Großfürstin Maria Pawlowna Romanowa (1890-1958) war eine ungewöhnlich kluge und eigensinnige Frau. Ihr rastloses Leben führte sie aus dem Zarenpalast quer durch Europa bis nach New York – ihre Ruhestätte fand sie auf der Insel Mainau, die ihr Sohn Graf Lennart Bernadotte in ein Blumenparadies verwandelt hatte.
In jungen Jahren wurde die junge russische Aristokratin mit dem schwedischen Prinzen Wilhelm verheiratet. Nach fünf Jahren verließ sie ihn wieder – und löste einen Skandal aus. Während des Ersten Weltkriegs arbeitete sie als Krankenschwester an der deutsch-russischen Front; durch die Oktoberrevolution ins Exil gezwungen, gelangte sie nach Paris, wo sie für ihre Freundin Coco Chanel als Designerin tätig war. Sie war Modeberaterin, Reisefotografin und Autorin von Memoiren, die in den USA zum Bestseller avancierten.
Gunna Wendt, geboren 1953 in Jeinsen bei Hannover, studierte Soziologie und Psychologie in Hannover und lebt seit 1981 als freie Schriftstellerin und Ausstellungsmacherin in München. Zuletzt erschien von ihr im insel taschenbuch Lou Andreas-Salomé und Rilke – eine amour fou (it 3652).
Gunna Wendt
Vom Zarenpalast zu Coco Chanel
Das Leben der Großfürstin
Maria Pawlowna Romanowa
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2013
© Insel Verlag Berlin 2013
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Umschlag: bürosüd, München
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-78960-4
www.insel-verlag.de
Prolog
Kapitel 1
Eine Großfürstin wird geboren
Kapitel 2
Ein Zar als Großvater
Kapitel 3
Einsame Kindheit im Kreml
Kapitel 4
Der geteilte Vater
Kapitel 5
Erziehung einer Großfürstin
Kapitel 6
Eine französisch-schwedische Karriere –
die Gründung des Hauses Bernadotte
Kapitel 7
Geliebter Willy
Kapitel 8
Als kaiserliche Hoheit am schwedischen Königshof
Kapitel 9
Lennart, der kleine Prinz
Kapitel 10
Liebesversuche
Kapitel 11
Abenteuerliche Flucht vor einem Guru
Kapitel 12
Auf der Suche nach Sinn
Kapitel 13
In schlimmer Zeit am richtigen Ort
Kapitel 14
Zu »retroaktiver Trauer« verurteilt
Kapitel 15
Maria und Coco
Kapitel 16
Aufbruch in die »Neue Welt«
Kapitel 17
Der wiedergefundene Sohn
Stammbaum
Quellen und weiterführende Literatur
Bildnachweis
Dank
Bildteil
Auf der Blumeninsel Mainau im Bodensee hat gerade die Saison begonnen. Die Frühlingsstraße mit ihren unzähligen bunten Tulpen steht in voller Blütenpracht. Im Palmenhaus ist die Orchideenschau zu sehen. Ich besuche Gräfin Birgitta Bernadotte, die älteste Tochter aus der ersten Ehe des Inselgründers Graf Lennart Bernadotte, um mit ihr über ihre Großmutter Maria Pawlowna zu sprechen.
»Sie war eine wirkliche Großfürstin«, erinnert sich Gräfin Birgitta und scheint bis heute darüber erstaunt: »Immer war sie die Großfürstin, sogar, wenn sie arbeitete, und das tat sie ständig.« Kaum angekommen im Schloss, habe sie sich im Kaminzimmer ihren Nähplatz eingerichtet, so als sei dies das Selbstverständlichste von der Welt.
Das Kaminzimmer im zweiten Stock des Nordflügels, in dem die Privaträume der gräflichen Familie liegen, diente von jeher dem zwanglosen Zusammensein in kleiner Runde. Vor allem am späten Nachmittag oder Abend traf sich dort die Familie Bernadotte, manchmal wurden Freunde eingeladen. Es war ein Ort der Ruhe und Entspannung, doch darauf nahm Maria Pawlowna keine Rücksicht. Wenn sie anwesend war, beanspruchte sie jegliche Aufmerksamkeit für sich. »So klein sie war, sie stand immer im Mittelpunkt«, berichtet Gräfin Birgitta.
Sie und ihre drei jüngeren Geschwister waren als Kinder nicht gerade begeistert, wenn sie hörten, dass sich ihre Großmutter angekündigt hatte. Denn dann war es vorbei mit der freien Erziehung, die sie aus Schweden gewöhnt waren. Die Mädchen durften nicht mehr in Hosen zum Essen erscheinen und mussten zur Begrüßung einen tiefen Knicks machen. Doch mit diesen »Hofmanieren« arrangierten sich die Geschwister schnell und parodierten sie. Genau wie die Angewohnheit Maria Pawlownas, sich bei den Mahlzeiten immer den Teller vollzuladen, um schließlich weniger als die Hälfte zu verspeisen. So etwas hatte in ihren Kreisen einst als vornehm gegolten. Für ihre Enkel war es am schlimmsten, dass die Großmutter überhaupt kein Verständnis für sie aufbrachte. Sie nahm sie nicht ernst, machte sich sogar über sie lustig. »Wir waren ihr lästig. Ja, ich glaube wirklich, sie hat Kinder gehasst«, so Gräfin Birgitta, »immer hat sie auf uns herumgehackt. Wir hatten zeitweise regelrecht Angst vor ihr.«
Auch Maria Pawlownas Sohn, der Schlossherr Graf Lennart Bernadotte, sah den Besuchen seiner Mutter mit gemischten Gefühlen entgegen. Lange Zeit hatte er ihr nicht verzeihen können, dass sie ihn als kleines Kind verlassen hatte. 1913 war sie vom schwedischen Königshof geflohen, hatte sich von ihrem Ehemann Prinz Wilhelm von Schweden nach fünfjähriger Ehe getrennt und ihren vierjährigen Sohn aufgegeben. Erst Anfang der 1940er Jahre näherten sich die beiden wieder einander an, doch er betrachtete sie nie als Mutter, sondern eher als entfernte Verwandte, für die er sich verantwortlich fühlte. Sie lebte damals in Argentinien, hatte wenig Geld, und Lennart Bernadotte unterstützte sie finanziell, gemeinsam mit seinem Großvater, König Gustaf V. von Schweden. Mindestens einmal im Jahr lud er sie auf die Mainau ein. »Ihre Koffer und Handtaschen füllten ein ganzes Auto. Es fehlten weder eine Nähmaschine noch Malutensilien und die Schreibmaschine, und mindestens zwei Kameras mit unterschiedlichen Negativformaten und mit dazugehöriger Optik waren immer dabei. Ein Dutzend Bücher auf Englisch und Französisch lagen auf dem Nachttisch und anderswo herum, und sie lebte in einer steten künstlerischen Unordnung, aus welcher sie jedoch immer mit unfehlbarer Sicherheit herausfand, was sie suchte«, berichtet Lennart Bernadotte in seiner Autobiografie.
Maria Pawlowna legte viel Wert auf gute Kleidung, entwarf und nähte alles selbst. Dazu brachte sie Stoffe, Muster, Entwürfe und Skizzen mit und verwandelte einen Teil des Kaminzimmers in kürzester Zeit in ein Schneideratelier. Dort traf sie auf optimale Arbeitsmöglichkeiten: viel Platz, gutes Licht und – meistens – gute Gesellschaft. Ohne Arbeit konnte sie nicht sein. Wenn sie nicht nähte, malte sie. Überall im Schloss hängen ihre Bilder: vorwiegend Landschaftsaquarelle, die von einer großen künstlerischen Begabung zeugen.
Im Nachhinein sieht Gräfin Birgitta ihre Großmutter als durch und durch widersprüchliche Persönlichkeit. Einerseits trauerte Maria Pawlowna alten Zeiten nach und versuchte, diese durch aristokratische Sitten zu konservieren – kamen Gäste ins Schloss, hielt sie regelrecht Hof –, andererseits stand sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden. »Wäre sie nicht so tief im Leben verwurzelt gewesen, hätte sie es wohl auch nicht geschafft, sich durchzubeißen.« Eine Großfürstin, die sich nicht zu schade zum Arbeiten war – in Gräfin Birgittas Erzählung schwingt jetzt Bewunderung mit. Viel Energie habe Maria Pawlowna gehabt und sei gleichzeitig vom Leben gezeichnet gewesen. Immer habe man ihre Rastlosigkeit gespürt, die dazu führte, dass sie sich nirgendwo zu Hause fühlte. Oder war es umgekehrt: War sie so rastlos, weil sie kein Zuhausegefühl kannte? Dabei habe sie jedoch nicht unglücklich gewirkt, sondern sei von der Grundstimmung eher fröhlich, manchmal sogar ausgesprochen lustig gewesen.
Eigenartige Freundinnen und Freunde habe ihre Großmutter gehabt, erzählt Gräfin Birgitta: eine griechische Prinzessin sei darunter gewesen und einige sehr religiöse Russen. Maria Pawlowna selbst habe zwar immer eine Reise-Ikone im Gepäck gehabt, die sie in ihrem Zimmer aufstellte, aber das sei das Einzige gewesen, das auf ihren Glauben schließen ließ. Doch sei sie immer froh gewesen, wenn sie Russisch sprechen konnte.
Mit ihren Verwandten auf der Mainau verständigte sie sich auf Schwedisch. Von den Enkeln wurde sie »farmur« (schwedisch: Großmutter väterlicherseits), von ihrem Sohn »Marie« genannt. Zu seiner Verwunderung kannte sie sich mit den Sitten in Schweden sehr gut aus, obwohl sie nur wenige Jahre dort gelebt hatte. Manchmal trug sie sogar ihre schwedische Tracht – als Ehefrau Prinz Wilhelms war sie auch Herzogin von Södermanland gewesen. »Aber letztlich passten das Russische und das Schwedische einfach nicht zusammen«, resümiert Gräfin Birgitta, blickt zur Wand auf das Porträt Prinz Wilhelms und richtet das Wort an ihn: »Nicht wahr, Großvater, ich lüge nicht!«
Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Maria Pawlowna in Konstanz, wo sie 1958 starb. Gräfin Birgitta berichtet, die Großmutter sei zum Schluss immer mehr in die Vergangenheit eingetaucht. Ihre Gedanken hätten sich nur noch um den Menschen gedreht, den sie am meisten geliebt hatte: um Dmitri, ihren jüngeren Bruder. Er war bereits 1942 in Davos verstorben. Nach dem Tod seiner Schwester wurden seine sterblichen Überreste auf die Mainau gebracht, wo er neben ihr in der Schlosskirche St. Marien seine letzte Ruhestätte fand.
»Ich glaube, nein, ich bin mir sogar sicher, dass er der einzige Mensch war, den sie wirklich geliebt hat«, erklärt Gräfin Birgitta, als wir vor der Gruft in der Schlosskirche stehen, in der die Geschwister, die so oft im Leben getrennt wurden, nun wieder vereint sind.
»Mein erstes ›öffentliches Auftreten‹ geschah, wie man mir erzählt hat, in einer goldenen, von sechs weißen Pferden gezogenen Kutsche, die berittene Husaren in roter Uniform begleiteten. So fuhr ich ins Winterpalais zu meiner Taufe«, heißt es in Maria Pawlownas Memoiren Education of a Princess. Sie wurde am 6. April (nach russischer Zeitrechnung) 1890 in Sankt Petersburg geboren – später feierte sie ihren Geburtstag am 19. April. Ihre Eltern, Großfürst Paul Alexandrowitsch und seine Ehefrau Alexandra, Prinzessin von Griechenland und Dänemark, teilten dem Zar umgehend das freudige Ereignis mit. Nachdem er Marias Namen ins Stammbuch eingetragen hatte, war ihre Zugehörigkeit zur Zarenfamilie besiegelt. Paul Alexandrowitsch war der jüngere Bruder des amtierenden Zaren Alexander III. Er war 1860 als sechster Sohn Alexanders II. geboren worden, würde also niemals eine Rolle in der Thronfolge spielen. Ihm wurde die übliche Erziehung für Großfürsten zuteil, in deren Zentrum die militärische Ausbildung stand. Er war beliebt bei seinen Verwandten. Sein Cousin, Großfürst Alexander Michailowitsch, schreibt in seinen Memoiren: »Er war der schönste aus der Familie, tanzte gut, wurde von den Frauen bewundert und wirkte sehr attraktiv in seiner Uniform, die ihm auf den Leib geschnitten zu sein schien.« Maria Pawlowna schwärmt: »Er war unendlich reizvoll. Jedes Wort, jede Bewegung, jede Geste war vornehm. Wer mit ihm in Berührung kam, fühlte sich von ihm angezogen.«
Die Geburt einer neuen Großfürstin war in Russland ein Ereignis von großer Bedeutung. Dementsprechend war die öffentliche Aufmerksamkeit: Zwei Wochen lang protokollierte man täglich den Gesundheitszustand von Mutter und Kind im Regierungsboten. Sogar auf der Titelseite des Blattes konnten die Leser sich über das Befinden von beiden informieren – bis hin zu Pulswerten und Körpertemperatur. Genau einen Monat später wurde die Taufe nach orthodoxem Ritus prunkvoll in der kaiserlichen Hofkirche des Winterpalastes gefeiert. Um die Zugehörigkeit der neuen Erdenbürgerin zur Romanow-Dynastie zu unterstreichen, wurde ihr von ihrer Taufpatin, der Zarin, der Katharinenorden verliehen. Die männlichen Großfürsten erhielten bei der Taufe den Andreasorden; beide Orden wurden bei allen offiziellen Anlässen getragen.
An der feierlichen Taufprozession durch Sankt Petersburg nahm die gesamte Zarenfamilie teil, jeder hatte seinen festen Platz, abhängig vom jeweiligen Rang. Der Zar zeigte sich als autokratischer Herrscher, demonstrierte seine enge Verbindung zur Kirche, manifestierte seine Herrschaft als gottgewollt.
Ansonsten waren in jenen Jahren öffentliche Auftritte der Zarenfamilie eher selten. Der regierende Zar Alexander III. scheute seit dem Attentat auf seinen Vater Alexander II. im Jahr 1881 die Öffentlichkeit. Schon seit langem war die autokratische Herrschaft der Romanows Kritik und Widerstand ausgesetzt, angefangen vom Dekabristenaufstand, der 1825 von Zar Nikolaus I. blutig niedergeschlagen wurde. Unter den Professoren und Studenten, aber auch unter den jungen Offizieren herrschte Aufbruchstimmung. Doch je heftiger die Forderungen nach Einführung einer konstitutionellen Monarchie wurden, desto stärker wurde das autoritäre System verfestigt. Mit Hilfe eines rigiden Überwachungsapparates und verschärfter Zensur sollten oppositionelle Bestrebungen im Keim erstickt werden. Nikolaus I. hatte damals nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Künstler und Dichter, darunter Alexander Puschkin, Nikolaj Gogol und Michail Lermontow überwachen lassen. Nachdem in Frankreich die Republik ausgerufen worden war, fürchtete der Zar, dass sich auch in seinem Reich viele einflussreiche Intellektuelle für diese Staatsform stark machen würden.
Es rumorte im russischen Volk, die Rolle des Herrschers und vor allem die Privilegien seiner Familienmitglieder und die Erbfolge wurden in Frage gestellt. Die Kluft zum Volk schien unüberwindbar. Umso wichtiger waren Anlässe wie diese Taufe. Hier konnte sich die Dynastie als großzügige Gastgeberin präsentieren und mit den Untertanen gemeinsam feiern. Die ganze Stadt war hell erleuchtet und festlich geschmückt.
»Große Inszenierung« stand von Anfang an leitmotivisch über dem Leben Maria Pawlownas. Das Entrée hat sie zwar noch nicht bewusst erlebt, doch es wurde ihr so oft geschildert, dass sie den Eindruck gewann, alles selbst gesehen und gehört zu haben: den Taufzug durch die Stadt, die Zeremonie, die nach orthodoxem Ritus ohne ihre Eltern stattfand, das Te deum laudamus, das der Hofchor zum Abschluss sang.
Eine großfürstliche Existenz war ihr bestimmt, geprägt von Verpflichtungen und Reglementierungen, ihre Lebensaufgabe sollte Repräsentation sein. Ein Leben mit zahllosen Privilegien, schließlich war sie in eine der reichsten Herrscherfamilien des 19. Jahrhunderts hineingeboren worden. Damals umfasste der engere Familienkreis mehr als fünfzig Personen und wuchs ständig. Rechtlich war die Dynastie unabhängig und ignorierte die allgemeingültigen Gesetze. Das einzige Gesetz, dem sie sich unterwarfen, war das Romanow'sche Familienstatut. Es bestimmte über Volljährigkeit, Ehe, Scheidung, Erbschaft. Die Mitglieder des Herrscherhauses unterstanden einzig ihrem gesetzlichen Oberhaupt, dem Zaren. Er war Vormund und Beschützer und beanspruchte Gehorsam, Ehrerbietung und Ergebenheit. Der Zar wollte seine Familie unter Kontrolle haben und Rivalitätskämpfe vermeiden. So verlangte er von den männlichen Dynastiemitgliedern, sobald sie volljährig waren, ein Loyalitätsbekenntnis, um seine Macht zu verfestigen.
Mit 51 Salutschüssen aus den Kanonen der Peter-und-Paul-Festung und dem Läuten der Kirchenglocken von Sankt Petersburg klang die Zeremonie aus, mit der Maria Pawlowna in den Kreis der Zarenfamilie aufgenommen wurde. Sie würde mit »Kaiserliche Hoheit« angesprochen werden, über ein eigenes Wappen und eine hohe jährliche Apanage verfügen.