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DAS BUCH

In einer Welt, die der unseren gar nicht so unähnlich ist, hat die Eiszeit nie aufgehört. Jedes Jahr versinkt während der Wintermonate alles in Eis, Schnee und Dunkelheit. Selbst die Menschen ziehen sich zurück und halten Winterschlaf – außer die Winterkonsuln. Sie wachen über den Schlaf der Menschen, denn draußen in der Dunkelheit treiben heulende Bestien ihr Unwesen. Hier tritt Charlie seine erste Arbeitsstelle an, und sie entwickelt sich schon bald zu einem Albtraum. Denn wenn Charlie diesen Winter überleben will, muss er wach bleiben. Um jeden Preis …

DER AUTOR

Jasper Fforde, Jahrgang 1961, ist gebürtiger Londoner und war viele Jahre in der Filmindustrie tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sein erster Roman »Der Fall Jane Eyre« um die Zeitdetektivin Thursday Next war weltweit ein Riesenerfolg. Mit »Eiswelt« schlägt Fforde nun ein neues Kapitel in seinem Schreiben auf. Der Autor lebt in seiner Wahlheimat Wales.

Roman

Aus dem Englischen

von Kirsten Borchardt

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe:

EARLY RISER

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Deutsche Erstausgabe 12/2018

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Copyright © 2018 by Jasper Fforde

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

(muh23, photosoft, Lavrushka, pupsy, Sergey Mastepanor)

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-23357-0
V001

Für

Rhulen Marya Ivy Anna Fforde-Gorringe,

ein Kind Australiens, doch beseelt von Wales –

die sich ihrerseits ziemlich gut mit Winterschlaf auskennt

Mrs. Tiffen spielte Bouzouki

»… Seit dem Bau von Dormitorien, der Entwicklung von effizienten Maßnahmen zur Gewichtszunahme und der Einführung von Morphenox überleben mehr Menschen als früher die Hibernation, aber dennoch sind Angst und Aberglauben weit verbreitet. Bei der Hib geht es nicht nur darum, den schlimmsten Seiten des Winters aus dem Weg zu gehen, sondern ebenso sehr um Ruhe, Schonung und Erneuerung, und wir tun unser Bestes, um dem öligen Teer des Langschlafes einen warmen und freundlichen Zauber zu verleihen …«

SIEBZEHN WINTER, WINTERKONSUL LANCE JONES

Mrs. Tiffen spielte Bouzouki. Nicht besonders gut allerdings. Und sie beherrschte auch nur eine Melodie: »Help Yourself« von Tom Jones. Sie zupfte die Saiten durchaus meisterlich, ließ aber jegliches Gefühl dabei vermissen, während sie mit leerem Blick aus dem Zugfenster auf das Eis und den Schnee draußen starrte. Sie und ich hatten, seit wir uns vor fünf Stunden das erste Mal begegnet waren, kein vernünftiges Wort gewechselt, und dafür gab es einen einfachen Grund. Mrs. Tiffen war tot, und das schon seit einigen Jahren.

»Es wird ein milder Winter werden«, sagte die grauhaarige Frau, die Mrs. Tiffen und mir gegenübersaß, während der Zug aus dem Hauptbahnhof von Cardiff rollte. »Durchschnittlich niedrige Temperaturen von höchstens minus vierzig Grad, würde ich vermuten.«

»Geradezu mild also«, gab ich zurück, und wir beide lachten, obwohl das gar nicht lustig war – nein, nicht im Geringsten.

Nachdem ich unsere Mitreisende eine Weile studiert hatte, war ich zu dem Schluss gekommen, dass es sich bei der Frau wahrscheinlich um eine Schauspielerin handelte und sie zu denen gehörte, die mit großem Einsatz die Winterspielzeit-Tradition aufrechterhielten. Zu dieser Zeit war das Publikum zwar klein, aber ausgesprochen dankbar. Bei den Sommeraufführungen musste man sich mit dem verwässerten Respekt zahlreicher Zuschauer zufriedengeben, doch im Winter konnte man sich der Begeisterung einer kleinen, aber dafür umso enthusiastischeren Menge sicher sein.

Der Zug hielt kurz an der Queen Street, dann rumpelte er langsam nordwärts. Zwar hätte er theoretisch schneller fahren können, aber in Wales gilt acht Tage vor bis acht Tage nach dem Winter eine Obergrenze von 75 dB1 für Lärmbelastungen.

1Warum, weiß niemand so genau. Angeblich hat es irgendwas mit dem St.-David’s-Tag zu tun, dem 1. März, wenn man in Wales dem Nationalheiligen, David von Menevia, gedenkt.

»Überwintern Sie schon lange?«, fragte ich, um ein bisschen Konversation zu betreiben.

»Ich habe seit drei Jahrzehnten keinen Sommer mehr gesehen«, antwortete sie lächelnd. »An meinen ersten Auftritt kann ich mich noch gut erinnern: Das war in Hartlepool, im Winter 76, im Don Hector Playhouse. Wir bildeten das Vorprogramm bei der ersten und einzigen Wintertournee der Chuckle Brothers und gaben König Lear. Es war knackevoll – beinahe dreihundert Leute. So etwas hatte ich vorher noch nie gesehen, außer bei der Bonzo Dog Band oder Val Doonican, aber danach wurde die Winterspielzeit zu einer Art Markenzeichen für sie, wie früher für Mott The Hoople und Richard Stilgoe oder heute für Paul Daniels und Take That.«

Nur wenige Sommerkünstler wagten eine Tour in der Kälte – der Winter erwies sich oft als harter Zuchtmeister. Was dabei alles passieren konnte, zeigte beispielsweise die Konzertreise, die Showaddywaddy 1974 durch Wales unternahmen: Erst wurde die Band in ihrem Hotel in Aberystwyth von Nachtwandlern belagert, die vor Hunger halb wahnsinnig waren, danach verloren sie die halbe Besetzung in einem Eissturm. Die nächsten zwei Monate wurde ihr Manager von »Lucky« Ned Farnesworth gefangen gehalten und erst gegen ein Lösegeld wieder freigelassen, drei Roadies verloren durch Erfrierungen ihre Füße, und der Bassist wurde angeblich vom Wintervolk geholt. Dessen ungeachtet waren die überlebenden Mitglieder der Auffassung, es sei eine ihrer erfolgreichsten Tourneen überhaupt gewesen.

»Mir war gar nicht klar gewesen, wie stark sich die Stille auf die Psyche auswirkt«, sagte meine Begleitung und unterbrach damit meinen Gedankengang, »und wie es sich anfühlt, wenn die Einsamkeit körperliche Schmerzen verursacht. Einmal habe ich sieben Wochen lang keine Seele zu Gesicht bekommen, als ich wegen der ausgedehnten Kältewelle 78 im Ledbury Playhouse gestrandet war. Es war kälter als eine Gronk-Zitze, und vier Wochen lang tobte ein Blizzard. Selbst die Schurken verkrochen sich, und die Nachtwandler froren im Wandeln ein. Als dann milderes Wetter einsetzte, hielt die Starre sie aufrecht – sie fielen erst um, als sie bis zu den Wadenbeinen aufgetaut waren. Jenen, die nicht wirklich die Berufung in sich fühlen, kann das Fehlen anderer menschlicher Wesen schon schwer zu schaffen machen.« Sie hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Aber wissen Sie, irgendwie liebe ich es trotzdem. Man gelangt zu so einem Gefühl von … Klarheit

Langzeitüberwinterer waren dafür bekannt, solche Ansichten zu äußern – eine dunkle Vorliebe für die Tristesse und die feste Überzeugung, dass die Einsamkeit sehr förderlich für die Entwicklung philosophischer Gedankengänge war. Oft genug kam es allerdings auch vor, dass gerade jene, die so wortreich die Vorzüge des Winters priesen, ebendies bis zu genau dem Augenblick taten, da sie einen überaus entschuldigenden Schrieb hinterließen, sich splitternackt auszogen und nach draußen in die Minustemperaturen spazierten. Man sprach in diesem Fall vom »Kalten Ausweg«.

»Hummer«, sagte Mrs. Tiffen zusammenhangslos, während sie weiter ihre Bouzouki spielte. Wieder »Help Yourself«, zum ungefähr zweihundertsten Mal.

Aus dem tiefen Abgrund der Hibernation zurückzukehren barg stets ein gewisses Risiko. Wenn man den minimalen synaptischen Austausch unterbrach, der die Aufrechterhaltung der Lebensfunktionen garantierte, erlitt man einen neuronalen Kollaps und starb den Schlaftod. Wenn man keine Fette mehr im Körper hatte, die zu verwendbarem Zucker verstoffwechselt werden konnten, starb man den Schlaftod. Wenn die Temperatur zu schnell sank, starb man den Schlaftod. Ungezieferbefall, eine Ansammlung von Kohlendioxid, Knochenschwund durch Kalziummangel, eine bereits vor der Hibernation ausgebrochene Krankheit oder ein Dutzend anderer Komplikationen – Schlaftod.

Allerdings führte nicht jeder neuronale Kollaps unweigerlich zum Exitus. Manche Menschen, wie Mrs. Tiffen, die auf Morphenox gewesen war – es traf immer die Morphenox-Verwender – wachten wieder auf und verfügten über gerade noch genügend rudimentäre Erinnerungen, um selbstständig gehen und essen zu können. Und während die meisten Leute diese Nachtwandler als gruselige, hirntote Winterwesen betrachteten, die Hobbys wie unverständliches Brabbeln und Kannibalismus pflegten, sahen wir sie als Menschen, die bei der Rückkehr vom dunklen Abgrund der Hibernation fast alles dort zurückgelassen hatten. Normalerweise wurden sie zusammengetrieben, bevor alle erwachten, erst umgewidmet und später ausgeschlachtet, aber hin und wieder stieß man dennoch auf Nachzügler, denen es gelungen war, durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen. Billy DeFroid hatte einmal drei Wochen nach dem Frühlingserwachen einen Nachtwandler entdeckt, der sich am Stacheldraht im Obstgarten hinter dem St. Granata verfangen hatte. Er meldete ihn den Behörden, aber erst, nachdem er ihm die Armbanduhr abgenommen hatte, die er, wie ich glaubte, bis zu seinem Tod trug.

»Neun senkrecht«, las die Schauspielerin und musste etwas lauter sprechen, um sich über Mrs. Tiffens Bouzouki Gehör zu verschaffen, »Klempner-Werkzeug mit besonderem Griff

»Ich bin nicht gut in Kreuzworträtseln«, antwortete ich ebenso laut und setzte dann hinzu: »Ich hoffe, die Bouzouki stört Sie nicht zu sehr?«

Die Schauspielerin lächelte. »Es geht. Zumindest sorgt sie dafür, dass sich keine Schwachköpfe in dieses Abteil verirren.«

Da hatte sie recht. Heute war Schlummeranfang minus Eins, der letzte volle Tag vor dem offiziellen Winterbeginn. Der Zug wimmelte von Eingemotteten und Überwinterern, die – je nach sozialem Status – auf dem Weg zu ihrem Dormitorium oder zur Arbeit waren. Zwar hatten schon mehrere andere Passagiere unser Abteil betreten, sich jedoch nach einem längeren Blick auf Mrs. Tiffens glasige Nachtwandler-Augen schnell wieder verabschiedet.

»Eigentlich mag ich Tom Jones sogar ziemlich gern«, setzte die Schauspielerin jetzt hinzu. »Spielt sie vielleicht auch ›Delilah‹ oder ›She’s A Lady‹?«

»Wäre ja schön«, sagte ich, »allein der Abwechslung halber. Tut sie aber leider nicht.«

Der Zug folgte dem zugefrorenen Fluss an Castell Coch vorbei weiter nach Norden, und als die dicken weißen Dampfwolken aus dem Schornstein der Lokomotive am Fenster vorbeidrifteten, konnte ich überall bereits Zeichen der beginnenden Winterruhe erkennen – Fensterläden wurden geschlossen und verrammelt, Fahrzeuge mit mehreren Lagen gewachsten Sackleinens abgedeckt, Flutschleusen geölt und auf Automatik eingestellt. Es war auf gewisse, kribblig-gefährliche Weise aufregend. Ursprünglich hatte ich mich vor dem Überwintern gegruselt, aber allmählich wich die Beklommenheit neugieriger Abenteuerlust. Vielleicht würde die sich im Laufe der Zeit sogar noch in Begeisterung verwandeln, aber einstweilen hatte ich ein höheres Ziel im Sinn: Überleben. Ein Drittel der Neulinge, die zum Winterkonsuldienst stießen, schaffte es nicht bis zum Frühling.

»Und sie?«, fuhr die Schauspielerin fort und nickte zu dem Wesen hinüber, das einmal Mrs. Tiffen gewesen war. »Wurde sie beherbergt2

2 Laut Gesetzestext: »Nicht-Auslieferung oder Rückbehalt einer Person in pseudobewusstem und mobilem vegetativen Zustand.«

»Fünf Jahre lang, von ihrem Mann.«

Die meisten Menschen, denen ich das sagte, reagierten angeekelt auf diese Eröffnung, die Schauspielerin jedoch nicht.

»Er muss sie sehr geliebt haben.«

»Ja«, sagte ich, »er hat alles gegeben, was er hatte, um sie zu schützen.«

Während Mr. Tiffen seine Frau als Kranke mit schweren neurologischen Problemen betrachtet hatte, war sie für uns kaum mehr als ein weiteres Winteropfer. Das Bouzouki-Spiel war lediglich eine Art Marotte, ein Stück rudimentärer Erinnerung eines Verstandes, den einst eine lebhafte Persönlichkeit und schöpferische Energie erfüllt hatten. Fast alles davon war verschwunden und allein die mechanische Fähigkeit übrig geblieben.

Zischend fuhren wir in den Bahnhof von Abercynon ein. Die Reisenden warteten vorbildlich schweigend auf dem Bahnsteig, was jedoch schlicht daran lag, dass jene, die dankbar ihren Schlummerfreuden entgegenstrebten, für große Aktionen viel zu erschöpft waren, während jene, die sich auf die Überwinterung einstellten, innerlich mit den einsamen sechzehn Wochen beschäftigt waren, die ihnen nun bevorstanden. Es wurde kaum gesprochen, als die Passagiere ein- und ausstiegen, und selbst das Klackern des Signalwärters schien seine übliche Schärfe verloren zu haben.

»Die Gerichte sind meist großzügig, wenn es einen familiären Hintergrund gibt«, sagte die Schauspielerin mit leiser Stimme, »aber trotzdem – Beherbergen ist nun mal Beherbergen.«

»Es wird keinen Prozess geben«, sagte ich. »Ihr Mann ist tot – in ehrenvoller Pflichterfüllung gestorben.«

»Solche Menschen sind meiner Meinung nach die besten.« Die Frau klang nachdenklich. »Ich hoffe, das wird man auch einmal von mir sagen können. Wie steht es mit Ihnen? Haben Sie schon viele Winter hinter sich?«

»Das ist mein erster.«

Sie sah mich dermaßen überrascht und schockiert an, dass es mir durch und durch ging.

»Ihr erster Winter?«, wiederholte sie ungläubig. »Und dann schickt man Sie für eine Nachtwandler-Auslieferung in Sektor 12?«

»Ich bin ja nicht direkt allein«, betonte ich, »da ist noch …«

»Seinen ersten Winter sollte man drinnen verbringen, sich Notizen machen und akklimatisieren«, sagte sie und ging über meinen Einwurf hinweg. »Ich habe viel zu viele Neulinge vor die Hunde gehen sehen, als dass ich das nicht nur zu genau wüsste. Was hat man getan? Ihnen mit einer Abreibung gedroht?«

»Nein.«

Das war gar nicht nötig gewesen. Ich hatte mich ohne Druck freiwillig gemeldet – acht Wochen zuvor, beim Fat-Thursday-Fest.

Fat Thursday

»… Die Länge der Zeitspanne, die Menschen in der Hibernation verbringen, hat sich leicht verändert, hauptsächlich aufgrund von klimatischen Veränderungen und Fortschritten in der Landwirtschaft. Der ›Standardwinter‹ wurde 1775 eingeführt und auf acht Wochen vor und acht Wochen nach der Wintersonnenwende festgelegt. Vom Schlummeranfang bis zum Frühlingserwachen begeben sich 99,99 Prozent der Bevölkerung in den dunklen Abgrund des Schlafes …«

DIE MENSCHLICHE HIBERKULTUR, MORRIS DESMOND

Fat Thursday hatte sich schon seit langer Zeit als der erste Tag konzentrierten Vollfressens etabliert: Es war der Punkt, an dem man begann, sich mit den neusten Methoden zum Thema »Der schnelle Weg zum Fettansatz« zu beschäftigen und gute Vorsätze zur Vermeidung jeglicher Körperfett reduzierender Aktivität zu fassen. Während man tags zuvor noch hinter einem knapp verpassten Bus herlaufen konnte, ohne dass man schief angesehen wurde, galt ein solches Verhalten tags darauf bereits als Energieverschwendung, die man als beinahe kriminell verantwortungslos betrachtete. In den zwei Monaten bis Schlummeranfang war jede Kalorie gewissermaßen heilig, und man kämpfte um den Erhalt eines jeden Gramms Körpergewicht. Der Frühling wartete nur auf jene, die mit ihren Fettreserven haushalten konnten.

Skinny Pete fiel in Schlaf, war nur Haut und Knochen

Skinny Pete fiel in Schlaf, starb nach ein paar Wochen

Bei meinem Job als Stellvertretende Hausverwaltung unterstand ich der generell wohlwollenden Schwester Zygotia, die mit Hingabe delegierte, was wiederum bedeutete, dass die gesamten Feierlichkeiten zum Fat Thursday mehr oder weniger meiner Verantwortung oblagen. Und obwohl ich dadurch mehr Kritik zu fürchten hatte als normalerweise, bot es doch eine willkommene Abwechslung von der alltäglichen Langeweile, die bei der hauswirtschaftlichen Leitung des Geburts- und Erziehungspools St. Granata3 ansonsten auf mich wartete. Im Grunde mussten für den Fat Thursday nur drei Dinge beachtet werden: Man brauchte genug zu essen sowie genügend Stühle und musste aufpassen, dass Schwester Placentia nicht den Gin in die Finger bekam.

3 Inoffizielles Motto: »Mit uns stimmt die Quote – auch ohne Ihren Beitrag.«

Megan Hughes traf als Erste ein. Sie hatte zwölf Jahre im Pool verbracht, bevor ein reiches Paar aus Bangor sie ausgewählt hatte. Nach meinen letzten Informationen hatte sie einen Mann geheiratet, der eine große Nummer beim Mrs.-Nesbit-Konzern war, der eine florierende Kette von Tearooms im traditionellen Stil betrieb, während sie selbst inzwischen zu den Förderern von St. Granata zählte: Wir verdienten gutes Geld damit, Ausgleichskinder gegen Bezahlung Leuten wie Megan zuzuschreiben, für die diese ganze Baby-Geschichte unerträglich nach Bauernhof roch.4 Es war reine Ironie, dass ausgerechnet sie Karriere bei ABwurF gemacht hatte – dem Amt für Bevölkerungswachstum und rigorose Fruchtbarkeit –, indem sie dafür sorgte, dass andere Frauen ihrer Fortpflanzungspflicht verantwortungsbewusst genügten. Es war schon einige Jahre her, dass Megan und ich uns das letzte Mal gesehen hatten, aber immer, wenn wir das taten, erzählte sie mir, wie sehr sie mich bewundert hatte, als wir aufwuchsen, und dass ich großen Einfluss auf sie gehabt habe.

4 Ausgesetzte Kinder galten als Umgehung einer Schwangerschaft, nicht als Vermeidung – ein kleiner, rechtlich aber entscheidender Unterschied.

»Matschbirne!«, rief sie auf spöttisch-aufgeregte Art, »du siehst echt großartig aus.«

»Danke, aber ich heiße jetzt nur noch Charlie.«

»’tschuldigung. Charlie.« Sie hielt kurz inne und dachte nach. »Ich denke immer an dich und das St. Granata.«

»Jetzt auch?«

»Ja. Und«, sie beugte sich etwas näher zu mir, »weißt du was?«

Na bitte.

»Was denn?«

»Ich habe dich echt bewundert, als wir aufgewachsen sind. Wie du immer gelächelt hast, obwohl du unglücklich warst. Du hattest Rieseneinfluss auf mich.«

»Ich war nicht unglücklich.«

»Du hast aber unglücklich ausgesehen

»Manchmal trügt der Schein.«

»Das ist wohl wahr«, sagte sie, »aber ich meine es ernst: Du warst auf eine tragische Weise inspirierend, so wie der Versager der Familie, der aber trotzdem immer versucht hat, das Beste aus allem zu machen.«

»Du bist wirklich zu freundlich«, sagte ich, denn schließlich war ich an Megans Art schon lange gewöhnt, »aber es könnte auch schlimmer sein: Ich hätte ohne Takt oder Mitgefühl auf die Welt kommen und hohl, egozentrisch und grässlich bevormundend werden können.«

»Das ist wohl auch wahr«, sagte sie grinsend und legte mir die Hand auf den Arm. »Wir haben ja so ein Glück, du und ich. Hab ich dir erzählt, dass ich bei ABwurF befördert worden bin? Vierunddreißigtausend plus Dienstwagen und Pension.«

»Na, das freut mich aber«, sagte ich.

Sie strahlte.

»Du bist so nett. Aber jetzt muss ich mich beeilen. Bis bald, Matschbirne.«

»Charlie.«

»Richtig. Charlie. Ein Rieseneinfluss.«

Damit marschierte sie den Flur hinunter. Es wäre leicht gewesen, sie von Grund auf zu verabscheuen, aber tatsächlich empfand ich gar nichts für sie.

Lucy Knapp war die nächste wichtige Person, die zur Tür hereinkam. Wir hatten uns achtzehn Jahre lang jeden Tag gesehen, bis sie aufs HiberTech Training College wechselte. Im Pool kamen und gingen Freundschaften wie die Gezeiten, aber Lucy und ich waren uns immer nahe gewesen. In den sechs Jahren seit ihrem Auszug hatten wir uns mindestens einmal im Monat gesprochen.

»Hey«, sagte ich, und dann stießen wir mit den Fäusten aneinander, eine über der anderen. Ein geheimes Begrüßungsritual, das wir schon seit einer Ewigkeit so praktizierten.

Lucy und ich waren dafür verantwortlich, dass am Gesicht von St. Somnia im Fries über unseren Köpfen immer noch ein bisschen Bananentoffee klebte, das Überbleibsel einer herrlichen Essensschlacht anno 1996. Ebenso deutlich sah man auch die Delle im Putz, wo Donna Trinket, die unbedingt den Erdgeschoss-Rundenrekord auf Roller Skates hatte brechen wollen, mit richtig viel Schwung zu Fall gekommen war, weil irgendwer aus der Küche Spaghettiringe in Tomatensoße auf dem Boden ausgekippt hatte.

»Stimmt es, dass du zur Prudential-Winter-Überlebensvorsorge gehst?«, fragte sie mit einem Unterton, in dem ich freundliche Verachtung mitschwingen hörte.

»Ich würde alles tun, um aus diesem Loch rauszukommen«, antwortete ich. »Und es ist schließlich auch nicht so, dass ich dann nur Hibernations-Schutz mit optionaler Neueinstufung und obligatorischer Transplantationserstattung verkaufen kann, sondern auch Lebens-, Zahnersatz-, Feuer- und KFZ-Versicherungen, von Frostschäden gar nicht zu reden. Was hältst du davon?«

»Ich kann mich vor Gleichgültigkeit kaum halten.«

»Geht mir auch so, aber ich sag nur: Morphenox.«

Zwar würde ich die ersten zehn Jahre bei der Prudential nur den Mindestlohn bekommen, aber dennoch war es die Sache wert. Nicht der Arbeit wegen, die war so fad wie Schmelzwasser, aber es gab einen anderen Bonus: Die Versicherung würde meinen Anspruch auf Morphenox vom St. Granata ohne Unterbrechung transferieren. Ich würde also im wahrsten Sinn des Wortes ruhig schlafen können. Trotz strenger vertraglicher Verpflichtungen und des Mangels an Flexibilität, die der Job mit sich brachte, war das eine Karriereentscheidung gewesen, über die ich nicht lange hatte nachdenken müssen. Ich würde endlich hier rauskommen, aber sämtliche pharmazeutische Privilegien mitnehmen können.

»Hey«, sagte ich, »hast du gehört, dass Ed Dweezle den Nacht-Fandango getanzt hat5

5 Slangausdruck für »zum Nachtwandler werden«. Die Wandler selbst bezeichnete man gern als Spreu, Leergut, Ausgeknipste oder Hirntote. Wiedergänger war die wohl höflichste Bezeichnung, aber praktisch gesehen befanden sie sich eher in einem »pseudobewussten und mobilen vegetativen Zustand«.

»Ja«, antwortete Lucy. »Hab ich.«

Dweezle hatte immer schon Probleme gehabt, sein Gewicht zu halten. Oft hatten wir ihm etwas von unserem Essen zugesteckt, damit er zurechtkam. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hatte, drei Winter allein zu überstehen, nachdem er nicht mehr im St. Granata lebte, aber es hatte vermutlich eine Stange Geld gekostet. In seinem vierten Winter war er zu leichtgewichtig in die Hib gegangen, wenn auch randvoll mit Morphenox, und drei Wochen vor Frühlingserwachen waren ihm die Ressourcen ausgegangen. Nach seiner Nachtwandlung hatte man ihn zunächst umgewidmet und irgendwo oben im Norden als Straßenkehrer eingesetzt, und acht Monate später war er ausgeschlachtet worden.

»Nützlich bis über den Tod hinaus«, sagte Lucy, »wie das Unternehmen in seinem Slogan immer verkündet.«

Mit besagtem Unternehmen meinte sie HiberTech, das Morphenox herstellte, geeignete Nachtwandler umwidmete und dann ihr Transplantationspotential kontrollierte. Ihre Nachtwandler-Politik entsprach stark – manche sagten sogar: perfekt – dem Modell der Vertikalen Integration. Ein anderer Slogan lautete:

Außer dem Gähnen ist alles von Nutzen.™

Ich ging mit Lucy aus der Lobby in den Großen Saal.

»Mir ist bei diesen Pool-Wiedersehenstreffen nicht ganz wohl«, sagte sie. »Insgesamt war es eine ganz gute Erfahrung, aber ich mochte ja nicht jeden hier.«

»Es gab halt immer ein paar Idioten dazwischen«, stimmte ich ihr zu.

»Arschlöcher und Heilige halt.«

Wir mischten uns unter die anderen Pooler und begrüßten sie mit Handschlag, Umarmung oder Nicken, je nach ihrem Platz auf der genau festgelegten Respekt- und Zuneigungsskala. Williams, Walter, Keilly, Neal, der andere Walter, der andere Williams und McMullen, die darauf einigermaßen weit oben standen, waren alle da. Kurz überlegte ich, ob ich etwas zu Gary Findlay sagen solle, aber er hatte mich kaum gesehen, als er sich auch schon von mir abwandte unter dem Vorwand, sich noch ein Bier aus der Kühlbox holen zu wollen. Seit unserem zwölften Lebensjahr hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt, seit dem Tag, als er aufhörte, mich herumzuschubsen – nachdem ich ihm ein Ohr abgebissen hatte.6

6 Falls es jemanden interessiert: Es schmeckte salzig und löste sich erstaunlich leicht vom Kopf.

Ältere Ehemalige, die ich nicht kannte, standen neben jenen, die aktuell hier großgezogen wurden, und denen, die aus meiner Zeit noch übrig waren. Zwischen allen Poolkindern bestand ein gewisses Band, wie in einer Familie. Davon abgesehen waren viele von uns aufgrund der Einsatzfreude der Schwesternschaft tatsächlich miteinander verwandt.

Lucy wollte die Oberen Schwestern begrüßen, die auf dem Podium saßen und wie sieben Herzoginnen Hof hielten. Sie kicherten albern über irgendeinen kleinen Witz; offenbar hatte sich die strenge Haltung, die sie sonst gewöhnlich zeigten, durch den dreifachen Angriff von besonderem Anlass, reichlichem Essen und (zumindest für jene von ihnen, die gerade nicht schwanger waren) dem billigsten Sherry, der für Geld zu haben war, ein wenig verflüchtigt.

»Sieh da, unsere liebe Lucy Knapp«, säuselte Schwester Placentia, als wir näher traten, und sie umarmte Lucy, während sie mich ignorierte wie ein Möbelstück, das an seiner gewohnten Stelle stand. »Erzähl doch mal, was es Neues gibt.«

Lucy berichtete höflich, dass sie bei HiberTech inzwischen das Express-Ausbildungsprogramm zum Manager absolvierte. Ich stand stumm daneben. Trotz der hin und wieder etwas unberechenbaren Betreuung und Erziehungsweise waren die meisten Schwestern einigermaßen in Ordnung. Ohne sie wäre ich gar nichts gewesen – selbst weniger beeinträchtigte Kinder als mich ließ man gewöhnlich untergewichtig in ihren ersten Winter gehen. Es gab schlimmere Pools als diesen.

»Faszinierend, meine Liebe«, bemerkte Schwester Placentia, nachdem Lucy einen kurzen Überblick über ihre aktuellen Tätigkeiten gegeben hatte. »Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass du uns einen Edward als Küchenhelfer organisieren kannst?«

»Das verbesserte Modell, das im nächsten Jahr erscheinen soll, könnte dazu vielleicht taugen«, antwortete Lucy zurückhaltend. »Ich werde dann mal schauen, was sich machen lässt.«

Edward oder Jane waren die Standardnamen, die umgewidmete Nachtwandler erhielten. Sobald ihre kannibalistischen Tendenzen ausgemerzt und die zerfaserten Überreste ihres Verstands wieder einigermaßen verdrahtet worden waren, konnten sie einfache Aufgaben übernehmen. Allerdings, wie manche meinten, nur so einfache, dass sie im Haushalt gar nicht sinnvoll einzusetzen seien. Das St. Granata in Port Talbot hatte einen Edward, der abwaschen konnte7, aber meist wurden sie für ausschließlich repetitive Aufgaben eingesetzt, beispielsweise zum Türenöffnen, Wasserpumpen oder Gräbenausheben. Ich hatte von einem gehört, der in der Lage war, einen Gabelstapler zu fahren, und angeblich gab es einen Nachtwandler, der Zahlenreihen addierte, aber ich wusste nicht, ob das stimmte.

7 Allerdings nur Teller, Untertassen, Töpfe, Pfannen und Besteck. Tassen, Krüge und Becher stellten eine zu hohe Anforderung dar.

»Wie sieht’s aus, Matsch?« Die Stimme erklang so unvermittelt an meinem Ohr, dass ich zusammenzuckte. Es war Schwester Zygotia, die ich besonders gern mochte, obwohl oder vielleicht gerade weil sie recht exzentrisch war. Sie hegte eine Vorliebe für Erdnussbutter und Anchovis, pflegte über den Winter ihre Schlafzimmertür zuzunageln, »um sich vor umherziehendem Wintervolk zu schützen«, und bestand darauf, dass Pudding nach dem Zufallsprinzip mit Currypulver versetzt werden musste, um uns, wie sie sagte, »besser auf die unvermeidlichen Enttäuschungen des Lebens vorzubereiten«.

»Geht so«, sagte ich. »Der Haushalt für das nächste Jahr ist zwar recht knapp, aber wir sollten zurechtkommen, solange die Ausgleichszahlungen nicht gesenkt werden und wir nur einmal in der Woche Fleisch auf den Tisch bringen.«

»Gut, gut«, sagte sie geistesabwesend, dann legte sie mir die Hand auf die Schulter und bugsierte mich in eine Ecke. »Hör mal, ich will zwar nicht die Überbringerin schlechter Nachrichten sein, aber mir bleibt nichts anderes übrig. Mutter Fallopia hat von deiner Bewerbung bei der Prudential erfahren, und, nun ja, sie hat mit dem dortigen Personalbeamten gesprochen. Deine Bewerbung wurde … annulliert.«

Die Nachricht überraschte mich zwar zugegebenermaßen nicht wirklich, aber es war dennoch kein gutes Gefühl. Frustration hat einen ganz eigenen Geruch, wie heißer Toffee. Ich sah Schwester Zygotia an, die mir versicherte, es täte ihr wirklich leid, und ich sagte, dass es schon in Ordnung sei, ja, wirklich, und dann war ich froh, dass man mich bat, dabei zu helfen, Schwester Contractia wieder zur Ordnung zu rufen, die ihre Aufgaben als Türsteherin etwas enthusiastischer versah, als man insgesamt für nötig hielt. Schwester Contractia hatte viel übrig für eine gute Schlägerei, und daher dauerte es zehn Minuten, um sie zu besänftigen und die Platzwunde über ihrem Auge zu versorgen. Als ich zurückkam, erzählte Lucy Knapp gerade allen von ihrer ersten Überwinterung bei HiberTech, und dass sie tatsächlich schon einmal eine Wintersonnenwende erlebt hatte. Sie zeigte allen den Messingstern, der an ihrer Bluse steckte, um es zu beweisen.

»Hast du durch den Schlafmangel eine Narkose bekommen?«, fragte ich und schob meinen Frust ganz hinten in mein Bewusstsein, wo er auf gute und alteingesessene Gesellschaft stieß.

»Sobald man seinen Schlafzyklus auf den Spätsommer umgestellt hat, geht’s«, sagte Lucy, »aber die erste Saison kann schon ganz schön hart sein. Das einzig Gute war: Während man sich eigentlich den Arsch abfriert, gefressen oder als Hauspersonal zwangsrekrutiert wird, kann man immerhin davon halluzinieren, dass man auf der Gower-Halbinsel sitzt, einen Falschen Banana Daiquiri8 schlürft und vom Worm’s Head Bar & Grill aus den Sonnenuntergang beobachtet.«

8 Ein Löffel Nesquik Banane und zu gleichen Teilen Rum und Robinson’s Barleywater Lemon.

Lucy war nicht die einzige Person aus dem Pool, die inzwischen überwinterte, sondern nur die bisher letzte, die sich dazu entschlossen hatte. Ein Poolkamerad namens Billy DeFroid war drei Jahre zuvor in den Winterkonsuldienst eingetreten, und man hatte sich von ihm nur das Beste erzählt, bis er von einer Rotte Nachtwandler gefressen worden war, die sich in Llandeilo zusammengerottet hatten. Immerhin hatte er länger durchgehalten als die meisten anderen. Die durchschnittliche Lebenserwartung für einen Novizen für den ersten Winter »mit den Stiefeln im Schnee« lag bei nur sechs Wochen. Der Winter verzieh nicht den kleinsten Fehler, und kleine Winterwunderneulinge verbrachten ihre erste Saison am besten hinter verschlossenen Türen und kümmerten sich um Papierkram.

»Lucy«, bat ich, »erzähl doch mal von der Narkose.«

»Das ist … am Anfang ganz schön heftig«, sagte sie. »Ich dachte, meine Beine wären aus Schokolade. Je kälter es wurde, desto brüchiger fühlten sie sich an. Ich machte mir Sorgen, ob ich überhaupt würde abhauen können, falls irgendwelche Nachtwandler kämen.«

»Solche Träume habe ich manchmal auch«, warf Maisie Rogers ein, »dass ich laufe und laufe, aber nicht fliehen kann.«

Träume. Niemand, der etwas auf sich hielt, hatte Träume. Wer von uns Zugang zu Morphenox hatte, tauschte jegliche unbewussten Schlafaktivitäten gegen eine dramatische Verringerung an gespeichertem Energiebedarf. Morphenox löschte die Fähigkeit zum Träumen und sorgte im Austausch für eine höhere Überlebenschance. Zum ersten Mal seit Menschengedenken konnte man damit tatsächlich erwarten, den Winter zu überleben. Wie hieß es so schön in der Werbung: »Morphenox bringt Ihnen den Frühling!« Im Kleingedruckten hätte vielleicht der Hinweis stehen können: »Aber nur, wenn Sie das Glück, das Geld oder die gesellschaftliche Stellung haben, die Ihnen den Zugang zu diesem Medikament ermöglichen.«

»Du musst diese ganze Traumgeschichte nicht wie ein Ehrenabzeichen vor dir hertragen«, rüffelte Megan, die sich jetzt ebenfalls zu uns gesellt hatte.

Wir alle nickten zustimmend. Die meisten Menschen, die sich ohne pharmazeutische Hilfe durch den Winter quälen mussten, sprachen nicht darüber. Es war, als trüge man eine Mütze mit dem Slogan »Bürger 3. Klasse«.

Aber Maisie hatte kein Problem damit.

»Ich schäme mich nicht«, sagte sie ungehalten, während wir anderen stöhnten und mit den Augen rollten, »und ich werde mir das auch nicht einreden lassen. Davon abgesehen sind Träume auch lustig und zufällig, und auf diese Weise werde ich wenigstens niemals ein Nachtwandler, der sich durch den Winter schleppt, Käfer und Vorhänge und Menschen und sonst irgendwelchen Kram frisst und dann sein Dasein als Ersatzteillager beschließt.«

»Wenn du ausgeknipst wirst, dann weißt du ja nicht, dass du nur noch eine Hülse bist«, stellte ich fest. »Darin liegen Tragik und Segen dieses Zustands – kein Hirn, keine Sorgen.«

Natürlich zeitigte Morphenox einige unvermeidliche Nebenwirkungen: entsetzliche Kopfschmerzen, einige furchterregende Halluzinationen – und von zweitausend Anwendern, die den Winter gut überstanden, stand einer als Nachtwandler wieder auf. Die 50 Prozent der Bevölkerung, denen Morphenox gewährt wurde, waren es schließlich eben, die zu sabbernden Hülsen mit schweren Problemen in der persönlichen Hygiene und einer erschreckenden Vorliebe für Kannibalismus werden konnten. Dessen ungeachtet glaubte aber jeder, dass es sich lohnte, das Risiko einzugehen.

Als das Essen hereingebracht wurde, breitete sich Unruhe im Saal aus. Wir stellten uns zu einer ordentlichen Schlange auf, und der Geräuschpegel nahm aufgrund der Vorfreude auf das Mahl deutlich zu. Während wir warteten – Schwestern, Kinder und Unterernährte wurden zuerst versorgt –, unterhielten wir uns über die blöde Idee, die der selbsternannte »Extremschlaf«-Guru Gaer Brills für den trendbewussten Winterschläfer entwickelt hatte, und natürlich auch darüber, wer diese Runde von Albion sucht das Supertalent gewinnen würde.

»In Jutesäcke eingewickelt und mit Gänseschmalz eingeschmiert mit Minimal-BMI auf Bäumen pennen«, schnaubte Lucy bezüglich der Ideen von Gaer Brills. »Da wird es den ganzen Winter über Hipster regnen.«

Was Albion sucht das Supertalent betraf, hatten wir nach dem Überraschungsgewinner des letzten Jahres – Bertie, einem Dackel mit Südwester, der stepptanzen konnte – keine Ahnung, wer dieses Jahr das Rennen machen würde, und daher wandte sich die Unterhaltung bald einem Thema zu, das in jüngster Zeit die Nachrichten dominierte – die gestiegene Wintersterblichkeit und was man dagegen tun könnte. Gemäßigte Stimmen schlugen Baby-Werbung und finanzielle Anreize für Schwangerschaften vor, um den Rückgang der Bevölkerungszahlen zu kompensieren, die Hardliner wiederum drängten auf öffentliches Anprangern von Kinderlosigkeit, die Abschaffung aller Austragungsbefreiungen und Einstellung aller Kinderüberschreibungsprogramme. Zwar hatte der Bevölkerungszuwachs die Winterverluste bisher auffangen können, aber ein gelegentlicher Knick in der Geburtenstatistik führte dennoch oft zu Panik, was rechten Hardlinern immer ausgesprochen gelegen kam.

»Ich habe gehört, dass der Winterschwund mit einem Schlag aufgefangen werden könnte, wenn man das Mindestalter für Schwangerschaften senken würde«, sagte Megan, die jetzt zu uns gestoßen war.

»Das würde aber bedeuten, dass man den Begriff Kind neu definieren muss«, sagte Lucy, »und ich bin mir nicht so sicher, ob das wünschenswert oder überhaupt machbar wäre.«

»Man könnte sicher das Geschlechterverhältnis auf 70:30 trimmen«, überlegte ich laut.

»Damit noch weiter herumzufummeln wäre eine wirklich schlechte Idee«, sagte Lucy. »Ich habe jetzt schon genug Schwierigkeiten, ein anständiges Date zu finden.«

»Ich würde sagen, man sollte die enormen staatlichen Subventionen für HiberTech einfrieren«, erklärte Maisie in ihrem besten Revoluzzerton. »Und anstelle Morphenox nur wenigen zukommen zu lassen, sollte es eine machbare Strategie geben, um sicherzustellen, dass alle Bürger am Schlummeranfang den Ziel-BMI erreichen. Wir sollten die elitäre Hibernation nicht akzeptieren, sondern stattdessen auf gleichwertigen Schlaf für alle hinarbeiten – das ist fair und gerecht, würde die Überlebenschancen erhöhen und den Winterschwund mindern, und dann würde auch eine geringere Geburtenrate ausreichen.«

Wir alle verstummten sofort. Das war die zentrale Forderung und das schon seit Langem formulierte Ziel der einst hochgeachteten Opposition, aus der inzwischen der strikt illegale Interessensverband RealSleep – Kampagne für Echten Schlaf geworden war. Dort hielt man natürlichen Schlaf für den einzig wahren, lehnte eine pharmakologische Lösung für den Winterschwund als moralisch verwerflich ab – erst recht, wenn sie nicht allen zugänglich war – und ging davon aus, dass Menschen träumen mussten, um langfristig ihre Gesundheit zu erhalten.9 Wer sich öffentlich zu ihren Ansichten bekannte oder auch nur darüber diskutieren wollte, war entweder sehr mutig oder sehr verrückt. Maisie war vermutlich eher mutig.

9 Das inoffizielle Motto von RealSleep lautete, frei nach Shakespeare: Was auch für Träume kommen mögen.

»Die Subventionen werden vor allem für die Forschung verwendet, damit eines Tages die gesamte Hibernation in der schützenden Hülle von Morphenox stattfinden kann«, sagte Lucy verteidigend. »Don Hector war zwar ein Genie, aber selbst er stieß an Grenzen. Eines Tages aber werden wir so weit sein.«

»Das wissen wir nur, weil deine Kumpels bei HiberTech das behaupten«, gab Maisie zurück. »Das ist ein Mechanismus zum Aufrechterhalten sozialer Regeln. Don Hector hat uns nicht befreit, er hat eine Klassengesellschaft geschaffen, in der die einen gut und die anderen schlecht schlafen. Wir sollten ein einziges großes, globales Winterschlafdorf sein, mit gleichem Schlaf und gleicher Würde.«

Entgeistertes Einatmen wurde hörbar. Das war die Missionsaussage von RealSleep, eine Art Ruf zu den Waffen.

»Wir sollten über so etwas nicht reden«, sagte Lucy, die plötzlich wesentlich ernster wurde. »Ich könnte große Probleme bekommen, weil ich dich nicht melde. Und Don Hector war ein großer Mann, der Millionen Menschen durch Morphenox gerettet hat.«

»Mein Dormitologe hat mir gesagt, dass demnächst eine neue Formel auf den Markt kommt«, berichtete Megan. »Morphenox-B. Was ist denn da dran?«

»Und ich habe etwas über das Projekt Lazarus gehört«, fügte ich hinzu, da meine Neugier jetzt meine Vorsicht überwand.

»Wenn man die Hitze der HiberTech-Gerüchteküche kanalisieren könnte«, sagte Lucy nach kurzem, verärgertem Schweigen, »dann ließe sich damit vermutlich für alle Zeiten der Winter vertreiben.«

»Du hast Megans Frage nicht beantwortet«, sagte Maisie.

Lucy und Maisie starrten einander feindselig an, und Lucys Augenlider flatterten. Ich mochte sie sehr, aber sie war eine loyale HiberTech-Mitarbeiterin, durch und durch.

»Ich muss Megans Frage auch nicht beantworten«, sagte sie langsam und akzentuiert.

Das Gespräch wurde unterbrochen, da jetzt Unruhe an der Tür entstand. Die Gäste machten eine Gasse frei, um Leute durchzulassen, und das hieß entweder, dass ein Promi oder jemand von großer Wichtigkeit erschien. Oder, wie sich herausstellte, beides.

Es waren zwei Leute, die sich gepflegt unterhielten. Zum einen unsere Mutter Fallopia, hochgewachsen, elegant, streng und mit einem Habit, der so schwarz war, dass sie wie ein nonnenförmiges Loch in der Luft erschien. Neben ihr stand ein großer Mann in dem weißen, gesteppten Kampfanzug eines Winterkonsuls. Der Goldene Sonnenwendstern, der an seinem Kragenaufschlag steckte, wies darauf hin, dass er mindestens zwanzig Winter erlebt hatte. Zwei identische Bambis mit Walnussholzgriffen ragten aus den Gurten über seiner Brust, und seine Haltung vermittelte eine gewisse stille Würde. Er war dunkelhaarig, von hoher Statur und hatte die Aura eines Filmstars aus alter Zeit. Außerdem sah er Euan, Sian, Maisie, Daphne, Billy und Ed Dweezle ein wenig ähnlich – aber dafür gab es einen Grund.

»Wow«, sagte Lucy, die ebenso beeindruckt war wie wir anderen – und wie vermutlich alle Anwesenden. »Das … das ist Jack Logan.«