Paul Lascaux
Mordswein
Müllers fünfter Fall
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ISBN 978-3-8392-3742-7
»… der verdammte letzte Tag, man wacht auf, der Tag ist licht, der Himmel blau, wunderbar, oder es ist ein grauer, verregneter Tag, egal, er ist ebenso wunderbar, man könnte mit der Frau, die man liebt, schlafen, ein Kind zeugen, ein Buch schreiben, einen Baum pflanzen, sich in die Sonne legen, in den Regen, aber man tut nichts, weder liebt man noch schreibt oder pflanzt man etwas, man vergeudet den Tag einfach, man wirft den Tag auf den Müll, geht zur Bank, bringt den Wasserhahn in Ordnung, redet mit dem Mann, der den Strom abliest, man ärgert sich über das Telefon, das nicht richtig funktioniert, man wirft den Tag auf den Müll, und um fünf Uhr nachmittags, peng, stirbt man. Keiner hat einem Bescheid gesagt, dass dies der letzte Tag sein würde.«
Patrícia Melo: ›Wer lügt, gewinnt‹
Natürlich war es ihm nicht gelungen. Warum hätte es ihm auch gelingen sollen, nach all den Misserfolgen der vergangenen Jahre? Aber deswegen musste man ihn doch nicht derart bedrängen.
Er blickte sich verängstigt um, dann beschleunigte er nochmals seinen Schritt, ohne ins Stolpern zu geraten. Entsprang es nur seiner Einbildung, oder hatte sein Verfolger die Geschwindigkeit ebenfalls erhöht?
Das Dorf Twann hatten sie hinter sich gelassen. Er hätte den Kirchturm bewundert, die geschlossene Häuserzeile entlang der schmalen Straße, den weiten Blick über den Bielersee hinweg bis auf die im Föhnsturm vermeintlich näher gerückten Alpen. Hätte, wäre, wenn …
Seit er aus dem Zug gestiegen war, der ihn von Biel hierher gebracht hatte, war er sicher, verfolgt zu werden, spürte er die Präsenz eines Unbekannten, hörte regelmäßige Schritte, ein unangenehmes Räuspern. Er drehte sich nicht um, wollte zuerst eine geschützte Stelle erreichen, bevor er seinem Widersacher in die Augen blickte. Stetig hatte er sein Tempo erhöht, seit der Unterführung von der Schiffländte an, am ›Bären‹ vorbei, durch die Dorfgasse bis zum Weingut Johanniterkeller und weiter den Chrosweg hinauf.
So schnell er seine massige Gestalt in Bewegung setzen konnte, war er gegangen. Aber der andere war ihm im selben Rhythmus auf den Fersen geblieben. Nun stieg der Pfad an, und er geriet ins Keuchen, seine kräftigen Atemzüge ließen den mittleren Knopf aus dem lindgrünen Hemd springen, und endlich riss er die Krawatte, rot-grün diagonal gestreift, vom Hals. Sein grauer Anzug war schweißgetränkt, seine weiß-grauen Stoppelhaare und sein breiter Schnauz brannten.
Er hatte keinen Blick für die Reben, die in hellem Grün leuchteten, auch wenn sie unter der fortgeschrittenen Trockenheit zu leiden hatten. Die Blätter raschelten in der warmen Luft, die von Süden über die Alpen hinunter kam und den Boden noch mehr aufheizte, was die Winzer in schlechteren Jahren herbeisehnten. Aber heuer war es zu viel des Guten. Die ausgedörrten Böden seufzten. Als er links ein raschelndes Geräusch vernahm, dachte er zuerst an eine Giftschlange und rettete sich mit einem Sprung nach rechts. Eine unsinnige Aktion, denn bei dem Lärm, den er mit seinem keuchenden Schnaufen und den schweren Tritten erzeugte, wäre jedes Kriechtier längst geflüchtet.
Jetzt hörte er wieder die tappenden Schritte, die ein Echo seiner eigenen waren. Ein Echo?, überlegte er kurz und lachte auf. Das wäre der Gipfel, wenn er sich vom Widerhall seiner eigenen Schritte ins Bockshorn jagen ließe. Er verharrte plötzlich im Stillstand.
Es erklangen noch zwei, drei leichte Tritte, bevor auch diese verstummten.
Da bekam er es endgültig mit der Angst zu tun. Er begann zu rennen, so schnell es sein Körpergewicht erlaubte. Das Herz pochte bis ins Gehirn und brachte ihn um den klaren Verstand. Als er den parallel zum See verlaufenden Rebweg gekreuzt hatte, wurde der Chrosweg deutlich steiler. Er führte zur neuen Siedlung, die im Rohbau wie ein Kaninchenstall aussah, der von den neuen Gefangenen erst noch ein wenig dekoriert werden musste.
Er lief am ›Haus in der Chros‹ vorbei, Haus des Rebmannes der Chrosreben, Herr über die Trauben, wo es heute keinen einzigen Rebstock mehr zu sehen gab. Er erinnerte sich noch daran, wie er früher einmal das Schild an der Hauswand gelesen hatte. ›Im Taufrodel von Twann erstmals 1574 genannt als Heim der Hubler in der Chros. Seither ist das Haus im Besitz derselben Familie.‹ Seltsam, womit das Gehirn sich beschäftigte, wenn man auf der Flucht war.
Aber handelte es sich um eine Flucht? Er gehörte hierher, war im Dorf aufgewachsen, fühlte sich als Teil der Gemeinschaft. Und doch hastete er nun durch den Wald, an einer Baumhütte vorbei, über die Straße, wo ihm einer der neuen Hausbesitzer kopfschüttelnd zusah. Würde der doch seinen Widersacher aufhalten, dann wäre alles gut!
Er querte die Gaichtstraße und folgte dem Waldsaum auf einem Wanderweg, bis er die Hochebene erreichte und vorbei an zwei Bauernhäusern geradeaus weiterjagte, auf den höher gelegenen Wald zu. Nun hatte er ein Ziel. Es war ihm nur nicht bewusst geworden.
Vor Augen hatte er bereits die Blutbuche, die er zum letzten Mal vor bald 30 Jahren gesehen hatte. Wenn sie noch stand, musste sie den Waldrand dominieren. Er hob die Augen, sah sie erst beim zweiten Versuch, rechts von ihm, ein ganzes Stück weiter Richtung Gaicht, als er es in Erinnerung hatte.
Nicht nachdenken. Rennen!
Er konnte keine Schritte mehr hören. Ob er den Verfolger abgehängt hatte? Aber der Boden war weich, dämpfte die Geräusche, außerdem glockten die Kühe im Takt.
Er rannte auf den Baum zu, den Blick auf die schweren, unteren Äste gerichtet.
Abrupt zog es ihm die Beine unter dem Körper weg. Er fühlte seinen Sturz, den Aufschlag auf etwas Hartes, den stechenden Schmerz, das Fließen des eigenen Blutes.
Und er überlegte noch, wie wohl der neue Jahrgang werden würde, wenn es weiterhin so trocken blieb.
Du spinnst, sagte eine innere Stimme. Hast du keine anderen Probleme?
Heinrich Müller hatte in seiner Jugend keinen Lebensentwurf, keine berufliche Karriere in Aussicht; er war nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen begünstigt, kein Bern-Burger, kein Vitamin-B-Aspirant, er hatte keine politischen Ambitionen, keine militärischen oder religiösen Interessen, keine Familienplanung. Nichts verband ihn mit angestrengten Zielen, die es zu erreichen galt, die von den einen erreicht worden sind und an denen diejenigen, die sie nicht erreicht haben, zerbrochen sind, abgeschrammt in Depressionen, Selbstmord oder gesellschaftlichen Nihilismus.
Sollte, ja müsste er jetzt glücklich sein, durchs Leben getrieben von Zufällen, denen er manchmal einen Schubs gab, manchmal auch nicht, gesegnet mit mittelmäßiger Zufriedenheit in allen Belangen? Er wusste es nicht, und da das Leben unweigerlich auf den Tod zusteuerte, würde er es wohl auch nie erfahren. Dennoch blieb er frei von zermürbenden Selbstzweifeln und reumütigen späten Erkenntnissen. Er kannte wohl beides, aber gleichzeitig wusste er nicht, wie er sein Leben hätte anders gestalten können. Also: Es ging Heinrich Müller gut, er war zufrieden, danke der Nachfrage.
Außerdem gab es heute Grund zum Frohsinn. Denn im ›Bauch & Kopf‹ war eine Weinprobe angekündigt, eine Journalistin würde sich zu den Degustierfreudigen gesellen, zwei Bielersee-Winzer waren mit ihren Produkten eingeladen, und selbstverständlich hatte die gesamte Entourage der ›Detektei Müller & Himmel‹ schon lange auf diesen in jeder Beziehung heißen Tag hingefiebert. Nur Baron Biber hing schlaff auf einem Sessel unter der Pergola, gut sichtbar durch die weit geöffneten Fenster. Nicht einmal die ›erlesenen Streifen mit Gemüse‹ konnten ihn zum Fressnapf locken, kein ›Kalb auf provenzalische Art‹, kein ›Wild mit Gemüse im Duett‹, noch nicht einmal ›Forelle und Spinat‹, und auf ›Rind und Karotten‹ stand er sowieso nicht. Ginger, der Streuner, der früher alles weggefressen hatte, was liegen geblieben war, war wohl im letzten Dezember zum ewigen Streuner geworden, denn eines Tages war er aufgebrochen, gut genährt zwar, aber viel zu früh für die Saison, und nie mehr wiedergekehrt. Der Abschied verlief in Raten, denn zuerst hoffte man noch auf eine übliche Auszeit oder darauf, dass doch schon ein Weibchen rollig war, aber als die Wochen ins Land gingen, musste man zur Kenntnis nehmen, dass selbst ein fett gefressener Ginger diesen langen und kalten Winter draußen nicht überleben würde. Baron Biber vermisste den ungehobelten Kerl, ließ sich aber nichts mehr anmerken, und schon längst hatte eine junge Nachbarsdame namens Mathilda seine Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, auch wenn er mit seinen nun 13 Jahren nicht mehr die eigentlich notwendige Grundschnelligkeit aufwies, um sie zu beeindrucken.
Die Vorbereitungen zogen sich noch ein wenig hin. Die Gäste würden erst in zwei Stunden kommen.
Melinda Käsbleich hatte sich nur langsam von der Party erholt, mit der der letzte Erfolg der ›Detektei Müller & Himmel‹ gefeiert worden war.[1] Sie betrachtete dies als einen derart gelungenen Einstieg ins gesellschaftliche Leben, dass sie ihre beiden besten Freundinnen Phoebe und Gwendolin unbedingt an solchen Ereignissen teilhaben lassen wollte. Wer wusste denn schon, wann sich wieder etwas Aufregendes ereignen würde. So saßen nun drei entzückende Mädchen im ›Bauch & Kopf‹, himmelten Leonie, Nicole und Heinrich an und vergaßen in gepflegter Langeweile ihre verstreichende Lebenszeit.
Es gelang ihnen, in ihrer ganzen ätherischen Schlaffheit noch entspannter zu wirken als Baron Biber, der sich mit einem Kissen auf den einzigen Stuhl gefläzt hatte. Gut, man muss sagen, dass die drei schon einen beschwerlichen Einkaufsbummel hinter sich hatten, der offenbar nicht von Erfolg gekrönt war, denn es waren keine Plastiktaschen dekorativ an die Wand gestellt. Vielleicht war auch einfach nur ihr Portemonnaie leer, denn die angestrebte Modelkarriere hatte noch nicht richtig gezündet, und so waren die drei auf Fremdgelder angewiesen, die nur sporadisch flossen, wenn sie ihren Eltern im Verweigerungsfall mit Aktivitäten zum Gelderwerb drohten, die anderen Mädchen die Schamröte ins Gesicht getrieben hätte.
»Könnt ihr euch ein Getränk leisten?«, fragte Leonie von der Bar.
»Wer will das wissen?«, gab Melinda zurück, denn sie traute sich als Einzige solche Sprüche, obwohl selbst sie davor scheute, gewisse Wörter auszusprechen.
»Ich freue mich, euch zu sehen«, merkte Leonie sarkastisch an.
»Ist nicht wahr«, maulte Phoebe, »keiner freut sich, uns zu sehen.«
»Warum so patzig?«, erkundigte sich Leonie.
»Es ist heiß«, jammerte Melinda, strich sich den feinen Schweißfilm von den frisch rasierten Oberschenkeln und hielt sich den Finger an die Nase.
»Ekelhaft!«, meldete sich Phoebe zu Wort. »Wie riecht’s?«
»Vulkanasche aus Island.« Melinda zuckte die Schultern.
»Sternenstaub«, seufzte Gwendolin beglückt.
»Straßendreck«, wies Phoebe ihre Kollegin zurecht. »Das Leben ist beschissen genug. Es braucht keine zusätzlichen Märchen.«
»Jetzt geht halt raus und genießt das schöne Wetter«, meinte Leonie.
»Sie will, dass wir Hautkrebs kriegen«, sagte Phoebe zu niemandem, denn der Satz blieb über Baron Biber hängen. Kein einziges Lüftchen wehte durch den Raum.
Leonie Kaltenrieder hatte gerufen, Nicole Himmel und Heinrich Müller hatten eingeladen, und nach und nach, einzeln oder in kleinen Gruppen, tauchten sie am Ort des Geschehens auf: Bernhard Spring, Störfahnder der Police Bern, einer, der eingesetzt werden kann, wo immer es ihn braucht, stand als Erster an der Bar. Kurz darauf kam seine Assistentin Pascale Meyer, in ihrem Schlepptau der Objekt-Verbrennungskünstler Cäsar Schauinsland.
Melinda Käsbleich, Phoebe Helbling und Gwendolin Rauch hatten sich nicht von ihren Plätzen vertreiben lassen und betrachteten mit kritischem Wohlgefallen Louise Wyss, Ex-Model für den Bauernkalender, und ihre beiden neuen Freundinnen. Der Künstler F. K. Swiss[2] war in ein Gespräch mit Andreas Bohnenblust und Ruth Huber von der Bäckerei Bohnenblust vertieft. Natürlich gesellten sich noch ein paar Leute dazu, von denen niemand wusste, wer sie eingeladen hatte. Jedenfalls war das ›Bauch & Kopf‹ gut gefüllt, und die Leute standen in angeregter Vorfreude im Raum. Sie hielten ein Glas Saar Riesling 2007 Fuder 13 von der Weinmanufaktur Van Volxem in der Hand, das die Journalistin nun kommentierte: honiggelb, Zitrus- und Melonenduft, im Mund süße Mirabellen, Melonen, und eine feine, weiche Säure im Abgang, frisch und wunderbar fett zugleich. Eine Scheibe Oliven-Chnebubrot kontrastierte mit den Weinaromen und vermählte den Süden mit dem Norden.
»So geht ein Winzerjahr zu Ende«, flüsterte Nicole Heinrich zu, »aus der Flasche in den Schlund. Alle Geräusche, die die Blätter gemacht haben, die Farben der Trauben, das Rascheln der Tiere finden sich glockenhell in diesem Glas. Und unsere Weinpäpstin erfindet die passenden Begriffe dafür.«
»Probier mal den«, erwiderte der Angesprochene ungerührt. »Ein Sauvignon Blanc vom Bielersee, Charles Steiner, Schernelz. Mineralischer Geschmack, kantige Leichtigkeit, elegante Fülle.«
»Das hast du jetzt irgendwo abgelesen!«
Heinrich lachte und zeigte auf einen Zeitungsausriss, den der Winzer mitgebracht hatte. »Aber es stimmt schon. Man soll nicht einfach alles in sich reinstopfen. Wenn du Begriffe für die Nahrungsmittel suchst, isst du langsamer und bewusster. Nimm zum Beispiel diesen Rohschinken aus dem Mendrisiotto.« Er hielt ihr eine Scheibe des dunklen Fleisches an die Nase.
»Fein salzig«, sagte Nicole, schnappte sich den Schinken und kaute genüsslich. »Süßlich-würzig«, erklärte sie, »mürbe, schmelzende Fette.«
»Geht doch«, erwiderte Müller, bevor er sich weiter der Degustation widmete.
Im Hintergrund eröffnete eine Schiffssirene Björks »Wanderlust«, bedrohliche Posaunen trieben die hypnotisierende Stimme durch die isländischen Techno-Beats wie durch den Malstrom des Lebens.
Um Heinrich und Nicole schwebten Fetzen der Konversation.
»Die irrsten Weinaromen?«, wiederholte die Journalistin die Frage des Winzers. »Toastbrot. Räucherspeck. Korinthenschokolade? Nasser Hund?«
»Nichts, womit ich Kunden beglücken könnte …«
»Und wie beschreibt man einen Wein aus dem Jahrhundertjahrgang 2009, einen Bordeaux, der 20 von 20 Punkten erreicht?«
»Dafür findest du keine Worte mehr, solche Superlative gibt es gar nicht.«
»Habt ihr den WM-Final gesehen letzten Sonntag?«, fragte Melinda ihre Kolleginnen.
»Was glaubst du denn«, empörte sich Gwendolin.
»Muss aber eine wichtige Persönlichkeit gestorben sein«, nörgelte Phoebe. »Dass man uns mit einem derartigen Trauerspiel beglückt hat.«
»Ich bin ganz allein zu Hause geblieben«, seufzte Melinda. »Ich steh nicht auf Rudelfernsehen.«
»Prost«, rief Leonie, als sie eine neue Serie Rotweine öffnete.
»Die dümmste Frage der Welt heißt: Du trinkst Alkohol?« Louise, das Bauern-Model, ereiferte sich. »Nein! Ich trinke Wein oder Bier oder Schnaps. Aber keinen Alkohol. Der mit der Feststellung verbundene moralinsaure Unterton ist nur zu kontern mit der Gegenfrage: Du frisst Zucker? Wenn er zum Kuchen greift. Du nimmst Fett zu dir? Wenn sie ins Gebäck beißt. Du saugst Kohlenhydrate? Wenn er die Spaghetti schlürft. Du vertilgst hochgekotzte Scheiße? Wenn sie Honig aufs Brot streicht. Wie blöd muss eine Welt sein, die alles auf einen Inhaltsstoff reduziert, wenn das Produkt aus mehreren tausend Ingredienzien besteht? Genau so gut könnte man einen Bier- oder Weinliebhaber fragen: Du säufst Wasser? Denn das ist der anteilmäßig wichtigste Stoff.«
»Der Wein schmeckt, wie wenn man in eine rostige Fahrradkette beißen würde.« Pascale kicherte bereits in höheren Tonlagen.
Cäsar referierte eine Liste, die an der Wand hing: »Der Durchschnittsschweizer kippt jährlich 40 Liter Wein hinter die Binde. 10 Liter weniger als noch vor 20 Jahren.«
»Und 57 Liter Bier. 4 Liter Schnaps. Und von allem immer weniger.« Pascale staunte.
»9 Liter reinen Alkohol«, sagte Cäsar. »Da müssen wir uns aber ranhalten, wenn wir den Durchschnitt knacken wollen.«
»Auf den mehrtägigen römischen Bacchanalien«, erklärte Nicole, »haben sie bestimmt mehr Alkohol in sich hineingeschüttet. Es wurden ganze Vermögen verschwendet, jeder suchte den andern zu übertreffen. Speisen vom Feinsten, edle Weine, betäubende Parfüme …«
»… die den Geruch von Erbrochnem übertünchten …«
»… Sklaven, die für Massagen, Bäder in Eselsmilch, Gladiatorenkämpfe und sexuelle Dienstleistungen zur Verfügung standen …«
Mit Grauen und Verzückung stellte sich Heinrich die Bacchanalien vor, diese ausschweifenden Feste der Sinnlichkeit, welche die Römer von den griechischen Dionysien abgekupfert hatten, und zwar in einer derart exzessiven Weise, dass sie 186 vor Christus durch einen Senatsbeschluss streng reglementiert wurden. Allerdings hatte man vorher 7.000 Männer und Frauen, die zu ausgiebig gefeiert hatten, hingerichtet.
Es war zwar bestimmt nicht korrekt, noch nicht einmal im Denken, aber er hätte auch gerne ein paar Schändlichkeiten mit Sklavinnen begangen. Gut, es mussten keine Sklavinnen sein …
»Mord?«, fragte der Störfahnder sein Handy. »Du hast Mord gesagt?«
Als Spring im Treppenhaus stand, hatte Björk gerade noch Zeit für ein paar Schlussakkorde, dann wurde klar, wie schnell eine gute Stimmung kippen konnte.
»Man sieht sich« und »bis zum nächsten Mal« und Händeschütteln und Händeringen, und mit einem Mal war alles still. Betretenes Schweigen, wie es so schön heißt. Leonie räumte Flaschen zusammen, Nicole füllte Gläser in die Geschirrspülmaschine. Heinrich drehte Däumchen.
Der Störfahnder hatte die Aufmerksamkeit sicher, als er wieder in die Gaststube trat.
»Was für eine Scheiße«, sagte er bloß. »Gib mir einen Kräuterlikör, am liebsten einen Grande Gruyère.« Er griff zum Glas und stürzte das Bittergetränk in einem Zug runter. Nach einer Schrecksekunde räusperte er sich und verkündete: »Polizeiarbeit.«
»Heimlichtuerei«, giftelte Müller, der Detektiv.
»Ihr erfahrt es ja doch früher oder später. In Gaicht oberhalb von Twann haben sie einen gefunden.«
»Schlangenbiss?«, fragte Pascale.
»Doch nicht am Waldrand«, ärgerte sich Spring.
»Von Waldrand war bisher noch nicht die Rede«, schmollte Pascale und bestellte sich auch »so einen«, indem sie auf das Glas ihres Chefs zeigte.
»Aufgespießt«, erklärte der Störfahnder. »In einer Art Wolfsfalle. Wir müssen uns das vor Ort ansehen.«
»Ist gut«, entgegnete Nicole.
»Mit ›wir‹ meinte ich die Polizisten in diesem Raum.«
»Das sind ja nur zwei«, stellte seine Assistentin fest. »Bist du sicher, dass wir mit so wenig Personal zurechtkommen?«
»Ich kriege morgen das Protokoll der Kantonspolizei. Dann sehen wir weiter. Die Falle wird schon nicht davonlaufen.«
Es ward von Minute zu Minute eintöniger, die Menschen versanken immer mehr in einen geistigen Dumpfsinn, nur einzelne Schimpf- oder Sauworte arbeiteten sich aus den verquellenden Kehlen; es war keine Spur von der wilden, lustigen Aufgeregtheit, der Gesprächigkeit, die der Wein erzeugt.[3]
Nun waren sie doch zu viert unterwegs ins Seeland. Nicole spielte unterwegs an ihrem iPad und hörte sich diverse Musikempfehlungen auf YouTube an, eine ukrainische Polkaband, die ein Kate-Perry-Cover von ›Hot’n’Cold‹ zum Besten gab, oder die Leningrad Cowboys aus Finnland mit ›Sweet Home Alabama‹, unterstützt vom Chor der Roten Armee, oder ›Herzilein‹ von den Wildecker Herzbuben. Die Grenzen zwischen Original und Kopie verwischten sich, zwischen Alltag und Wahnsinn, wahr oder falsch schien nicht mehr existent.
War es nicht auch in jedem ihrer Fälle so gewesen? Waren Opfer und Täter immer klar zu bestimmen?
Zu den Takten von ›Herzilein‹ hakte sich Pascale bei Nicole zum Schunkeln ein, sodass der Wagen in der nächsten Kurve leicht ins Schlingern geriet.
»Egal, was ihr geraucht habt, ich will auch was davon«, sagte Müller.
Spring hingegen verlangte Ruhe und Ordnung.
»Ja, Herr Polizist«, erwiderten die beiden Damen im Fond.
Mit dem Amüsement war es allerdings vorbei, als die vier vor der Grube standen, in der vor drei Tagen ein Mensch gestorben war.
Der Störfahnder schüttelte den Kopf, als er das Erdloch betrachtete, offensichtlich hastig von Hand gegraben und mit einer schwarzen Plastikfolie abgedeckt, auf der eine dünne Schicht Gras und Blätter verteilt war.
»Man muss sehr in Eile sein, dass man diese Bodenunebenheit nicht bemerkt«, sagte Müller.
»Joggen oder flüchten?«, rätselte Pascale Meyer.
»Jedenfalls kein Sport«, bemerkte Spring, »denn unser Mann war laut Untersuchungsbericht vollständig bekleidet.«
»Warum hat man dich nicht gleich am Tag des Auffindens der Leiche informiert?«, fragte Heinrich seinen alten Freund. »Wir hätten uns ein besseres Bild machen können.«
»Weil die örtliche Polizei von einem Unfall ausgegangen ist.« Bernhard seufzte vernehmlich. »Erst der zugezogene Arzt hat, als er den Toten aus der Grube heben wollte, bemerkt, dass er aufgepfählt worden ist. Er hat ihn in die Rechtsmedizin nach Bern überführen lassen, und die haben uns benachrichtigt.«
»Das hat sich bestimmt schnell herumgesprochen, nach all den Spuren zu urteilen«, stellte Nicole Himmel fest. »Der Boden ist ja völlig zertrampelt. Da kann man nicht einmal mehr feststellen, aus welcher Richtung das Opfer gekommen ist.«
»Wir müssen zuerst die Unfallhypothese ausschließen«, erklärte der Störfahnder und machte sich an die Tatortbeschreibung. »Die Grube ist nicht natürlichen Ursprungs. Sie ist mit Absicht ausgehoben und zugedeckt worden. Unten stecken drei zugespitzte Pfähle im Erdreich. Der Tatort ist also vorbereitet worden.«
»Fragt sich nur, zu welchem Zweck«, ergänzte Müller.
»Und für wen?«, überlegte Pascale.
»Ich habe jedenfalls noch nie etwas Ähnliches gesehen, außer vielleicht in alten Wildwestfilmen«, sagte Nicole.
Spring erläuterte, indem er im Untersuchungsbericht blätterte: »Der Ortspolizist hat erklärt, solche Fallen seien früher für Wölfe und Bären gelegt worden. Aber davon gibt’s schon längst keine mehr.«
»Vielleicht wollte man einen Luchs fangen?«, fragte Pascale.
»Fangen nicht. Die Fallgrube war von Anfang an aufs Töten ausgelegt«, erläuterte Müller. »Die Frage ist bloß, ob wir es mit einer Tierfalle zu tun haben, in die zufälligerweise ein Mensch gestürzt ist, ein wahrscheinlich gehetzter Mensch, oder ob sie von allem Anfang an darauf angelegt war, irgendeinen oder einen ganz bestimmten Menschen zu töten.«
»Erst wenn wir diese Absicht nachweisen können, müssen wir von Mord ausgehen«, sagte Spring. »Erst dann sind wir zuständig.«
»Die andern Möglichkeiten riechen ein bisschen sehr nach viel zu vielen Zufällen«, wandte Pascale Meyer ein.
»Kennt man wenigstens inzwischen den Namen des Opfers?«, fragte der Detektiv.
»Hubert Welsch«, las Spring nach, »wohnhaft in Biel. Seine Frau hat ihn gestern vermisst gemeldet. In den Kleidern des Toten hat man keine Papiere gefunden.«
»Also Mord«, schloss Müller. »Wenn jemand die Mühe auf sich nimmt, einem in einer Wolfsgrube Verstorbenen die Ausweispapiere zu klauen, war er jedenfalls nicht alleine hier.«
Ein Auto hatte sich dem Standort der Berner genähert. Aus dem Wagen heraus stieg ein schmächtiger Mann, dessen matte Augen übernächtigt glänzten.
»Christian Blöchlinger«, stellte er sich vor. »Ich habe von der Zentrale gehört, dass Sie hierher kommen.« Ein leichter Vorwurf schwang in seiner Stimme.
»Wir wollten uns ungestört ein Bild vom Tatort machen«, erklärte der Störfahnder. »Denn offensichtlich zieht die Anwesenheit der Polizei gleich eine Menge Schaulustige an.« Er zeigte auf das zertrampte Gras.
»So was spricht sich halt in einem Dorf schnell herum«, meinte Blöchlinger. »Ich kann den Leuten ja nicht verbieten, spazieren zu gehen.«
»Aber eine Absperrung für die Spurensicherung wäre doch möglich gewesen?«, wollte Spring wissen.
»Bringt nicht viel«, protestierte der Polizist und zuckte die Schultern.
»Damit nicht noch einer reinfällt«, ergänzte Pascale.
»So blöd sind die Einheimischen denn doch nicht«, erwiderte der Angesprochene beleidigt.
»Aber einer von ihnen war so blöd«, bemerkte Müller.
»Es war ja auch ein Auswärtiger. Von den Eingeborenen fehlt keiner«, kommentierte Blöchlinger schon etwas entspannter. »Jedenfalls gibt es keine Vermisstenanzeige.«
»Haben Sie wenigstens eine Spur erkannt, die uns zeigen könnte, woher der Mann gekommen ist?«, fragte der Störfahnder.
»Schwierig zu sagen.«
»Es stehen doch zwei Bauernhöfe dort unten. Man hätte ihn also sehen können. Oder wenn er durch das Dorf gekommen ist.«
»Schon«, sagte Blöchlinger. »Aber wenn der Bauer grad im Stall war. Und glauben Sie mir, der Bauer ist fast immer im Stall, wenn etwas Ungewöhnliches geschieht.«
»Und die Familie hilft ihm beim Umschichten des Heuhaufens«, erklärte Nicole.
Sie betrachtete die Bauern wie Hottentotten oder Neufundländer und das Leben auf dem Lande so, als ob das Fegfeuer ein Tanzsaal dagegen wäre.
»So ungefähr. Wenn der Mann aber über das Waldsträßchen gerannt ist, sieht man keinerlei Spuren im Schotter.«
»Unwahrscheinlich. Denn wieso sollte er ausgerechnet an dieser Stelle einen Satz auf die Seite gemacht und sich in die Grube gestürzt haben?«, gab Müller zu bedenken. »Eher ist er übers Feld gekommen und hat sich hier in den Wald flüchten wollen.«
»Sagt Ihnen der Name Hubert Welsch etwas?«, fragte der Störfahnder.