Widmung
DIENSTAG, 5. Juni
KAPITEL EINS
KAPITEL ZWEI
KAPITEL DREI
KAPITEL VIER
KAPITEL FÜNF
KAPITEL SECHS
KAPITEL SIEBEN
KAPITEL ACHT
KAPITEL NEUN
KAPITEL ZEHN
KAPITEL ELF
KAPITEL ZWÖLF
KAPITEL DREIZEHN
KAPITEL VIERZEHN
KAPITEL FÜNFZEHN
KAPITEL SECHZEHN
KAPITEL SIEBZEHN
KAPITEL ACHTZEHN
KAPITEL NEUNZEHN
KAPITEL ZWANZIG
KAPITEL EINUNDZWANZIG
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
KAPITEL DREIUNDZWANZIG
KAPITEL VIERUNDZWANZIG
KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG
KAPITEL SECHSUNDZWANZIG
KAPITEL SIEBENUNDZWANZIG
KAPITEL ACHTUNDZWANZIG
KAPITEL NEUNUNDZWANZIG
KAPITEL DREISSIG
KAPITEL EINUNDDREISSIG
KAPITEL ZWEIUNDDREISSIG
KAPITEL DREIUNDDREISSIG
KAPITEL VIERUNDDREISSIG
KAPITEL FÜNFUNDDREISSIG
KAPITEL SECHSUNDDREISSIG
KAPITEL SIEBENUNDDREISSIG
KAPITEL ACHTUNDDREISSIG
KAPITEL NEUNUNDDREISSIG
KAPITEL VIERZIG
KAPITEL EINUNDVIERZIG
KAPITEL ZWEIUNDVIERZIG
KAPITEL DREIUNDVIERZIG
KAPITEL VIERUNDVIERZIG
KAPITEL FÜNFUNDVIERZIG
KAPITEL SECHSUNDVIERZIG
KAPITEL SIEBENUNDVIERZIG
KAPITEL ACHTUNDVIERZIG
KAPITEL NEUNUNDVIERZIG
KAPITEL FÜNFZIG
KAPITEL EINUNDFÜNFZIG
MITTWOCH, 6. Juni
KAPITEL ZWEIUNDFÜNFZIG
KAPITEL DREIUNDFÜNFZIG
KAPITEL VIERUNDFÜNFZIG
KAPITEL FÜNFUNDFÜNFZIG
KAPITEL SECHSUNDFÜNFZIG
KAPITEL SIEBENUNDFÜNFZIG
KAPITEL ACHTUNDFÜNFZIG
KAPITEL NEUNUNDFÜNFZIG
KAPITEL SECHZIG
KAPITEL EINUNDSECHZIG
KAPITEL ZWEIUNDSECHZIG
KAPITEL DREIUNDSECHZIG
KAPITEL VIERUNDSECHZIG
KAPITEL FÜNFUNDSECHZIG
KAPITEL SECHSUNDSECHZIG
ANMERKUNGEN DES AUTORS
Und so geht es weiter mit BAND 5 in der Reihe - Die Geheimnisse des NICHOLAS FLAMEL
DANKSAGUNG
Über den Autor
Copyright
Wieder einmal schulde ich all den Leuten Dank, die diese Buchreihe möglich machen. Die Liste wird mit jedem Band länger, aber einige Namen bleiben dieselben:
Ewig dankbar werde ich Beverly Horowitz und Krista Marino von Delacorte Press sein, die mir Raum und Zeit geben und mir stets und ständig ihre Hilfe anbieten, genauso wie Colleen Fellingham.
Ebenso Barry Krost und Richard Thompson, die (gewöhnlich mit Erfolg) versuchen, mich bei der Stange zu halten.
Sherrod Turner und Jim Di Bella, die mir das Domizil zur Verfügung stellten.
Jill Gascoine und Alfred Molina für die Zeit der Ruhe und Erholung.
Und den vielen anderen, die alle auf ihre Art und Weise mitgeholfen haben, dass der vorliegende Band erscheinen konnte, besonders Colette Freedman sowie Robert und Sharon Freedman. Mein aufrichtiger Dank gilt auch Melanie Rose, Julie Blewett Grant, Michael Carroll, Patrick Kavanagh und Garth Nichols.
Und natürlich Claudette Sutherland.
Michael Scott ist einer der erfolgreichsten Autoren Irlands und ein international anerkannter Fachmann für mythen- und kulturgeschichtliche Themen. Seine zahlreichen Fantasy-Romane für Jugendliche wie für Erwachsene sind in mehr als zwanzig Ländern veröffentlicht worden. Seine Reihe um den berühmten Alchemysten Nicholas Flamel ist ein internationaler Bestseller. Michael Scott lebt und schreibt in Dublin.
Von Michael Scott ist bei cbj erschienen:
Die Geheimnisse des Nicholas Flamel –
Der unsterbliche Alchemyst
Die Geheimnisse des Nicholas Flamel –
Der dunkle Magier
Die Geheimnisse des Nicholas Flamel –
Die mächtige Zauberin
»Ich gebe dieser Insel den Namen Isla de los Alcatraces [Insel der Pelikane], weil es dort so viele davon gibt.«
Juan Manuel de Ayala, spanischer Leutnant, 1775
Die in der Reihe »Die Geheimnisse des Nicholas Flamel« vorkommenden Schauplätze existieren alle wirklich. Jeder kann den in den vier bisher erschienenen Bänden beschriebenen Weg der Zwillinge nachverfolgen: durch San Francisco zum Mill Valley; durch die Straßen von Paris; von der U-Bahn-Station St. Pancras in der Euston Road in London nach Stonehenge und von Sausalito zur Halbinsel Point Reyes und zurück in die City von San Francisco. Ein Ort hat in allen vier Bänden eine wichtige Rolle gespielt, ein Schauplatz, um den sich die restliche Geschichte dreht: Alcatraz.
Die Felseninsel spielt eine zentrale Rolle in dieser Serie.
Offiziell wurde sie 1775 von Juan Manuel de Ayala »entdeckt« und erhielt von ihm ihren Namen. Doch die Ohlone oder Costanoan Indianer sammelten dort schon seit Generationen Vogeleier und befischten das Meer rundherum. Beweise für eine dauerhafte Besiedelung gibt es allerdings nicht, obwohl die nahe gelegene Angel Island bewohnt war.
1853 wurde auf Alcatraz der erste Leuchtturm an der Westküste der Vereinigten Staaten erbaut. Da sein Licht wegen dichten Nebels oft nicht zu erkennen war, hatte der Leuchtturm ursprünglich eine Nebelglocke, die von Hand geläutet wurde. 1963, also hundertzwanzig Jahre später, wurden die Lichtsignale auf Automatikbetrieb umgestellt. Das »Fog Bell House«, das Gebäude, in dem die Nebelglocke hing, gibt es heute noch und auch das Leuchtfeuer funktioniert noch.
In den Köpfen der meisten Menschen ist Alcatraz heute als ehemaliges Bundesgefängnis abgespeichert, doch aus Niederschriften aus der Zeit um 1861 geht hervor, dass während der Sezessionskriege auch Kriegsgefangene auf der Insel waren. Das erste offizielle Gefängnis wurde 1867 auf Alcatraz errichtet. Geplant war es als Militärgefängnis, doch nach dem großen Erdbeben von 1906 wurden vorübergehend auch Sträflinge aus zivilen Gefängnissen auf dem Festland dort aufgenommen. Alcatraz blieb bis 1933 Militärgefängnis, danach wurde es Bundesgefängnis. Die meisten Legenden, die sich um die Felseninsel – von den Amerikanern einfach nur »The Rock« genannt – und ihre berüchtigten Bewohner ranken, stammen aus dieser Zeit. So saß von 1932 bis 1939 auch Al Capone dort ein. Bundesgefängnis war Alcatraz nur dreißig Jahre lang. 1963 wurde es endgültig geschlossen.
Sechs Jahre später legte eine Gruppe von achtzig Indianern, die über zwanzig verschiedene Stämme repräsentierten, auf der verlassenen und dem Verfall preisgegebenen Insel an und versuchte, sie wieder für die Ureinwohner Amerikas in Besitz zu nehmen. In einer politischen Verlautbarung bot die Gruppe, die sich »Indians of All Tribes«, Indianer aller Stämme, nannte, an, der amerikanischen Regierung die Insel für »$24 in Glasperlen und rotem Tuch« abzukaufen. Das ironische Angebot sollte die Überzeugung der Stämme zum Ausdruck bringen, dass ihnen die Insel gestohlen worden war. Sie wollten sich zurückholen, was ihrer Meinung nach Indianerland war, und dort ein Zentrum für indianische Geschichte und Kultur einrichten. Die Besetzung von Alcatraz durch die Ureinwohner Amerikas dauerte 19 Monate, und auch wenn sie letztendlich erfolglos war und die Besetzer die Insel verlassen mussten, machte die Aktion doch auf die erbärmliche Lage der Ureinwohner überall in den Vereinigten Staaten aufmerksam. Bis heute erinnert Graffiti an den Gebäuden auf der Insel an diese Zeit, wobei die an der Mauer hinter dem großen Schild am Dock am meisten ins Auge springt. Um das offizielle Schild mit der Aufschrift »United States Penitentiary« (Gefängnis der Vereinigten Staaten) herum steht da in großen roten Buchstaben »Indians Welcome« und »Indian Land«.
1972 wurde Alcatraz Teil der »Golden Gate National Recreation Area« (Erholungsgebiet von nationaler Bedeutung) und seither besuchen jedes Jahr mehr als eine halbe Million Menschen die Insel.
Als ich vor etlichen Jahren die Idee entwickelte, aus der schließlich die Reihe »Die Geheimnisse des Nicholas Flamel« entstand, suchte ich nach einem Schauplatz, der verschiedene Voraussetzungen erfüllen musste. Er sollte in der Nähe einer Großstadt liegen und trotzdem relativ schwer zugänglich sein. Er musste groß genug sein, um einer gewaltigen Armee von Ungeheuern Platz zu bieten, und selbstverständlich musste es ein historischer Ort sein. Jahrelang sah ich mir verlassene Bergarbeiterstädte in Kalifornien an, darunter speziell Bodie, besuchte Geisterstädte im Wilden Westen, aufgegebene Siedlungen entlang der Bostoner Poststraße und ein paar der Forts am Santa Fe Trail, der historischen Handelsroute. Alle diese Orte boten interessante Möglichkeiten, aber hundertprozentig stimmig war keiner.
Dann endlich, es war vor acht oder neun Jahren, kam ich nach Alcatraz. Ich wusste fast vom ersten Moment an, als ich das Schiff verließ, dass dies der Ort war, den ich gesucht hatte. Und die Entscheidung dafür zog dann alles andere nach sich. Dass die Wahl auf die Insel gefallen war, bedeutete, dass die Geschichte in San Francisco spielen musste, und daraus ergaben sich dann alle weiteren Orte an der Westküste. Alcatraz fiel nicht nur eine Schlüsselrolle unter meinen Schauplätzen zu, es wurde sozusagen zu einer weiteren Hauptfigur innerhalb der Serie. Da war diese winzige Insel – nur zweiundzwanzig Morgen (5,5 Hektar) groß –, die eine bewegte Geschichte hatte. Und Juan Manuel de Ayala wurde ihre »Stimme«.
In der Zwischenzeit war ich unzählige Male auf Alcatraz und jedes Mal entdecke ich etwas Neues. Wer die Möglichkeit hat, die Felseninsel einmal zu besuchen, sollte abends hinüberfahren. Das ist die Zeit, in der man die Geister von Alcatraz flüstern hört …
Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkomme«, sagte Sophie Newman und grinste ihren Bruder an.
»Und ich hätte nie gedacht, dass ich mich so darüber freuen würde«, erwiderte Josh. »Es sieht alles so … ich weiß auch nicht … anders aus.«
»Es sieht noch genauso aus wie immer«, fand seine Schwester. »Wir sind es, die sich verändert haben.«
Sophie und Josh gingen die Scott Street in Pacific Heights, einem Stadtviertel von San Francisco, hinunter. Sie steuerten das Haus ihrer Tante Agnes an der Ecke zur Sacramento Street an. Vor sechs Tagen – am Donnerstag, den 31. Mai — hatten sie die Tante zum letzten Mal gesehen und waren von ihrem Haus aus zur Arbeit gegangen, Sophie ins Café und Josh in die Buchhandlung. Es war ein ganz gewöhnlicher Tag gewesen … Der letzte gewöhnliche Tag in ihrem Leben, wie sich herausgestellt hatte.
An diesem Tag hatte sich ihre Welt für immer verändert. 13 Auch sie hatten sich verändert, und zwar physisch wie psychisch.
»Was sagen wir ihr?«, fragte Josh nervös.
Tante Agnes war 84 Jahre alt, und auch wenn die beiden sie Tante nannten, waren sie nicht blutsverwandt mit ihr. Sophie vermutete, Agnes sei vielleicht die Schwester ihrer Großmutter … oder eine Cousine oder auch nur eine Freundin. Sicher wusste sie es nicht. Sie war eine ganz liebe, aber leicht aus der Fassung zu bringende alte Dame, die schon in helle Aufregung geriet, wenn die Zwillinge auch nur fünf Minuten zu spät kamen. Sie trieb die beiden in den Wahnsinn und erstattete ihren Eltern über so gut wie alles, was sie taten, Bericht.
»Nur nichts Kompliziertes«, antwortete Sophie. »Wir bleiben bei der Geschichte, die wir Mom und Dad erzählt haben: Zuerst hat die Buchhandlung geschlossen, weil es Perenelle nicht gut ging, und dann haben die Flamels – «
»Die Flemings«, korrigierte Josh.
» … die Flemings uns eingeladen, ein paar Tage mit ihnen in ihrem Haus in der Wüste zu verbringen.«
»Und warum musste die Buchhandlung schließen?«
»Ein Leck in der Gasleitung.«
Josh nickte. »Ein Leck in der Gasleitung. »Und wo genau ist das Haus in der Wüste?«
»Joshua Tree.«
»Okay, alles klar.«
»Sicher? Du bist ein miserabler Lügner.«
Josh zuckte mit den Schultern. »Ich werde mich anstrengen. Du weißt, dass sie uns ganz schön was husten wird, ja?«
»Ich weiß. Und das ist erst der Anfang. Danach müssen wir auch noch mit Mom und Dad sprechen.«
Wieder nickte Josh. Dann sah er seine Schwester an. Schon seit Tagen hatte er sich heftig Gedanken über etwas gemacht. Jetzt hielt er den Zeitpunkt für günstig, die Sache zur Sprache zu bringen. »Ich habe mir überlegt«, begann er zögernd, »ob wir ihnen nicht einfach die Wahrheit sagen sollten.«
»Die Wahrheit?« An Sophies Miene war nichts abzulesen.
Die Zwillinge überquerten die Jackson Street. Drei Blocks weiter vorn konnten sie schon das weiße, im viktorianischen Stil erbaute Haus der Tante sehen.
»Was hältst du davon?«, fragte Josh nach, als seine Schwester schwieg.
Endlich nickte Sophie. »Klar, könnten wir.« Sie strich sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und sah ihren Bruder an. »Aber du weißt schon, was das heißt, ja? Wir verklickern Mom und Dad, dass ihr gesamtes Lebenswerk für die Katz war. Dass alles, was sie studiert haben – Geschichte, Archäologie und Paläontologie –, so nicht stimmt.« Ihre Augen weiteten sich. »Super Idee. Mach das mal. Ich lass dir gerne den Vortritt und schau es mir an.«
Josh zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Okay, okay, dann sagen wir es ihnen eben nicht.«
»Zumindest jetzt noch nicht.«
»Einverstanden. Aber früher oder später erfahren sie es doch. Du weißt selbst, dass es unmöglich ist, Geheimnisse vor ihnen zu haben. Sie kriegen immer alles raus.«
»Weil Tante Agnes petzt«, murmelte Sophie.
Eine glänzende schwarze Stretchlimousine mit getönten Scheiben fuhr langsam an den Zwillingen vorbei. Der Fahrer hatte sich vorgebeugt und versuchte, durch die Bäume entlang der Straße die Hausnummern zu erkennen. Der Wagen blinkte und hielt ein Stück weiter vorn an.
Josh wies mit dem Kinn darauf. »Komisch. Sieht so aus, als würde er vor Tante Agnes’ Haus halten.«
Sophie blickte in Gedanken versunken auf. »Wenn wir nur mit jemandem reden könnten. Mit jemandem wie Gilgamesch. « Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hoffe, es geht ihm gut.« Als sie den Unsterblichen das letzte Mal gesehen hatte, war er verwundet gewesen. Ein Pfeil des gehörnten Gottes hatte ihn getroffen. Sophie sah ihren Bruder an und stellte ärgerlich fest: »Du hörst mir ja gar nicht zu.«
»Der Wagen hält tatsächlich vor Tante Agnes’ Haus«, stellte Josh leise fest. Seine Kopfhaut kribbelte. War das eine Warnung? »Sophie?«
»Was ist denn?«
»Wann hatte Tante Agnes das letzte Mal Besuch?«
»Sie bekommt nie Besuch.«
Die Zwillinge beobachteten, wie der schlanke Chauffeur im schwarzen Anzug ausstieg und die Eingangsstufen hinaufging, eine Hand locker auf das Eisengeländer gelegt. Er trug schwarze Handschuhe. Mit ihren geschärften Sinnen hörten die Zwillinge deutlich sein Klopfen an der Tür. Instinktiv gingen beide schneller.
Tante Agnes öffnete. Sie war eine zierliche, knochige alte Dame mit knubbeligen Knien und von Arthrose geschwollenen Fingern. Josh wusste, dass sie als junges Mädchen als große Schönheit gegolten hatte. Aber das war lange her. Sie hatte nie geheiratet und in der Familie erzählte man sich, dass ihr Liebster im Krieg gefallen sei. Josh hatte sich immer gefragt, in welchem.
»Josh?«
»Hier stimmt was nicht«, murmelte Josh. Er begann zu joggen und Sophie passte sich mühelos seinem Schritt an.
Die Zwillinge sahen, dass der Chauffeur Tante Agnes etwas hinhielt und sie es ihm aus der Hand nahm. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich über etwas, das aussah wie ein Foto. Als sie sich noch tiefer darüber beugte, schlüpfte der Mann plötzlich an ihr vorbei und stürmte ins Haus.
Josh sprintete los. »Der Wagen darf nicht wegfahren!«, rief er Sophie zu, während er schon über die Straße rannte und die Stufen zum Haus hinaufhastete. »Hallo, Tante Agnes, wir sind wieder da«, grüßte er und lief an ihr vorbei.
Die alte Dame drehte sich einmal um ihre eigene Achse; dabei fiel ihr das Foto aus den Händen.
Auch Sophie überquerte im Laufschritt die Straße, blieb dann aber hinter dem Wagen stehen. Sie bückte sich und presste die Fingerspitzen auf den hinteren Reifen an der Beifahrerseite. Dann legte sie den Daumen auf den Kreis an der Unterseite ihres Handgelenks und ihre Finger begannen, weiß zu glühen. Es stank nach verbranntem Gummi, machte fünfmal deutlich hörbar plopp und der Reifen hatte fünf Löcher. Luft strömte heraus und der Wagen sank rasch auf die Felge.
»Sophie!«, kreischte die alte Dame, als das Mädchen die Eingangsstufen herauflief und ihre verwirrte Tante an der Hand nahm. »Was ist hier los? Wo wart ihr? Wer war der nette junge Mann? War das Josh, den ich eben gesehen habe?«
»Komm mit, Tante Agnes.«
Sophie zog ihre Tante von der Tür weg, damit sie, falls Josh oder der Chauffeur wieder herausgestürmt kamen, nicht versehentlich über den Haufen gerannt wurde. Sie bückte sich und hob das Foto auf, das ihre Tante fallen gelassen hatte. Dann führte sie die alte Dame ein gutes Stück vom Haus weg. In sicherer Entfernung besah Sophie sich das vergilbte Foto. Es zeigte eine junge Frau in Schwesterntracht — zumindest erschien es Sophie so. In die untere rechte Ecke hatte jemand mit weißer Tinte das Wort Ypres sowie die Jahreszahl 1914 geschrieben. Sophie hielt den Atem an. Die Frau auf dem Foto war ohne jeden Zweifel Scathach.
Josh betrat die dunkle Diele und drückte sich flach an die Wand. Er wartete, bis seine Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Noch vor einer Woche wäre ihm das nicht in den Sinn gekommen, aber vor einer Woche wäre er auch nicht hinter einem Eindringling her in ein Haus gestürmt. Er hätte getan, was man in einem solchen Fall vernünftigerweise tut, und hätte den Polizeinotruf gewählt. Jetzt griff er in den Schirmständer hinter der Tür und zog einen der stabilen Gehstöcke seiner Tante heraus. Es war nicht Clarent, aber immerhin etwas.
Josh verharrte wieder reglos, den Kopf zur Seite geneigt, und lauschte. Wo war der Fremde?
Auf dem oberen Flur knarrte es, dann kam ein schlanker junger Mann die Treppe herunter. Er trug einen schlichten schwarzen Anzug mit weißem Hemd und schmaler schwarzer Krawatte. Als er Josh sah, bremste er sein Tempo etwas, blieb aber nicht stehen. Er lächelte, doch es war mehr ein Reflex als eine bewusste Geste, denn das Lächeln ging nicht über seine Lippen hinaus. Aus der Nähe sah Josh, dass es sich um einen Asiaten handelte; um einen Japaner vielleicht.
Josh löste sich von der Wand. Den Gehstock hielt er wie ein Schwert vor sich. »Wohin willst du?«
»An dir vorbei oder durch dich hindurch, für mich macht das keinen Unterschied«, antwortete der junge Mann auf Englisch mit starkem japanischem Akzent.
»Was machst du hier?«, wollte Josh wissen.
Der Fremde trat von der untersten Treppenstufe in die Diele und wollte Richtung Haustür gehen, doch Josh versperrte ihm mit dem Stock den Weg.
»Nicht so schnell. Du schuldest mir noch eine Antwort.«
Der junge Mann packte den Stock, riss ihn Josh aus den Händen und zerbrach ihn über dem Knie. Josh verzog das Gesicht. Das musste wehgetan haben. Der Mann warf die beiden Stockhälften auf den Boden. »Ich schulde dir gar nichts, aber du kannst von Glück sagen, dass ich heute gute Laune habe.«
Etwas in der Stimme des Mannes ließ Josh einen Schritt zurückweichen. Es war etwas Kaltes und Kalkulierendes, das ihn plötzlich zweifeln ließ, ob der Mann tatsächlich durch und durch menschlich war. Von der Tür aus schaute er ihm nach, wie er leichtfüßig die Eingangstreppe hinunterlief. Der Mann wollte gerade die Wagentür öffnen, da bemerkte er den hinteren Reifen.
Sophie wackelte lächelnd mit dem Finger. »Sieht so aus, als hätten Sie einen Platten.«
Josh lief rasch die Treppe hinunter und stellte sich zu seiner Schwester und der Tante.
»Was geht hier vor, Josh?«, fragte Agnes gereizt. Hinter den dicken Brillengläsern wirkten ihre grauen Augen unverhältnismäßig groß.
Das hintere Fenster an der Beifahrerseite senkte sich ein Stückweit ab, und der Japaner sagte aufgeregt etwas in den Spalt hinein, wobei er auf den Reifen zeigte.
Die Wagentür wurde abrupt aufgestoßen und eine junge Frau stieg aus. Sie trug einen maßgeschneiderten schwarzen Hosenanzug über einer weißen Seidenbluse, dazu schwarze Lederhandschuhe und eine Sonnenbrille mit kleinen runden Gläsern. Doch was sie verriet, waren das gegelte rote Haar, das wie Igelstacheln abstand, und die blasse Haut mit den Sommersprossen.
»Scathach!«, riefen Sophie und Josh voller Freude.
Die Frau lächelte und entblößte dabei ihre Vampirzähne. Als sie die Brille abnahm, sah man, dass sie leuchtend grüne Augen hatte. »Falsch«, sagte sie. »Ich bin Aoife von den Schatten, und ich will wissen, was mit meiner Zwillingsschwester passiert ist.«
Ich hätte nie gedacht, dass ich noch einmal hierher zurückkommen würde«, sagte Nicholas Flamel und drückte die Hintertür zu der kleinen Buchhandlung auf.
»Ich auch nicht«, erwiderte Perenelle.
Die Tür klemmte und Flamel stemmte die Schulter dagegen und drückte mit aller Kraft. Endlich ließ sie sich öffnen, das Türblatt schrammte über den gefliesten Boden, und im selben Moment stieg ihnen der Gestank in die Nase: der leicht süßliche Geruch nach vermodertem Holz und feuchtem Papier, gemischt mit ranzigem Fäulnisgeruch.
Perenelle hustete, presste eine Hand auf den Mund und blinzelte die Tränen weg, die ihr plötzlich in die Augen schossen. »Igitt!«
Flamel versuchte, möglichst flach zu atmen. Er nahm noch Spuren von Dees Schwefelgeruch in der feuchten Luft wahr, den typischen Gestank nach faulen Eiern. Die beiden gingen einen dunklen Gang hinunter. Auf beiden Seiten standen stapelweise Kartons mit antiquarischen Büchern. Die Kartons wiesen schwarze Fäulnisstreifen auf und die Deckel hatten sich bereits verzogen. Einige waren aufgebrochen und der Inhalt lag jetzt auf dem Boden.
Perenelle strich mit dem Finger über einen der Kartons. Ihre Fingerspitze war danach ganz schwarz. Sie hielt den Finger hoch, damit ihr Mann ihn sehen konnte. »Erzählst du mir, was hier los war?«
»Der Doktor und ich haben gegeneinander gekämpft«, antwortete Flamel leise.
»Das sehe ich.« Perenelle lächelte. »Und du hast gewonnen.«
»Na ja, so ein Sieg ist relativ …« Flamel öffnete die Tür am Ende des Flurs und betrat den Verkaufsraum. »Der Laden hat leider etwas gelitten.« Er streckte den Arm nach hinten, ergriff die Hand seiner Frau und zog sie in den mit Büchern vollgestopften Raum.
»Oh, Nicholas …«, flüsterte Perenelle.
Der Buchladen war vollkommen verwüstet.
Alles war von einer dicken Schicht grünschwarzem Schimmel überzogen und der Schwefelgestank nahm einem fast den Atem. Zwischen den zusammengebrochenen Tischen und Regalen lagen überall Bücher mit herausgerissenen Seiten, zerfetzten Umschlägen und gebrochenen Rücken. Ein großes Stück der Decke fehlte. Der Putz hing wie Stofffetzen an den Rändern herunter und man konnte die rohen Balken und zerrissenen Kabel sehen. Da, wo einmal die Kellertür gewesen war, klaffte jetzt ein Loch. Der Türrahmen war zu einer stinkenden schwarzen Masse zusammengefault, auf der schon Pilze wuchsen. Winzige weiße Maden krochen durch den Dreck. Der leuchtend bunte Teppich, der einmal mitten im Laden gelegen hatte, war zu einem hässlichen grauen Gebilde zusammengeschrumpft.
»Zerstörung und Fäulnis«, flüsterte Perenelle. »Dees Visitenkarte. «
Die große elegante Frau bahnte sich vorsichtig einen Weg in den Laden. Sobald sie etwas berührte, zerfiel es zu Staub oder einem Pulver, von dem Sporen aufstiegen. Die Bodendielen waren schwammig und klebrig und quietschten bei jedem Schritt unheilvoll. Man musste fürchten, jeden Augenblick im Keller zu landen. In der Mitte des Raumes blieb Perenelle stehen. Sie stemmte die Hände in die Hüften und drehte sich langsam um sich selbst. Ihre großen grünen Augen füllten sich mit Tränen. Sie hatte sie geliebt, diese Buchhandlung. Ein Jahrzehnt lang war sie ihr Zuhause und ihr Leben gewesen. Sie hatten im Lauf der Jahrhunderte in vielen Berufen gearbeitet, doch diese Buchhandlung erinnerte sie mehr als alles andere an ihre erste Zeit mit Nicholas im 14. Jahrhundert, als er Schreiber und Buchhändler in Paris gewesen war. Damals waren sie einfache, gewöhnliche Leute gewesen, die ein unauffälliges Leben führten – bis zu jenem schicksalhaften Tag, als Nicholas von dem Mann mit dem Kapuzenumhang und den auffallend blauen Augen den Codex kaufte, das Buch Abrahams des Weisen. An diesem Tag endete ihr normales Leben und sie betraten die Welt des Außergewöhnlichen, wo nichts so war, wie es schien, und man niemandem trauen konnte.
Perenelle drehte sich zu ihrem Mann um. Er hatte sich nicht von der Tür wegbewegt und blickte sich deprimiert im Laden um. »Nicholas«, sagte sie leise, und als er den Kopf hob, fiel ihr auf, wie sehr er in der letzten Woche gealtert war. Jahrhundertelang hatte sich sein Aussehen kaum verändert. Mit seinem kurz geschorenen Haar, der glatten Haut und den hellen Augen hatte er immer ausgesehen, als sei er um die fünfzig Jahre alt. So alt war er gewesen, als sie angefangen hatten den Unsterblichkeitstrunk zu brauen. Jetzt sah er aus wie mindestens siebzig.
Die Haare auf seinem Kopf waren grau und in seine Stirn hatten sich tiefe Falten eingegraben. Auch um die Augenwinkel herum war die Haut faltig und die Augen selbst lagen tief in den Höhlen. Auf seinen Handrücken waren dunkle Altersflecke zu erkennen.
Der Alchemyst sah ihren Blick und lächelte bedauernd. »Ich weiß, ich sehe alt aus — für jemanden, der sechshundertundsiebenundsiebzig Jahre gelebt hat, aber wiederum gar nicht so schlecht.«
»Sechsundsiebzig«, korrigierte Perenelle ihn sanft. »Sechshundertsiebenundsiebzig wirst du erst in drei Monaten.«
Flamel trat zu ihr und nahm sie fest in den Arm. »Ich glaube nicht, dass ich diesen Geburtstag noch erleben werde«, sagte er sehr leise, den Mund dicht an ihrem Ohr. »In der letzten Woche habe ich mehr von meiner Aura verbraucht als in den vergangenen zwanzig Jahren zusammen. Und ohne den Codex …«
Er sprach den Satz nicht zu Ende. Das war auch nicht nötig. Ohne den Unsterblichkeitszauber, dessen Rezeptur einmal im Monat auf Seite sieben des Codex erschien, würden er und Perenelle weiter altern. Ihre vielen Lebensjahre würden sie rasch einholen und innerhalb kürzester Zeit würde der Tod eintreten.
Unvermittelt stieß Perenelle ihren Mann von sich. »Noch sind wir nicht tot!«, fauchte sie und in ihrem Zorn verfiel sie in das ländliche Französisch, das sie in ihrer Jugend gesprochen hatte. »Es gab auch früher schon Situationen, die aussichtslos erschienen – und wir haben sie überlebt.« Eine Andeutung ihrer Aura flammte knisternd auf: Winzige, eisweiße Rauchfahnen stiegen von ihrer Haut auf.
Flamel trat zurück und verschränkte die Arme vor der schmalen Brust. »Bisher hatten wir immer den Codex«, sagte er in derselben Sprache.
»Ich spreche im Moment nicht von der Unsterblichkeit«, erwiderte Perenelle. »Wir haben viele Jahrhunderte lang gelebt, Nicholas, Jahrhunderte. Ich habe keine Angst vor dem Sterben, weil ich weiß, wenn wir diese Welt verlassen, verlassen wir sie gemeinsam. Unerträglich wäre nur, ohne dich leben zu müssen.«
Der Alchemyst nickte schweigend, da er seiner Stimme nicht traute. Ein Leben ohne Perenelle konnte er sich nicht vorstellen.
»Wir müssen tun, was wir immer getan haben«, fuhr sie fort, »und weiter für das Überleben der Menschheit kämpfen. « Perenelle griff nach dem Arm ihres Mannes; ihre Finger bohrten sich schmerzlich in sein Fleisch. »Sechshundert Jahre lang haben wir den Codex gehütet und die Dunklen des Älteren Geschlechts von der Welt der Menschen ferngehalten. Das werden wir auch weiterhin tun.« Ihre Miene wurde hart. »Nur dass wir jetzt nichts mehr zu verlieren haben, Nicholas. Anstatt davonzulaufen und uns um des Buches willen zu verstecken, sollten wir angreifen! Wir sollten den dunklen Älteren den Kampf ansagen.«
Der Alchemyst nickte kurz. Wenn Perenelle so redete, machte sie ihm Angst. Obwohl sie nun schon jahrhundertelang verheiratet waren, war ihm seine Frau immer noch ein Rätsel, vor allem, was ihre außergewöhnliche Gabe betraf, die es ihr ermöglichte, die Schatten der Toten zu sehen. »Du hast recht, wir haben nichts mehr zu verlieren«, bestätigte Flamel leise. »Wir haben schon so viel verloren.«
»Dieses Mal haben wir die Zwillinge auf unserer Seite«, erinnerte ihn Perenelle.
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns hundertprozentig trauen«, entgegnete der Alchemyst. Er holte tief Luft. »In London haben sie von der Existenz der anderen Zwillinge erfahren. «
»Oh. Von Gilgamesch?«
Flamel nickte. »Vom König. Jetzt weiß ich nicht, ob sie uns noch glauben, was wir ihnen sagen.«
Perenelle lächelte grimmig. »Dann sagen wir ihnen eben die Wahrheit. Die ganze Wahrheit«, fügte sie hinzu und ließ ihren Mann dabei nicht aus den Augen.
Nicholas Flamel hielt ihrem Blick einen Augenblick lang stand, dann nickte er und sah weg. »Und nichts als die Wahrheit. « Er seufzte und wartete, bis sie den Raum verlassen hatte, bevor er leise hinzufügte: »Aber die Wahrheit ist ein zweischneidiges Schwert und etwas sehr Gefährliches.«
»Das habe ich gehört«, rief sie.
I hr ruft jetzt sofort eure Eltern an.« Tante Agnes funkelte Sophie mit ihren kurzsichtigen Augen an und wandte sich dann an Josh, der näher bei ihr stand. »Sie haben sich schreckliche Sorgen um euch gemacht. Jeden Tag haben sie hier angerufen, oft zwei-, dreimal. Erste heute Morgen sagten sie, sie würden zur Polizei gehen und euch als vermisst melden, falls ihr im Lauf des Tages nicht zurückkommt.« Sie machte eine kleine Pause und fügte dann in dramatischem Tonfall hinzu: »Sie wollten angeben, dass ihr entführt worden seid!«
»Wir wurden nicht entführt. Und wir haben erst vor ein paar Tagen mit Mom und Dad gesprochen«, sagte Josh. Er versuchte sich zu erinnern, wann genau das gewesen war. Am Freitag … oder Samstag? Er warf seiner Schwester einen Hilfe suchenden Blick zu, doch die starrte immer noch die junge Frau in Schwarz an, die Scathach so ähnlich sah. Also wandte er sich wieder seiner Tante zu. Er erinnerte sich, dass seine Eltern ihm eine Mail geschickt hatten, und zwar am … War es am Samstag gewesen, als sie alle in Paris gewesen waren? Seit er wieder in San Francisco war, wurde es immer schwerer, die letzten paar Tage auseinanderzuhalten. »Wir sind eben erst zurückgekommen«, sagte er schließlich wahrheitsgemäß und küsste seine Tante rasch auf beide Wangen. »Wie ist es dir ergangen? Wir haben dich vermisst.«
»Ihr hättet anrufen können«, sagte die alte Dame und schnaubte. »Ihr hättet anrufen sollen.« Schiefergraue, durch die dicken Brillengläser vergrößerte Augen blickten finster zu den Zwillingen auf. »Schreckliche Sorgen habe ich mir gemacht. Ein Dutzend Mal habe ich vergeblich im Buchladen angerufen und an dein Handy bist du auch nicht gegangen. Ein Handy mit sich herumzutragen, macht nicht viel Sinn, wenn man nicht drangeht.«
»Wir hatten die meiste Zeit keinen Empfang«, erwiderte Josh, was nicht gelogen war. »Und dann habe ich mein Handy auch noch verloren«, fügte er hinzu, und auch das entsprach der Wahrheit. Sein Handy und so ziemlich alles, was er sonst noch von zu Hause mitgenommen hatte, war verschwunden, als Dee Yggdrasil, den Weltenbaum, zerstört hatte.
»Du hast dein teures Handy verloren?« Die alte Dame schüttelte missbilligend den Kopf. »Das ist schon das dritte in diesem Jahr.«
»Das zweite«, verbesserte er sie leise.
Tante Agnes drehte sich um und ging langsam die Eingangsstufen hinauf. Joshs Angebot, sie zu stützen, wies sie mit einer abwehrenden Handbewegung zurück. »Lass mich, ich brauche keine Hilfe«, sagte sie und griff dann doch nach seinem Arm. »Du könntest mir aber wirklich ein wenig helfen, junger Mann.« An der Tür drehte sie sich um und sah hinunter auf Sophie und die rothaarige Frau. »Sophie, kommst du?«
»Gleich, Tante Agnes.« Sophie schaute ihren Bruder an, dann wanderte ihr Blick zu der offenen Tür. »Ich bin gleich bei euch, Josh. Geh doch schon mal mit Tante Agnes ins Haus und koche ihr eine Tasse Tee, ja?«
Josh wollte den Kopf schütteln, doch die alte Dame umklammerte mit erstaunlicher Kraft seinen Arm.
»Und während das Wasser kocht, kannst du eure Eltern anrufen.« Agnes blickte mit zusammengekniffenen Augen zu Sophie zurück. »Beeile dich.«
»Ja, mache ich.«
Sobald Josh und die Tante im Haus verschwunden waren, wandte Sophie sich an die Fremde und fragte: »Wer bist du?«
»Aoife«, antwortete die junge Frau und es klang wie »Ihfjǝ«. Sie bückte sich und strich mit ihren schwarz behandschuhten Fingern über den platten Reifen der Limousine. Dann gab sie dem Chauffeur Anweisung in einer Sprache, die Sophie als Japanisch erkannte.
Der Mann zog sein Jackett aus und warf es auf den Fahrersitz. Dann öffnete er den Kofferraum und holte einen Wagenheber heraus. Er stellte ihn unter den schweren Wagen, kurbelte den mühelos damit hoch und begann mit dem Reifenwechsel.
Aoife rieb die Hände aneinander, verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf schräg und sah Sophie an. »Es gab keinen Grund, das zu tun.« Sie sprach mit einem leichten ausländischen Akzent in einem singenden Tonfall.
»Wir dachten, du wolltest unsere Tante kidnappen«, erklärte Sophie leise. Seit sie den Namen Aoife gehört hatte, schwirrten Dutzende seltsamer Gedanken und Bilder in ihrem Kopf herum, doch es fiel ihr schwer, zwischen den Erinnerungen an Scathach und denen an Aoife zu unterscheiden. »Wir wollten es verhindern.«
Aoife lächelte mit geschlossenen Lippen. »Wäre ich mitten am Tag hier aufgekreuzt, wenn ich eure Tante hätte kidnappen wollen?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Sophie. »Das musst du wissen.«
Aoife schob die Brille so weit den Nasenrücken hinauf, bis die kleinen dunklen Gläser die grünen Augen verdeckten. Sie überlegte einen Augenblick. »Vielleicht hätte ich es getan. Vielleicht auch nicht. Aber«, fügte sie lächelnd hinzu und zeigte dabei erneut ihre Vampirzähne, »wenn ich eure Tante hätte kidnappen wollen, hätte ich das auch getan.«
»Du bist Aoife von den Schatten«, sagte Sophie.
»Ich bin Scathachs Schwester. Wir sind Zwillinge. Ich bin die Ältere.«
Sophie trat einen Schritt zurück, als die Erinnerungen der Hexe an Aoife endlich einen Sinn ergaben. Doch sie war nicht bereit, der jungen Frau zu verraten, was sie alles über sie wusste, deshalb sagte sie: »Scathach hat mir von ihrer Familie erzählt, aber von einer Schwester hat sie nichts erwähnt.«
»Das glaube ich gerne. Wir haben uns gestritten«, murmelte Aoife.
»Gestritten?«, fragte Sophie nach, obwohl sie bereits wusste, dass es um einen Jungen gegangen war, und sie sogar seinen Namen kannte.
»Wegen eines Jungen«, bekannte Aoife mit einer Spur von Traurigkeit in der Stimme. Sie blickte die Straße hinauf und hinunter, bevor sie sich wieder an Sophie wandte. »Wir haben schon sehr lange nicht mehr miteinander gesprochen.« Nach einem kurzen Schulterzucken fuhr sie fort: »Sie hat sich ganz von mir losgesagt. Und ich mich von ihr. Aber ich hatte immer ein Auge auf sie.« Wieder lächelte sie. »Du weißt bestimmt, wie das ist, wenn man ein Auge auf seine Schwester oder seinen Bruder hat.«
Sophie nickte. Obwohl Josh größer und stärker war als sie, war er für sie immer noch der kleine Bruder. »Er ist mein Zwillingsbruder.«
»Das wusste ich nicht«, erwiderte Aoife gedehnt. Sie senkte den Kopf und blickte Sophie über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg an. »Und sowohl seine als auch deine Sinne wurden geweckt«, fügte sie hinzu.
»Weshalb bist du hergekommen?«
»Ich habe gespürt, dass Scathach … geht.«
»Geht?«, wiederholte Sophie verständnislos.
»Dass sie verschwindet. Dieses Schattenreich hier verlässt. Meine Zwillingsschwester und ich sind durch Bande miteinander verbunden, wie sie zweifellos auch zwischen dir und deinem Bruder bestehen. Ich habe es immer gewusst, wenn sie Schmerzen oder Hunger hatte, verletzt war oder sich fürchtete …«
Sophie nickte gedankenverloren. Auch sie hatte ein paar Mal die Schmerzen ihres Bruders gespürt. Als er sich beim Fußballspielen eine Rippe brach, hatte sie den Stich in ihrer Seite gespürt, und als er auf Hawaii fast ertrunken wäre, war sie keuchend aufgewacht und hatte nach Luft geschnappt. Und als sie sich beim Taekwando die Schulter verrenkt hatte, war auch seine Schulter angeschwollen, und er hatte genau an derselben Stelle einen blauen Fleck bekommen.
Aoife fragte den Fahrer barsch etwas auf Japanisch und er antwortete mit einer einzigen Silbe. Sie wandte sich wieder an Sophie: »Wir können uns weiter hier auf der Straße unterhalten …«, begann sie. »Du kannst mich aber auch ins Haus bitten, wo wir es etwas gemütlicher haben.«
In Sophies Kopf schrillte eine Alarmglocke. Vampire konnten eine Schwelle erst übertreten, wenn sie jemand dazu aufgefordert hatte, und ihr war sofort klar, dass sie diese Vampirin ganz bestimmt nicht ins Haus ihrer Tante einladen wollte. Sie hatte etwas an sich … Ganz bewusst ließ Sophie es zu, dass die restlichen Erinnerungen, die noch ungeordnet irgendwo in ihrem Hinterkopf gelegen hatten, nach vorn drängten. Und plötzlich wusste sie alles, was die Hexe von Endor über Aoife von den Schatten gewusst hatte. Wie ein Schock brach es über sie herein, so schrecklich waren die Bilder und Erinnerungen. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen wich Sophie einen Schritt zurück, weg von dieser Kreatur. Gerade noch rechtzeitig merkte sie, dass der Fahrer hinter ihr stand. Sie wollte rasch den Finger auf die Tätowierung an ihrem Handgelenk legen, doch der Mann packte ihre Arme und presste sie an ihre Seiten, bevor sie den kreisrunden Beschleuniger aktivieren konnte. Aoife kam dazu, nahm Sophies Handgelenke und drehte sie so, dass sie das Muster sehen konnte, das Saint-Germain ihr in die Haut gebrannt hatte.
Sophie versuchte, frei zu kommen, doch der Fahrer hielt ihre Arme so fest umklammert, dass ihre Finger bereits anfingen zu kribbeln. »Lass mich los! Josh wird – «
»Dein Zwillingsbruder kann dir nicht helfen.« Aoife zog einen Lederhandschuh aus und fasste mit ihren kalten Fingern nach Sophies Hand. Schmutzig graue Rauchkringel stiegen von ihrer blassen Haut auf. Sie rieb mit dem Daumen über das kunstvolle, keltisch anmutende Band, das sich um Sophies Handgelenk wand. Auf der Unterseite, genau an der Stelle, an der der goldene Kreis mit dem roten Punkt in der Mitte lag, hielt sie inne. »Ah, das tine-Zeichen. Das Feuersymbol«, stellte Aoife leise fest. »Dann hättest du also versucht, mich zu verbrennen? «
»Lass mich los!« Sophie versuchte, dem Mann, der sie festhielt, einen Tritt zu versetzen, doch er verstärkte seinen Griff nur noch, und sie bekam plötzlich Angst. Selbst die Hexe von Endor war vor Aoife von den Schatten auf der Hut gewesen. Es tat weh, als die Vampirin Sophies Handgelenk wieder umdrehte und sich darüber beugte, um das Tattoo genauer zu betrachten. »Dies ist das Werk eines Meisters. Von wem hast du das … Geschenk?« Bei dem Wort »Geschenk« verzog sie angewidert den Mund.
Sophie presste die Lippen zusammen. Von ihr würde die Frau nichts erfahren.
Aoifes Sonnenbrille rutschte nach unten; ihre Augen glichen grünen Glassplittern. »Maui … Prometheus … Xolotl … Pele … Agni …« Sie schüttelte kurz den Kopf. »Nein, von denen war’s keiner. Du kommst gerade aus Paris, also ist es jemand, der dort wohnt …« Sie blickte über Sophies Schulter zu dem Fahrer in dem schwarzen Anzug. »Gibt es in der Hauptstadt Frankreichs einen Meister des Feuers?«
»Dein alter Gegenspieler, der Graf wohnt dort«, antwortete der Mann leise auf Englisch.
»Saint-Germain«, fauchte Aoife. An Sophies großen Augen erkannte sie, dass sie recht hatte. Ein grausames Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Saint-Germain, der Lügner. Saint-Germain, der Dieb. Ich hätte ihn umbringen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.« Wieder sah sie den Fahrer an. »Nimm sie mit. Wir werden das Gespräch fortsetzen, wo uns niemand stört.«
Sophie wollte schreien, doch Aoife drückte ihr den Zeigefinger auf den Nasenrücken. Ihre graue Aura strömte aus ihren Fingerspitzen, der Rauch ringelte sich um Sophies Kopf und drang in ihre Nasenlöcher und den Mund.
Sophie versuchte, ihre eigene Aura zu entfachen. Einen Herzschlag lang flackerte sie schwach um ihren Körper herum auf, dann brach Sophie ohnmächtig zusammen.