Für meine Oma Eva – die mir gezeigt hat,
was bedingungslose Liebe bedeutet.

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2016

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Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv:© Filipe Ribeiro, Mannheim

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Emmendingen / Hüfingen

ISBN (E-Book) 978-3-451-81031-2

ISBN (Buch) 978-3-451-37615-3

Inhalt

1.
Das Ding ist gelaufen

2.
Erste Schritte

3.
Blond, blöd und im Bikini?

4.
Religionslehrerin – und warum?

5.
Fünf vor zwölf

6.
Aus der Traum?

7.
Glaube, Glamour und Glück

8.
Schmerz lass nach

9.
Die Miss

10.
Mein warmer Poncho

11.
Hilf dir selbst,
dann hilft dir Gott

12.
Mein Leben als Miss Germany

Danksagung

Zur Autorin

1.

Das Ding ist gelaufen

Hier stehen wir nun. Wir, die schönsten Mädchen Deutschlands. Die acht Finalistinnen bei der Wahl zur Miss Germany 2016, acht aus mehr als fünftausend. Alle in einer Reihe auf der Bühne, ich ganz vorne. Jede von uns trägt das gleiche weiße Kleid mit schlichter Stickerei und die gleichen einfachen weißen Pumps. Zeigt Profil, hat den Kopf leicht nach links gedreht und lächelt. Drei Stunden lang tragen wir unser Lächeln im Gesicht. Drei Stunden, so lange läuft die Endwahl zur Miss Germany im Europa-Park in Rust bei Freiburg bereits und jetzt, kurz vor viertel nach elf nachts, warten wir auf die Entscheidung. Wir – und unsere Freunde, Verwandten und mehr als tausend andere Menschen im Saal vor uns. Sie haben uns angefeuert und beklatscht, haben zur Musik gewippt und gesungen, haben den Tag und den Abend in etwas verwandelt, was ich nie vergessen werde. Und was andererseits in diesem Augenblick wie hinter einem Schleier liegt, hinter einem Schleier aus Scheinwerfer- und Blitzlicht, aus Bässen und Anfeuerungsrufen.

Meine Gedanken wollen kurz wegfliegen, über die Köpfe der Leute vor mir, durch die Stimme Roland Macks, Veranstalter und Chef des Europa-Parks, einfach weg zu den zurückliegenden Tagen, Monaten, ja Jahren, die in diesem einen Moment zusammenfallen. Sechs Jahre, um genau zu sein. Sechs Jahre seit meiner ersten Misswahl. Die Gedanken schweifen ab, als ein pochender Schmerz in meiner rechten Leistengegend mich auf den Boden, auf die Bühne der Tatsachen zurückholt. Seit Wochen ist dieser Schmerz mein ständiger Begleiter und in den letzten Tagen war er besonders anhänglich. Kein Catwalk und keine Choreographie ohne dieses heftige Stechen und Ziehen. Ich habe heute keine Schmerzmittel genommen, nicht an diesem, an meinem Tag. Bislang hatte ich auch nichts gespürt, das Adrenalin hat wohl mein Schmerzempfinden überwogen. Doch in diesem Augenblick scheint selbst das Adrenalin überwältigt oder vielleicht auch einfach nur aufgebraucht und müde, so müde wie mein ganzer Körper. Der Schmerz pocht auf. Innerlich stöhne ich auf, äußerlich strahle ich weiter. Ich verlagere mein Gewicht um wenige Zentimeter, mein Lächeln um keinen Millimeter. Durchhalten. Einfach nur noch ein paar Minuten durchhalten. Wie die sechs Jahre zuvor schon.

Ich spüre kleine Schweißperlen an meinem Nacken, glitzernder und feiner als jeder Diamant, den ich oder die anderen dreiundzwanzig Missen an diesem Abend getragen haben. Sie bilden sich direkt am Ansatz meines dunkel­braunen Haares, das ich zu einem Zopf hochgesteckt trage. Ein kleines Kunstwerk und zugleich eine kleine Mutprobe, denn die sieben Mädchen neben mir tragen ihr Haar alle lang und offen – nicht der einzige Unterschied zwischen uns. Früher war die Mehrheit der Teilnehmerinnen Studentinnen oder Auszubildende. In diesem Jahr haben viele von uns einen Job, doch keine hat einen Job wie ich: Lehrerin. Für katholische Religion. Das gab es noch nie bei der Miss Germany-Wahl. Und nicht nur das unterscheidet mich von meinen Mitbewerberinnen. Die meisten von ihnen sind jünger als ich und keine hat diesen langen Weg hinter sich. Den Weg von insgesamt sechs Jahren und mehr als dreißig Misswahlen, von Titeln und Tränen, von Erfolgen und Enttäuschungen, Hochs und Tiefs und von einem immer stärker werdenden Wunsch, wenigstens einmal auf dieser Bühne hier zu stehen. Und die meisten denken wohl in diesem Moment nur: »Hoffentlich gewinne ich.« Ich denke: »Das Ding ist gelaufen.«

Das Ding ist gelaufen. Wortwörtlich. Sechsmal insgesamt. Hoch auf die Bühne, runter von der Bühne. Raus aus dem Abendkleid, rein in den Badeanzug, wieder zurück ins Abendkleid. Sechsmal haben wir uns umgezogen seit dem Opening um acht Uhr am Abend, sechsmal wilde Hektik hinter der Bühne. Danach Brust raus, das Kinn auch und immer das Kreuz durchstrecken. Jeder Schritt eine Entscheidung, bloß nicht Hinfallen. Drehen, aber anmutig, dabei lächeln, aber nicht gekünstelt. Dazwischen, es muss irgendwann kurz vor zehn gewesen sein, das Aufstellen in vier Gruppen und die Auswahl von jeweils zwei Mädchen zur finalen Achtergruppe. Den Top Eight. Und eine von diesen Top Eight bin ich. Ich, Lena Bröder, geboren in Göttingen, aufgewachsen in einem kleinen Kaff im Harz, wohnend in einem noch kleineren Kaff bei Münster. Amtierende Miss Westdeutschland und eine der letzten acht Mädchen, von denen gleich eine zur schönsten Frau Deutschlands gewählt werden wird. Die sich damit den Traum ihres Lebens erfüllt und ein Jahr lang einen Traum leben wird. Einen Traum, für den manche einiges, die meisten viel und ich fast alles getan habe. Das Ding ist gelaufen.

2.

Erste Schritte

Gott, wie habe ich es gehasst. Ja, das mag ja toll sein, solche langen Beine. Aber was hilft es, wenn man nichts zum Anziehen findet. Wenn alles irgendwie zu kurz ist und seltsam aussieht. Ich war insgesamt nicht unzufrieden mit meinem Aussehen. Meistens mochte ich mich sogar und das ist für Mädels im Teenageralter ja eher ungewöhnlich. Nein, ich war eigentlich ganz zufrieden mit mir, mit einer Ausnahme: Dieses ständige Gefrickel mit zu kurzen Hosen, das ging mir als Dreizehnjährige und auch später noch ziemlich auf die Nerven. Ich war dünn, richtig dünn und schlaksig und nicht viel kleiner als heute, also einsvierundsiebzig. Mein Outfit drückte gut aus, wie man sich als Dreizehn- oder Vierzehnjährige fühlt: aus der Kinderkleidung längst rausgewachsen, aber in die Erwachsenenmode noch nicht reingewachsen.

Wenn ich heute meine Nichte sehe, auch dreizehn, dann sehe ich dabei sofort mich als Teenagerin. Wobei es heute viel einfacher ist, etwas Passendes zum Anziehen zu finden. Bei uns damals, wir lebten auf dem Land und meine Eltern achteten sehr darauf, wofür wir Geld ausgaben. Es fehlte uns zwar an nichts, aber wir sollten vernünftige und sinnvolle Sachen kaufen. Dazu kam, dass ich eher der Hosentyp war. Klar, ab und zu trug ich auch einmal ein Kleid oder einen Rock. Meistens aber war es einfach eine Hose und ein T-Shirt. Ach, und ganz typisch für mich: eine Radler. Genau, eine Radlerhose und drüber ein T-Shirt: Das ist für mich Kindheit, so fühlte die sich an und sah sie aus. Radler und T-Shirt.

Die Hose war natürlich überhaupt nicht modisch oder schick. War mir aber total egal. Denn ich war sowieso genervt vom Thema Klamotten, es macht keinen Spaß, wenn einem nichts wirklich passt. Ich hatte Besseres zu tun, als ständig aufzupassen, dass nichts verrutscht. Kleidung musste für mich an den meisten Stunden des Tages vor allem eines sein: praktisch. Okay, bequem durfte sie schon auch sein. Aber vor allem praktisch und robust, schließlich war ich ständig draußen. Denn für mich gab es damals nur eines: Pferde.

Meine ältere Schwester, insgesamt sind wir vier Mädchen daheim, war acht oder neun, als sie mit einer Freundin auf die Idee kam, einmal beim Pferdestall bei uns um die Ecke zu fragen, ob die beiden helfen könnten. Beim Ausmisten, Füttern, Streicheln, solche Sachen halt. Irgendwann hat meine Schwester natürlich nicht mehr nur Ausmisten wollen, sondern auch Ausreiten und damit ging’s los. Denn jetzt wollte ich auch wissen, was sie da die ganze Zeit macht. Sie hat mich mitgenommen und ich saß im Stall und habe mir alles angeguckt. Reiten durfte ich noch nicht mit meinen fünf Jahren. Aber ich habe offensichtlich genau beobachtet. Denn als ich zwei Jahre später endlich aufs Pferd durfte, wusste ich schon ziemlich genau, was ich machen musste. In meiner ersten Reitstunde bin ich sogar galoppiert! Das macht man normalerweise nie. Danach war ich Feuer und Flamme. Es hat mich nicht einmal gestört, dass meine Schwester irgendwann aufgehört hat. Ich war und bin eine echte Pferdenärrin. Jeden Tag war ich damals auf der Wiese oder im Stall, Pferde waren für mich alles. Man sagt das ja gerne mal so: dieses oder jenes war »alles« und manchmal sogar das »Ein und Alles«. Bei mir stimmt das wirklich. Es ist noch gar nicht so lange her, da hat mir eine alte Freundin ein Poesiealbum gezeigt. Diese kleinen, bunten Büchlein, voll mit zittrigen Zeichnungen, krakligen Glückwünschen und zuckersüßen Sprüchlein. Und Stickern natürlich. Bei meinem Eintrag steht viel Mädchenkram und beim Berufswunsch: Reitlehrerin.

Es ging bei mir nicht von morgens bis abends um Pferde. Aber auch nur deshalb, weil ich in die Schule gehen musste. Sonst wäre ich wahrscheinlich gleich nach dem Aufstehen rüber zur Koppel und es wäre wirklich vom Aufstehen bis zum Zubettgehen um meine Lieblinge gegangen. So bestanden meine Tage also aus Schule und Hausaufgaben, aber dann auch wirklich sofort rein in die Radlerhose und Reitstiefel und ab zum Stall. Mein Pflegepferd hieß damals Wincenta Lou, aber alle sagten nur Emmy, und für mich war es das Größte, mich um sie zu kümmern. Später, wenn es mal Probleme gab, hat sich Emmy um mich gekümmert. Nicht direkt, aber ich hatte immer das Gefühl, bei den Pferden etwas abzuwerfen von Genervtheit oder Ärger oder wovon auch immer. Wenn ich rauf auf das Pferd bin, kam ich vom Stress runter. Der Stall und die Koppel waren meine Rückzugsorte, meine einsame Insel im Ozean. Da konnte es um mich herum stürmen und regnen, das interessierte mich dort nicht mehr. Meine Pferde waren meine stillen Seelentröster.

Pferde sind so sensible Geschöpfe, so aufmerksam und feinfühlig, dass sie sofort spüren, wenn dich etwas beschäftigt. Deshalb ist Reiten auch ein Teamsport. Ein Pferd ist kein Tennisschläger, den man einfach in die Ecke pfeffert, wenn man gerade keinen Bock hat. Man muss für das Reiten und sein Pferd ein Stück seines Lebens mitbringen, ein Stück seiner Zeit. Das Pferd ist ein Lebewesen, dessen Launen man respektieren muss. Es hat seine Launen, seinen Charakter und auch seine schwierigen Momente. An manchen Tagen ist es halt schlecht drauf und damit muss man umgehen. Klar kann man Pferde zu Sachen zwingen. Aber das hat für mich nichts mit echtem Reiten zu tun. Genauso, wie man nicht mit jedem Pferd jede Sache machen kann. Kein Pferd ist gleich. Genau wie bei uns Menschen. Das zu verstehen ist sehr wichtig. Ich glaube, diese Einsichten helfen mir auch heute in der Schule und beim Unterricht, man lernt eine gewisse soziale Kompetenz beim Reiten. Denn soziale Kompetenz erstreckt sich nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere. Pferde zeigen dir zum Beispiel, wenn du einen Fehler machst. Sie lassen dich das spüren, nicht bösartig, aber du hast die Chance, von ihnen zu lernen – wenn du es möchtest. Ohne meine Pferde wäre ich sicher nicht die Persönlichkeit, die ich jetzt bin.

Wie gesagt: Pferde waren meine stillen Seelentröster und sie sind es heute noch. Hatte ich schlechte Laune, merkten sie das. War ich gestresst, fühlten sie das. Ärgerte mich etwas total, registrierten sie auch das. Deshalb würde ich, wenn ich richtig geladen bin, auch nie versuchen, ein Pferd zu reiten. Es könnte schon sein, dass es mir danach besser geht. Nur wäre das dem Tier gegenüber nicht fair. Es würde ganz genau merken, dass ich schlecht drauf bin, und diese negativen Schwingungen würde ich meinem Pferd einfach nicht zumuten. Wenn man wirklich unausstehlich ist, überlegt man sich ja auch ganz genau, ob man seine beste Freundin trifft oder ob man vielleicht seinem Partner kurz aus dem Weg geht, bis man sich wieder abgeregt hat. Und sich einfach nur auf das Pferd draufzusetzen, um sich selbst etwas Gutes zu tun, das ist egoistisch.

Wobei ich auch gar nicht reiten muss, damit es mir besser geht. Allein an der Box zu stehen, mein Pferd anzugucken, es vielleicht zu streicheln, das wirkt schon Wunder. Dann stehe ich da, bin gar nicht ganz im Stall, sondern noch ein bisschen woanders, merke, wie ich bestimmte Sachen mache, einen Apfel hinhalte oder meine Hand über den Pferde­rücken streichelt, fast automatisch. Ich hänge dann noch mit den Gedanken woanders und langsam, Stück für Stück, schüttele ich alles ab, wird der Stallgeruch in meiner Nase deutlicher, wird das Gefühl des Fells greifbarer, spüre ich die Wärme meines Lieblings stärker und fühle, wie ich ankomme im Hier und Jetzt. Wie der Stress sich verflüchtigt, zwar noch da ist, aber irgendwie nicht mehr zu mir gehörig, und wie ich ruhig werde. Keiner erzählt irgendwas, keiner will etwas, sondern das Pferd steht einfach da, blickt mich an, auf eine unbeschreiblich einmalige Weise aufmerksam, ja einfühlsam, und lässt mich zu mir selbst kommen.

Ich habe diese Rückzugsmöglichkeit geliebt. Wie oft habe ich auf unserem Springplatz in Herzberg einfach nur auf der Stange eines Hindernisses gesessen, Musik gehört und auf unser Dorf heruntergeguckt. Der Reitplatz liegt etwas oberhalb des Stalls, eine schmale Straße führt aus dem Ort heraus und auf den Harz zu. Er liegt da und kam mir vor wie ein Versprechen von Frische, Erholung, Natürlichkeit und Abenteuer. Eine Verheißung von Entspannung und Abschalten, einladend und majestätisch zugleich. Eine wiesengrüne und baumdunkle Einfassung für den Reitplatz, auf den ich so oft zugeradelt bin. Ich habe die Häuser von Herzberg und den Stress des Tages hinter mir gelassen und jeder Pedaltritt war eine Umdrehung mehr zur Entschleunigung. Dann vorbei am auf linker Hand gelegenen Sprungplatz, rechts zum Stall, mein Pferd kam sofort raus. Streicheln, Reden, Leckerli, die Welt war schon wieder mehr in Ordnung. Danach Reiten oder manchmal auch nur Sitzen und auf das Dorf blicken. Wie von einer Wolke aus, als ob das gar nicht so viel mit mir zu tun hätte. Gegen­über das Schloss, das Wahrzeichen von Herzberg, auf Augen­höhe sozusagen. Einfach sitzen, die Beine und die Seele baumeln lassen.

Pferde, Reiten, Stall, das war meine Welt und ich passte auch äußerlich gut da hinein. Ich war ein typisches Pferde­mädel, mit meinen Radlerhosen und zusammengebundenen Haaren, auch später noch. Lippenstift, Rouge oder Make-up kamen erst nach und nach in mein Leben. Und das, obwohl ich ja zwei ältere Schwestern habe und schon neugierig wurde, als sie Wimperntusche und Lidschatten ausprobierten. Trotzdem war ich relativ spät dran mit Schminke und dem ganzen Kram. Zum ersten Mal trug ich hellblauen Lidschatten in der sechsten Klasse. Das weiß ich noch genau. Was ich dagegen nicht mehr so genau im Kopf habe, ist, ob mich andere hübsch fanden. Natürlich habe ich ab und zu Komplimente gehört. Solche zum Beispiel: »Toll, du hast so lange, schöne Beine.« Oder: »Du bist aber schlank.« Aber ob mich meine Mitschüler und Freunde wirklich hübsch oder sogar schön fanden, daran kann ich mich nicht erinnern. Auch nicht, ob Jungs mehr oder weniger auf mich standen. Das alles spielte einfach keine Rolle in meinem damaligen Leben. Sicher kann man jetzt denken: Die ist Schönheitskönigin, geht zu unzähligen Schönheitswettbewerben, aber darum, ob sie schön ist, hat sie sich nie gekümmert? Wer soll das denn bitte glauben? Klar, ich weiß auch, dass das nach dem typischen »Ich war ganz natürlich und habe mir gar nichts aus den Blicken anderer gemacht«-Blabla klingt.