wie …«, er räusperte sich, »… Früchte auf einem Tablett.«

Er war rot geworden.

Die Ladnerin lächelte milde. Ihr gefiel der Herr mit dem dichten grauen Haar … warum war er wohl ohne seine Frau in den Urlaub gefahren?

»Sie hobn das Dirndl dabei?«, fragte sie geschäftsmäßig.

»Nein, es … es muss geändert werden.« Ferdinand war heilfroh, dass ihm das eingefallen war. »Morgen reise ich ab«, sagte er schnell, »es wird heute Abend fertig. Der Ausschnitt ist ungefähr so.« Er fuhr mit seinen Zeigefingern von außen nach innen über seine beiden unter dem Hemd versteckten Brustwarzen.

»Welche Größe?«, erkundigte sich die Ladnerin, »Unterbrust, Körbchen?«

»Ich weiß es nicht, leider. So ungefähr Ihre Größe, schätze ich.«

Die Ladnerin nickte. Dass die Männer die richtigen Größen wussten, kam selten vor. Immer kauften sie zu klein oder zu groß und ihre Frauen kamen später, um umzutauschen.

»Wir hobn allerhond do, wenn Sie sich bittschön dort drüben hin bemühen wolln«, sagte sie freundlich, »dann zeig ich Ihnen die Modelle. Solche Dirndlmieder san net ganz billig, das wissen Sie ­sicher.«

»Die Dirndl auch nicht«, meinte Ferdinand treuherzig.

Sie zog verschiedene Schubladen auf, holte schließlich eine heraus, platzierte sie auf dem Ladentisch und fuhr mit schnellen Fingern durch Batist und Spitze, um routiniert die Etiketten mit den Größenangaben der Hersteller umzuwenden.

»Dies hier«, sagte sie, »und das hier, und das hier auch …«

Ferdinand besah sich interessiert die Modelle – geblümte, reinweiße, hautfarbene und lochsticke­reiverzierte Korsagen. Spucke sammelte sich in seinem Mund, während er sich weibliches Fleisch, wohlig geschmiegt in die offenherzigen Körbchen, vorstellte.

Die Ladnerin hatte eine Andeutung von Sommersprossen im Dekolleté ihres Blüschens.

Sie hielt sich die Blümchenkorsage, auf die Ferdinand deutete, vor die Brust.

»Hübsch«, machte Ferdinand, führte Zeigefinger und Daumen an die gespitzten Lippen und küsste in die Ladenluft.

Die Ladnerin lächelte. Ein netter Typ, ein feiner Herr. Und großzügig, das sah man gleich. Machte seiner Frau teure Geschenke, außerordentlich sympathisch.

»Ich bin mir nicht sicher«, murmelte Ferdinand nachdenklich, »ob dieses Spitzenrändchen hier nicht doch aus dem Dirndlausschnitt herausschauen würde, es kommt mir etwas zu hoch vor …«

Die Frau blieb regungslos stehen wie eine habsburgische Statue, während Ferdinand mit schräg gestelltem Kopf und Kennerblick die Spitzenrüsche des Mieders in Augenschein nahm.

»Im Dirndlgeschäft war die Verkäuferin so freundlich, das Dirndl selbst anzuziehen«, erzählte er und ließ seinen Charme blitzen, »sodass ich es mir an meiner Frau vorstellen konnte. Ich habe den Ausschnitt genau in Erinnerung – ich habe ein vorzüg­liches optisches Gedächtnis.«LZ

Die Ladnerin machte es ihm nicht leicht.

»Ich bin nämlich Künstler«, fuhr er leichthin fort, »Bildmaler. In Düsseldorf. Meine Bilder gehen bei den oberen Zehntausend weg wie warme Sem­meln …« Er lächelte. Der Begriff ›»Semmeln«‹ im Zusammenhang mit seiner Leidenschaft amüsierte ihn.

Ein Künstler, dachte die Ladnerin. Interessant. Die feinen Hände hatte sie natürlich gleich bemerkt.

»Wäre es zu viel verlangt«, fragte Ferdinand und sah ihr direkt in die veilchenblauen Augen, »wenn Sie das Mieder für mich anprobieren würden?«

Die Ladnerin errötete. Überlegte blitzschnell. Die Mieder waren teuer, der Herr hatte Geld. Sie hatte in den letzten zwei Tagen kein einziges Stück verkauft. Die Ladenmiete in der Innenstadt war hoch, die Konkurrenz hart.

Ferdinand sah, wie es in ihr arbeitete. »Keine Sorge«, sagte er, »wenn Kundschaft kommt, werde ich Sie würdig vertreten, während Sie in der Kabine sind. Ich kann übrigens gut verkaufen, das können Sie mir glauben, in meinem Beruf muss man das auch können.« Er zwinkerte ihr zu, ganz leicht, eher so, als sei es versehentlich geschehen.

Die Ladnerin war entzückt, dass der Künstler in ihm sich mit der Verkäuferin in ihr auf eine Stufe begab. »Welches?«, fragte sie.

»Alle drei«, antwortete er schwungvoll, »da ist doch eines schöner als das andere. Sie kaufen wirklich gut ein, mit Geschmack, das muss man sagen.«

Die Ladnerin nahm die drei Teile in die Hand und ging auf eine der zwei Kabinen zu. »Es dauert nur einen Moment. Wenn Sie sich so lange setzen wollen …« Sie deutete auf einen Rokokostuhl, der in einer Ecke stand.

Ferdinand setzte sich und legte den Hut auf seinen Schoß. Er zog seine Kamera aus der Rocktasche und machte sie aufnahmebereit. »Ich will nachher noch ein paar Schnappschüsse machen«, sprach er zum zugezogenen Vorhang der Kabine hin, »damit ich meiner Frau daheim zeigen kann, wie schön es hier bei Ihnen in Alpmaden ist. Sie hat sich ja ein Schädeltrauma geholt, die Ärmste, dabei war sie gar nicht schuld. Ein junger Rowdy ist ihr einfach ins Heck unseres Daimlers gefahren …« Er plauderte weiter, damit die Ladnerin beim Umziehen bei Laune blieb. Geschafft!

Die Kamera war schussbereit.

Er schlich seitwärts auf die Kabine zu. Hoffentlich war der Spalt am Rande des Vorhanges groß genug.

Ratsch! Die Ladnerin riss den Vorhang zurück. Ferdinand schaffte es gerade noch auf den Stuhl, den Hut auf dem Bauch. Das war knapp gewesen!

Die Ladnerin präsentierte das Blümchenmieder. Ihre Brüste ruhten sommersprossig-jungfräulich im Batistbett. Was für Prachtexemplare! Körbchengröße E, er hatte sie unterschätzt.

»Ent-zü-ckend!«, rief er aus.

Der Ladnerin war es ein wenig peinlich, das konnte er spüren. Ferdinand war nicht unsensibel, er mochte die Frauen, verstand sie, liebte sie – ihre Frontformen zumindest.

»Sie machen das großartig«, sagte er warm, »aber das Stück, so schön es auch ist, geht nicht. Die Träger sind zu mittig angesetzt, verstehen Sie. Sie würden vorschauen.«

Die Ladnerin drehte sich wortlos um und ging zurück in die Kabine. Nicht nur ihre Brüste, auch ihre Porundungen waren ansprechend, dachte er anerkennend. Flugs begab er sich wieder in Pirschposition. Noch drei lautlose Schritte – sie würde gerade eben die Haken geöffnet haben und … ah, ooh, Ferdinand sah durch den Schlitz, wie der Busen seine Schwerkraft wiedergewann. Größe E, Mangos! Er hatte es gewusst! Etwas in ihm triumphierte, er musste an sich halten, um nicht aufzujuchzen.

Mangos waren kostbar. Er hatte nur drei Zwillingspaare davon; eines gewonnen in Mombasa, rot verbrannt, das zweite schwedisch, blassrosa, das dritte Foto geschossen in, ach, es fiel ihm jetzt nicht ein, sein Gedächtnis ließ nach. Egal – er hatte jetzt Besseres zu tun als nachzudenken. Lautlos schraubten seine Finger am Zoom …LZ

Ratsch! Der Vorhang öffnete sich.

Diese Frau war wirklich schnell! Womöglich probierte sie ihre neuen Büstenhalter im Akkord an, wenn sie von den Einkaufsmessen zurückkam. Ferdinand hatte nicht einmal mehr Zeit genug, die ­Kodak in die Hosentasche gleiten zu lassen. In gespielter Hilflosigkeit hielt er sie in die Höhe und rief: »Batterie alle, verdammt! Muss nachher noch ins Fotogeschäft!«

Die Ladnerin hatte Lunte gerochen. Sie sah ihn mit einem Anflug von Misstrauen an. Doch Ferdinand konnte sich bei den Augen nicht aufhalten. Durch die Lochstickerei blitzte das Brustfleisch appetitlich hervor. Es war, als seien die Sommersprossen einzeln gerahmt worden. Die Träger saßen seitlich und hoben die Mangos possierlich ins Sonnenlicht. Ferdinand schnüffelte. Dieses unnachahmliche, leicht vergorene Tropenaroma betörte seine Sinne. Ferdinand hätte zubeißen mögen … Heißhunger überfiel ihn; die Butterbrezel war doch ein zu kärgliches Frühstück gewesen.

»Hübsch«, murmelte er, am Rande seiner Selbstbeherrschung.

Diese Frau war wirklich stark. Ein Phänomen. Das geborene Wäschemodell. Für große Größen. »Sie sollten Modell stehen«, sagte er schwach, in seinen Händen zitterte die Kamera, »Sie haben wirklich ­Talent!«

Die Ladnerin war erfolgreich abgelenkt, drehte sich anmutig im Kreis. Die Mangos schaukelten. Davon musste er ein Bild haben! Verlangen schoss ihm in die Lenden. Hoffentlich bemerkte sie es nicht, zum Glück hatte er den Hut. Schweißperlen erschienen auf seiner Stirn, in seinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander.

»Dieses hier ist schon sehr gut«, sagte er, »aber das Nächste möchte ich auch noch sehen, wenn es Ihnen nicht zu lästig ist. Hautfarben, schlicht, das ist es eigentlich, was mir am besten gefällt.«

Die Ladnerin nickte.

Seine letzte Chance! Jetzt hieß es zugreifen, oder die ganze Mühe war umsonst gewesen.

Die Ladnerin schloss den Vorhang hinter sich, ließ aber in der Mitte einen deutlich sichtbaren Spalt frei. Sie wurde jetzt flüchtig, wahrscheinlich reichte es ihr. Sie drehte ihm den Rücken zu, aber er sah beides im Spiegel – Vorder- und Rückseite, auf deren schön gepolsterter Sommersprossenhaut jetzt kräf­tige Finger erschienen, um am rückwärtigen Häkchenverschluss zu nesteln. Ferdinand blickte gebannt auf den Spiegel. Das Mieder fiel. Die Mangos auch.

Ovale, orangefarbene Früchte mit wunderbaren hellrosa Stielen in zartbraun marmorierten Fruchtständen.

Ferdinand taumelte. Die Augen der Ladnerin trafen die seinen im Spiegel. Ferdinand hob die Kamera wie unter Zwang. Plopp. Schuss. Das Bild war im Kasten.

In Ferdinands Wäsche breitete sich die wohlbekannte feuchte Wärme aus. Gebückt humpelte er zu seinem Stuhl. Setzte sich zitternd.

Die Ladnerin erschien völlig angezogen, das hautfarbene Mieder, das Lochstickereimieder und das Batistmieder in der Hand. Sie legte die drei wortlos auf den Ladentisch. Bückte sich und zog eine wei­tere Schublade auf. Herrenunterhosen aus feinstem Makoripp. Mit seitlichem Eingriff.

»Größe sieben?«, fragte sie ausdruckslos.

Ferdinand nickte ergeben.

Sie drückte ihm das Teil in die Hand und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Kabine, die sie soeben geräumt hatte.

Gehorsam wechselte Ferdinand die Wäsche.

Als er wieder herauskam, hatte sie die Rechnung schon fertig. Drei Mieder, ein Markenherrenslip – ein stattlicher Betrag. Sie schob ihm den Zettel mit den addierten Zahlen hin, sodass er die Endsumme nachprüfen konnte. Ferdinand rechnete nach, schluckte trocken.

Sie ließ ihm Zeit. Als er fertig war, löste sie den Durchschlag und spießte die Kopie auf den Nagel neben der Kasse, auf dem schon etliche Rechnungsbelege steckten. Nahm erneut den Kugelschreiber in die Hand und malte fein säuberlich zwei Nullen hinter die Endsumme auf Ferdinands Original, während zwischen ihren Ladnerinnenlippen eine rosa Zungenspitze erschien.

»Die gesamte Gendarmerie von Alpmaden kauft bei mir ihre Weihnachtsgeschenke«, sagte sie leichthin.

Ferdinands Bargeld reichte bei Weitem nicht; er muss­te mit der Karte zahlen. Es war nur zu deutlich, wer hier bald einen Kredit würde beantragen müssen.

Teure Mangos, dachte Ferdinand. Ihm schwindelte. Waren sie es wert gewesen?

Er würde es erst in der Dunkelkammer erfahren.

Der Spanner

Oliver Buslau

Jens spürte, wie sich in seinem reglosen Körper Wärme ausbreitete, langsam durch die Adern floss und die hintersten Verwinkelungen der Blutgefäße erreichte.

Das Warten hatte sich gelohnt!

Draußen, im prallen Sonnenschein des späten Nachmittags, leuchteten weiß die Bungalows, die sich wie eine Kette von Schuhschachteln unter dem gleichmäßig blauen Himmel aneinanderreihten. Ganz vorne lag ein Stück Rasen im Halbschatten. Mitten in einem hellgrünen Dreieck war eine Frau in T-Shirt und Jeans damit beschäftigt, eine Liege zurechtzurücken.

Jens hatte die Rothaarige da unten schon im Bikini gesehen – feengleich oder wie eine antike Schönheit, deren blasser Teint in der Sonne wie Marmor leuchtete. Jens mochte Frauen mit fast weißer Haut, sie waren ihm viel lieber als dunkel gebräunte Sonnenstudioerzeugnisse.

Er hatte beobachtet, mit welch weichen Bewegungen sie sich auf der Liege niederließ, wie sie geschickt das Oberteil herunterstreifte und sich auf den Bauch legte. Vor ein, zwei Wochen hatte Jens das Glück gehabt, ganz kurz einen Blick auf ihren nackten Busen werfen zu können, und dieses Bild war in seinem Kopf geblieben: die weißen Rundungen mit einem Ansatz, wie mit einem Bleistift hingestrichelt, dazu die überraschend dunklen Brustwarzen, ihr dreieckiges Gesicht, eingerahmt von einer Flut grellroter Locken.

Jens blieb vom Fenster weg. Er musste vorsichtig sein. Vor zwei Wochen oder so hatte er ohne Hemmungen hinuntergeschaut, hatte mitbekommen, wie die Frau das bereitliegende Mobiltelefon nahm, eine Nummer wählte, und als es bei ihm klingelte, war Jens’ Verstand immer noch so träge gewesen, dass er nicht begriff, was passierte. Er lief nur durch die Wohnung, atmete durch den trockenen Mund, verärgert über die Störung, und als er sein Telefon endlich gefunden hatte, sich meldete und dabei zum Fenster zurückhastete, hörte er nur ein Wort: »Spanner!«

Zurück am Fenster sah er, dass sie sich das Oberteil wieder angezogen hatte und erzürnt hinaufsah, das Telefon am Ohr. Jens, von einer Welle der Scham überkommen, wusste nicht, was er sagen sollte, aber stattdessen sprach sie. Er konnte von hier oben aus sehen, wie sich ihr Mund bewegte, und ihre Stimme im Telefon sagte: »Könnten Sie bitte aufhören, mich zu beobachten?« Und damit legte sie auf.

Seitdem war er umsichtiger, er konnte es aber einfach nicht lassen, ihr zuzusehen, wie sie sich im Garten aufhielt, manchmal zusammen mit ihrem bulligen Mann, der aber zum Glück selten dabei war. Er schien viel zu arbeiten, war immer mit dem silberfarbenen Mercedes unterwegs. Kinder hatten die beiden offenbar keine, und die Frau – Jens hatte durch einen verstohlenen Blick auf den Briefkasten herausgefunden, dass sie Yvonne hieß – war meist zu Hause. Zumindest dann, wenn Jens, der in einer Softwarefirma als Techniker arbeitete, freihatte und das Fenster im Auge behielt.

Hin und wieder wurde er, hungrig nach kleinen Gelegenheiten, bei denen er Yvonne schemenhaft hinter den Schlafzimmergardinen sehen konnte, auch Zeuge eines Ehekrachs. Wenn es warm war wie in diesem Sommer, wenn die Fenster offen standen, drang dann Geschrei herüber. Irgendwann war es aber wieder still dort drüben. Wahrscheinlich die große Versöhnung im Bett, dachte Jens dann, suchte verkrampft die Fenster ab, aber die einzigen Bilder, die er sah, waren Erinnerungen aus seiner eigenen Ehe, wo es diese Versöhnungen auch gegeben hatte. Später immer seltener; und irgendwann hatte ihn seine Frau verlassen.

Yvonne verschwand im Haus. Der Mercedes stand in der Einfahrt, dahinter bewegte sich jemand. Die Heckklappe stand offen. Wurde da Gepäck ins Auto getragen?

Sicher stand der Mann kurz vor einer neuen Reise. Wenn er mehrere Tage wegblieb, würde Yvonne vielleicht das ganze Wochenende im Garten verbringen.

Jens trat ein paar Schritte zurück und wandte sich dem Flur zu. Über die Treppe gelangte er auf den Dachboden. Hier oben gab es ein Fenster, das einen besseren Beobachtungswinkel bot als der Blick vom Wohnzimmer. Jens musste sich an ein paar alten Möbeln und Kisten mit ausrangiertem Hausrat vorbeiquetschen. Dahinter stand der Sessel, den er eigens für seine Beobachtungen aufgestellt hatte. Auf der Fensterbank wartete schon ein Fernglas, daneben – seit ein paar Tagen – etwas ganz Neues: ein Nachtsichtgerät. So konnte er auch in fast vollständiger Dunkelheit erkennen, wie Yvonne über die Terrasse ging oder sich aus dem Schlafzimmerfenster lehnte. Als heller Schatten inmitten eines wabernden grünen Sees bewegte sie sich dann wie eine Außerirdische oder ein übernatürliches Wesen aus einem Fantasyfilm. Wie eine Elfenkönigin, die nachts durch ihren geheimnisvollen Garten streifte. Zuerst war Jens durch die Verfremdung irritiert gewesen, aber je mehr er dieses Gerät nutzte, desto mehr stachelte das, was er sah, seine Fantasie und seine Be­gierde an.

Der Wagen war verschwunden, die Terrassentür geschlossen.

Jens war wie vor den Kopf geschlagen.

Waren sie etwa beide über das Wochenende weggefahren? Oder gar in Urlaub? Warum war Yvonne dann überhaupt noch in den Garten gegangen?

Er suchte das Haus ab. Seine Hände schwitzten. Die Liege stand immer noch mitten in dem hellen Lichtfleck auf dem Rasen. Nichts geschah. Alles wirkte wie tot und erstarrt.

Enttäuscht ließ er das Fernglas sinken, und genau in dem Moment, als er dem Haus einen letzten schmerzlichen Blick zuwerfen wollte, trat Yvonne hinaus – im grünen Bikini, barfuß. Jens’ Herz schien einen Moment auszusetzen, so überrascht war er. Sofort durchflutete ihn wieder die Erregung. Schnell hatte er das Glas am Auge und peilte Yvonne an, die sich nun niederließ, die schnelle Bewegung mit dem Oberteil vollführte und der Sonne und Jens’ Blick ihren makellosen Marmorrücken darbot. Sie war nicht gefahren. Nur ihr Mann.

Während Jens an den Okularen drehte und versuchte, noch mehr Schärfe in das Bild zu bekommen, obwohl er schon fast die Sommersprossen auf ­Yvonnes Haut zählen konnte, fantasierte er, was geschehen sein könnte. Yvonnes Mann hatte viel Gepäck dabeigehabt. Mehr als für eine Geschäftsreise. Und noch gestern hatten sie sich gestritten. Vielleicht hatte er sie verlassen. Vielleicht war sie frei. Frei und schutzlos. Jens atmete schwer und presse das Fernglas so fest an die Augen, dass es schmerzte.

Irgendwann, viel später, als die Schatten schon länger wurden, drehte sich Yvonne, offenbar dösend, auf den Rücken und ließ das Oberteil neben die Liege rutschen, und nichts als der knappe Bikini­slip störte den Blick auf die weiße Figur ihres Körpers.

Jens konnte es kaum fassen. Sie glaubt, ich sei nicht zu Hause, dachte er. Sie hat vielleicht kurz die Fenster abgesucht und mich nicht gesehen. Und mit dem Dachbodenfenster hier oben rechnet sie nicht. Er atmete schneller. Die Luft schmeckte nach Staub.

Unten im Haus klingelte das Telefon.

Jens spürte Nervosität. Nein, seine Nachbarin war es nicht, die ihn anrief. Die schlafende Schöne bewegte sich keinen Millimeter. Unten klingelte es weiter.

Jens erhob sich aus dem Sessel. Seine Gelenke schmerzten wegen der langen Starre. Mühsam stieg er die Treppe hinunter. Ralf, ein Kollege, wollte ihn mit in eine Kneipe schleppen. Jens hatte heute in der Mittagspause vage zugesagt und behauptete jetzt, Kopfschmerzen zu haben. Er konnte unmöglich das Haus verlassen, wenn seine Nachbarin allein im Garten lag. Ralf lachte ihn aus.

»Kopfschmerzen? Na hör mal, da nimmt man eine Tablette und gut ist’s.«

Jens ärgerte sich, dass ihm nichts Besseres eingefallen war. Egal. Er wimmelte Ralf rüde ab und näherte sich vorsichtig dem Wohnzimmerfenster.

Die Liege war leer. Die Terrassentür stand offen.

Er ließ seinen Blick über die Fenster gleiten, folgte den Linien der Fensterbänke und der Dachfirste, kehrte dann mit dem Blickwinkel des Fernglases wieder in den Garten zurück …

Da, eine Bewegung!

Yvonne ging durchs Haus.

Als hinter dem Küchenfenster ein Licht auf­flamm­te, wurde Jens klar, dass die Dämmerung he­rein­ge­brochen war.

Yvonne stand am Herd. Hitze durchströmte Jens wie ein Blitz.

Sie war nackt. Vollkommen nackt. Das hatte es noch nie gegeben.

Für den Bruchteil einer Sekunde ahnte er die weiße Form ihres Pos, dann drehte sie sich beiläufig zu ihm hin, als sie nach irgendetwas auf der Anrichte griff. Das dunkle Dreieck tief unter dem Bauchnabel war nur kurz zu sehen, aber Jens hielt das Bild in seinem Kopf mit aller Macht fest. War die Farbe wirklich so dunkel gewesen? Nicht eher rot? Musste es nicht ein flammendes Rot sein – derselbe Farbton wie ihre Locken?

Er brauchte das Fernglas. Er lief los, nahm auf der Treppe zwei Stufen auf einmal, atmete schwer, als er schwitzend auf dem Dachboden ankam. Keuchend erreichte er den Sessel. Von hier oben zu beobachten hatte keinen Zweck. Man erkannte nur den Garten und die Garageneinfahrt, aber die Fenster im Erdgeschoss waren von der Dachkante verdeckt.

Er hastete zurück. Fast wäre er vor Nervosität auf dem Weg nach unten gestolpert.

Er machte kein Licht. So konnte er sich unerkannt der Scheibe nähern.

Großaufnahme durch das Glas.

Nackt, wie Gott sie schuf. Ihre Brüste. Er hatte sie noch nie gesehen, wenn sie herumlief oder stand. Jens entschlüpfte ein Seufzer. Er war so hingerissen von ihrem Körper, den er in jeder Einzelheit mit seinen verstärkten Blicken abtastete, dass ihm nur nach und nach klar wurde, was sie tat: Sie deckte den Tisch für zwei Personen.

Erwartete sie jemanden? Kam der Mann etwa zurück? Erwartete sie jemand anderes? Einen Liebhaber womöglich? Was würde dieser Abend noch bringen?