Renate Feistner

Essstörungen –
Heilung ist möglich

Ein Praxishandbuch

Zu diesem Buch

»Einmal essgestört – immer essgestört« – mit diesem Urteil sehen sich Patientinnen und ihre Angehörigen häufig konfrontiert. Dem widerspricht Renate Feistner, die seit 35 Jahren magersüchtige, bulimische und esssüchtige PatientInnen behandelt, vehement, denn es entspricht nicht ihren Erfahrungen. Im Zentrum des Praxishandbuches für die ambulante Therapie steht das integrative und ressourcenorientierte Therapiekonzept der Autorin, das tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische und systemische Aspekte vereint. Die Rahmenbedingungen eines guten Heilungsprozesses werden ebenso erläutert wie die Faktoren und Phasen der Heilung selbst. Erfahrungen anderer ExpertInnen, Berichte von PatientInnen, Fragebögen zu Heilungskriterien und Heilungsgrad sowie die Erörterung der wichtigen Frage »Was verhindert Heilung?« ergänzen die therapeutischen Ausführungen.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Alle Bücher aus der Reihe ›Leben Lernen‹ finden Sie unter:

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Impressum

Leben Lernen 299

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Klett-Cotta

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Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © mathisa/fotolia

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89205-5

E-Book: ISBN 978-3-608-11032-6

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20367-7

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Inhalt

Vorwort

Kapitel 1
Wir behandeln nicht die Krankheit, sondern die Menschen

1.1 Interessiert sich die Therapieforschung nicht für Heilung von Essstörungen?

1.2 Weg von den Therapieschulen, hin zur Integrativen Therapie

1.3 Warum ist das Thema Heilung bei Essstörungen heute wichtig?

Kapitel 2
Die psychotherapeutische Behandlung der Essstörungen

2.1 Welche genesungsfördernden Voraussetzungen brauchen wir für die Psychotherapie von Essstörungen?

2.1.1 Anamnese, Diagnostik und Differentialdiagnostik

2.1.2 Begleitende ärztliche Untersuchungen

2.2 Was sind die wichtigsten Ziele in der psychotherapeutischen Behandlung der Essstörungen?

2.3 Weshalb ist eine Methoden-integrative Behandlung der Essstörungen sinnvoll?

Kapitel 3
Mein ambulantes integratives Therapiekonzept zur Behandlung von Essstörungen

3.1 Weshalb ist mein integratives Therapiekonzept bei allen Formen von Essstörungen einsetzbar?

3.2 Ist eine Unterteilung der Essstörungen sinnvoll?

3.3 Benötigen wir einzelne Therapiemethoden getrennt nach Essstörungen?

3.4 Welches sind die drei roten Fäden im Therapiekonzept?

3.4.1 Normal essen lernen

Was ist nicht normales Essverhalten?

Was ist normales Essverhalten?

Welche Körpersignale sind beim Essen wichtig?

Warum ist der Essensrhythmus wichtig?

Überforderungssituationen brauchen Strategien

Die Automatik des Bulimie-/Essanfalles stoppen lernen

Wie unterscheidet man körperlichen und psychischen Hunger?

Kann die Ernährungsberatung ausgelagert werden?

3.4.2 Ursachen und Funktionen der Essstörung herausfinden und Lösungen entwickeln

Was sind psychische Ursachen von Essstörungen?

Was sind empfänglich machende (prädisponierende) Faktoren?

Was sind Auslöser?

Was sind aufrechterhaltende Faktoren?

Wie findet man die Ursachen?

Was ist psychischer Hunger?

Gefühle wahrnehmen lernen

Was sind Bedürfnisse?

Bedürfnisse herausfinden

Wofür brauchen wir das Wahrnehmen und Herausfinden der Gefühle und Bedürfnisse in der Essstörungs-Therapie?

Analyse des psychischen Hungers

Wie arbeiten wir in der Essstörungs-Therapie an Lösungen?

Der Innere Dialog

Die psychische Funktion der Essstörung herausfinden

Dialog mit dem Symptom

Brief an das Symptom

Die psychische Funktion der Figur herausfinden

Die Essstörung als Suche nach Identität mithilfe des Körpers

3.4.3 Die Beziehung zum eigenen Körper verbessern

Körperanamnese

Ein gesünderes Gewicht erreichen

Die fünf Ebenen der Körpertherapie

Freundschaft schließen mit dem eigenen Körper

Den Körper wahrnehmen durch begleitende Übungen

3.5 Wichtige Themen in der Therapie

3.5.1 Perfektionismus überwinden

Merkmale des Perfektionismus:

Wann wird Perfektionismus für die Patientin belastend?

Mögliche Ursachen von Perfektionismus

Wie hängen Perfektionismus, Essstörungen und Selbstwert zusammen?

Perfektionismus ist behandelbar

Nutzung positiver Aspekte von Perfektion in der Therapie von Essstörungen

3.5.2 Identitätsfindung

Was bedeutet Identität?

Zwischenberichte einer Anorexie-Patientin über ihren Genesungsprozess

3.5.3 Therapeutische Hausaufgaben in der Essstörungs-Therapie

Welche Arten von therapeutischen Hausaufgaben können bei Essstörungs-Behandlungen u. a. eingesetzt werden?

Kapitel 4
Der Heilungsprozess bei Essstörungen

4.1 Wie sich Heilung entwickelt – was sind die dynamischen Aspekte des Veränderungsprozesses?

4.2 Wenn es den Patientinnen plötzlich besser geht

4.3 Wie erleben Patientinnen den Heilungsprozess?

4.4 Heilungsphasen

4.5 Das Recovery-Modell von Noordenbos

4.6 Heilungsfaktoren

4.7 Ressourcen

4.8 Schutzfaktoren

4.9 Wie lange dauert der Heilungsprozess bei Essstörungen?

4.10 Bericht einer seit Langem geheilten Patientin, die früher unter Magersucht litt

Kapitel 5
Wichtige Rahmenbedingungen für den Heilungsprozess

5.1 Welche Rahmenbedingungen fördern den Heilungsprozess?

5.1.1 Menschenbild der Therapeutin

5.1.2 Die therapeutische Beziehung gestalten

5.1.3 Förderung des Wohlbefindens der Patientin

5.1.4 Kooperative Mitarbeit der Patientin in der Therapie (Compliance)

5.1.5 Bedeutsame positive Lebensereignisse

5.1.6 Positives Erleben des Berufes

5.1.7 Soziale Unterstützung

5.1.8 Befriedigende Freizeitgestaltung

5.2 Welche Aspekte behindern den Heilungsprozess?

5.2.1 Wenn sich eine Patientin nicht an Abmachungen hält

5.2.2 Wenn sich psychische Begleiterkrankungen (Komorbiditäten) behindernd auf die Heilung der Essstörungen auswirken

5.2.3 Wenn sich körperliche Erkrankungen auf die Essstörung auswirken

5.2.4 Wenn die Familie eine Belastung für die Essstörungs-Patientin darstellt

5.2.5 Wenn die Angehörigen von Essgestörten sich überfordert fühlen

5.2.6 Wenn die Partnerbeziehung keine Unterstützung der Genesung bietet

5.2.7 Wenn der Beruf die Heilung behindert

5.2.8 Essstörungen und Burnout

Was ist Burnout?

Ist es Burnout oder Depression?

Wie kann Burnout in Rahmen der Essstörungs-Therapie behandelt werden?

5.2.9 Wenn die Bürokratie die Heilung behindert

Kapitel 6
Genesungsfördernde Faktoren in der Therapie von Essstörungen

6.1 Gibt es spezielle Anforderungen an eine Essstörungs-Therapeutin?

6.2 Was denken Essstörungs-Patientinnen über die Qualitäten einer guten Therapeutin?

6.3 Wirkfaktoren in der Psychotherapie von Essstörungen

6.4 Glaube, Hoffnung, Placebo?

6.5 Therapiedauer der Essstörungs-Therapien

6.6 Bericht einer seit vielen Jahren geheilten Patientin, die unter Esssucht litt

Kapitel 7
Heilung aus Sicht erfahrener Psychotherapeutinnen

Interviews mit erfahrenen Essstörungs-Therapeutinnen

Kapitel 8
Entwicklung eines Fragebogens zu Heilungskriterien bei Essstörungen

8.1 Gibt es Erkenntnisse der Forschung über die Genesungsfaktoren von Essstörungen?

8.2 Wie sehen Betroffene ihre Genesung?

8.3 Fragebogenentwicklung und Untersuchung

8.4 Der Fragebogen zum Thema Genesung von Essstörungen

8.5 Ergebnisse der Untersuchung

Kapitel 9
Heilungsraten bei Essstörungen

9.1 Die Problematik der Heilungsraten

9.2 Welche Kritikpunkte gibt es?

9.3 Wir brauchen Forschungsalternativen mit besseren Heilungsmodellen bei Essstörungen

9.4 Was half bei der Genesung? Ein Internet-Fragebogen für geheilte Essstörungs-Patientinnen

9.5 Essstörungsforschung für die Praxis

9.6 Intensivierung der Psychotherapie-Prozessforschung

9.7 Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis

Kapitel 10
Fragebogen zur Erfassung des Heilungsgrades bei Essstörungen (FEH)

Kapitel 11
Die Behandlungskette beim Heilungsprozess von Essstörungen

11.1 Essstörungs-Patientinnen haben ein Recht auf Behandlung

11.2 Was wäre die ideale Behandlungskette bei Essstörungen?

11.3 Ergebnisse der Interviews mit Vertreterinnen verschiedener Institutionen der Behandlungskette

11.4 Wunsch und Wirklichkeit der Behandlungskette bei Essstörungen

Kapitel 12
Warum werden nicht alle Essstörungs-Patientinnen geheilt?

12.1 Was blockiert die Heilung?

12.2 Generelle Risiken und Nebenwirkungen in der Psychotherapie

12.3 Gefahren von Rückfällen bei Essstörungen

12.4 Therapieabbruch der Essstörungs-Behandlung

12.5 Es gibt keine Garantie für Heilung

12.6 Wie kann die Heilungsrate bei Essstörungen verbessert werden?

Danksagung

Hinweis zum Download von Arbeitsmaterialien

Literatur

Vorwort

Was brachte mich auf die Idee, dieses Buch zu schreiben? Es waren Berichte von Patientinnen, die in ihren stationären Aufenthalten hörten, dass Essstörungen nicht heilbar seien, oder sie lasen in Fachbüchern, es gebe nur einen fragilen Zustand des »Stillstandes«, der bei psychischen Belastungen wieder zu einem gravierenden Rückfall führen würde, und man müsse sich mit der Krankheit arrangieren. Die Zweifel von Fachleuten, jedoch auch von Angehörigen und von Journalisten, an der Möglichkeit einer vollständigen Genesung von Essstörungen erschienen mir völlig unberechtigt, da ich und meine ebenfalls spezialisierten ambulant tätigen Kolleginnen eine Vielzahl dieser Patientinnen bis zur völligen Heilung behandelt haben und wir auch oft über Jahre noch deren Lebensweg verfolgen konnten. Wir wissen und konnten es in einer großen Anzahl von Fällen erleben: Heilung ist möglich!

Diese Erfahrungen, die ich mehr als drei Jahrzehnte lang in meiner auf die Behandlung essgestörter Patienten und Patientinnen spezialisierten, ambulanten psychotherapeutischen Arbeit sammeln konnte, möchte ich öffentlich machen. Durch die langjährige Praxis konnte ich Heilungsprozesse einer sehr großen Zahl von ambulant behandelten Patientinnen begleiten, manche kurz, die meisten aber lang dauernd, teilweise über mehrere Jahre hinweg. Diese Arbeit brauchte sowohl von den Patientinnen als auch von mir als Therapeutin viel Wissen, Geduld, Hartnäckigkeit, Mut und Hoffnung, dass dies der richtige Weg zum Gesundwerden sei. Wäre ich nicht von Anfang an in einem psychotherapeutischen Prozess davon überzeugt, dass ein Erfolg möglich ist, wie sollte ich selbst als Therapeutin die Energie aufbringen, die Patientin zu unterstützen? Und wie sollte dann eine Patientin ohne den Glauben an eine Genesung motiviert sein, diesen anstrengenden Weg zu gehen?

Anfang der 80er-Jahre, als ich mit der therapeutischen Arbeit begann, gab es nur spärliche Informationen und Literatur hinsichtlich der Essstörungen, die überwiegend aus dem feministischen Bereich stammten. Die ambulanten Behandlungskonzepte musste man sich selbst »zusammenbasteln«. In ganz Deutschland waren diese neuen integrativen Konzepte damals sehr gefragt, und ich gab sie in zahllosen Seminaren weiter, die ich für einen Berufsverband und verschiedene Ausbildungsinstitute abhielt. Interessanterweise kann ich heute rückblickend feststellen, dass die damaligen Grundlagen, die »roten Fäden« meines Psychotherapiekonzeptes, im Wesentlichen gleich geblieben sind: 1. normal essen lernen, 2. Ursachen und Funktionen der Essstörung herausfinden und bearbeiten, 3. die Körperwahrnehmung verbessern (Feistner, 1995). Sie sind als Grundlage in viele andere Therapiekonzepte eingeflossen.

Durch die tägliche therapeutische Arbeit kamen bei meinem Therapiekonzept über die Jahre dann viele Ergänzungen, neue Aspekte, Ideen, Schwerpunkte und Übungen dazu, denn ich beschäftigte mich ständig damit, wie ich die Arbeit noch besser, wirkungsvoller und leichter machen könnte. Auch durch zahlreiche Fortbildungen und den permanenten Austausch mit Kolleginnen kamen neue Impulse und neue Faktoren in das Therapiekonzept, wobei meine methodenintegrative Arbeitsweise dies erleichterte. Die Verhaltenstherapie wurde ergänzt durch Familientherapie und durch eine tiefenpsychologische Sichtweise in meiner Zusatzausbildung, die ich 1998 abschloss. Ein Transaktionsanalyse-Grundkurs und zahlreiche Körpertherapiefortbildungen gaben mir neue Ideen. Vieles davon wurde in dem von mir herausgegebenen Buch »Ambulante Therapie von Essstörungen« 2006 bereits dargestellt.

In den letzten zehn Jahren verfeinerte ich das Methodenrepertoire nochmals. Dazu kam meine Traumatherapie-Ausbildung (EMDR), die eine Lücke in der Behandlung von traumatisierten Essstörungs-Patientinnen schloss. (Hätte ich die nur schon 30 Jahre früher gehabt!) So sammelten sich weitere Erfahrungen, Kompetenzen und Wissen bezüglich der Behandlung essgestörter Menschen an, von denen diese profitieren konnten.

Zunehmend vertiefte ich mich dann in den letzten fünf Jahren in das Thema Heilung bei Essstörungen, denn darum geht es ja letztendlich in diesen Psychotherapien. Dazu recherchierte ich in Fachbüchern, was denn andere Autoren zu diesem Thema schreiben, und war erstaunt, wie spärlich die Ergebnisse ausfielen. In den deutschen Standardwerken zum Thema Essstörungen wird der überwiegende Teil der Publikationen der Psychopathologie gewidmet. Das Thema Heilung kommt höchstens in einem kleinen Schlusskapitel vor; das Stichwort »Heilung« oder »Genesung« fand ich fast nie. Ich hinterfrage mögliche Gründe dafür im Kapitel 1.

»Die Kunst des Heilens lehren der Patient und der erfahrene Psychotherapeut.« (Sulz, 2015) Welches Konzept und welche Übungen haben sich in meiner ambulanten Praxis bewährt? Die detaillierte, fallbezogene Darstellung meines Therapiekonzeptes soll Kolleginnen inspirieren, mit einem praxiserprobten, in sich stimmigen Behandlungskonzept zu arbeiten. Mein ambulantes Integratives Therapiekonzept, so wie ich es derzeit praktiziere, ergänzt durch Beispiele von Patientinnen, beschreibe ich in den Kapiteln 2 und 3.

Patientinnen und Therapeutinnen beschäftigt von der ersten Therapiestunde an die wichtige Frage, mit welcher Dynamik sich der Heilungsprozess entwickelt, welche Heilungsphasen und Heilungsfaktoren es gibt, wie lange die Psychotherapie dauern wird (Kapitel 4) und welche Rahmenbedingungen sich günstig oder ungünstig auf den Heilungsprozess auswirken (Kapitel 5).

Welche Faktoren aus der Sicht der Patientinnen und aufseiten der Therapeutinnen die Genesung in der ambulanten Therapie fördern und welche Wirkfaktoren entscheidend sind, erläutere ich im Kapitel 6.

Wichtig war mir bei diesem Buch, dass die psychotherapeutische Kompetenz und Erfahrung von Kolleginnen, die ebenfalls bereits viele Jahre spezialisiert mit Essstörungs-Patientinnen arbeiten, einfließen sollte. Da alle sehr ausgelastet sind mit Praxisarbeit und Familie, konnte ich sie nicht mit langwierigem Artikelschreiben belasten. Mir kam deshalb die Idee, sie bezüglich ihrer langjährigen therapeutischen Erfahrungen zu interviewen. Kaum war diese Idee geboren, meldete sich eine Medizin-Journalistik-Studentin, Ramona Ostermeier, bei mir mit dem Wunsch, ein Interview zum Thema Heilung bei Essstörungen mit mir zu machen. Ich willigte ein und fragte, ob sie weitere Interviews führen möchte. Unter der Bedingung, dass ich den Interviewleitfaden dazu entwickle, willigte sie ein, die Interviews mit erfahrenen ambulanten Therapeutinnen hinsichtlich der Heilung bei Essstörungs-Therapien durchzuführen (Kapitel 7).

Obwohl meine Arbeit praxisorientiert und fallbezogen ist, vermisste ich zunehmend die theoretischen Grundlagen, nämlich einerseits Heilungskriterien für Essstörungen und andererseits einen Fragebogen, mit dem der Heilungsgrad einer Essstörungs-Patientin festgestellt werden kann. Die gebräuchlichen Fragebögen beleuchten nämlich nur die Krankheitsseite, d. h. die Symptomreduktion anstatt den Heilungsfortschritt. Diese Ergebnisse verwunderten mich sehr, und ich weiß bis heute nicht, warum sich in der wissenschaftlichen Forschung deutscher Universitäten (anders als z. B. in Schweden, Norwegen, den Niederlanden und Australien) bisher kaum jemand für diese doch sehr relevanten Themen interessierte. Mein Plan war demzufolge, mit meinen zeitlich und finanziell beschränkten Möglichkeiten vor Ort einen Beitrag zur Erforschung zu leisten, indem ich als externe Betreuerin zwei Themen für psychologische Bachelor-Arbeiten vergab: »Heilungskriterien bei Essstörungen« und »Fragebogen zur Erfassung des Heilungsgrades bei Essstörungen«. Bei der vertieften Literaturrecherche zum Thema Heilungskriterien stellte sich dann heraus, dass eine niederländische Wissenschaftlerin der Universität Leiden, Greta Noordenbos, diese Arbeit bereits gemacht hatte. Frau Ruhl konnte in ihrer Bachelor-Arbeit diese Heilungskriterien übersetzen und nochmals an deutschen Psychotherapeutinnen überprüfen (Kapitel 8).

In einem Buch über Heilung bei Essstörungen darf natürlich die Frage nicht fehlen: Wie viele Patientinnen werden geheilt? Meiner Ansicht nach sind die wissenschaftlich gewonnenen Heilungsraten allerdings nur bedingt aussagefähig. Deshalb hätte ich sie am liebsten ganz weggelassen. Ich schob dieses Kapitel lange vor mir her, fand aber zum Glück noch (durch unterstützende Fachliteratur) zu einem Weg der Auseinandersetzung und alternativen Modellen (Kapitel 9).

Bisher gab es nur Fragebögen zum Krankheitsgrad, aber noch keinen Fragebogen, der zeigt, wie der Heilungsprozess bei Essstörungen vorankommt. Der Fragebogen zum Heilungsgrad bei Essstörungen (FEH) wurde deshalb auf meine Anregung hin von der Psychologie-Studentin Kerstin Blendel im Rahmen ihrer Bachelor-Arbeit entwickelt und getestet. Er wird zusammen mit einem Auswertungsbogen (zum Selbsttesten) in Kapitel 10 präsentiert.

Meine Kollegin Brigitte Hartig, die in den letzten Jahrzehnten das »Netzwerk Essstörungen« in Erlangen aufbaute, machte mich darauf aufmerksam, dass in diesem Buch keinesfalls das Thema »Behandlungskette«, also die Übergänge zwischen Beratung, Behandlung und Nachsorge, fehlen dürfe. Wir hatten immer wieder Fälle, wo ich eine von ihr zuvor beratene Patientin in die ambulante Therapie übernahm. Ich bemerkte, wie günstig sich diese Vorarbeit auf die Einstellung der Patientin zur Therapie, auf die Therapiemotivation, die Erwartungen und das Arbeitsbündnis ausgewirkt hatte und damit letztlich auf den beginnenden Heilungsprozess. Wie greifen die verschiedenen Beratungs- und Behandlungsangebote, die es für Essstörungs-Patientinnen gibt, ineinander? Wunsch und Wirklichkeit der Behandlungskette werden durch Erfahrungen von Fachfrauen aus verschiedenen Institutionen illustriert (Kapitel 11).

Heilung von Essstörungen ist möglich, aber leider gibt es keine Garantie dafür, und nicht alle Essstörungs-Patientinnen werden geheilt. Die entscheidende Frage ist, was in diesen Fällen die Heilung bei Essstörungen blockiert, aber auch, wie die Heilungsrate verbessert werden könnte (Kapitel 12).

Bei der ganzen Buch-Idee durfte aber meines Erachtens eines nicht zu kurz kommen, nämlich die Sichtweise der Patientinnen, denn um sie geht es ja in der Psychotherapie vorrangig. Bereits in den beiden 1995 und 2006 von mir herausgegebenen Büchern spielten die Beiträge der Patientinnen eine große Rolle, denn nur sie können der Theorie und der fachlichen Seite Leben einhauchen. Erst wenn man die Beiträge der Betroffenen liest, erkennt man, was es wirklich bedeutet, an einer Essstörung zu leiden und wie eine Psychotherapie wirklich abläuft. Wir können aus diesen Berichten erst ermessen, um welche Gefühle, Bedürfnisse, Konflikte, Probleme, Krisen und belastende Themen es tatsächlich geht und wie viel Arbeit, Mut, Energie, Durchhaltevermögen und Hoffnung auf Heilung faktisch erforderlich sind. Die Patientinnen zeigen uns, wie sie die Therapieschritte allmählich umsetzten, was dies in ihnen auslöste und veränderte, wie sie immer mehr Vertrauen in sich selbst und in ihre Fähigkeiten gewinnen konnten, das Leben anzunehmen, nach ihren Bedürfnissen und Wünschen zu gestalteten und es letztendlich wieder mit Freude leben zu können. Nur durch die Beiträge der Patientinnen wurde das Buch zu einer runden Sache. Zum Glück gibt es Patientinnen, die gerne schreiben und die für mein Buch ihre Manuskripte zur Verfügung stellten. Daraus konnten sehr interessante und seltene Einblicke direkt in den Heilungsprozess entstehen.

Vorbemerkung zur sprachlichen Darstellung: Ich verwende die weibliche Form der Personenbezeichnung, sprich »Patientin« und »Psychotherapeutin«, da der Frauenanteil sowohl bei den Betroffenen (Anorexie 10 : 1, Bulimie 20 : 1, Binge Eating 1,5 : 1) [APA, 2013, de Zwaan, 2002] als auch bei den Behandlerinnen (72 %) deutlich überwiegt. Trotz einfacher Nennung sind selbstverständlich immer Vertreter beider Geschlechter gemeint. In Zitaten oder Theoriebeiträgen kann es jedoch vorkommen, dass dort die männliche Personenbezeichnung benutzt wird, das habe ich dann meist so belassen. Die Sprachregelung soll der Vereinfachung des Leseflusses dienen, aber weder die männlichen noch die weiblichen Betroffenen diskriminieren.

Vorbemerkung zu den Falldarstellungen: Aus Datenschutzgründen beschreibe ich die Fälle so, dass ein Rückschluss auf die reale Patientin nicht möglich ist. Trotzdem habe ich versucht, das therapeutisch Wichtige zu bewahren.

Kapitel 1

Wir behandeln nicht die Krankheit, sondern die Menschen

»Ich bin mehr als die Krankheit, ich brauche sie nicht, um mich zu spüren oder Aufmerksamkeit zu bekommen . . .«, schreibt eine geheilte Anorexie-Patientin. Die Ganzheitlichkeit des Menschen darf in der Behandlung von Essstörungs-Erkrankungen nie aus dem Blickfeld geraten. Vor der Krankheit waren unsere Patienten auch schon ganzheitlich vorhanden und werden es auch nach der Genesung sein. Wie dürften wir sie in der Zeit dazwischen nur auf die Krankheit reduzieren und den Rest ignorieren? Der erkrankte Mensch ist nicht seine Krankheit, zumal diese als ein vorübergehender Zustand betrachtet werden muss. »Krankheit und Krise können gesehen werden als ein Versuch der Selbstfindung, der Integration und des Heilwerdens auf einer neuen Ebene.« (Beck, 1981)

Frauke Teegen (1983) sieht die Körper- und Seele-Ganzheit als sich ergänzende Aspekte eines Ganzen. »Geht unsere Medizin in Forschung und Praxis von einem unvollständigen Menschenbild aus? ›Bedroht‹ uns eine Krankheit, oder ist sie eine ›Verbündete‹, die uns auf eine existentielle Bedrohung aufmerksam machen will? Wie können wir die ›Botschaft‹ einer gesundheitlichen Störung verstehen lernen? Ist Krankheit ein Versuch der Selbstheilung? Wie können wir eine Krankheit als Möglichkeit der Selbsterfahrung und Veränderung unserer Lebensweise nutzen? Wir beginnen, Krankheit nicht mehr ausschließlich als ›Übel‹ zu betrachten, sondern eher als eine Störung im Gesamtgleichgewicht des Menschen und zugleich als Versuch, die Harmonie dieses Systems wiederherzustellen. Gesundheit erscheint uns aus dieser Sicht vielmehr als ein Prozess sich ständig entwickelnder Erfahrung, als lebendige Kontaktaufnahme des Menschen mit sich selbst und mit seiner Umwelt, also ein Prozess, den jeder Mensch letztlich selbst fördern oder behindern kann. Diese Betrachtungsweise hat tief greifende Konsequenzen. Der Mensch ist mehr als nur ein körperliches System – er ist ein ganzheitliches Wesen mit körperlichen, seelisch-geistigen und sozialen Dimensionen, die ineinandergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Ganzheitliche Gesundheit ist sanfter Umgang mit uns selbst, ein Weg, sensibler für unsere körperlichen und seelischen Bedürfnisse zu werden und die Verantwortung für unser Wohlbefinden selbst zu übernehmen. Es ist eine Chance, zu einer anderen Wirklichkeit vorzudringen und im Kontakt mit uns ein tieferes ›Heilwerden‹ zu erfahren.«

Der Körper sollte in einer ganzheitlichen Sicht als komplexes Kommunikationssystem betrachtet werden. Wir sind unsere Körper, und wir sind die ersten und besten Experten für diesen Körper. Seine Weisheit muss wieder zu unserer Weisheit werden, die uns zeigt, wie eng unser psychisches und körperliches Wohlbefinden zusammenhängen, wie sehr Geist und Körper eine Einheit sind und vor allem: wie wir tagtäglich etwas für diese Einheit tun können. Die Hinweise aus der Mind-Body-Forschung verdichten sich, dass der Körper über ein Heilungsprogramm verfügt, von dessen Leistungsfähigkeit Krankheit, Gesundheit und Genesung abhängen (Ernst, 1994).

Die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit sind fließend (Hammer & Plößl, 2012). Dies bestätigt auch Allen Frances (2013), der selbst an der Entwicklung von einigen Ausgaben des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM) mit ca. 500 Kategorien beteiligt war. »Die Grenze zwischen Normalität und psychiatrischer Krankheit ist unscharf. Immer mehr menschliche Verhaltensweisen werden als psychische Krankheit bezeichnet. Es gibt beispielsweise Schätzungen, dass 50 Prozent der Patienten mit Essstörungen nicht den spezifischen Subtypen zugeordnet werden können. Auch eine Binge-Eating-Störung (Esssucht) ist schwer zu diagnostizieren. Viele Menschen werden die Diagnose zu Unrecht erhalten. Ich glaube nicht, dass man ein Handbuch schreiben kann, ohne gleichzeitig viel zu viele Gesunde einzuschließen. Menschen sind sehr kompliziert und vielfältig.« Krankheit ist mehr ein individuelles Geschehen und weniger ein objektiver Befund, denn das subjektive Erleben ist viel reichhaltiger als die diagnostischen Kriterien (Salewski in: Nolte, 2015). »Eine Diagnose ist eine Zuschreibung und als solche nichts wert.« (Carl Jaspers) Diagnosen führen ein Eigenleben. Sie erzeugen Erwartungen, Beurteilungen, Bewertungen, Etikettierungen und Festschreibungen. Wir sollten den Menschen hinter der Diagnose entdecken (Mehrgardt, 2017).

Warum sollte die Psyche gesünder sein als der Rest des Körpers?, fragt Hans-Ulrich Wittchen in einem Interview (Psych. Heute 1/2013, S. 69). »Etwa 38,2 % haben pro Jahr eine behandlungsbedürftige psychische Störung (davon 0,9 % eine Essstörung). Über die gesamte Lebensspanne hinweg sind es sogar fast 100 %. Das heißt, wir alle entwickeln irgendwann in unserem Leben mindestens eine und oft mehrere psychische Störungen. Auch was den Körper angeht, erwarten wir ja nicht, dass wir auf immer rundum gesund sind. Die Bevölkerung, aber auch unser Gesundheitssystem hat noch immer kein angemessenes Konzept psychischer Krankheiten.« Faktoren für eine lebenslange dauerhafte psychische Gesundheit sind Erbanlagen und einige Persönlichkeitsmale sowie enge soziale Bindungen in der Kindheit (Schaefer et al., 2017).

Die Krankheit steht nicht über allem. Eine konstruktive Sichtweise wäre: Welche Bereiche des Patienten sind derzeit von der Krankheit berührt, welche nicht? Welche Krisen haben Patienten schon überstanden? Mit welchen Ressourcen? Welche soziale Unterstützung ist vorhanden? Welchen Austausch gibt es mit anderen Betroffenen? Gibt möglicherweise das Benennen der »unsichtbaren Symptome« dem Umfeld die Chance, die Situation des Patienten zu begreifen? (Nolte, 2015) Was will der Patient mit diesen Symptomen derzeit zum Ausdruck bringen und kann es vielleicht nur in dieser verschlüsselten Sprache äußern? Deshalb: Heilung ist mehr als ein gesunder Körper!

Weshalb kommen Menschen zu uns und was können wir für sie tun? Ein kranker Mensch ist hilfsbedürftig, er hat das Bedürfnis, behandelt zu werden. Krankheit ist ein höchst individuelles Schicksal in einer einmaligen Lebensgeschichte. Therapie bedeutet dann zunächst Verständnis und Sorge um diesen Menschen und, damit verbunden, Hilfe zum Gesundwerden. »Heilung ist als Resultat einer Begegnung zu verstehen. Hoffenwollen auf eine Persönlichkeit, von der man menschlich verstanden wird, die Sehnsucht des hilfesuchenden Menschen nach einer Vertrauensperson.« (Siehe Maio, 2011, S. 134 – 135) Es geht auch um den Respekt vor dem Patienten, sich auch auf seine Sichtweise einzulassen. Der Patient handelt dadurch selbstbestimmter, wird zum Experten in eigener Sache. Strategien zur Bewältigung sind seine Selbstbefähigung und die Wiedererlangung seiner Gesundheit (Rufer: in Sammet et al., 2015).

Als Behandlerinnen sollten wir uns immer vergegenwärtigen: Der Mensch und nicht seine Diagnose sucht die Behandlung. »Wer das Leben liebt, fühlt sich vom Lebens- und Wachstumsprozess in allen Bereichen angezogen«, sagt Erich Fromm (1981, S. 43). Wachstumsorientierte Therapie fördert die vorhandenen positiven Ressourcen, baut auf das Gesunde, Normale und ist optimistisch. Der Patient wird als Mensch gesehen, der sich in einem evtl. blockierten Entwicklungsprozess befindet und nicht als gestörter Symptomträger, der in diagnostische Schubladen gesteckt wird. Die Übergänge zwischen gesund und krank sind gleitend, jeder Mensch hat beide Anteile in sich. Und die Menschenwürde, die Einzigartigkeit und Ganzheit der Patienten soll respektiert werden. Die Therapie ist eine Dienstleistung, die transparent für die Patienten sein soll, sie haben ein Recht, Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, sie haben das Recht, ihre TherapeutInnen zu wählen, zu wechseln oder zu kritisieren. »Der Psychotherapeut dient der psychischen Gesundheit des einzelnen Menschen und des gesamten Volkes«, ist § 1 des Vorschlags zu einem neuen Psychotherapeutengesetz (Sulz, 2015).

1.1 Interessiert sich die Therapieforschung nicht für Heilung von Essstörungen?

Warum wird in der deutschen Therapieforschung zu Essstörungen (mit sehr wenigen Ausnahmen) einseitig bisher fast nur die Krankheitsseite betrachtet? Ist Krankheit interessanter als Gesundheit? Weshalb interessiert man sich kaum für die Möglichkeiten der Genesung? Gibt es da einen blinden Fleck? Wie kann es sein, dass ein für die Psychotherapie von Essstörungs-Patientinnen so enorm wichtiges Thema in der Therapieforschung weitgehend ignoriert wird? Möglicherweise hat das wissenschaftliche Desinteresse am Thema Heilung bei Essstörungen damit zu tun, dass zwischen Wissenschaft und Praxis eine Lücke klafft. Mc Gilley & Szablewski bezeichneten dies 2010 (S. 210) auch als »scientist/practicioner gap« auf dem Feld der Essstörungen und kritisieren in diesem Zusammenhang, dass die elementarste Frage, was Heilung ist, nicht beantwortet wird. Welche Lücke ist das? Aus dem psychotherapeutischen Alltag der Berufspraktiker ergeben sich tagtäglich wertvolle Erfahrungen: Hier entstehen Ideen, neue Blickrichtungen und Weiterentwicklungen, hier wird mutig erprobt und verändert, hier zeigt sich, welche Methoden sich bewähren und welche nicht, was noch fehlt, differenziert oder vereinfacht werden könnte. In der Therapiepraxis gibt es einen großen Erfahrungs- und Wissenspool, der aber nur spärlich von der Therapieforschung genutzt wird. Weshalb eigentlich nicht? Eine alte arabische Weisheit sagt: »Frage lieber einen Praktiker um Rat als einen Gelehrten.« »Das, was Psychotherapeuten tun, ist nicht weniger und nicht mehr als das, was Wissenschaftler tun – es ist etwas anderes; man bezeichnet es am besten als professionell«, schreibt M. B. Buchholz in seinem Buch »Psychotherapie als Profession« (1999). Durch diese Aufspaltung in »zwei Welten« (Praxiserfahrung vs. wissenschaftlicher Elfenbeinturm) entsteht oft eine Entfremdung der Therapieforschung von der Realität. Allerdings muss dabei differenziert werden zwischen den ausschließlichen Wissenschaftlern und denen, die noch selbst umfangreich psychotherapeutisch tätig sind und selbst eine praxisorientierte Therapieforschung betreiben (siehe integrative Forschungsansätze von Sammet et al., 2015).

Aus meinen jahrzehntelangen Erfahrungen, in denen ich über die externe Betreuung von vielen psychologischen Diplom- und Bachelorarbeiten die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis fördern wollte, kann ich schlussfolgern, dass dieser Austausch und die Kommunikation nicht funktionieren. Kein Einziger der universitären Betreuer der wissenschaftlichen Arbeiten interessierte sich näher für die Themen oder wollte mehr über die Hintergründe erfahren, und der direkte Kontakt wurde vermieden. Über die Gründe dafür kann ich nur Vermutungen anstellen: Liegt es daran, dass diese Leute mit Lehre und Forschung, dem Druck, möglichst viel zu publizieren, viele Fördermittel einzusammeln und ihre Karriere zu forcieren, so überlastet sind, dass sie sich deshalb abschotten müssen? Weshalb schmoren sie lieber im eigenen Saft (Dörner [2015] nennt das »konfirmatorische Kognitionen«) und zitieren sich immer nur gegenseitig, statt auch Impulse vom außeruniversitären Publikationsbereich zuzulassen? Warum werden häufig die innovativen Forschungsansätze aus dem Ausland ignoriert? Oder liegt es an der mangelnden Wertschätzung der Expertise der Berufspraktiker, die jedoch ab und zu mal ihr »Patientengut« als Probanden zur Verfügung stellen dürfen und denen man auch Ideen oder geistiges Eigentum stehlen darf (ich spreche hier aus eigener Erfahrung)? Wir Berufspraktiker haben aber weder die Infrastruktur noch genügend Geld und Zeit, um uns mit Forschungsthemen zu befassen, es ist auch nicht unsere vordringliche Aufgabe. Therapieforschung ist komplex, teuer und aufwendig, und die Grenzen der Therapieschulen und der Richtlinientherapie bestehen noch immer, sodass es neue oder schulenübergreifende Ansätze schwer haben, beforscht zu werden.

1.2 Weg von den Therapieschulen, hin zur Integrativen Therapie

Der Streit zwischen den Therapieschulen, den ich persönlich seit vielen Jahrzehnten mit vielen meiner Kollegen (siehe vor allem Sponsel, 1995) zu überwinden versuche, ist destruktiv und blockiert die notwendige kreative Weiterentwicklung der Therapiekonzepte und entsprechenden Prozessforschung.

»In konkreten Therapiesituationen »erscheint es allemal sinnvoll, das zu tun, was die meisten Praktiker ohnehin tun: Settings variieren, Methoden flexibel kombinieren und – innerhalb eines bestimmten Indikationsrahmens – probieren, was passt und wirkt. Wie ist es dann aber mit der Wirksamkeit? In letzter Instanz entscheiden lebendige Klienten über die Wirksamkeit unserer Bemühungen und nicht Statistiken über die Wirksamkeit von Verfahren. Wenn man viele verschiedene Therapeuten direkt beobachtet, wird schnell klar, dass es keinesfalls Methoden sein können, die »wirken«. Was als Botschaft wirkt, ist die Konsistenz von persönlicher Ausstrahlung, Konzept, Methode und Performance. Genauso, wie es eben keine Störungen oder Symptome sind, die behandelt werden, sondern Menschen und soziale Systeme mit Störungen (Konflikten, Problemen, Leiden), aber auch mit Potenzialen und Ressourcen. Der aktuelle Forschungsstand bestätigt die klinische Erfahrung, dass etwa 70 % der Gesamtwirksamkeit in therapeutischen Prozessen auf generelle (sogenannte »unspezifische«) Faktoren bei Therapeuten und Klienten zurückgeführt werden können. Interaktive Präsenz, Zugewandtheit, Balance zwischen Engagement und Gelassenheit, Optimismus, Hoffnung, emotionale Kompetenz und Schwingungsfähigkeit, Kongruenz, Affektabstimmung, Wertschätzung, positive Ausstrahlung, klinische Erfahrung, soziale Kompetenz und Bindung spielen auf Therapeutenseite eine wichtige Rolle. Die Wirksamkeit von Psychotherapie lässt sich nur in sehr geringem Maße auf den Einsatz von bestimmten Verfahren und Methoden zurückführen. Eine in die Zukunft weisende Psychotherapie-Forschung wird sich daher nicht mit einzelnen Verfahren und Methoden, sondern mit dem Zusammenspiel wirksamer Faktoren im psychotherapeutischen Prozess beschäftigen. Die Psychotherapie-Forschung muss sich darüber hinaus sowohl auf die Ergebnisse in der Behandlung spezieller Störungen als auch auf die allgemeine Gesundheitsentwicklung von Klientensystemen beziehen (Wachstum, Resilienz, Salutogenese, Lernfähigkeit, Identität). Nur eine solche doppelte Perspektive, die zugleich störungsbezogen als auch entwicklungs- und ressourcenorientiert ist, wird den Klienten und einer humanen Orientierung gerecht. Es ist an der Zeit, die unfruchtbaren Grabenkämpfe einzustellen und eine gemeinsame Sprache für das zu (er)finden, was wir tun – gerade weil die Freiheit, es auf sehr unterschiedliche Weise zu tun, eine fundamentale Voraussetzung für die psychotherapeutische Arbeit darstellt.« (Jan Bleckwedel, 2006)

1.3 Warum ist das Thema Heilung bei Essstörungen heute wichtig?

Störungstheorien, Krankheitsmodelle, Krankheitserleben, Krankheitsverständnis, Diagnostik der Krankheitssymptome, Morbidität, Mortalitätsraten, Defekt, Defizit, Symptompersistenz, strukturelle Beeinträchtigungen, Chronifizierungsneigung . . . diese und ähnlich hässliche Stichworte fand ich in Fachbüchern und Fachzeitschriften, die sich mit der Behandlung von Menschen beschäftigen, die unter Magersucht, Bulimie oder Esssucht leiden. Wie fühlt sich ein Mensch, der Hilfe und Unterstützung sucht und einfach nur wieder gesund werden möchte, wenn er etwas Derartiges liest? Was ich in keinem dieser Bücher fand, waren die Stichwörter Genesung, Heilung, Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensqualität, Lebenszufriedenheit. Sind dies etwa keine Therapieziele bei der Behandlung? Aber welche dann? Einzig die Positive Psychologie (Frank, 2010, Joseph & Linley, 2010, Linden & Weig, 2009, Auhagen, 2004) befasst sich in den letzten Jahren mit der Förderung des Wohlbefindens. Die Arbeit am Wohlbefinden unterstützt und beschleunigt den Heilungsprozess.

Die Informationen für die von Essstörungen Betroffenen müssen realistischer und damit hoffnungsvoller werden. Leider kursieren immer noch völlig falsche Vorstellungen sowohl über die diagnostische Einordnung von Essstörungen als auch über die Behandlungsmöglichkeiten, z. B. unwahre Behauptungen, wie »einmal essgestört, immer essgestört«. Es wird noch immer proklamiert, Essstörungen seien Süchte, die nur durch Abstinenz zu behandeln seien (siehe die Selbsthilfeorganisation »Overeaters Anonymous«). Die Frage wäre dann, was bei Essstörungen denn Abstinenz bedeuten soll, wenn das Essen lebensnotwendig ist. Viele der jungen Betroffenen holen sich ihre Informationen bevorzugt aus dem Internet. Dort werden auf sogenannten Expertenseiten pessimistische Sichtweisen der Heilungschancen für Essstörungs-Patientinnen verbreitet. »Warum gibt es keine komplette Heilung bei Essstörungen?«, schreibt beispielsweise Gunborg Palme, eine schwedische Psychotherapeutin, die als Expertin eine groß aufgemachte Online-Beratung für Essstörungen anbietet. Auch in einem medizinischen Informationsportal (www.navigator-medizin) wird über die Heilungschancen bei der Magersucht Pessimistisches ausgesagt: »Wenn man unter vollständiger Heilung versteht, dass Essen eine völlig entdramatisierte, normale Rolle im Leben spielt, dann ist das eher eine Illusion. Menschen mit Magersucht behalten auch nach überstandener Erkrankung meist ihr Leben lang ein ›spezielles Verhältnis‹ zum Essen.«

Wie erschreckend diese Desinformationen sein können und zu welchem Misstrauen gegenüber Psychotherapie, zu welcher Resignation, Selbstablehnung und traurigen Konsequenzen sie führen können, zeigt der Brief einer Betroffenen.

Auszüge aus einem Leserbrief (Neudegger, 2012): »Ich bin 43 Jahre alt, mindestens 20 Jahre davon essgestört, ich weiß also, wovon ich rede. Weil eben jede Magersucht zwangsläufig zur Fresssucht wird, liegt es in der Natur der Sache, dass eine endgültige Heilung schier unmöglich ist. Sucht ist Sucht. Der einzige Weg einer Heilung liegt in der völligen Abstinenz des Suchtmittels. Schwierig, das Essen wegzulassen, nicht wahr? Verabschiedet euch von Heilsversprechen jeglicher Art! Letztendlich ist die Therapie von Essgestörten ein lukratives Geschäft, und wir Betroffenen sind nur gern gesehene Konsumenten von einer Vielzahl an immer noch besseren, noch moderneren Therapieansätzen. Ebenso wie körperlich und geistig Behinderte an einem gewissen Punkt ›austherapiert‹ sind und nichts anderes bleibt, als ihnen eine würdevolle Integration in unser Sozialwesen auch mit Behinderung zu ermöglichen (und nicht auf eine endgültige Heilung zu pochen) – so sollte dies auch im Umgang mit Essgestörten zur Regel werden. Denn lebenslange Heilung von Essstörungen ist eine Mär. Wer als Journalist oder Wissenschaftler anderes behauptet, ist lediglich den beschämten Leugnungsversuchen der Betroffenen aufgesessen.«

In einer englischen Studie (K. Stockford et al., 2007) wurde festgestellt, dass über Heilungsmöglichkeiten nicht informierte Patienten mit Essstörungen sich stark mit ihrer Krankheit identifizierten. Sie hielten sich für chronisch krank und unheilbar. Sie glaubten, dass eine Behandlung ihnen nicht helfe und sie ihre Krankheit auch nicht bewältigen könnten (also eine Art sich selbst erfüllende Prophezeiung). Fazit der Studie: Essgestörte Patienten sollten ein realistisches und differenziertes Bild der Behandlung bekommen und erfahren, dass sie Chancen auf eine Besserung oder Gesundung haben. Mit diesem Buch möchte ich genau das erreichen. Eine umfassende und differenzierte Aufklärung über die realistischen Behandlungs- und Heilungschancen bei Essstörungen ist dringend erforderlich! Es gibt zwar keine Garantie für eine Genesung nach dem Motto »Problem erkannt, Problem gebannt«, aber es gibt eine ganze Reihe von seriösen Chancen, die man nutzen kann. Eine meiner (ursprünglich unter einer sehr schweren Magersucht leidenden) Patientinnen, die sich nun im letzten Drittel der Psychotherapie befindet, sagte mir im Rückblick, wie wichtig ihr meine Aussagen hinsichtlich der guten Heilungschancen gewesen waren. »Sie gaben mir die Zuversicht und die Kraft, mich auf die Therapie wirklich einzulassen und Hindernisse zu überwinden.«

Ein gutes Beispiel für positiv dargestellte, aber realistische und umfassende Informationen über die Heilungsprozesse, Unterstützung und die Heilungschancen von Essstörungen gibt es in Australien auf der Internetseite des Gesundheitsministeriums (NEDC