Jürgen-Thomas Ernst

Anima

Roman

 

 

 

 

 

 

Jürgen-Thomas Ernst

 

 

 

 

 

 

 

 

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Als am siebenundzwanzigsten August des Jahres 1896 im Vorarlberger Volksblatt darüber berichtet wurde, dass an der Rheinmündung zum Bodensee eine leblose Person entdeckt und wegen des aufdringlichen Verwesungsgestanks, den sie verbreitete, sofort verbrannt werden musste, wusste man in Hohenems, das sich vier Wegstunden flussaufwärts befand, dass es sich dabei nur um den neunundzwanzigjährigen Anselm Ender handeln konnte, der Tage zuvor von einigen aufgebrachten Hohenemsern in den Rhein gehetzt worden und, wie es hieß, ertrunken war.

Aber keiner der fünftausend Einwohner verlor darüber ein Wort oder dachte daran, die Gendarmerie zu benachrichtigen. Man wollte niemanden im Ort behelligen oder gar vor den Richter bringen. Und so versank die Geschichte des Wunders Anselm Ender, und als solches muss es bezeichnet werden, bis zu jenem Tag in Vergessenheit, als auf einem Hohenemser Dachboden eine zweiunddreißig Bogen umfassende Handschrift entdeckt wurde, die Auskunft über sein Leben und Schicksal gibt.

1. KAPITEL

Das Zentrum des Ortes Hohenems, der sich im westlichsten Kronland der Österreichisch-Ungarischen Monarchie befand, erstreckte sich neben dem Emsbach, von dem beinahe ständig ein Gestank nach verwesenden Metzgereiabfällen und Fäkalien ausging. Und nichts wünschten sich die Bewohner des Ortes an schwülen Sommertagen sehnlicher herbei als Regen. Regen, der den Unrat hinwegschwemmte, hinab zum Rhein, wo einen der Gestank nichts mehr anging. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die üblen Gerüche zurückkehrten. Ein, zwei Tage später und sie wehten wieder aus dem Bett des Baches, zogen durch die Straßen und Gassen, vorbei an den Krämerläden und Gasthäusern, Bäckereien und Metzgereien, Villen und Bürgerhäusern, hinab zu den Arbeiterwohnungen und Elendsquartieren, wo es ohnehin andauernd stank.

In der Christengasse, die sich mitten im Ort befand, lebte auch der Krämer Ignaz Peter, der im Zinshaus seines Vaters einen Gemischtwarenladen betrieb, in dem er von Kaffeebohnen, Pomeranzen, leicht angefaultem Obst, bis hin zu Schnürsenkeln beinahe alles anbot, was sich verkaufen ließ. Und er hätte sein ruhiges und einträgliches Leben wahrscheinlich bis ans Ende seiner Tage so weitergeführt, wenn in einer frostigen Jännernacht des Jahres 1865 nicht etwas passiert wäre, das sein Dasein vom einen auf den anderen Tag grundlegend verändert hätte. So entleerte kurz vor Mitternacht ein Mieter im Hinterhof des Zinshauses gedankenlos ein hölzernes Geschirr mit noch glühender Torfasche, wodurch der nahe gelegene Schuppen Feuer fing und von den aufsteigenden Glutfunken zuerst das Dachgebälk und anschließend das gesamte Peter’sche Zinshaus in Brand gesetzt wurde.

Als eine Nachbarin wenig später vor ihrem Dachfenster den rotgelben Schein der Flammen entdeckte, lief sie sofort in die Gasse hinunter, schrie aufgeregt um Hilfe und klopfte gegen die verschlossenen Fensterläden der angrenzenden Wohnhäuser. Sie fürchtete um ihr Eigentum. Es dauerte nicht lange, bis alle Kirchenglocken des Ortes hektisch zu läuten begannen und der Feuerwagen, beladen mit zwanzig Männern, hölzernen Kübeln, Feuerhaken und Wasserspritzen, die Gasse hinabrollte und der Feuerwasserkanal geöffnet wurde, der vom Emsbach in die Christengasse führte. Bald wankten Fuhrwerke mit ausrangierten Mostfässern an den Brandort, gefüllt mit Löschwasser, das man vor der Kronenwirtschaft aus dem Brunnen geschöpft hatte. Aber so sehr man sich auch bemühte, der Abbrand des Peter’schen Zinshauses konnte nicht verhindert werden, denn nur wenige Minuten nachdem der Löschkanal geöffnet worden war, ließ der Strom des Wassers nach, um nach wenigen Minuten gänzlich zu versiegen. Unter der fußdicken Eisschicht des Emsbaches schlängelte sich lediglich noch ein kleines Rinnsal gegen das Tal und bis man mit dem Wasser, das gemächlich aus den umliegenden Brunnen gluckerte, ein Mostfass gefüllt hatte, vergingen über zwanzig Minuten. Unmöglich, mit dieser spärlichen Menge einen großen Brand zu löschen.

Als der obdachlos gewordene Krämer Ignaz Peter am nächsten Morgen vor dem Peter’schen Zinshaus stand, von dem nur noch die Grundmauern, verkohlte Balken und träge aufsteigende Rauchschwaden übrig geblieben waren, glaubte er vollkommen ruiniert zu sein. Aber dann stellte sich heraus, dass sein Vater, der in den Flammen des Brandes umgekommen war, das Zinshaus bereits vor Jahren auf fünftausendsiebenhundert Gulden Wiener Währung hatte versichern lassen. Und damit nahm der steile Aufstieg des Ignaz Peter seinen Beginn. Sofort entschloss er sich, die Brandruine schleifen zu lassen und mit der Versicherungssumme ein stattliches Mietshaus zu errichten.

Als er vierzehn Monate später, im Frühjahr des Jahres 1866, vor dem Rohbau seines neuen Hauses stand und den Zimmerleuten zusah, die mit zweispännigen Fuhrwerken buttergelbes Tannenholz für den neuen Dachstuhl brachten und es mit Flaschenzügen in die Höhe hievten, und er erleben durfte, wie geklopft und genagelt wurde und man die Tragbalken, Steher und Sparren sorgfältig zusammenfügte, und ihm gleichzeitig der angenehme Holzgeruch entgegenwehte, lachte sein Herz.

Im Juni desselben Jahres wurden die Malergerüste schließlich abgetragen und mit jedem Laufbrett, das man entfernte, wuchs seine Überzeugung, dass dieses Zinshaus mit seiner hellgrau gestrichenen Fassade und den elfenbeinweißen Fensterstürzen ohne Zweifel zu den prachtvollsten Häusern des ganzen Viertels zählte. Neben den neun Mietwohnungen, die darin untergebracht waren, hatte er sich im Parterre eine Handlung für Wein und Spirituosen eingerichtet und führte nun edle Brände und Liköre aus Holunder, Vogelbeere und Zwetschge und offerierte seiner Kundschaft ein feines Lager an Weinen aus den besten Anbaugebieten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. In seinen Regalen befanden sich zudem die besten Jahrgänge aus Bordeaux, Marsala, Malaga und der Champagne. In grünglasigen Flaschen und eichenen Fässern bot er jahrelang gereifte Whiskysorten aus Schottland und den Vereinigten Staaten von Nordamerika an, die ölig und samtweich die Kehle hinabrollten. Die Theke seines Ladens hatte er aus massivem Pflaumenbaumholz tischlern lassen, dem teuersten Holz, das man bekommen konnte, und ließ den Boden seines Geschäftes mit dickem Eichenparkett verlegen, das so sorgfältig versiegelt war, dass es nur so glänzte.

In sämtlichen Tages- und Wochenzeitungen der Umgebung hatte er in einem Anflug von aufflammendem Unternehmergeist großzügige Anzeigen lanciert, in denen er für erstklassige Produkte warb und den geneigten Kaufliebhabern wohlfeile Preise und beste Bedienung zusicherte. Die Nachfrage nahm von Woche zu Woche zu und lockte, wie er gehofft hatte, das gehobene Publikum des ganzen Landes in sein Geschäft. Zudem hatte er acht seiner neun Zinswohnungen bereits zu rentablen Konditionen vermietet. Lediglich der große Wohnraum im Keller, der bereits nach einigen Wochen zu feuchten begann, wollte keinen Interessenten finden.

Am Nachmittag eines heißen Augusttages betrat jedoch eine schwitzende und nach Alkohol riechende Person sein Geschäft und erkundigte sich nach der, wie er gehört habe, wohlfeilen Kellerwohnung, die zur Vermietung frei stünde. Als der wortgewandte Ignaz Peter dann von einem geräumigen Kellerquartier zu schwärmen begann und dem Interessenten bei einem teuren Glas Cognac aus Bordeaux beiläufig von einigen blassen Feuchtflecken an den Wänden erzählte, die in einigen Wochen bestimmt von selbst verschwänden, nahm der Textilarbeiter Sebastian Ender, dem das Gerede des Hauseigentümers schon in bedrückender Weise lästig wurde, die Wohnung schließlich für einen jährlichen Zins von hundertachtzig Gulden in Miete, ohne sie überhaupt besichtigt zu haben. Und noch während er mit ungelenker Schrift den Vertrag unterzeichnete und danach einen hastigen Schluck Cognac nahm, war der Ignaz Peter überzeugt, in seinem Leben noch nie einem ähnlichen Schwachkopf begegnet zu sein.

Als am folgenden Vormittag ein Fuhrwerk vor seinem Zinshaus anhielt und eine schwangere Frau schwerfällig zwischen schäbigen und nach Moder riechenden Möbeln vom Wagen stieg, ahnte der Ignaz Peter noch nicht, wem er gerade ein Dach über dem Kopf gegeben hatte, ahnte er noch nicht, welches Kind in seinem Zinshaus demnächst geboren werden sollte und welche Unruhe, ja welchen Aufruhr er wegen dieses Kindes eines Tages noch erleben würde, wusste er noch nicht, dass durch diesen Menschen seine hochtrabenden Pläne und Träume dereinst zerplatzen sollten wie irisierende Seifenblasen.

Und so wies der nichts ahnende Ignaz Peter seinen neuen Mietern den Weg in den Keller, wo sie ihren Hausrat abstellen konnten, und hielt den Fuhrmann nach wenigen Minuten mit leicht gereizter Stimme an, sich mit dem Abladen zu beeilen, da durch die Anwesenheit eines solch schäbigen Gespanns sein Geschäftsgang womöglich empfindliche Störungen erleide. Schließlich verkaufe er seinen Kunden kostbare Weine und Spirituosen und keine Zuckerrüben oder Quetschgerste für die Schweinezucht.

Bereits eine viertel Stunde später zog die abgemagerte Stute den holpernden Wagen die Gasse hinab und verschwand aus dem Dunstkreis seines Geschäftes. Kurz darauf entfernte der Ignaz Peter die Pferdeäpfel, die das Ross auf dem Pflaster hinterlassen hatte, auf einer Kehrschaufel, fegte den Gehsteig vor seinem Geschäft sauber und fand allmählich zu einer leidlichen Gemütsruhe zurück. Es herrschte wieder strenge Ordnung und Sauberkeit vor seinem Haus.

Und als er an jenem Abend die täglichen Einnahmen zählte, wurde er beinahe euphorisch. Es war ein guter Tag gewesen, ein sehr guter sogar. Er hatte achtzehn Flaschen Champagner der Firma Laurent aus Tours-sur-Marne sowie zwei sechs Eimer haltende Eichenfässer Südtiroler Rotwein versilbert und eine Ballonflasche besten Armagnac aus Bordeaux, dem man dreißig Jahre Zeit gelassen hatte, seine volle Blüte zu entwickeln, an einen Dornbirner Möbelfabrikanten verkauft. Die Gesamteinnahmen beliefen sich auf über fünfundvierzig Gulden. Das war viel Geld. Das verdiente ein Handlanger, der täglich zwölf Stunden schuften musste, nicht einmal in einem ganzen Monat. Und natürlich hatte er auch noch die Miete des Textilarbeiters erhalten. Im Gesamten also sechzig Gulden. Die Dinge standen bestens. Wegen der guten Geschäftsgänge schloss er seinen Laden an jenem Tag auch eine Stunde früher als gewöhnlich, schenkte sich am Verkaufspult zwei Gläser Cognac Vieille Réserve Grand Champagne 1er Cru ein – den teuersten und besten, den er auf Lager hatte –, blickte durch die eichene Kassettendecke kurz hinauf zu seinem Gott, trank abwechselnd aus beiden Gläsern, lächelte und war zufrieden.

Während er sich wenig später ein weiteres Glas Cognac einschenkte, rückte sein neuer Mieter gerade einen wackligen Fichtenkasten an die Wand, den er einige Tage zuvor bei einer Fahrnisversteigerung erworben hatte, während seine Frau Anna Maria die verbeulten Blechtöpfe, Pfannen, Teller und Holzbestecke in die miefenden Schubladen einer Kommode räumte. Und als der Sebastian Ender wenig später an der grob verputzten Mauer mehrere feuchte Stellen entdeckte, schüttelte er den Kopf und wusste, dass diese Wohnung einem Rattenloch glich und ein Rummelplatz für Ungeziefer war, das sich rasch in den feuchten Bodenritzen einnisten und vermehren konnte. Und ihm war auch rasch bewusst geworden, dass dieser Ort nicht zum Altwerden taugte, sondern höchstens dafür, sich mit einer pestilenten Krankheit anzustecken und daran zu krepieren.

Als der Ender noch spät in der Nacht grübelnd neben seiner schwangeren Frau lag und den schimmelnden Geruch der Kellerwände atmete, fragte er sich zum ersten Mal, ob es richtig gewesen war, seinem Vater vor einigen Wochen zu eröffnen, den elterlichen Bauernhof in Altach zu verlassen, weil es ihm endgültig leid geworden war, tagein, tagaus den klattrigen Viehdreck auf den Misthaufen zu karren und magere Kühe zu melken, die am Tag nicht mehr hergaben als einen halben Eimer Milch, und er keine Lust mehr hatte auf dem Hof dahinzuknausern, wo man nicht einmal wusste, wie man das Geld für den nächsten Beutel Salz verdiente. Schließlich hatte er dem Vater ins Gesicht geschrien, dass er etwas Besseres zu tun wisse, als einer sinnlosen Arbeit nachzugehen, bei der siebzig von hundert Bauern neben ständigen Schulden und einem zeitigen Tod nichts, aber schon gar nichts zu erwarten hätten, und er deshalb beschlossen habe, in der Rosenthal’schen Textilfabrik im Nachbarort Hohenems eine Anstellung als Handlanger anzunehmen. Fertig.

Der junge Ender hatte mit seinem schwangeren Weib damals mehrere Tage in einer windigen Riedhütte eines nahen Verwandten zugebracht, bis er schließlich im Nachbarort Hohenems die erstbeste Unterkunft mietete, die ihm angeboten wurde. Der Ender war kein Mensch von großer Ausdauer.

Kurz bevor er in jener Nacht in einen unruhigen Schlaf sank, war er überzeugt, niemals aus freien Stücken auf den Hof seines Vaters zurückzukehren. Nicht ums Verrecken würde er sich dazu bewegen lassen. Eigenartig war jedoch, dass der Ender noch in derselben Nacht von den rauschenden Birken und Fichten träumte, die den Bauernhof seines Vaters umgaben, und von grunzenden Sauen und muhenden Kühen … grausames Unterbewusstsein.

2. KAPITEL

Windig begann der zehnte September des Jahres 1866. Windig und ungewöhnlich heiß. Über Nacht hatte sich ein milder Föhnwind über die Rhätischen Alpen gewälzt, der nun warm durch das vorarlbergische Rheintal wehte und einen angenehmen Atem von trockenem Laub vor sich her schob. Als die Morgensonne flach über das Hohenemser Bergland in das Rheintal hineinleckte und die letzten Dunstfetzen im Ried aufzogen, knarrten bereits die ersten Wagenladungen Mostbirnen die Christengasse hoch und hinterließen den süßen Geruch von angeschlagenen, teils schon faulenden Birnen und Äpfeln. Einige Früchte, deren Fleisch wie gestockter Grießbrei aussah, klatschten matschig auf das Gehsteigpflaster und waren auch bald von Bienen und Wespen umschwirrt, die der aufdringliche Duft angelockt hatte.

Später, es mochte gegen halb zehn gewesen sein, holperten leere Fuhrwerke marktauswärts in das Hohenemser Vorland, um das Streugras einzufahren, das dank des anhaltenden Schönwetters bereits nach zwei Tagen ausgetrocknet war und nun in bauchigen Schwaden dörr auf den Wiesen lag. Bald ächzten Fuder mit raschelndem Riedgras durch die Gasse, flirrte Heustaub gegen den Himmel, als die eisenbeschlagenen Fuhrwerksräder über die holprige Straße hinwegschwankten. Der Heustaub rieselte dann fein auf die Fenstersimse nieder oder trieb mit den stinkenden Abwässern im Rinnstein die Gasse hinab.

Als draußen der Straßenlärm anschwoll und der schwere Geruch des Heus und der Mostbirnen die Gasse hinunterfloss, hockte die schwangere Anna Maria Ender gerade in der Kellerwohnung am Ende der Tischbank und bestickte mit feinem Seidengarn ein blankweißes Taschentuch aus Musselin. Sie fühlte sich elend.

Mit dem Einsetzen der ersten Wehen vermeinte sie noch, dass es die Rückenschmerzen seien, die sie schon seit Tagen launisch machten. Als die Schmerzen anstatt abzuklingen jedoch immer heftiger wurden, begab sie sich in ihre Bettstatt und wartete auf ihre fünfte Niederkunft.

Ihre guten Tage hatte die Enderin längst hinter sich. Und wie oft haderte sie, wenn sie allein war, mit ihrem Schicksal. Denn wäre alles nach ihren einstigen Plänen geschehen, hätte ihr Leben einen völlig anderen Lauf nehmen müssen. Mit zwanzig, als sie eine recht ansehnliche Frau gewesen war, hatte sie sogar noch die Aussicht gehabt, einen Fabrikanten namens Gruber zu ehelichen, der im steirischen Fürstenfeld eine große Ziegelfabrik besaß. Damals hatte sie auch schon mit dem Gedanken gespielt, diesem Gruber drei oder vier Kinder zu gebären, um das ihre für seine Nachkommenschaft getan zu haben, und wollte danach nur noch angesehen und reich alt werden um irgendwann einmal, mit siebzig, achtzig Jahren einen ruhigen Tod zu sterben. Das wäre ihr großer und gleichzeitig einfacher Lebenstraum gewesen. Aber es war anders gekommen, ganz anders sogar.

So brachte sie der reiche Gruber am letzten Februartag des Jahres 1856 wegen einer vergessenen Verabredung derart in Zorn, dass sie noch am selben Abend mit einem ihr flüchtig bekannten Arbeiter eine Rodelpartie unternahm und mit ihm in einer abgelegenen Taverne, hinter der bereits die weiten Wiesen und Wälder begannen, bis in die Morgenstunden zechte. Das war allerdings nicht alles. Denn nach ihrem ausgelassenen Gelage verkrochen sie sich unweit der Gaststätte in ein Buchsbaumgestrüpp, in dem sie es wenig später so heftig trieben, dass ihnen trotz der beißenden Kälte bald der Schweiß aus den erhitzten Leibern stieg.

Zu ihrem Unglück wurde sie durch dieses trotzige Abenteuer schwanger und musste den Arbeiter, um der üblen Nachrede der Verwandten und Nachbarn zu entgehen, sogar noch ehelichen. Damit nahm ihr langes Jammertal seinen Anfang.

Als sie hochschwanger ging, wurde ihr Mann des Diebstahls von drei Flaschen Burgunderwein und einiger Wachskerzen bezichtigt, worauf ihm seine Anstellung als Maurergehilfe fristlos aufgekündigt wurde. Es dauerte nicht lange, bis man ihn wegen nicht geleisteter Mietzahlungen samt seinem schwangeren Weib auf die Straße setzte, was ihn letztlich dazu bewog, Fürstenfeld eines Nachts stillschweigend zu verlassen und über Triest nach Amerika auszuwandern.

Aus verletztem Stolz und wegen des Gerüchts, wonach ihr Ehemann nur deswegen geflohen sei, weil sie ihm ständig die Schuld an ihrem verpfuschten Leben gegeben habe, verließ die schwangere Anna Maria an einem nebelgrauen Novemberabend desselben Jahres das oststeirische Hügelland gegen Westen. In den Dörfern und Städten, die auf ihrem planlosen Weg durch die Monarchie lagen, erbettelte sie sich ihre täglichen Mahlzeiten und gebar am Abend des vierten Dezembers in Vorarlberg, dem westlichsten Kronland der Monarchie, dreißig Tagesmärsche von ihrer Heimat entfernt, in einem kleinen Waldstück zwischen den Dörfern Götzis und Koblach nach langen Wehen einen Knaben.

Kurz nachdem sie ihn abgenabelt hatte, verlor sie, wahrscheinlich infolge ständigen Hungers und der sich daraus ergebenden Schwäche, ihr Bewusstsein und erwachte erst wieder, als das Kind mit krallenden Händchen totgefroren auf dem glitzernden Schnee lag.

Noch in derselben Nacht kratzte sie mit bloßen Händen ein drei Fuß tiefes Loch in den gefrorenen Waldboden und verscharrte den toten Knaben in der harten Erde. Dann stampfte sie so lange auf seinem Grab herum, bis der Boden vollkommen blank getreten war, und irrte anschließend die gesamte Nacht völlig kopflos in den weitläufigen Riedwiesen umher, ehe sie im Morgengrauen des nächsten Tages in eine unversperrte Scheune schlich, sich mit Heu bedeckte und zwei ganze Tage lang durchschlief.

Da ihr mit diesem Schicksalsschlag auf einmal jede Lebenskraft abhandengekommen war und sie zudem über Wochen hinweg panische Existenzängste quälten, ehelichte sie lediglich vier Monate später den Dornbirner Schneidermeister Gustav Sohm, nachdem sie dem Gemeindediener glaubhaft gemacht hatte, dass ihr abgängiger Mann bei der Überfahrt nach Amerika bei einem Schiffsunglück gemeinsam mit vierhundert weiteren Passagieren den Tod gefunden habe.

Dem Gustav Sohm gebar sie drei Kinder, von denen jedoch kein einziges die ersten zwölf Monate überlebte. Als ihr zweiter Mann im achten Jahr ihrer Ehe an der Galoppierenden Schwindsucht starb, war sie in ihren Ansprüchen schon so tief gesunken, dass es ihr völlig gleichgültig war, wie ihr nächster Mann aussähe, welchem Stand er angehörte und auf welche Weise er sein Geld verdiente. Wichtig war ihr einzig, dass er für ihren Unterhalt aufkäme, sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr zu hungern brauchte und sie ihr Dasein nicht ohne Dach über dem Kopf beschließen musste.

In Sebastian Ender, einem grobschlächtigen Landwirt und heillosen Trinker, ging ihr Wunsch schließlich in Erfüllung. Und obwohl er sie bereits vor ihrer Hochzeit manchmal dermaßen verdrosch, dass sie mit blau geschwollenen Augen schwanger ging und ihr Leib regelmäßig mit Prügelmalen übersät war, heiratete sie ihn an einem heißen Freitagmorgen im August des Jahres 1865 im Beisein zweier Trauzeugen und vegetierte seither in einem Nebel aus Melancholie und dumpfer Gleichgültigkeit dahin, ließ sich beschlafen und verprügeln und wurde in einer klirrend kalten Jännernacht des folgenden Jahres schwanger. Und ihr trauriges Leben dauerte fort und ihr Bauch wuchs und wuchs, bis zu jenem zehnten Septembertag des Jahres 1866.

Als es oben von der Kirche her gerade zwei Uhr schlug, stieß sie das kleine Kellerfenster auf, da sie die stickige Luft in der Wohnung kaum noch ertragen konnte. Kurzatmig begab sie sich wieder in die knirschende und staubende Bettstatt und starrte gegen die kalkweiße Decke. In ihrem Unterleib zuckte es. Und auf einmal stieg ein derartiger Lebensekel in ihr hoch, dass sie auf einmal zu fluchen begann. Und am liebsten wäre ihr gewesen, wenn sie im nächsten Augenblick mit diesem Kind im Leib verreckt wäre und das Pulsen in der Schamgegend, das kneifende Stechen in ihrem Kreuz und überhaupt alles Irdene mit einem Schlag aufgehört hätte.

Ihre Wehen wurden stärker. Und als sie das ständige Rattern und Knarren der Fuhrwerke vor ihrer Wohnung zunehmend nervöser machten und im hellen Lichtblock, der durch das Fenster fiel, alles verschmutzende Staubpunkte in das große Zimmer gleiten sah, geriet sie auf einmal derart in Wut, dass sie in ihrer sprachlosen Erregung einen Speichelfetzen gegen die Wand spuckte und dann hechelnd zusah, wie der weißliche Klecks langsam an der grob verputzten Kalkwand hinabkroch und schließlich zu einem bauchigen Tropfen erstarrte.

Wäre ihr Mann zuhause gewesen, hätte sie ihn jetzt gellend in die Parzelle Weiler geschickt, die sich auf halbem Weg nach Götzis befand, damit er die Hebamme holte. Aber er hatte ihr ja vorgelogen, wegen der äußerst guten Auftragslage der Textilfirma Rosenthal länger arbeiten zu müssen. Denn schließlich wolle er wegen dieser Geburt nicht entlassen werden. Und Menschen, die eine Arbeit suchten, gebe es genug, das sei allgemein bekannt. Und wenn er Pech habe, würde am nächsten Morgen womöglich schon ein anderer seine Arbeit verrichten. Ja, so hatte er es ihr eröffnet. Und sie legte ihre Stirn in Falten und begann wieder zu fluchen. Erneut spuckte sie einen Speichelklecks gegen die Wand und winselte, dass sie diesen Balg, der immer heftiger gegen ihre Bauchdecke strampelte, eben allein zur Welt bringe. Wie damals, als sie im Wald zwischen Götzis und Koblach ihr erstes Kind geboren hatte. Und wie damals würde sie ihr Kind eben alleine abnabeln. Aber diesmal würde es bestimmt nicht klammheimlich an ihrer Seite wegsterben. Diesmal sicher nicht. Und sie begann zu schreien und zu jammern und krächzte plötzlich wie ein altes Weib.

Als sie die Kinder bemerkte, die ihr Gewinsel an das Kellerfenster gelockt hatte, brüllte sie nur noch: Die Hebamme, holt sofort die Hebamme!

Eine halbe Stunde später stand eine füllige Frau mit ihrem Koffer in der niedrigen Kammer. Sie war die leicht ansteigende Heerstraße, die vom Süden in das Zentrum von Hohenems hineinführte, zügig hochgegangen und die absinkende Gasse zum Peter’schen Zinshaus – so gut sie es mit ihren fünfundsechzig Jahren noch vermochte – hinabgerannt. Sie atmete kurz und schwitzte, während sich an den Achselhöhlen ihres Kleides bereits dunkle Schweißflecken gebildet hatten. Und bevor sie überhaupt mit den Geburtsvorbereitungen beginnen konnte, musste sie ihre Stirn mit einem Taschentuch abtupfen und durchatmen, so erschöpft war sie. Dann gab sie ein Messgläschen desinfizierende Karbolsäure in eine Glasflasche, füllte sie mit lauwarmem Wasser und schüttelte sie, bis sich eine milchigtrübe Flüssigkeit bildete. Als sie das Gemisch kurz danach in eine Wasserschüssel gluckern ließ, atmete sie tief durch und seufzte.

Draußen in der Gasse stand das Quecksilberthermometer inzwischen auf ungewöhnlichen dreißig Grad Celsius. Die Hitze war kaum auszuhalten.

Wenig später wurde Anselm in die Welt gepresst. Der Enderin stand der Schweiß auf der Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so schwer geboren zu haben.

 

Als die Hebamme das Neugeborene erblickte, an dem wässriges Blut klebte und die käsige Schmiere weißlich schimmerte, erschrak sie auf einmal so heftig, dass ihr das Kind beinahe aus den Händen geglitten wäre. Während ihrer Tätigkeit als Hohenemser Hebamme, die sie nun schon annähernd dreißig Jahre lang versah, hatte sie noch keine Kreatur von auch nur annähernder Absonderlichkeit zur Welt bringen geholfen. Der Mund des Knaben zog sich breit von der einen zur anderen Wange hin. Er hatte aufgeworfene Lippen wie sie es nur von Negern kannte, die manchmal in illustrierten Zeitschriften abgebildet waren. Und als ob das nicht genügte, entdeckte sie über der dicken Halsschlagader, die in raschen Intervallen an- und abschwoll ein Muttermal, das, wenn man die Fantasie weit schweifen ließ, entfernt an ein auf dem Kopf stehendes Kreuz erinnerte. Augenblicklich begann der Herzschlag der Hebamme zu rasen. Ein Schauer des Grauens rieselte ihr den Rücken hinab. Rasch wusch sie das Kind in einem Holzzuber, rieb es mit einem groben Leintuch ab und legte es der Mutter ans Bett. Kurz danach räumte sie sämtliche Gerätschaften eilig in ihren Lederkoffer, grüßte und ging. Als sie wieder in der Gasse stand, schlug sie ein Kreuzzeichen nach dem anderen und hastete eilig die Christengasse hoch. Oben auf dem Marktplatz glaubte sie, endlich ausreichenden Abstand zwischen sich und dieses Kind gebracht zu haben, und verlangsamte ihren Schritt. Auf ihrem Nachhauseweg in den Weiler erzählte sie in ihrer aufgewühlten Stimmung allen, die ihr begegneten, dass sie eine Ausgeburt des Leibhaftigen gesehen habe, denn die Ausländerin aus dem Steirischen, die Enderin, die eben niedergekommen sei, habe einen Kretin zur Welt gebracht. Und weil sich die Hebamme auf einmal so schmutzig fühlte, blieb sie beim nächsten Brunnen stehen, rollte die Ärmel ihrer Bluse zurück bis zu den Ellbogen und tauchte ihre Arme tief ins kalte Wasser. Dann rieb sie ihre Hände kräftig gegeneinander, zog die Arme aus dem schwappenden Wasser und schüttelte sie heftig aus. Zuhause wechselte sie als Erstes ihre Kleider, packte die getragene Hebammengarderobe in einen Weidenkorb und ging zum nahe gelegenen Krebsgraben. Dort wusch sie die Kleidungsstücke ausgiebig im schwach fließenden Bach und ließ sie schließlich daheim im lauen Föhnwind an der Wäscheleine trocknen. Sämtliche Gerätschaften leerte sie wenig später aus dem Hebammenkoffer und legte sie in eine dreiperzentige Lösung aus Karbolsäure, spülte die sauber glänzenden Werkzeuge nach einer halben Stunde mit frischem Wasser ab und rieb sie mit einem weißen Baumwolltuch trocken. Sämtliche Türgriffe, die sie berührt hatte, nachdem sie von der Enderin zurückgekehrt war, besprühte sie mit Kresol, einem stark keimtötenden Mittel, und wischte sie mit einem nassen Lumpen sauber. Dann goss sie heißes Wasser in die Blechbadewanne und schrubbte ihren Leib so lange mit einem Stück Borax-Seife, bis sich ihre Haut zu röten begann. Den Schaum schwemmte sie mit einem Eimer lauwarmem Wasser ab, rieb sich trocken und fühlte sich dann wieder leidlich sauber. Bevor sie sich an jenem Abend zu Bett begab, schluckte sie noch zwei Baldrianpastillen, damit sie nach diesem aufwühlenden Tag überhaupt Ruhe finden konnte. Später, es war schon weit nach Mitternacht, sank sie schließlich in einen seichten, traumlosen Schlaf.

Noch bevor der nächste Morgen graute, hatte es sich beinahe im gesamten Ort herumgesprochen, dass in der Christengasse ein abscheuliches Geschöpf zur Welt gekommen war. Einige schwatzhafte Hohenemser Männer und Frauen wollten auch gehört haben, dass die Enderin von einem Wesen mit drei Köpfen und vier Beinen entbunden worden sei, das bereits eine halbe Stunde nach der Geburt mit tiefer Stimme zu sprechen begonnen habe.

Von all diesem Gerede ahnte die Enderin noch nichts, als sie ihr Kind am frühen Nachmittag an die Seite gelegt bekam. Sie hatte in ihrer Erschöpfung nicht einmal bemerkt, dass die Hebamme wenig später wie von Furien gehetzt aus der Kellerwohnung geflüchtet war. Und vorerst brachte sie dem schreienden Kind, das unruhig neben ihr auf dem Bett lag, auch gar keine große Beachtung entgegen. Aber als sie das verwaschene Leinen zurückschob und die großen, starren Augen und den Mund ihres Kindes erblickte, begann ihr Herz auf einmal wild zu pochen. Vier Kinder hatte sie nun schon ausgetragen, und alle hatten ein mehr oder minder angenehmes Äußeres gehabt, ehe sie nach wenigen Monaten an einer Kinderseuche erkrankten und wie die Fliegen dahinstarben. Aber so etwas hatte sie in ihrem Leben noch nicht gesehen, geschweige denn geboren. In einem Anflug von Entsetzen wollte sie das Kind einfach kopfüber aus dem Bett stoßen, damit es sich das Genick breche. Aber sie tat es nicht. Und als ihr Pulsschlag wieder allmählich zur Ruhe kam, zog sie den Buben zwischen ihre drallen Brüste und streichelte verwirrt über seinen Rücken, während sie fortlaufend gegen die Decke starrte und still vor sich hin weinte.

Allerdings irrte die Enderin, als sie glaubte, dass dieses absonderliche Geschöpf die göttliche Strafe dafür war, dass sie kein Jahr, nachdem ihr letzter Mann an der Schwindsucht gestorben war, einen neuen Liebhaber mit ins Bett genommen hatte. Sie irrte, denn sie war eben Mutter eines Kindes geworden, das von der Natur mit Eigenschaften ausgestattet war, die sie bislang noch keinem Menschen geschenkt hatte.

Kurz danach begann Anselm die stickige Luft in der Kammer auf einmal in heftigen Zügen in seine Lungen zu reißen und mit flatternder Zunge zu schreien und beruhigte sich erst wieder als ihm die Enderin zum ersten Mal die Brust gab. Nachdem er sich voll gesoffen hatte und seinen milchverschmierten Mund von der aufgerichteten Brustwarze löste, schlug er seine Zunge noch einige Male befriedigt gegen den Gaumen, rülpste dreimal und schlief mit offenem Mund ein. Wenig später bettete ihn die Enderin in die buchenlaubgefüllte Holzkiste, die sie zwei Tage zuvor von einem Krämer in der Christengasse geschenkt bekommen hatte, deckte ihn mit einem dünnen Leintuch zu und wusch ihren schweißklebenden Leib schließlich mit lauwarmem Wasser. Keine drei Stunden nach ihrer Geburt saß sie wieder am Küchentisch und stickte mit rotem Garn ein filigranes Blumenmuster auf ein weißes Tuch aus Baumwolle, da sie dem Bregenzer Fergger vor einer Woche versprochen hatte, dass er die bestellten Musselintücher, die er ihr für zwanzig Kreuzer per fünfhundert Stich zum Besticken überlassen hatte, heute Abend abholen könne.