Torsten Fink
Roman
Originalausgabe
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
1. Auflage
Originalausgabe Januar 2013 bei Blanvalet,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Copyright © 2013 by Torsten Fink
Umschlaggestaltung und -illustration: © Isabelle Hirtz, München,
unter Verwendung einer Fotografie von Katrin Diesner
Lektorat: Simone Heller
HK · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-08467-7
V002
www.blanvalet.de
Prolog
Der Schnee, der so widernatürlich aus wolkenlosem Herbsthimmel über die Stadt gekommen war, taute fast so schnell, wie er gefallen war. Ein Mädchen spielte mit den Rinnsalen aus Tauwasser, die über die enge Gasse im Gerberviertel zum Kristallbach liefen. Es legte dem Wasser kleine und größere Steine in den Weg und freute sich, wenn es doch einen Pfad um das Hindernis herum fand. Es war ein fesselndes Spiel, das das Mädchen so sehr in Anspruch nahm, dass es seine Umgebung schon lange nicht mehr beachtete.
»Das sind aber schöne Steine, mit denen du da spielst«, sagte eine samtene Stimme.
Das Mädchen blickte auf. Vor ihm stand eine große Frau, gehüllt in einen grauen, abgetragenen Mantel, und sah ihm zu. Es nickte ernst und legte einen neuen weißen Stein in das Rinnsal. Aber das Wasser fand auch jetzt wieder einen Weg.
»Würdest du mir einen schenken?«, fragte die Frau und lächelte.
Das Mädchen betrachtete die Frau von oben bis unten, fand, dass die weißen Haare nicht zu dem alterslosen, etwas müde wirkenden Gesicht passten, und schüttelte dann den Kopf.
»Ich verstehe«, sagte die Frau mit ernster Freundlichkeit. »Aber vielleicht magst du mit mir tauschen?«
Sie hielt plötzlich einen Apfel in der schlanken Hand.
Das Mädchen zögerte, aber der Apfel war rot und glänzte verführerisch in der Abendsonne. Es nickte, wählte den kleinsten seiner Steine aus, lief hinüber zu der Frau und hielt ihr den Stein auf der flachen Hand hin.
»Warte, gib ihn mir nicht hier. Trage ihn für mich doch noch dort hinüber, in den Schatten. Er sieht sehr schwer aus, weißt du«, bat die Frau freundlich.
»Gar nicht schwer«, sagte das Mädchen und blieb stehen, als sich die Frau zwischen zwei engstehenden Häusern in den Schatten setzte. Sie schien beinahe zu verschwinden. Nur der Apfel leuchtete noch rot aus dem Zwielicht und lockte.
Das Mädchen hüpfte hinüber und legte der Frau den Stein in die kalten Finger.
»Du bist sehr freundlich, Kind. Sag, bevor ich dir den Apfel gebe, wo sind denn all die anderen Menschen?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Der Herzog ist tot. Und jetzt sind alle drüben an der Burg. Hast du das nicht gewusst, Großmutter?«
»Nein, mein Kind, ich war mit anderen Dingen beschäftigt, und ich gehe Menschen, vor allem, wenn es sehr viele sind, lieber aus dem Weg.«
Das Mädchen nahm den Apfel, aber die Frau ließ ihn nicht los. »Bevor ich ihn dir gebe, beiße doch einmal hinein und sage mir, wie er schmeckt.«
»Weißt du nicht, wie ein Apfel schmeckt?«
Für einen Augenblick bekam das Lächeln der Frau etwas Gequältes. »Ich weiß sehr wohl, wie Äpfel schmecken, jedenfalls wusste ich es einmal. Doch ich weiß natürlich nicht, wie dieser Apfel schmeckt, mein Kind. Und deshalb musst du den Geschmack für mich beschreiben. Willst du das mir zuliebe tun?«
Das Mädchen nickte ernst und nahm den Apfel nun beinahe ehrfürchtig in die Hand.
»Du musst die Augen schließen, Kind, dann ist der Geschmack stärker.«
Das Mädchen gehorchte, schloss die Augen und biss voller Vorfreude in den roten Apfel. »Süß«, sagte es kauend, »und ganz viel Saft.« So sah es das ernste Lächeln nicht, und es sah nicht, wie die Frau einen sehr schmalen Dolch aus den Falten ihres Gewandes hervorzog. Nur das Geräusch, als der Stahl aus der Scheide fuhr, das hörte es, aber es öffnete die Augen nicht, denn der Apfel schmeckte einfach zu süß.