Heinz G. Konsalik
Roman
Die drei Wagen der Baubrigade wurden in Lebedewka mit Stirnrunzeln und Schweigsamkeit empfangen. Während Schemjakin und die Abordnung weiterfuhren zu Korolews Haus, blieb Walja vor dem Anwesen der Beljakows stehen und stieg schnell aus ihrem Jeep. Jugorow dagegen ließ sich Zeit; er wartete.
Natürlich saß der alte Beljakow wieder auf der Bank vor dem Haus, in vollem Ordensschmuck, rauchte gerade eine selbstgeschnitzte Pfeife und war stolz darauf, in diesem Alter noch den selbstangebauten Tabak vertragen zu können. Sein Sohn, dieser Weichling, krümmte sich jedes Mal schon nach drei Zügen und rang nach Luft, schrie verzweifelt, warum Großväterchen getrocknete Schweinescheiße rauche und musste seine Kehle mit kaltem Wasser vom Brand befreien.
Seit undenklicher Zeit – fünfzig Jahre konnten es sein – tobte auch der Kampf zwischen dem Alten und Korolew, dessen ebenfalls selbstangebauter Tabak unvorsichtige Gäste, die sich zum Rauchen einladen ließen, auf den Rücken warf. Nach jeder Ernte und der nötigen Trockenzeit, in der Beljakow und Korolew ihre Tabakblätter nach eigenem Geheimrezept fermentierten, fand eine Art Duell statt. Man kann’s auch Wettkampf nennen, aber die Leidenschaft, mit der dieser Tabakkrieg ausgetragen wurde, kam schon eher einem Duell gleich.
In der Stolowaja kam man zusammen, vor dem ganzen Dorf, das diesen Tag wie einen Jahrmarkt feierte. Beljakow und Korolew tauschten ihre Tabake aus, stopften sich damit die Pfeifen und rauchten los. Hin und her ging das; in dem einen Jahr rannte der alte Beljakow wie abgeschossen zum Scheißhaus hinter der Stolowaja, im nächsten Jahr wurde Korolew gelb im Gesicht, drückte die Hände gegen den Leib und verschwand ebenso schnell. Nur ein einziges Mal, das war vor vierzehn Jahren, hielten beide durch, neun Pfeifen lang – bis es allen Zuschauern zu langweilig wurde. Erschüttert war da Großväterchen nach Hause gegangen, hatte seinen Fermentsud angestiert, ihm einen Tritt gegeben und gebrüllt: »Teufelsdreck, du! Grigori Valentinowitsch muss ein Gegenmittel geschluckt haben! Im nächsten Jahr kommt schwarzer Pfeffer rein.«
Und tatsächlich: Dieses nächste Duell hatte dann der alte Beljakow schon bei der ersten Pfeife gewonnen …
Jetzt stieß er dicke Qualmwolken aus, als er Walja auf sich zukommen sah und stemmte seinen Stock in die Erde. Am Fenster erschien seine Schwiegertochter, diese nach seiner Meinung hirnlose Kuh, und winkte der Ankommenden zu. Die drei kleinen Kinder riefen im Haus: »Die Tante kommt. Die Tante kommt! Guten Tag …« In der Brust des Alten wallte der Groll hoch.
»Aha, die Genossin Ärztin!«, sagte er laut und klopfte mit dem Stock auf die Erde. »Was ist mit Andrej Nikolajewitsch, meinem Enkelchen?«
»Ach, Großväterchen!« Walja setzte sich zu Beljakow auf die Bank. Er sah sie missmutig an, blies ihr eine Qualmwolke ins Gesicht und freute sich, dass sie hustete. »Es geht aufwärts mit ihm.«
Noch am Morgen war Nachricht aus dem Schwarzen Haus gekommen, dass alle befreiten Geiseln sich bestens fühlten. Soja kümmere sich um sie, es sei genug zum Essen und zum Trinken da, und Trofimow habe sogar einen Extrafangtag eingelegt und sei mit einem ganzen Korb voll frischer Fische zurückgekommen. Dies hatte den alten Beljakow besonders geärgert. Zwischen Trofimow und ihm schwelte ein ewiger Hass, nachdem Trofimow ihn einmal gefragt hatte: »Wofür hast du die Orden bekommen? Ist schon eine Leistung, den ganzen Krieg über Scheißhäuser zu putzen …«
So etwas vergisst man nicht, und wenn man hundert wird. Ein Feldwebel der Roten Armee besitzt eine unantastbare Ehre.
»Was wollen Sie, Genossin Ärztin?«
»Für meine Bemühungen um deinen Enkel komme ich kassieren.«
»Haha! In der Sowjetunion ist ärztliche Behandlung frei!«, schrie der Alte. »Kassiere in Moskau oder Tobolsk. Niemand hat Sie übrigens gerufen!«
»Es ging deinem Enkel schlecht, Großväterchen«, sagte Walja mit ernster Stimme. Aber in ihren Augen blinkerte das Lachen. »So schlecht, dass man ernste Sorgen hatte.«
»Ich nicht. Er hat einen Beljakowschädel.«
»Wer spricht vom Schädel? Zum Tode sollte er verurteilt werden, und wie fühlt er sich jetzt? Na? Ist das nicht ein Schaf wert?«
»So kommt ihr mir? So?!«, schrie der Alte sofort. »Die Gerechtigkeit hat gesiegt, so muss man’s sehen.«
»Aber ohne tatkräftige Nachhilfe wäre es nicht gelungen. Die Gerechtigkeit, das weißt du, gehört zu den großen Blinden. Großväterchen …«
»Kein Gesäusel!«, brüllte Beljakow. »Nur zehn Schafe habe ich …«
»Neun …«
»Zehn …«
»Eins wird gerade von deiner Schwiegertochter weggeführt für mich …«
Der Alte zuckte hoch, warf die Pfeife weg, hob den Stock und stierte wild um sich. Die Frau seines Sohnes führte an einem Strick ein schönes Schaf zum Jeep, wo Jugorow den Strick übernahm. O je, wie tobte der Alte. Wer hätte gedacht, dass er noch so munter auf den Beinen war, dass er so herumspringen konnte.
»Gib es her, Halunke!«, brüllte er zu Jugorow hin. »Welch eine taube Nuss, meine Schwiegertochter! Kinder kann sie kalben, aber sonst ist sie zu nichts nutze. Das Schaf her, Jugorow! Verflucht seid ihr alle!«
Jetzt kamen auch noch die anderen Enkelchen aus dem Haus, umarmten Walja, küssten sie und riefen immer wieder: »Andrej ist frei! Andrej ist frei! Danke – danke – danke!«
»Eine gute Erziehung haben die Kinder«, sagte Walja zu dem mit den Zahnstümpfen knirschenden Beljakow. »Sie wissen, was Dankbarkeit ist. Von ihrem Großvater haben sie das nicht gelernt.«
»Was noch?«, fragte der Alte und hieb mit seinem Stock gegen die Wand des Hauses. »Heraus damit – was noch?«
»Mehl und Grütze. Zwei Fässchen Sauerkohl. Auch eingestampfte gesalzene Butter wäre gut …«
»Kein Störfilet?«, höhnte Beljakow. »Kein Ochsenzünglein? Kein Leberchen? Kein Rebhühnchen oder Fasanchen? Oder ein Häschen gefällig? Schwiegertochter, du Dickarsch, haben wir noch ein Haselhuhn in Gelee versteckt?«
»Nicht alles auf einmal, Großväterchen«, lachte Walja und gab dem atemlosen Alten einen Kuss auf die Knollennase. »Ich komme wieder.«
»Eine Festung mache ich aus meinem Haus!«, brüllte Beljakow ihr nach, als sie zurück zum Jeep ging, wo Jugorow das blökende Schaf am Strick hielt. »Ganz andere Stürme habe ich ausgehalten. Damals, bei Rshew … vier Sturmangriffe der Deutschen … da werd ich auch mit dir fertig werden, Genossin Ärztin!«
Kurz und gut: Der Besuch in Lebedewka erwies sich als ein voller Erfolg. Korolew erwähnte zwar mit keinem Wort die Geiseln, um Schemjakin nicht in einen seelischen Konflikt zu stürzen, denn deren gewaltsame Befreiung musste er verurteilen und anzeigen, aber auch er brauchte für seine dreihundert Männer das Essen. Im Augenblick war dies wichtiger als alles andere. Im Lager bauten sie schon große Steinöfen für jeden Barackenblock; elektrische Kochplatten hatten nur die Herren Ingenieure, das Kochgas war in die Luft geflogen, und ein Magazin, in dem man alles hätte kaufen können, gab es ja nicht mehr. Es blieb also gar nichts anderes übrig, als zum guten alten Sibirien zurückzukehren und wieder Steinöfen zu errichten aus festem Flussgestein, in Jahrtausenden rund geschliffen und noch Jahrtausende überdauernd. Auch in den Baracken wurde fleißig gemauert – wusste man denn, ob nicht das Kesselhaus für die Gesamtheizung das nächste Ziel der Terroristen war? Auf der Hand lag’s, und ehe man später in der großen Kälte werkelte, war es angenehmer, noch bei mäßiger Hitze die Steine vom Fluss zu holen und kunstvoll die Öfen zu bauen. Material hatte man ja genug. Außerdem war seit dem Morgen der erste Trupp unterwegs, um Bäume zu fällen, sie zu zerschneiden und Brennholz daraus zu hacken. Ein in seinem Haus frierender Russe ist eine Seltenheit.
Hinzu kam, dass beim Abflug der letzten Kommission der fette Koskajew zu Schemjakin gesagt hatte: »Mein lieber Boris Igorowitsch …« – was schon bedenklich war, denn kaum einer hatte Koskajew jemals so freundlich gesehen »… mein Lieber, wir werden alles tun, um Verpflegung und eine neue Küche zu euch zu bringen. Nur Geduld, darum muss ich bitten. Verpflegt euch die nächsten Tage selbst. Presst dieses verfluchte Lebedewka aus. Ich garantiere, es kommt Nachschub.«
»Das geht eine Woche gut, Genosse Koskajew«, entgegnete Schemjakin mit tiefem Ernst, »dann steigen wir auf die Wagen und fahren geschlossen zurück nach Tobolsk. Wir sind keine Sträflinge! Wir sind Mitglieder der arbeitenden Klasse! Genossen sind wir, Genosse! Wir haben nicht verdient, dass wir hungern.«
»Es kommt, es kommt!«, rief Koskajew und hatte es eilig, seinen Hubschrauber zu erreichen. Auch er hatte die dünne Kohlsuppe der Rotarmisten essen müssen, noch jetzt blubberte es in seinem Bauch. »Mobil werde ich machen, was sich mobil machen lässt.«
Das war eine ausgesprochen diplomatische Wendung gewesen, denn wer die sowjetischen Beamten kennt, der weiß, wie wenig mobil sie sich machen lassen. Und so sah es auch Ingenieur Schemjakin, als er jetzt Korolew, dem Ortsvorsteher, seine Lage vortrug und an das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Russen appellierte.
»Wir haben uns das schon gedacht«, meinte Korolew und bot Schemjakin seinen selbstgebrannten Wodka an, einen herrlich weichen – nicht so eine flüssige Granate, wie sie Trofimow braute. »Nur gibt’s Bedenken, große sogar.«
»Und die wären?«
»Wir ernähren die, die uns vertreiben wollen. Es ist ein Selbstmord auf Umwegen. Kann man das von uns verlangen?«
»Am Damm wird nicht weitergearbeitet, Korolew. Ist das ein Wort?«
»Wenn man’s glauben darf …«
»Wir können gar nicht weiterarbeiten. Holz müssen wir schlagen, Öfen bauen, das Lager winterfest machen. Die Kommission aus Tobolsk hat keine neuen Pläne mitgebracht, keine Instruktionen, wie’s weitergehen soll. Wir wissen nur, dass man uns einen vernichtenden Schlag versetzt hat.«
»Was hat Lebedewka damit zu tun, Genosse Oberingenieur?«
Schemjakin lächelte trübe in Korolews wetterzerfurchtes Gesicht. »Wir kommen zu Ihnen und bitten um Hilfe. Wir bitten! Es gab, unter uns gesagt, auch Vorschläge, alle Vorräte zu beschlagnahmen. Aber verdammt, ich will nicht noch mehr Blut sehen. Leben wollen wir doch alle, Korolew, leben! Wir handeln auch nur nach Befehlen. Auch uns schafft man in die Straflager, wenn wir nein sagen. Die meisten haben zu Hause ihre Familien, Frauen und Kinder; für sie arbeiten sie hier in diesen mistigen Sümpfen. Nur für sie.«
»Und wir haben hier seit zweihundert Jahren gearbeitet, haben den Sümpfen und Wäldern unsere Äcker abgerungen, haben weite Gebiete trockengelegt, haben hier unsere Häuser gebaut, sind hier geboren und gestorben – es ist unsere Heimat geworden … und da wird nun auf einmal ein Plan gemacht und ein Strich durch die Landschaft gezogen, und man sagt uns, das soll ein Kanal werden. Von den Menschen, die dort wohnen, spricht jedoch keiner. Sie sind im Weg wie Bäume, man fällt sie und schafft sie weg. Und Sie, Genosse Schemjakin, Sie führen das aus. Um zu leben, wie Sie sagen. Wer fragt uns, wie wir leben?« Korolew winkte ab. »Hat’s Sinn, darüber zu reden, Genosse Oberingenieur? Wir können’s nicht ändern.«
»Nein, Sie nicht, Korolew«, sagte Schemjakin doppelsinnig. »Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie dreihundert Mann die nächste Woche überstehen.«
Das Nachdenken hatte Erfolg. Korolew garantierte der Baubrigade zwei Kühe, ein Schwein und fünf Schafe, dazu Mehl, Kleie, Grütze, gesäuerten Kohl, rote Rüben, weiße Rüben und dicke Bohnen. Nur wie er diese Köstlichkeiten zusammenbekommen sollte, das wusste er noch nicht. Erleichtert atmete er auf, als Jugorow und Walja eintrafen, denn hinter ihrem langsam fahrenden Jeep trottete an einem Strick ein protestierend blökendes Schaf.
»Woher?«, rief Korolew sofort.
Und als Walja lachend zurückrief: »Von Großväterchen Beljakow!«, da lachte auch er, denn wenn man Beljakow überredet hatte, dürften die anderen keine unüberwindlichen Schwierigkeiten machen.
Jugorow und Korolew begrüßten sich wie zwei Fremde oder wie zwei, denen der Anblick des anderen Unbehagen bereitete. Zu viele Augen beobachteten sie, aber in einem günstigen Moment blinzelte Korolew ihm zu. Alles in bester Ordnung, Igor Michailowitsch, hieß das. Unseren zehn Freunden geht es gut.
Auf der Rückfahrt nahmen die Männer der Baubrigade bereits eine Kuh, zwei Schafe und Säcke voll Mehl und Grütze und vier Fässer Sauerkohl mit. Korolew hatte das »vorgestreckt« aus eigenem Bestand. Wenn er nachher im Dorf herumging und sammelte, würde es sicher ein großes Geschrei geben. Schemjakin hatte alles in bar bezahlt; den Preis, den Korolew ihm genannt hatte. Die Rubelscheine auf dem Tisch beschwerte Korolew mit einer Tonvase und begleitete die Besucher vor die Haustür. Walja und Jugorow hatten sich schon vorher auf den Rückweg gemacht, das Schaf hinter sich herziehend.
Niemand ahnte oder bemerkte, dass in der Gabelung eines Baumes, hoch oben in der breiten, kräftigen Krone, ein Mann hockte und mit einem starken Fernglas die Dorfstraße und die nähere Umgebung von Lebedewka kontrollierte. Ein Fahrrad – es war das von Vorarbeiter Noskow, der sich jedes Mal in die Hand versprechen ließ, eventuelle Reparaturen nicht mehr bezahlen zu brauchen – lag versteckt in einem dichten Gebüsch.
Es war kein bequemer Sitz da oben im Baum, aber Meteljew hatte von dort einen guten Überblick und beobachtete vor allem Walja und Jugorow. Sein Misstrauen gegenüber Jugorow konnte er nicht erklären, ein vages Gefühl war’s nur, eine innere Unruhe, obwohl Krasnikow ihn ausgelacht und gesagt hatte: »Babrak Awdejewitsch, warum so nervös? Noch ist die Woche nicht herum, und wenn du Igor Michailowitsch im Visier hast, läuft uns der ›Spezialist‹ davon. Du suchst in der verkehrten Richtung.«
»Ich nehme an, dass Walja weiß, wo die Geiseln sich versteckt halten, und in diesem Fall weiß es auch Jugorow!«, sagte Meteljew stur. »Und wo die Geiseln sind, finden wir den ›Spezialisten‹. Walja oder Jugorow wird uns zu ihnen führen … ist das logisch?«
»Kaum.« Krasnikow hatte den Kopf geschüttelt. »Wäre es so, dann müssten Jugorow und Walja Borisowna auf der anderen Seite stehen, dann müssten sie zu den Terroristen gehören.«
»Walja ist Ärztin, eine fanatische Ärztin; nur Kranke kennt sie und macht keine Unterschiede. Den Saboteur behandelt sie genauso, wie sie uns behandeln würde. Ein Kranker ist für sie nur ein Mensch, gleichgültig, woher er kommt und wer er ist.«
»So muss ein Arzt denken, mein Lieber.«
»Und weil sie so denkt – ich wiederhole es, Victor Ifanowitsch –, führt sie uns unbewusst zu den Geiseln. Sie muss nachsehen, wie es ihren Patienten geht. Dieser Gedanke lässt mich nicht mehr los …«
Hier oben im Baum nun, in der Astgabel hockend, wurde Meteljew enttäuscht. Er beobachtete das Gespräch mit Großväterchen Beljakow und die Schafübergabe; er sah, wie Walja und Jugorow zu Korolew fuhren und dort die anderen aus dem Bau trafen, wie man die Kuh, die Schafe und die Lebensmittel in den großen Lastwagen lud – vor allem die Kuh machte große Schwierigkeiten und musste von sechs Mann die schräge Laderampe hinaufgedrückt werden – und wie dann alle wieder zurück nach Nowo Gorodjina fuhren.
Walja und Jugorow hielten noch einmal kurz vor Beljakows Haus. Der Alte hatte mit seinem Stock gewunken und das bekannte »Stoj! Stoj!« geschrien.
»Noch eine Antwort, Jüngelchen!«, rief er. »Wie ist das mit den sechstausend Klopsen? Keiner kann’s mir erklären, alle lachen mich aus, wie ein Stiefelpisser stehe ich da … aber du hast’s gesagt, du musst wissen, was damit los ist.« Die sechstausend Klopse hatten ihn die ganze Zeit verfolgt.
»Sechstausend Cheops!«, rief Jugorow zurück und lachte nun auch. »Cheops …«
»Was ist Cheops?«, brüllte Großväterchen. Jugorows Lachen reizte ihn maßlos. Noch denke ich klar, noch hab’ ich keine Greisenverkalkung. Noch alles weiß ich und kann’s erzählen … der Grabenkrieg bei Orscha und Smolensk, der Vormarsch auf der Rollbahn bis Baranowitschi, dann die Verlegung in die Pripjetsümpfe, Millionen Mücken in der Suppe, die Laufstege unter Wasser, der Einzelkampf gegen die Deutschen im Schilf … ha, alles weiß ich noch. Haltet mich nicht für blöd wegen der sechstausend Klopse – oder vielmehr Cheops.
»Eine Pyramide ist’s«, rief Jugorow ihm zu.
»Welche Blinis?«, brüllte der Alte.
»Ein Grabmal eines Königs. In Ägypten.«
»Was geht mich Ägypten an?« Großväterchen Beljakow fühlte sich verspottet. Mit dem Stock hieb er wieder an die dicke Bohlenhauswand und schäumte vor Zorn. »Wenn du Mut hast, komm her zu mir, du Arschloch!«, tobte er. »Erst sechstausend Klopse, jetzt Ägypten! Behandelt man so einen Veteranen? Ah, du wagst es? Nur zu, nur zu …«
Jugorow war ausgestiegen, hatte zu Walja gesagt: »Es dauert nur einen Augenblick«, und betrat jetzt den Vorgarten. Der Alte hüpfte in Kampfstellung, streckte den Stock vor, kniff die Augen zusammen und tänzelte auf seinen krummen Beinen herum wie ein Fechter. Man muss das anerkennen: Mut hatte er noch immer, und in solchen Situationen vergaß er sogar, dass er Rheuma hatte und zusammengeschrumpft war.
Drei Schritte vor Beljakow blieb Jugorow stehen und blieb so außerhalb der Reichweite des vorstoßenden Stockes. »Großväterchen«, sagte er so leise, dass nur der Alte ihn hören konnte, »sag deinem Enkel, dass ich am Sonntag nach der Kirche zu ihm komme …«
»Allein?«
»Mit der Genossin Ärztin.«
»Wann darf Andrej Nikolajewitsch wieder nach Hause?«
»Sobald es sicher ist, dass man nicht mehr nach den Geiseln sucht.«
»Lange kann das dauern.«
»Warte ab. Es kommen unruhige Wochen.«
»Wer soll daraus klug werden«, sagte der Alte und ließ den Stock sinken. »Bist der große Partisan und holst Verpflegung für deine Feinde …«
»Wie oft habe ich’s euch gesagt: Das Material vernichte ich, nicht die Menschen. Zehn gesprengte Kräne tun mehr weh als zehn getötete Menschen. An Menschen haben wir genug in Russland.«
»Aber sie machen den Menschen zum Material, Jugorow … überleg das mal.«
»Sehr klug, Großväterchen«, sagte Jugorow verwundert.
»Ha! Kein Idiot bin ich. Man sieht mich nur so an! Ich sehe und höre mehr als ihr jungen Halunken.« Er streckte seinen Kopf vor und wackelte mit ihm hin und her. »Was ist nun, erklär es mir genau: sechstausend Klopse oder sechstausend Blinis … bekommen das die in Ägypten?«
»Später, Großväterchen, später. Ist noch so viel Zeit, darüber zu diskutieren. Nicht heute.« Jugorow winkte dem Alten zu und ging zurück zu Walja, dem Jeep und dem Schaf.
»Kommt morgen und holt euch zwei Säcke Hafergrütze!«, brüllte ihm Beljakow nach. »Und ein Fässchen eingelegte Rüben hab’ ich auch noch!«
Jugorow winkte ihm zu und ließ den Motor an, und Großväterchen winkte zurück mit dem Stock, was aussah, als drohe er ihm. Man muss sein Gesicht wahren als Veteran mit so vielen Orden. Respekt soll die Jugend haben vor den siegreichen Alten.
»Was hat er gesagt?«, fragte Walja, als sie langsam weiterfuhren. Hinter ihnen hoppelte am Strick das Schaf.
»Wir sollen morgen Grütze und Rüben holen.«
»Merkwürdige Menschen sind es, diese Leute am Tobol.« Walja lehnte sich auf dem harten Sitz zurück. »Sie können töten und lieben, und das alles zur gleichen Zeit.«
Jugorow sah keinen Anlass, dieser Anschauung zu widersprechen; er dachte nur wieder an die Stunde, in der Walja erfahren würde, wer Jugorow war. Von der Seite schaute er sie an, sah das schöne Gesicht mit den im Zugwind wehenden Haaren, die hohen Backenknochen, den energischen Mund, die dunklen Augen unter den zu einem Strich rasierten Augenbrauen, den schlanken Hals … es war ihr zuzutrauen, dass sie im Augenblick der Wahrheit erst ihn und dann sich selbst töten würde, um nichts vom Glück und vom Elend zu hinterlassen. Eine herrliche Frau! Russlands Weite, sein unendlicher Himmel, Russlands heiße Steppenstürme und vereiste Ströme, die grenzenlosen Wälder der Taiga und der Zauber asiatischer Blüten – alles war in ihr. Nie wieder gab es solch eine Frau … nicht für Jugorow, weil er nicht Jugorow war.
Meteljews Ärger hoch oben auf dem Baum war verständlich. Er wusste, dass Krasnikow ihn wieder auslachen würde, wenn er nachher fragte: »Na, großer Indianer und Spurenleser, wen können wir überfallen? Wo laufen die Skalps herum? Lasst uns den Marterpfahl aufrichten!«
Meteljew kletterte, als die kleine Wagenkolonne vorübergegangen war, aus dem Geäst des Baums, holte Noskows Fahrrad hervor und fuhr hinterher. Das war ein Fehler, zu früh gab er auf; denn kurze Zeit später spannte Beljakows Schwiegertochter ein Gäulchen in die Gabel eines flachrädrigen Wagens, Großväterchen ließ sich auf den Sitz heben, winkte seiner im Rollstuhl sitzenden Frau zu – die Enkel hatten sie vors Haus geschoben – und knurrte dann seine Schwiegertochter an: »Nun los. Gib die Peitsche! Von allein läuft es nicht, das Gäulchen. Alles muss man bei euch an treiben, zum Jammern ist’s.«
Mit der Zunge schnalzte er, das Pferd spitzte die Ohren, gab einen zittrigen hohen Ton von sich und zockelte los. Großväterchen raufte sich die Haare.
»Geht’s nicht schneller?«, schrie er. »Kann sie nicht traben, die Missgeburt? Stelzt daher wie ein lahmer Storch! Was ist denn? Was ist denn?«
»Rossana ist sechsundzwanzig Jahre alt, Großväterchen«, sagte die Schwiegertochter geduldig, in zweiundzwanzig Jahren Zusammenleben mit Beljakow abgestumpft und unempfänglich für seine Bosheiten. »Wenn du so alt bist, trabst du auch nicht mehr.«
»Mit sechsundzwanzig lief mir kein Weib davon …«
»Aber Rossana ist einhundertzweiundachtzig nach Menschenalter gemessen. Überleg das mal.« Sie sah den Alten prüfend an. »Bist jetzt schon wie einbalsamiert …«
Großväterchen verschlug es die Sprache; er spuckte auf den Pferderücken und überlegte, ob er seine Schwiegertochter verprügeln sollte. Das wiederum würde allerdings nur unnötige Verwicklungen mit seinem Sohn auslösen, also war man lieber still, schluckte auch diese Schmach und sah sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass die neuen Generationen vor Weichheit wie Pudding zitterten. Der Untergang der Menschheit war nicht aufzuhalten. So Kerle wie er, der die Deutschen besiegt hatte, gab es nie wieder.
Eine halbe Stunde später fuhren sie vor dem Schwarzen Haus vor. Es war das erste Mal seit neununddreißig Jahren, dass der alte Beljakow dieses verruchte Gebäude betrat.
Trofimow, der gerade zu seinen ausgelegten Reusen gehen wollte, blieb ruckartig stehen, als er die Karre mit dem müden, augentriefenden Gäulchen kommen sah.
»Verirrt hat sich einer!«, schrie er sofort. »Hier ist die Hölle! Noch ist’s nicht so weit mit dir, Beljakow!«
»Geh zu deinen Fischen, du Stinkkopf!«, brüllte Großväterchen zurück, tief zufrieden, dass er wieder etwas von sich hören lassen konnte. Die schweigsame Fahrt an der Seite seiner Schwiegertochter hatte ihn sichtlich mitgenommen. »Ha! Sieht er nicht selbst aus wie ein glotzender Fisch? Pass nur auf und fang dich nicht selbst …«
»Latrinenputzer!«, schrie Trofimow.
Ärger ging es nicht mehr. Großväterchen schnaufte, rollte die Augen und klammerte sich an seiner Schwiegertochter fest. »Wo ist mein Gewehr?«, bebte er.
»Im Stall. Verrostet …« Sie stieg vom Bock ab, hob den Alten auf die Erde, und dann breitete sie die Arme aus und begann zu weinen. Andrej Nikolajewitsch, ihr Sohn, stürzte aus dem Schwarzen Haus und lief in die weit ausgebreiteten Arme.
Der Alte juckte sich die Nase, hielt ein Nasenloch zu, rotzte auf den Boden und strahlte seinen großen Enkel an.
»Mein Söhnchen«, sagte er ergriffen. »Umarme mich! Auch im Winter gibt es noch schöne Tage.«
Wer hätte gedacht, dass Großväterchen sogar poetisch werden konnte …
Am Sonntag machte sich Meteljew auf, um nach Lebedewka in die Kirche zu gehen.
Krasnikow tippte sich zwar an die Stirn, sagte spöttisch: »Der ›Spezialist‹ steht immer links vor dem Marienaltar und singt einen schönen Tenor …«, aber Meteljew blieb stur.
Noch drei Tage waren es bis zum Ablauf der Frist, die ihnen General Tjunin gesetzt hatte. Obgleich ihn Krasnikow immer wieder mit der Versicherung zu beruhigen versuchte, in Moskau sei es einfach, Ziele zu setzen; Ziele müsse man sehen, und der »Spezialist« sei nun mal unsichtbar; man solle Tjunin einladen, nach Nowo Gorodjina zu kommen, um die wirkliche Lage zu erkennen – so ließ Meteljew sich davon nicht beeindrucken. Seine Hoffnung war es nach wie vor, Walja werde ihm den Weg zu den befreiten Geiseln zeigen.
»Ich fresse einen Regenwurm, wenn der ›Spezialist‹ nicht dort zu finden ist!«, sagte Meteljew. »Benutzt hat man uns wie Werkzeuge und dann weggeworfen, und wir sind in diese Falle getappt wie Mäuse auf einen Käse! Das hängt an mir. Woher nimmst du bloß diese Ruhe, Victor Ifanowitsch?!«
»In die offenen Arme wird er uns laufen, Brüderchen«, sagte Krasnikow mit Überzeugung. »Nicht zu bemühen brauchen wir uns. Er kommt von allein. Einmal hat er uns ausgespielt, jetzt beobachtet er uns. Und was sieht er? Freunde sind wir zu allen Leuten von Lebedewka, die Geiseln haben wir befreit. Noch ist er voller Misstrauen, wer kann’s ihm verübeln! Doch sobald er von unserer Freundschaft überzeugt ist, wird er aus seinem Bau hervorkriechen. Er braucht noch Männer, Mitkämpfer, Genossen mit Kopf, so wie er von Usbekistan bis zum Tobol seine Spur hinterlassen und überall Widerstandsgruppen gegründet hat. Hier wird er auch eine gründen – mit uns als Mitgliedern! Nur zu warten brauchen wir, Babrak Awdejewitsch. Sei ein guter Russe und hoffe auf die Zeit.«
Meteljews Art war es indessen nicht, zu warten. Es widerstrebte seinem Temperament und seinem Tätigkeitsdrang. Zutiefst befriedigt hatte er sich gefühlt, als die beiden Posten vor dem Geiselzelt lautlos zu Boden fielen. Und sein Herz hatte im Triumph schneller geklopft, als er Nasarow die tödliche Giftnadel in den Körper stieß. Wie sagte Oberst Tobombajew auf der SPEZNA-Schule zu ihm: »Meteljew, Sie haben das Zeug, ein begehrter Mann zu werden. Einer der Besten sind Sie seit Jahren. Sie werden die Welt kennenlernen und Großes leisten für Ihr Heimatland.«
Man kann nichts Großes leisten, indem man wartet. Helden liegen nicht im Bett.
Meteljew lieh sich wieder Noskows Rad; es war unauffällig, gut verstecken konnte man es, und man kam mit ihm auch dorthin, wo sich ein Auto nicht mehr fahren ließ. Beweglich musste man sein; das brauchte Meteljew bei seinem Unternehmen.
Noskow wehrte sich zunächst. Er hatte vor, mit seinem Fahrrad in den Sonntag zu radeln. Mit Buscha, dem Küchenmädchen, auf dem Gepäckträger. Ein stilles Fleckchen wollte er suchen, um ungeachtet des im Lager grassierenden Trippers einem biologischen Drängen nachzugeben. Nicht viel zu tun hatte die mollige Buscha, denn die Küche war ja in die Luft geflogen. Allerdings waren die Ruinen und der Platz davor von dem stinkenden Brei gereinigt worden, und man hatte begonnen, die Trümmer mit den großen Räumern wegzudrücken und aus Fertigteilen eine provisorische neue Küche zu bauen mit anschließenden Magazinen – in der großen Hoffnung, dass aus Tobolsk bald entweder Lastwagenkolonnen oder Flugzeuge mit neuen Lebensmitteln und neuen Küchenkesseln kommen würden. Am Damm für den Kanal wurde nicht mehr gearbeitet; alle Arbeitskräfte bauten im Lager Flusssteinöfen, erneuerten die Straßen, und Schemjakin hatte sogar die verwegene Absicht, eine Straße mit fester Decke bis nach Lebedewka zu bauen.
»Wenn erst der große Schlamm kommt, liegt selbst Lebedewka für uns auf dem Mond!«, sagte er zu seinen Ingenieuren und Zeichnern, also auch zu Krasnikow und Meteljew. »Einen Dreck frage ich danach, ob das in Tobolsk gefällt oder nicht. An den Genossen Koskajew habe ich meinen Plan durchgegeben. Was sagt er, das fette Schweinchen? ›Alles Material, das Sie haben, ist zweckgebunden. Eine feste Straße war nicht vorgesehen; die müsste von Swerdlowsk genehmigt werden. Ich gebe den Antrag weiter.‹ Das sagt er! Ich nehme es auf meine Verantwortung: Wir befestigen die Straße! Für dreihundert Männer habe ich zu sorgen, nicht für einen Speckarsch wie Koskajew.«
»Eine Strafe ist’s, ein Fahrrad zu besitzen!«, klagte also Noskow, als Meteljew es wieder entleihen wollte. »Kommt keinem der Gedanke, dass ich es mal selbst benutzen möchte? Genosse Geologe … morgen geht es. Morgen den ganzen Tag. Aber heute am Sonntag? Ich weiß ja nicht mehr, wie man auf einem Sattel sitzt.«
»Heute brauche ich das Rad«, sagte Meteljew und griff in die Tasche. »Drei Rubel Leihgebühr zahle ich freiwillig.«
»Was sollen mir die Rubel?!«, rief Noskow verzweifelt. »An die Wand kann ich sie mir kleben. Wo kann ich hier noch Rubel ausgeben? Genosse …«
»Nur für den Vormittag, ist das ein Wort? Du bekommst dein Rad wieder für den Nachmittag. Zeit genug für Buscha … auch du hältst nicht ein paar Stunden durch. Sei kein Angeber, Foma Pjotrowitsch. Fünf Rubel, mein letztes Wort.«
Tief seufzend gab Noskow nach. Es ist nicht gut, einen höheren Genossen wie so einen Geologen zu verärgern. Er gab das Fahrrad heraus, ließ sich noch einmal versprechen, dass er es am Nachmittag wiederhabe, und blickte Meteljew nach, wie er davonfuhr. Erst als er außer Sichtweite war, fiel Noskow ein, dass er die fünf Rubel nicht bekommen hatte. Immerhin: Das Geschäft war mit einem Handschlag besiegelt worden. Aber wenn er nun ein Schurke ist? Dann wird er behaupten, er habe mir die Rubel bereits gegeben, dachte Noskow wütend. Aber wehe ihm! Auch einen Geologen kann man schmerzhaft in den Hintern treten!
Meteljew stellte das Rad an einem Eisenkreuz auf dem Friedhof ab und wartete. Die Bewohner von Lebedewka strömten zur Kirche, der Pope Schagin empfing jeden an der Kirchentür, gab jedem die Hand, sagte »Gott segne dich!« und zu Groß Väterchen Beljakow, der seine Frau vor sich her rollte: »Hast du’s gezählt? Fehlt nicht ein Orden?« Worauf der Alte giftig zurückzischte: »Leck mich, Väterchen!« Schagin wiederum antwortete: »Leider bist du nicht aus Schokolade.« – Wirklich, es schien ein feierlicher Sonntag zu werden.
Dichtgedrängt standen dann alle in der Kirche. Niemand fehlte – bis auf Soja Gamsatowna und Trofimow, was viele bedauerten. Nicht, weil sie den Alten heute nicht wieder anfurzen konnten, im Gegenteil: Man wollte den beiden die Hand drücken, freundlich zu ihnen sein, für vieles um ein stilles Verzeihen bitten; denn Trofimow hatte bei der Beherbergung der Geiseln gezeigt, dass er doch zum Dorf gehörte. Das musste anerkannt werden. Aber nun war er nicht da.
Meteljew, hinter der Kirche wartend, wurde unruhig. Drinnen ertönte der erste Gesang, Totengräber Wassja sang vor, der Gottesdienst begann, und von Walja und Jugorow war noch nichts zu sehen. Doch dann machte Meteljew den Jeep von Weitem aus, versteckte sich hinter einem Busch und beobachtete, wie Walja und Jugorow das Gotteshaus betraten.
Glück, komm zu mir, dachte Meteljew fast lyrisch. Lass die zwei nach der Kirche zu den Geiseln fahren. Lass mich den »Spezialisten« sehen. Auch wenn ich nicht weiß, wie er aussieht – ich werde ihn erkennen.
In der ersten Reihe standen, wie immer, Korolew, Rudenko und Goldanski. Neben ihnen, auf die Griffe des Rollstuhls gestützt, murmelte Großväterchen Beljakow vor sich hin. Schagin hatte gerade die Hände gefaltet und sang mit kräftiger Stimme das Eingangslied mit, als sich Goldanski zu Korolews Ohr beugte.
»Meteljew ist draußen«, flüsterte er. »Sitzt auf dem Friedhof. Hinter einem Busch. Denkt, ich hätte ihn nicht gesehen. Gib es weiter an Jugorow; er kommt gerade herein.«
Aber unmöglich war das. Walja stand mit ihm ganz hinten an der Tür, und zwischen ihm und Korolew baute sich die Mauer der dichtgedrängten Leiber auf. Man kam nicht ran an ihn, erst nach dem Gottesdienst.
»Sollen wir bis zum Ende hierbleiben?«, flüsterte Walja und sah Jugorow mit zurück gelehntem Kopf an. »Oder sollen wir sofort weiterfahren?«
»Wie du willst, Waljascha.«
»Dann lass uns gehen. Oder musst du beten?«
»Nicht unbedingt.« Er legte die Arme über ihre Schulter, und seine Hände drückten unbeabsichtigt auf ihre Brüste. Er bemerkte das gar nicht, aber Walja schloss die Augen und gab sich dem heißen Gefühl hin, das sie sofort durchrann. »Du hast noch nie gebetet?«, fragte er.
»Nein. Wo und warum?«, flüsterte sie und meinte, ihre Brüste würden brennen. »Aber ich könnte es lernen … für dich … Gott, beschütze unser Glück …«
»Gott, beschütze unser Glück!«, wiederholte Jugorow leise, nahm seine Hände weg und streichelte ihren Nacken. »Gehen wir, Walja … Schöneres können wir nicht mehr beten.«
Sie nickte wortlos, noch immer den Druck seiner Hände auf ihren Brüsten spürend, und verließ mit ihm die Kirche. Draußen, auf dem Platz, hakte sie sich bei ihm unter.
Meteljew hinter seinem Busch spannte sich und bog die Zweige auseinander, um besser sehen zu können. Jugorow und Walja Borisowna gingen zum Jeep zurück, stiegen ein und küssten sich, bevor Jugorow den Motor anließ.
Das ist es, dachte Meteljew, und sein Herz klopfte heftig. Das ist meine Stunde. Krasnikow. am Nachmittag lachst du nicht mehr über mich. Ich werde dir sagen, wie der »Spezialist« aussieht, ich kann dich zu ihm führen, wir haben unseren Auftrag erfüllt. Befördert werden wir, vier Wochen Erholung auf der Krim, die Tapferkeitsmedaille, ein neuer Einsatz, diesmal im Ausland … Victor Ifanowitsch, du träger Ochse, die letzte Kugel des Roulettes rollt für uns!
Er wartete, bis Jugorow und Walja abgefahren waren, und schwang sich dann auf Noskows Fahrrad. Langsam fuhr er ihnen nach, weil auch sie sehr langsam fuhren, und als sie an einer Stelle, wo eigentlich keine Straße war, sondern nur eine Art Trampelpfad, abbogen, hinein in diese Wildnis, die hinter ihnen wie ein grüner Vorhang zusammenfiel, wusste Meteljew, dass er das große Ziel erreicht hatte.
Er wartete eine Minute, fuhr dann ebenfalls in den Pfad hinein, sah auf dem glitschigen Boden deutlich die Reifenspur des Jeeps, und wo sie auch hingefahren waren, man konnte sie jetzt nicht mehr verlieren.
Aber schwierig war’s und wurde nach ein paar Minuten sogar unmöglich, ihnen auf dem Rad zu folgen. Kaum treten konnte er noch, die Räder sanken ein, der sumpfige Boden klammerte sich an ihnen fest. Er musste absteigen, stellte das Rad an einen verkrüppelten, moosbewachsenen Baum und ging zu Fuß weiter.
Immer der Reifenspur nach … durch den Busch, durch einen lichten Wald, am Rande eines mit hohem Schilf bewachsenen Sumpfes. Manchmal war der Weg so schmal, dass auch ein Jeep zu beiden Seiten nur wenige Zentimeter Platz hatte. Dann endlich wurde der Pfad breiter. Deutlich sah man, dass Menschenhand hier gerodet hatte und der Weg herausgeschlagen war. Und deutlich hörte Meteljew auch das Tuckern des Motors vor sich, das einzige Geräusch außer seinen im Schlamm quietschenden Schuhen, und er zuckte deshalb zusammen, als auch dieses Gebrumm verstummte und ihn völlige Stille umgab.
Sie sind da, dachte er und holte tief Atem. Das Versteck haben sie erreicht, der Jeep steht. Wieviel Meter noch, Babrak, und du siehst die Wahrheit!
Auf einer Art Hochsitz, hundert Meter vom Schwarzen Haus und der Lichtung entfernt, saß Trofimow mürrisch, unlustig, und hielt Wache. Seit die Geiseln bei ihm im Haus waren, wurde der Weg Tag und Nacht bewacht. Möglich war’s ja, dass ein Fremder zufällig durch die Wildnis streifte und dann das einsame Haus entdeckte. Einer der Männer von der Baubrigade zum Beispiel, auf der Suche nach Essbarem – nach Hasen oder Wildenten, ausgebrochenen verwilderten Schweinen oder den kleinen Rehen, die hier lebten. Noch eine ganze Stunde hatte Trofimow auf Wache zu sitzen, und dementsprechend missmutig war er.
Er stierte in die Gegend, sah einem Habicht nach, der über dem Sumpf kreiste und Beute suchte, und blickte erst hinunter zum Weg, als Meteljew fast an seinem Hochsitz vorbei war.
Trofimow hatte ihn einmal zufällig beobachtet, wie er – der sich doch Geologe nannte – völlig sinnlos Messlatten in die Erde steckte und dann mit einem komplizierten Gerät herumhantierte. Eine Weile hatte sich Trofimow, verdeckt durch einen Baumstamm, das Werkeln angesehen und sich gefragt, wieso man als Geologen einen Menschen anstellt, der sich mit seinem Werkzeug nicht auskennt. Aber so ist das nun mal, hatte er damals gedacht. Nicht jeder, der ein Diplom hat, ist auch ein kluger Kopf. Das zeigt sich erst in der Praxis.
Sieh an, da ist er jetzt. Trofimow schob sein Gewehr auf die Knie und sah auf Meteljew hinunter. Der schleichende Gang fiel ihm auf, das Lauern wie auf ein Wild – aber was soll das alles, wenn man keine Waffe bei sich hat? Man kann einen Hasen nicht mit Spucke lähmen.
Vorsichtig schob Trofimow mit dem Daumen den Sicherungsflügel herum. Es ließ sich nicht vermeiden: Einen kleinen, knackenden Laut gab es.
Meteljews auf jedes feine Geräusch geschultes Ohr nahm dieses Knacken auf. Mit einem Satz schwang er sich herum, die Spezialpistole lag plötzlich in seiner Hand, und ebenso plötzlich begriff Trofimow, dass es kein Nachdenken mehr gab, keinen Anruf und kein Verzögern, nur noch das Handeln.
Er riss die Flinte hoch, verzichtete sogar auf ein genaues Zielen und schoss.
Meteljew spürte einen heftigen Schlag an seiner Hüfte, auf einmal war alles um ihn herum wie schwerelos, seine Beine gaben nach, im schlammigen Weg lag er, dann flatterten seine Nerven, sein ganzer Körper zitterte, aber einen Schmerz spürte er noch nicht. Nur warme Feuchtigkeit rann an seinem Bein entlang. Blut.
Auf dem Rücken liegend, die Pistole umklammernd, suchte Meteljew seine Umgebung ab, so weit er sie in dieser Lage sehen konnte. Er versuchte sich aufzurichten, aber von der Hüfte abwärts war er wie gelähmt, und jetzt überfiel ihn auch der Schmerz.
Mit einem Laut, der wie ein Schluchzen klang, wälzte er sich herum, kam auf dem Bauch zu liegen, stützte sich auf dem linken Unterarm auf und hielt die Spezialpistole in der rechten Hand. Aber auch so war nichts zu sehen … irgendwo im Gebüsch steht er, dachte Meteljew und knirschte mit den Zähnen. Jetzt brannte seine Hüfte, als läge er in einem Feuer. Der Knochen ist es, wusste er, der Knochen ist zertrümmert, die Hüfte – werde ich jemals wieder gehen können? Komm heraus, du feiger Hund, stell dich einem ehrlichen Kampf, aus dem Hinterhalt kann jeder treffen. Und dann dachte er plötzlich an die SPEZNA-Schule bei Gorkij, an die zum Tode Verurteilten, die sie Kukli genannt hatten, Puppen, und die man anschlich und erdrosselte, erdolchte, erwürgte – nur lautlos musste es sein, schnell und gründlich. Nicht die geringsten Chancen hatten sie gehabt, und er hatte viel Lob dafür bekommen, die Kukli so vollendet getötet zu haben. Aus dem Hinterhalt, ohne sich vorher zu zeigen.
»Ich bin hier!«, rief Trofimow zu Meteljew hinunter. »Über dir, im Himmel.«
Mit schmerzhafter Anstrengung warf sich Meteljew wieder herum, auf den Rücken, und starrte hinauf in die Bäume. Der Schmerz füllte seinen ganzen Körper, die Bäume verschwammen und begannen zu tanzen.
»Wo?«, keuchte Meteljew. »Wo? Hilf mir … hilf mir doch … Nichts mehr tun kann ich. Da … da sieh …« Er warf die Pistole von sich und stützte sich im Liegen ab. Ein Hieb des Schmerzes trieb ihn wieder zurück.
»Was hast du hier gesucht?«, fragte Trofimow von seinem Hochstand herab.
»Lass mich hier nicht liegen!«, schrie Meteljew heiser auf. »Wehrlos bin ich doch … willst du mich verrecken lassen? Hilf mir …«
»Mein Name ist Gamsat Wladimowitsch Trofimow«, hörte er von oben. »Du kannst ihn wissen – du wirst ihn nie gebrauchen.«
Trofimow. Der eine Name. Schwarzes Haus, das war der zweite. Hürchen war der dritte. Das Ziel lag vor ihm und er brannte; brannte von den Zehen bis zur Kopfhaut, brannte vor Schmerzen und konnte sich nicht bewegen.
»Trofimow –«, keuchte Meteljew. Er versuchte, etwas zu erkennen, aber der Tanz der Bäume wurde zu einem grünen Wirbel vor seinen Augen. »Lass mich nicht verrecken.«
»Bestimmt nicht, Genosse Geologe.«
»Ich bin kein Geologe.«
»Das weiß ich jetzt auch.«
»Bring mich weg… ich erzähle euch alles. Ihr wisst nicht, was man alles plant. Trofimow, ich sage alles…«
»Wem soll das nützen?«
»Dem ›Spezialisten‹. Trofimow, lasst mich leben… lasst mich leben…«
Seine Worte gingen in ein Wimmern über, er legte beide Hände auf die Brust, erkannte noch den Himmel über sich, aber die Wolken waren wie dicke Fäuste, die auf ihn herunterzielten.
»Weißt du, wer der ›Spezialist‹ ist?«, fragte Trofimow mit entsetzlicher Ruhe.
»Nein! Wir suchen ihn. Ich weiß, er ist da hinter dem Wald … Vergessen will ich alles … bring mich weg … hilf mir doch!«
»Der große Unbekannte heißt Igor Michailowitsch Jugorow …«
»Jugorow?« Noch einmal zuckte Meteljew hoch. »Er … er …? Unser … unser Freund Igor. Warum … warum verrätst du ihn?«
»Du wirst den Namen vergessen, Freundchen, für immer vergessen.«
»Ich verspreche es dir. Ich schwöre es …« Und plötzlich verstand Meteljew den Doppelsinn der Worte, hob beide Arme in den Himmel und schrie: »Nein, Trofimow. Nein, tu es nicht. Hab Mitleid … Mitleid … ich will nicht mehr Meteljew heißen … nicht wissen will ich mehr, was ich gewesen bin … Tu es nicht …«
Ein Aufschrei war das, ein kaum noch menschlicher Laut aus Angst und Verzweiflung.
»Meteljew bist du? Sieh an! Jugorow hat von dir erzählt. Nichts Gutes, muss ich feststellen.« Trofimow legte das Gewehr an, und jetzt zielte er auf den Punkt, so wie er im Winter das Wild jagte. »Grüß mir die Hölle, Meteljew … ich komme nach, musst noch ein wenig warten, muss erst mein Töchterchen gut versorgen, dann sehen wir uns wieder. Halt ein gutes Plätzchen für mich frei …«
»Trofimow!«, schrie Meteljew mit sich überschlagender Stimme auf.
Sein Schrei zerplatzte mit dem Eindringen der Kugel in seine Stirn. Genau zwischen die Augen.
Trofimow hatte noch nie vorbeigeschossen.
Er sicherte wieder sein Gewehr, stieg von seinem Hochsitz, ging zu Meteljew, hob dessen Pistole auf und betrachtete sie mit großem Staunen.
So trafen ihn Jugorow, Walja, Soja und der junge Beljakow an, als sie mit Gewehren in der Hand aus dem Unterholz brachen. Die Schüsse hatten im Schwarzen Haus Alarm ausgelöst: Svetlana und Marfa versteckten sich unter Brettern und Heu im Stall, die Männer griffen nach den Äxten, und so bedrückend ihre Lage war, sahen alle mit Verblüffung, dass auch Walja ein Gewehr an sich riss und mit den anderen aus dem Haus stürmte.
»Meteljew«, sagte Jugorow leise, als er vor dem Toten stand. »Er hat uns gefunden.«
»Nicht mehr.« Trofimow warf sein Gewehr auf den Rücken. »Wer löst mich ab? Einen Wodka muss ich haben … Andrej Nikolajewitsch, du gehst auf den Hochstand.«
Beljakow nickte stumm. Sein Blick ließ das kleine Loch in Meteljews Stirn nicht los.
»Wohin mit ihm?«, fragte Trofimow wütend, weil keiner sich rührte.
»In den Sumpf, da ist noch Platz«, antwortete Soja, ohne Walja und Jugorow anzusehen. »Wie gut, dass wir am Sumpf leben.«
»Das hier hat er weggeworfen.« Trofimow hielt die Spezialpistole Jugorow unter die Augen. »Sag mir mal, was das sein soll.«
Jugorow nahm die Waffe an sich, drehte sie in seinen Händen und blickte dann wieder hinunter auf den Toten.
»Ich hab’s geahnt, Meteljew«, sagte er mit etwas unsicherer Stimme. »Die GRU. Schwer wird’s jetzt werden für Krasnikow. Du hast dein Spiel verloren, Babrak Awdejewitsch – ein Roulette ist immer ein Glücksspiel. Es gibt dabei keine Kugel, die man lenken kann.«
Er wandte sich ab, wollte gehen, um Meteljew wegbringen zu lassen. In diesem Augenblick verließ Walja alle Kraft und aller Mut, sie fiel Jugorow um den Hals, schluchzte auf und küsste ihn, immer und immer wieder, über das ganze Gesicht, als sei er gerettet worden wie damals vor Masuk.
Mit starren Augen sah ihnen der junge Beljakow zu. In seinem Herzen zersprang etwas und floss ihm durch alle Adern. Mit gesenktem Kopf stieg er die Leiter hinauf auf den Hochsitz, hockte sich auf das Sitzbrett, schlug die Hände vor sein Gesicht und begann lautlos zu weinen.
Jugorow hatte ihm Walja gestohlen. Die erste Liebe seines Lebens.
Verflucht seist du, Igor Michailowitsch!
Meteljew lag noch auf dem Pfad, halb zugedeckt mit Jugorows Jacke, als Korolew, Rudenko, Goldanski und Schagin auf ihren kleinen Pferdchen den Weg hinuntergaloppierten. Sofort nach dem letzten Segen hatte Schagin sein Messgewand in die Ecke geworfen und war zum Friedhof gestürzt – und wie man befürchtet hatte: Meteljew war nicht mehr da. Auch Walja und Jugorow waren schon abgefahren, und Korolew sprach aus, was alle dachten:
»Sie wollten zu Trofimow, und er ist ihnen nach! Brüder, er darf nicht wieder zurückkommen. Wir müssen ihn festnehmen … mindestens …«
»Mindestens!«, rief Goldanski, heiser vor Aufregung. »Ich weiß, was ich tun werde!«
»Sagt man so was in Gegenwart eines Priesters?«, schrie Schagin.
Dann hatten sie ihre Pferde geholt, trafen sich wieder auf dem Kirchplatz und ritten wie der sagenhafte wilde Taigajäger zum Schwarzen Haus.
»Zu spät!«, rief Goldanski, als sie vor Jugorow hielten und Meteljew im Schlamm liegen sahen. Von den Pferdchen sprangen sie, umringten den Toten und starrten ihn an. Das kleine runde Loch zwischen den Augen verriet ihnen sofort, was hier geschehen war. So konnte nur einer schießen im weiten Umkreis.
»Trofimow …«, sagte Korolew wie erlöst. »Er ist Trofimow in die Arme gelaufen. Welches Glück haben wir noch einmal gehabt!«
»Eine frevelhafte Rede vor einem Toten.« Schagin sah alle strafend an. »Lasset uns beten …«
»Er war kein Christ. Er war ein Atheist!«, sagte Rudenko störrisch. »Willst du ihn noch im Tode beleidigen?«
»Er war ein Mensch, das genügt.« Schagin faltete die Hände. »Freunde, lasst uns …«
»Was wollte er hier?«, unterbrach ihn Goldanski. »Warum spionierte er herum?«
»Meteljew war ein GRU-Offizier«, sagte Jugorow. Er zeigte die auf seiner Handfläche liegende Spezialpistole herum. »Das ist der Beweis.«
»Die GRU?« Korolew musste zweimal schlucken. Worte gibt es, die alle normalen Körperfunktionen lähmen. GRU war ein Wort, das selbst den Atem unterbrach. »Und du willst für ihn beten, Kyrill Vadimowitsch?«
»Er bleibt ein Mensch.« Schagin schlug das Kreuz über dem Toten, faltete wieder die Hände und senkte den Kopf. »Der Hass hört auf, wenn sich die Grube öffnet. Wir beten für seine Seele, nicht für den irdischen Meteljew.«
Eine Minute standen sie stumm und mit gesenktem Kopf vor dem Toten, und jeder dachte etwas anderes, nur nicht etwas Geistliches. Jugorow dachte an Krasnikow. Korolew fürchtete, dass das Versteck nun doch verraten sei. Goldanski und Rudenko überlegten, wo man Meteljew im Moor versenken konnte. Und selbst Schagin, der Pope, dachte, während er sein Gebet murmelte: Es wird sich nicht vermeiden lassen, auch Krasnikow zu begraben. Wer wird es übernehmen, seine Seele zu befreien?
So poetisch kann man über einen gewaltsamen Tod denken.
»Wo ist Walja?«, fragte Korolew nach der Minute.
»Zurück zum Haus, um für Meteljew einen Karren zu holen. Mit Soja.«
»Nicht nötig. Ich lege ihn über meinen Sattel!«, sagte Goldanski.
»Und wer hat Wache?«
»Ich.« Über die Brüstung des Hochstandes beugte sich Beljakow vor. Sein Blick hätte Jugorow vergiftet, wenn es möglich gewesen wäre.
»Wo ist Trofimow?«
»Einen Wodka trinken.«
»Helft mir, Brüderchen, ihn hochzuheben«, rief Goldanski. Er hatte Meteljew unter den Achseln gepackt, und Rudenko hielt seine Beine fest, aber der Tote war schwerer als man dachte und hing in der Mitte durch. Ihn über den Sattel zu werfen, war schon eine schwere Arbeit. Korolew kam zu Hilfe, und zu dritt schoben sie den Toten über Goldanskis Pferd. Kein schöner Anblick … eine Leiche, rundum mit Schlamm beschmiert; so, wie sich Meteljew im verzweifelten Kampf um sein Leben herumgewälzt hatte.
»Sollen die Weiber ihn sehen?«, fragte Goldanski und putzte seine Hände am Fell des Gäulchens ab. »Wo bringen wir ihn hin?«
»Das wird euch Soja zeigen.« Jugorow steckte die Spezialpistole in seine Hosentasche. »Sie kennt sich aus; sie weiß, wo Menschen für alle Zeit verschwinden können.«
Die anderen nickten, und keiner dachte in diesem Augenblick daran, dass auch Masuk spurlos verschwunden war. Goldanski führte sein Pferd am Zügel den glitschigen Pfad hinunter, Korolew und Rudenko folgten ihm, einer hinter dem anderen. Nur Schagin blieb zurück. Ihn hatte Jugorow am Ärmel festgehalten.
»In einer Stunde komme ich zu dir«, sagte er.
»Zur Beichte?«
»So kann man das nicht nennen.« Jugorow lächelte schwach. »Such einen neutralen Karton. Ich brauche zehn Dynamitstäbe …«
Gleich eine Warnung, Genossen: Geht nicht bei Noskow vorbei! Sprecht ihn nicht an, fragt ihn nicht, verdrückt euch aus seiner Nähe! Achtung, er könnte euch erwürgen, erschlagen, zertreten, was eben nur möglich ist.