Toni Steimle ist Ökonom und leitet mit der Ergosign Switzerland AG einen führenden UX-Design-Dienstleister. Er lehrt an der Hochschule Rapperswil, an der Hochschule Olten und der Universität Basel rund um Themen des User Experience Design. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Vorgehensmodelle der Softwareentwicklung, User-Experience-Strategien, Kreativität und digitale Märkte.
Dieter Wallach ist promovierter Kognitionswissenschaftler und prägte als UX-Pionier und Hochschullehrer die deutschsprachige User-Experience-Szene mit. Er ist Gründer und Co-Geschäftsführer der Ergosign GmbH. Er erhielt Rufe an die Universität Würzburg und an die Hochschulen Heilbronn, Trier und Kaiserslautern. Dieter Wallach forscht und lehrt als Professor für Human-Computer Interaction und Usability Engineering im Fachbereich Informatik und Mikrosystemtechnik an der Hochschule Kaiserslautern.
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Lean UX und Design Thinking: Teambasierte Entwicklung menschzentrierter Produkte
Toni Steimle
toni.steimle@ergosign.ch
Dieter Wallach
dieter.wallach@ergosign.de
Lektorat: Christa Preisendanz
Copy-Editing: Ursula Zimpfer, Herrenberg
Satz: Frank Heidt
Herstellung: Susanne Bröckelmann
Umschlaggestaltung: Helmut Kraus, www.exclam.de
Druck und Bindung: Schleunungdruck GmbH, Marktheidenfeld
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN:
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1. Auflage 2018
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Die Entscheidung, ein Buch zu lesen, bedeutet zeitgleich auch immer, ein anderes Buch nicht oder eben erst später lesen zu können. Mit dem Schreiben eines Buches verhält es sich ebenso. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, ein praxisorientiertes Buch zu schreiben, das unsere gewonnenen Erfahrungen als Hochschullehrer und als Projektleiter einer Vielzahl von User-Experience-(UX-)Projekten aufgreift und zusammenführt. Akademische Lehre und Forschung haben uns hierbei genauso inspiriert wie die Herausforderungen, die uns in Industrieprojekten für klein- und mittelständische Unternehmen und internationale Konzerne begegnen.
UX Design ist keine einsame Aktivität — die menschzentrierte Gestaltung interaktiver Produkte erfolgt heute typischerweise in interdisziplinären Teams, in denen die kollaborativen Aktivitäten der einzelnen Teammitglieder zielgerichtet orchestriert werden. Den Titel des vorliegenden Buches, Collaborative UX Design, haben wir hiermit bereits erklärt. In der Praxis kommt der Durchführung von Workshops für die erfolgreiche Zusammenarbeit innerhalb eines UX-Teams eine entscheidende Rolle zu: In Workshops klären und stecken wir den aktuellen Projektstand ab, identifizieren Fortschritte, Barrieren und Risiken der Projektphasen, erarbeiten (Zwischen-)Ergebnisse und planen die nächsten Projektschritte.
Im vorliegenden Buch stellen wir ein Vorgehensmodell auf der Basis von sieben inhaltlich aufeinander bezogenen UX-Workshops vor: Wir erläutern die Ziele und Ergebnisse dieser Workshops, diskutieren die Auswahl und den Einsatz von UX-Methoden und beschreiben die Verzahnung ihrer mitunter iterativen Abfolge. Den Einsatz aller vorgestellten Methoden in realen Projektzusammenhängen sehen wir dabei selbstverständlich nicht als notwendig oder wünschenswert an, vielmehr geben wir unterstützende Hinweise für eine fundierte, ziel- und situationssensitive Bestimmung geeigneter Methoden.
Das resultierende Vorgehensmodell zum Collaborative UX Design bietet einen anleitenden, strukturierten Rahmen zur Planung und Durchführung von UX-Projekten. Zu dessen anschaulicher Darstellung greifen wir auf ein praxisnahes Fallbeispiel zurück — unsere Leser werden Tim, den Leiter eines fiktiven UX-Projektes, sein Team und die Herausforderungen, vor denen sie stehen, auf den nächsten Seiten kennenlernen.
Das beschriebene Vorgehensmodell greift methodisch auf Ansätze zum menschzentrierten Design, der agilen Softwareentwicklung, auf Annahmen zu Lean UX und Arbeiten zum Design Thinking zurück. Wir haben Collaborative UX Design auf diesem Fundament als fortgeschrittenes Lehrbuch für die Praxis geschrieben. Bei der Vorstellung möglicher Leser-Personas aus unterschiedlichen Beitragsdisziplinen zum UX Design gingen wir davon aus, dass grundlegende Konzepte und UX-Methoden jeweils bekannt sind. Im Verlauf des Buches haben wir zur begrifflichen Schärfung relevante Konzepte und Methoden an Stellen, an denen uns dies für eine leichtere Nachvollziehbarkeit hilfreich erschien, kurz definiert.
Das Buch Collaborative UX Design wird durch eine Website (collaborative-uxdesign.com) begleitet: Interessierte Leserinnen und Leser finden dort weiter gehende Informationen, ein Glossar, Fallbeispiele, Vorlagen zur Anwendung von Methoden — und ein Interview mit Tim, dem Projektleiter unseres Fallbeispiels: In diesem fortlaufend ergänzten Interview möchten wir jeweils auf aktuelle Entwicklungen im UX-Umfeld eingehen. Für Lehrende haben wir ein Slide-Set zu den Workshops dieses Buches für den Einsatz in Lehrveranstaltungen vorbereitet.
Wenn wir in den Formulierungen der folgenden Kapitel nicht durchgängig die weibliche und männliche Form in der Darstellung verwenden oder auf geschlechtsneutrale Formulierungen ausweichen, so ist dies alleinig durch das Ziel einer vereinfachten Lesbarkeit begründet: Selbstverständlich wollen wir alle an dem Thema UX interessierten Personen ansprechen.
Wir möchten uns bei den Studierenden unserer Lehrveranstaltungen, den Teilnehmern unserer UX-Workshops für Unternehmen und ganz besonders bei den Kolleginnen und Kollegen von Ergosign bedanken — viele der in Collaborative UX Design zusammengefassten Gedanken haben hier ihren Ursprung. Ganz bestimmt können wir auch von den Leserinnen und Lesern von Collaborative UX Design vieles lernen und freuen uns daher sehr über Rückmeldungen.
Zürich und Saarbrücken, im Dezember 2017
Toni Steimle und Dieter Wallach
EINLEITUNG
Interdisziplinäre Teams
Das Fallbeispiel
Die Workshops
Grundpfeiler
Literatur
WORKSHOP: SCOPING
Überblick
Problem Statement Map
Proto-Personas
Benchmarking Map
Annahmen-Map
Checkliste Beobachtung
Forschungsplanungs-Map
Ergänzende Hinweise
Zusammenfassung Scoping
Literatur
WORKSHOP: SYNTHESE
Überblick
Vorbereitung: Nutzerforschung
Journey Map
Domain Model Map
Insight Statements
Opportunity Areas
Validierte Personas
Problem Reframing
Ergänzende Hinweise
Zusammenfassung Synthese
Literatur
WORKSHOP: IDEATION
Überblick
How-might-we-Fragen
6-3-5
Outside the Box Thinking
Design Studio
Ideenkatalog
Ergänzende Hinweise
Zusammenfassung Ideation
Literatur
WORKSHOP: KONZEPT
Überblick
Szenarien
User Story Map
Exkurs:
Konzeptionelle Design Map
Sketchen von Key Screens und User Journeys
Ergänzende Hinweise
Zusammenfassung Konzept
Literatur
WORKSHOP: PROTOTYPING
Überblick
Annahmen-Map
Validierungsplanung
Prototyping
Nachbearbeitung: Der Prototyp
Ergänzende Hinweise
Zusammenfassung Prototyping
Literatur
WORKSHOP: VALIDIERUNG
Überblick
Vorbereitung: Walkthrough
Issue Map
Findings und Annahmen
Ergänzende Hinweise
Zusammenfassung Validierung
Literatur
WORKSHOP: MVP-PLANUNG
Überblick
Priorisierungsmatrix
Roadmap
Metrikenboard
Planung von A/B-Tests
Zusammenfassung MVP-Planung
Literatur
Literaturverzeichnis
Index
Die Konzeption und Entwicklung von Software erfolgt zunehmend in cross-funktionalen Teams. Die einzelnen Mitglieder eines über einen längeren Zeitraum zusammenarbeitenden Teams bringen Expertise in verschiedenen Bereichen – Produktmanagement, User Experience (UX) Design, Implementierung, Testing und Betrieb – ein. Interdisziplinäre Teams konzipieren und gestalten ein Produkt in gemeinsamen, aufeinander aufbauenden Workshops. In diesem Buch stellen wir zentrale Inhalte und zielgerichtete Abfolgen solcher kollaborativen Workshops zur Produktkonzeption vor.
Thomas schreitet zum Rednerpult. Er weiß, dass er gleich vor mehr als 200 Vertriebsmitarbeitern und -mitarbeiterinnen sprechen wird – fast das gesamte Verkaufsteam ist anwesend. Sein Herz pocht. Er atmet noch einmal tief durch, bevor er mit seiner Präsentation beginnt.
»Hallo, ich bin Thomas. Ich bin Senior User Experience Manager. Gerne möchte ich euch einen Überblick über das zukünftige Release unserer Software geben«, stellt sich Thomas vor.
Seine Präsentation dauert dreißig Minuten. Dreißig Minuten, die für Thomas nicht zu enden scheinen. Seine Nervosität hat sich als berechtigt erwiesen. Der verhaltene Applaus nach seiner letzten Folie verebbt schnell, aus dem Publikum kommen eindringliche Fragen:
»Danke für die Präsentation und die Eindrücke zum neuen Release, Thomas. Mir brennt bereits seit zwanzig Minuten eine Frage unter den Nägeln: Wurde diese Version tatsächlich mit Vertretern unserer Zielgruppe evaluiert? Ich kann mir kaum vorstellen, dass unsere Nutzer diese Software verstehen.«
»Hey Thomas, ich habe echt keine Ahnung, was ihr da in euren Büros macht, aber das, was du uns da gezeigt hast, kann ich nicht guten Herzens empfehlen – und schon gar nicht verkaufen. Das ist einfach deutlich zu komplex und geht an den Bedürfnissen unserer Nutzer komplett vorbei.«
Thomas fühlt sich mit jeder Frage unwohler. Nervös blickt er auf seine Uhr. Wie lange dauert die Fragerunde denn noch? Eines ist ihm bereits jetzt klar: Diese Präsentation ist ein Desaster. Und dieser Releasekandidat ist ebenfalls ein Desaster. Wie konnte dies nur passieren? Warum hat er die Reaktionen nicht kommen sehen?
Kaum ist die Präsentation vorüber, Thomas hat gerade das Rednerpult verlassen, klingelt auch schon sein Handy: Robert ist dran – ein sehr wenig begeisterter Robert. Robert ist Vertriebsleiter und einer der einflussreichsten Manager des Unternehmens. Er kommt ohne Umschweife direkt zum Punkt: »Thomas, ihr habt fünf Wochen Zeit, das Release in die richtigen Bahnen zu lenken. Es ist mir vollkommen egal, wie ihr das anstellt und ob ihr in den nächsten fünf Wochen zum Schlafen kommt. Die Software wird zum bereits offiziell verkündeten Termin vorgestellt – bis dahin habt ihr das jetzige Komplexitätsmonster gezähmt und daraus eine begeisternde Anwendung gemacht.«
An diesem Abend meldet sich Thomas für die nächsten Wochen bei seiner Familie ab. Er nimmt seine Regenjacke und macht sich auf den Weg. Es wird ein besonders langer Spaziergang werden. Thomas will nachdenken, sein Gehirn befindet sich in einem Ausnahmezustand. Gedanken rasen durch seinen Kopf, versuchen alle Richtungen zu erkunden und beginnen sich nur langsam zu ordnen.
Wie können wir ein Release in nur fünf Wochen grundlegend verbessern, an dem wir nun ein halbes Jahr – offensichtlich erfolglos – gearbeitet haben? Wie sollen wir das schaffen? Angenommen, wir könnten in zwei Wochen ein nachvollziehbares UX Design definieren und es dann der Entwicklungsabteilung übergeben. Vielleicht schaffen es die Kolleginnen und Kollegen ja, das Konzept dann in zwei weiteren Wochen umzusetzen. Anschließend könnten wir Usability-Tests durchführen – und hoffen, dass die rekrutierten Nutzer damit zurechtkommen. Zur Einarbeitung von Feedback oder Korrekturen hätten wir ohnehin keine Zeit mehr.
Thomas atmet beim Gehen schwer. So wird es nicht funktionieren.
Es müssen alle koordiniert zusammenarbeiten, um keine Zeit mit Irrwegen zu verlieren, die erst spät erkannt werden. Im Kopf von Thomas formt sich das Bild eines interdisziplinär zusammengesetzten Teams, dessen Mitglieder gemeinsam im gleichen Raum arbeiten. Thomas braucht schnelles Feedback – an jedem zweiten Tag möchte er Nutzer einladen, die mit dem aktuellen Stand der Software typische Aufgaben bearbeiten. Resultierende Erkenntnisse aus leichtgewichtigen Usability-Tests fließen direkt in ein überarbeitetes Konzept ein – UX Design und Development ziehen am gleichen Strang und werden durch alle Abteilungen fortlaufend unterstützt. Auf eine detaillierte Dokumentation wird verzichtet, Ergebnisse von Meetings werden in Fotografien von Flipcharts, handgezeichneten Skizzen und Anordnungen von Post-its festgehalten. Thomas stellt sich vor, wie Entwickler Layoutskizzen und Workflows lebhaft mit Designern diskutieren, gemeinsam die verschiedenen Module der Software durchgehen und erarbeitete Konzepte unmittelbar umsetzen. Im Abstand von zwei Tagen sollen alle Teammitglieder das Feedback durch die eingeladenen Nutzer erleben: Für erkannte Usability-Barrieren werden Lösungen gesucht und ihre Eignung und Belastbarkeit im aktuellen Konzept evaluiert. Thomas ist zuversichtlich, durch eine abgestimmte, kollaborative Teamarbeit die eben noch unlösbar scheinende Aufgabe doch noch bewältigen zu können.
Am Ende seines Spaziergangs zeichnet sich schließlich ein Lächeln auf seinem Gesicht ab: Thomas hat einen Plan für das weitere Vorgehen gefasst.
Gleich am nächsten Morgen stellt Thomas ein Team zusammen und folgt dabei der Vorstellung, die er während seines Spaziergangs entwickelt hat. Er organisiert einen Projektraum und ahnt, wo er und sein Team nun wohl den Großteil der folgenden fünf Wochen verbringen werden. Die Tische platziert Thomas in der Mitte des Raums, alle Wände sollen frei bleiben, um große Flächen für Klebezettel, Skizzen und Workflows bieten zu können.
Als die Mitglieder seines Teams den Raum betreten, schauen sie sich verwundert an. Was sie sehen, erscheint ihnen ungewohnt. Thomas bemerkt das Erstaunen und erklärt seinen Ansatz:
»Ich begrüße euch – wir werden in den kommenden Wochen viel zu tun haben! Wie ihr bereits gehört habt, sollen wir die Kastanien aus dem Feuer holen. Der Zeitplan ist, vorsichtig formuliert, sehr ambitioniert. Wir sind von nun an ein Team, entweder wir schaffen das gemeinsam oder unser Produkt und wir stecken in ziemlichen Schwierigkeiten. Ich möchte, dass sich jeder einbringt, in jeder Phase, bei jeder Aktivität. Rollen werden keine wesentliche Bedeutung haben, ob ihr Entwickler, Designer oder Produktmanager seid – ihr werdet über euren Tellerrand hinausschauen und eng zusammenarbeiten. Wir alle wissen, was davon abhängt.«
Thomas Einführung zeigt Wirkung, in den nächsten Tagen wird unter Hochdruck gearbeitet, die Workflows der Software werden gemeinsam kritisch analysiert und Optimierungen erkundet. Lösungsansätze werden visualisiert und mit Nutzern besprochen, wenn notwendig angepasst und zügig umgesetzt. Immer wieder kommt das Team in größeren Runden zusammen, um den Stand zu diskutieren, bevor anschließend wieder zu zweit an einzelnen Komponenten gearbeitet wird. Auch wenn eigentlich viel zu wenig Zeit zur Verfügung steht, stellt sich nach einigen Tagen eine gewisse Routine ein. Im Kern wiederholt sich ein bestimmter Ablauf: Das Team wählt eine relevante Fragestellung, befragt Nutzer hierzu, beginnt ein optimiertes Lösungskonzept zu entwickeln, setzt es um und evaluiert das Ergebnis sofort wieder mit repräsentativen Nutzern.
Nach Ablauf der vorgegebenen fünf Wochen lädt Thomas zu einem Präsentationstermin ein: Das Team hat es tatsächlich geschafft! Der neue Releasekandidat wird vorgestellt – er wurde an entscheidenden Stellen radikal vereinfacht. Und dieses Mal verläuft die Präsentation ganz anders als die erste, allen Anwesenden wird sofort klar, dass dem Team ein großer Wurf geglückt ist. Der Verkaufsleiter steht nach dem letzten Satz der Präsentation auf und gratuliert dem sichtlich erleichterten Thomas mit einer anerkennenden Umarmung. Thomas gibt das Lob sogleich an sein Team weiter und bedankt sich für das tolle Engagement in den letzten Wochen. Der dann folgende Applaus rührt ihn.
Seither sind einige Tage vergangen und Thomas nimmt mit stolzer Genugtuung die positiven Marktreaktionen nach dem Release der Software zur Kenntnis. Es hat sich gelohnt. Noch immer beschäftigt Thomas das Erlebte sehr: Was kann er hieraus für seine zukünftigen Projekte lernen? Thomas bereitet eine Präsentation vor. Er möchte bei einem Meeting des Senior Managements die Vorgehensweise zur Fortentwicklung der Software grundlegend zur Diskussion stellen. Thomas schlägt vor, kleine interdisziplinär zusammengesetzte Feature-Teams zu bilden, die jeweils in einem Raum zeitlich überdauernd zusammenarbeiten. Immer wieder werden Nutzervertreter eingeladen, mit denen Interviews geführt, Prototypen diskutiert oder lauffähige Software validiert werden. Warum sollte ein Vorgehen, das er im erlebten Ausnahmefall für das effizienteste hielt und das sich dort nachhaltig bewährte, nicht auch sonst erfolgreich sein?
Thomas erkennt verschiedene Vorteile in der cross-funktionalen Zusammenarbeit: Das gesamte Know-how des Teams fließt in das Produktdesign mit ein. Probleme, die ansonsten erst bei der Inbetriebnahme entdeckt würden, können bereits früh offengelegt werden. Hohe Revisionskosten und Fehlinvestitionen lassen sich auf diese Weise vermeiden. Der mit umfassenden Spezifikationsdokumenten verbundene Aufwand kann drastisch reduziert werden. Anforderungen können im Team diskutiert und mögliche Lösungen skizzenhaft illustriert werden. An die Stelle langer Spezifikationsdokumente treten anschauliche Prototypen. Das involvierte Team kann sich mit einem Produktkonzept identifizieren – alle Teammitglieder tragen für den Erfolg des Produktes Verantwortung.
Thomas ist sich darüber im Klaren, dass Teams bei der zielgerichteten Kollaboration umfassender Unterstützung bedürfen. Welche Methoden sind hierfür geeignet? Wie lassen sich Zwischenergebnisse in geeigneten Artefakten festhalten? Thomas möchte seine Erfahrungen in einem abstrahierenden Vorgehensmodell kondensieren.
Bereits während der intensiven Projektarbeit hatte er sich verschiedener Konzepte aus einschlägigen Entwicklungsansätzen wie Design Thinking, Lean UX, Agile Development und menschzentrierten Gestaltungsmodellen bedient. Die Produktkonzeption in cross-funktionalen Teams stand jeweils im Mittelpunkt.
Wir möchten die Geschichte um Thomas an dieser Stelle verlassen und unseren Lesern reinen Wein einschenken: Thomas haben wir uns nur ausgedacht. Um es präzise zu sagen: Wir haben uns den Namen des im Projektmittelpunkt stehenden UX Designers ausgedacht. Das berichtete Projekt aber, dessen Verlauf und dessen Ergebnis trugen sich tatsächlich so zu. Und natürlich gibt es auch den angesprochenen UX Designer, sein Name ist jedoch nicht Thomas (sondern Kevin), er arbeitet als Principle Designer bei einem führenden internationalen Softwarekonzern. Über das Projekt berichtete er in einem eindrucksvollen Vortrag im Juli 2017 auf einer Konferenz in Vancouver – wir saßen im Publikum und wussten sogleich, dass wir eine Einleitung zu unserem Buch gefunden hatten.
Das skizzierte Projekt zeigt, wie wirkungsvoll agil arbeitende, interdisziplinäre UX-Teams sein können. Im vorliegenden Buch beschreiben wir ein Vorgehensmodell auf der Basis von sieben Workshops: Sie orchestrieren die Aktivitäten eines interdisziplinären Teams bei der kollaborativen Produktkonzeption. Das methodische Vorgehen ist durch unsere Praxiserfahrungen geprägt, seine theoretischen Eckpfeiler gründen auf Ansätzen des Design Thinking, Lean UX, Agile Development und menschzentrierten Gestaltungsmodellen. Wir haben Workshops in den Mittelpunkt gestellt, weil sie sich in unserer Praxis nachhaltig bewährt haben – sie erlauben eine anschauliche Anleitung der Prozessschritte und bieten die Möglichkeit einer flexiblen Projektplanung je nach Verfügbarkeit von Teammitgliedern.
Durch die sieben Workshops führen wir unsere Leser in diesem Buch anhand einer Geschichte, eines Fallbeispiels, das den roten Faden durch die Kapitel bildet. Wir erzählen die Geschichte eines interdisziplinären Teams und dessen kollaborativer Erarbeitung eines UX Designs für das neue Release einer umfassenden Applikation. Aber auch wenn diese Geschichte unserer Fantasie entsprang, so basiert sie doch auf Anforderungen und Erkenntnissen, wie wir sie in einer Vielzahl von Workshops und Projekten mit Teams ganz unterschiedlicher Unternehmen gewinnen konnten.
Tim, ein erfahrener UX Designer, steht im Zentrum des Fallbeispiels. Die Geschichte beginnt mit der Bitte an Tim, das nächste Release des Produktes »4Service« als UX Designer zu begleiten. 4Service ist eine webbasierte Anwendung, die von Dienstleistungsunternehmen wie größeren Anwaltspraxen, Beratungsunternehmen, Agenturen oder auch Softwareunternehmen eingesetzt wird. Zum Funktionsumfang von 4Service gehören eine Kundenverwaltung, eine Projektverwaltung, eine Leistungserfassung, eine Finanzverwaltung und ein HR-Modul. 4Service ist eine Anwendung des Unternehmens »4Service AG« und wird von mehr als 8.000 Kunden in 91 Ländern eingesetzt.
Tim wurde von seiner Auftraggeberin bereits im Vorfeld darüber informiert, dass sich das neue Release von 4Service vor allem durch ein optimiertes Modul zur Leistungserfassung auszeichnen soll. Fast alle Mitarbeiter der Kunden von 4Service nutzen die Leistungserfassung, allerdings gab es gerade zu diesem Modul verschiedentlich Beschwerden. Eine Verbesserung der Usability der Leistungserfassung wird daher als besonders bedeutsam für den weiteren Markterfolg von 4Service eingeschätzt.
In der Leistungserfassung von 4Service dokumentieren Mitarbeiter eines Dienstleistungsunternehmens ihre Arbeitszeit für ein bestimmtes Projekt. Eine Anwaltskanzlei kann so am Monatsende einem Klienten die Arbeitszeit in Rechnung stellen, die die mit dem Fall betrauten Anwälte aufgewandt haben.
Eine typische Nutzungssituation sieht dabei so aus, dass eine Anwältin in dem Modul einträgt, wie lange sie an einem bestimmten Tag an dem Fall eines Klienten gearbeitet hat und welches ihre Arbeitsinhalte waren. Manchmal wird sie mit einer Kollegin oder einem Kollegen eine Sitzung über den Fall einberufen haben, um diesen gemeinsam zu erörtern. Der beauftragende Klient darf dann natürlich erwarten, dass die protokollierten Zeiten, die die beteiligten Anwälte in der gemeinsamen Sitzung verbrachten, auch gleich sind.
Tim, der Protagonist im Zentrum der Fallstudie, ist 47 Jahre alt. Er ist seit über 20 Jahren im Umfeld von User-Experience-Design-Projekten tätig. Tim hat in den letzten Jahren bereits menschzentrierte Entwicklungsprojekte umgesetzt, bei denen er aktuelle Methoden wie Design Thinking, Lean UX und Agile UX ausprobierte. In unserem Fallbeispiel ist Tim gleich in zwei Rollen involviert: zum einen als UX Designer, zum anderen als Mentor für ein Team, das er mit dem Ziel leitet, die Leistungserfassung zu optimieren. Damit Tim das Projekt erfolgreich für die 4Service AG meistern kann, durfte Tim ein interdisziplinäres Team zusammenstellen, dessen Mitglieder diese Herausforderung annehmen. Mit ihm besteht das Team aus den in Abbildung 1 gezeigten sechs Mitgliedern. Ausgewählt hat er die Produktmanagerin Daniela, die Projektleiterin Andrea, den Entwicklungsleiter Peter, den Frontend Engineer Tom und die Testleiterin Sarah – ein tatsächlich cross-funktionales Team, in dem er alle für das Projekt relevanten Rollen vertreten sieht.
Daniela ist 42 Jahre alt und arbeitete lange als Beraterin für die Konfiguration und Adaptierung der Software. Nach verschiedenen Tätigkeiten als Projektleiterin wurde sie schließlich Produktmanagerin für 4Service. Daniela ist neu in dieser Rolle und benötigt daher noch etwas Unterstützung durch das Team.
Abbildung 1:
Das Projektteam
Andrea ist 38 Jahre alt. Andrea ist eine ruhige und zurückhaltende Person. Das Ziel ihrer Rolle als Projektleiterin sieht Andrea darin, dem Team ein produktives Arbeiten zu ermöglichen. Sie weiß, dass das Projekt nur dann ein Erfolg werden wird, wenn sich alle Beteiligten gleichermaßen für das Produkt mitverantwortlich fühlen. Ein autoritärer Führungsstil, so ist sie überzeugt, steht dem entgegen. Andrea scheut sich nicht, auch unangenehme administrative Arbeiten zu übernehmen – vor allem aber sorgt sie dafür, dass sich das Team nicht im Eifer des Alltagsgeschäftes für andere Zwecke aufreibt, sondern sich ganz auf 4Service konzentrieren kann.
Tom, der Frontend Engineer, ist 27 Jahre alt. Er hat eine große Designaffinität, Details sind ihm wichtig. Tom ist ein leidenschaftlicher Entwickler und in vielen Frameworks zur Frontend-Entwicklung zu Hause. Tom ist ein Teamplayer – er genießt das interdisziplinäre Zusammenarbeiten.
Peter, 49 Jahre alt, ist der leitende Softwarearchitekt der 4Service AG und ein sehr erfahrener Entwickler. Durch seine lange Firmenzugehörigkeit kennt er den ganzen Fachbereich im Detail – hartnäckig hält sich das Gerücht, Peter habe schon an fast jede Codezeile der Software selbst Hand angelegt.
Sarah, die Testleiterin, ist 29 Jahre alt. Sie ist eine enthusiastische Mitarbeiterin und sehr akribisch in ihrem Tun – auch wenn sie noch jung ist, konnte sie ihren umfassenden Wissensfundus bereits in einer Vielzahl von Projekten demonstrieren und erweitern.
Für die bevorstehende Arbeit mit seinem Projektteam reservierte Tim einen Raum: Er steht dem Team für die gesamte Dauer des Projektes zur Verfügung. Bei der Auswahl des Raums achtete Tim darauf, dass dieser freie Flächen bietet – das Team hat so die Möglichkeit, Zwischenergebnisse der Projektarbeit jeweils anschaulich in gemeinsam erstellten Boards visualisieren zu können.
Im Projektverlauf durchläuft das von uns begleitete Team einen Problemlösungsprozess, den wir in sieben Workshops abgebildet haben. Dieser beginnt mit dem Verstehen der Ausgangssituation und des eigentlich zu lösenden Problems. Danach arbeitet das Team iterativ an der Lösungsfindung und erkundet hierbei verschiedene Konzeptvarianten. Anschließend überlegen sich die Teammitglieder eine Roadmap zur Umsetzung des gefundenen Lösungskonzeptes.
Abbildung 2:
Collaborative UX-Design-Prozess
Schauen wir uns die angesprochenen sieben Workshops etwas genauer an. Wir haben die Phase »Verstehen« in zwei Workshops unterteilt.
Im Scoping-Workshop schärfen die Teammitglieder gemeinsam mit der Auftraggeberin – in unserem Fall mit dem Management der 4Service AG – den Kern des Projektauftrags. Das Team arbeitet den Status quo der Produkte von Marktbegleitern heraus und charakterisiert die Besonderheiten, Vorzüge und Nachteile dieser Lösungen. Ein wesentliches Ziel des Scoping-Workshops liegt darin, die hinter einem Auftrag liegenden, oft impliziten Annahmen aufzudecken und beispielsweise vorhandene Hypothesen über die Nutzer einer Applikation zu konkretisieren. Im Scoping-Workshop werden kritische Annahmen identifiziert und Forschungsmaßnahmen zu deren Überprüfung ausgewählt.
Nach dem Scoping-Workshop können die definierten Forschungsmaßnahmen in Angriff genommen werden: Ein Arbeitsplan zur Vorbereitung des nächsten Workshops entsteht.
Im Synthese-Workshop