Text zum Buch
Julius Birdwell, Goldschmiedemeister, Flohdompteur und unfreiwilliger Einbruchkünstler, wünscht sich nichts sehnlicher, als endlich eine ruhige, unbescholtene Existenz führen zu können. Doch als seine Flohartisten einem plötzlichen Nachtfrost zum Opfer fallen und die geheimnisvolle Elizabeth Thorn in sein Leben tritt, überstürzen sich die Ereignisse. Ein Magier wird ohnmächtig, eine alte Dame macht sich in einem gestohlenen Lastwagen davon, ein Detektiv mit Konzentrationsstörungen findet zu einem ungewöhnlichen Haustier, und Julius sieht sich auf einmal mit existenziellen Fragen konfrontiert: Wie befreit man eine Meerjungfrau? Wie viele Flöhe passen auf eine Nadelspitze? Und warum ist das Leben trotz allem kein Märchen? Julius bleibt nichts anderes übrig, als sich weit über den Tellerrand seiner Welt hinauszulehnen und den Sprung ins Unbekannte zu wagen. Ein phantastisches Abenteuer beginnt …
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Leonie Swann
Dunkelsprung
Roman
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Originalausgabe
1. Auflage
Copyright © der Originalausgabe 2014 by Leonie Swann
Copyright © der Originalausgabe November 2014
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Covergestaltung: Uno Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-15152-2
V004
www.goldmann-verlag.de
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Dramatis Creaturae
Julius Birdwell – Goldschmied und Flohdompteur
Elizabeth Thorn – eine Dame mit Mütze und Plan
Frank Green – Privatdetektiv mit dunkler Vergangenheit
Das Legulas – ein grünes Wesen mit gesundem Appetit
Lazarus Dunkelsprung – Albinofloh, der Star von Julius’ Truppe
Marie Antoinette
Zarathustra
Oberon
Tesla
Lear – Julius’ Flohartisten
Faust
Freud
Cleopatra
Madame P.
Spartacus
Professor Isaac Fawkes – Magier
Thistle – doch kein Mädchen
Hunch – ein Typ mit Bogarthut
Rose Dawn – eine ältere Dame mit Vergangenheit
Emily – ein altes Mädchen ohne Zukunft
Mr. Fox
Die Schneckenfrau – Emilys Gäste
Mr. Hong
Odette Rothfield – eine Lady mit Geschmack und rotem Haar
Alisdair Aulisch – Vergessenstherapeut
Five-Finger-Fred – ein Gangster
Pete – ein Mann mit Hund und Hausboot
Mary – Luftsockenstrickerin
Claire Weathervane – eine Nachbarin
Nick – ein Ganove
Wilson – ein Unterganove
Hieronymus – Automat
Napoleon Luciferretti – keine große Leuchte
Der Mwagdu – wer weiß?
Even educated fleas do it …
Cole Porter
Hey! Hey Du!
Genau!
komm Näher!
Sei nicht schüchtern
… Wir Beißen nicht!
Vorspiel
Ein blauer Samtvorhang teilt sich, eine weiß behandschuhte Hand nimmt unser Ticket entgegen. Ein Wink, ein Lächeln, fast zu vertraulich. Wir flüchten an dem Kartenabreißer vorbei, hinein ins Foyer, wo schon andere Theatergäste warten, herausgeputzt, verlegen, fehl am Platz zwischen grellen Neonröhren und milchigen Spiegeln. Flüstern. Man weicht Blicken aus. Eine Zaubershow in einem Hinterhoftheater, nichts Besonderes eigentlich, und dennoch … dennoch … Der Eintrittspreis ist zu saftig, die Stunde zu spät, und wären da nicht die handschriftliche Einladung und all die Dinge, die einem Freunde und Kollegen erzählt haben …
Aber da sind die Dinge.
Gerüchte von Gerüchten. Wunder. Unbeschreibliches, nie Geahntes.
Nichts Genaues natürlich. Eigentlich gar nichts.
Geh nur selbst.
Du wirst schon sehen.
Nun gut.
Sehen wir also …
Im Zuschauerraum ist es dunkel, so dunkel, dass man kaum seinen Platz finden kann oder seinen Sitznachbarn erkennen. So dunkel, als wäre man allein. Ein seltsamer Geruch herrscht, erdig und wild und saftig wie ein Wald und gleich darunter ein bitterer Ton wie von giftigen Blumen. Im Schutze der Dunkelheit schleicht sich dieser Duft in jede Ecke unseres Bewusstseins.
Plötzlich ertönt laute Rockmusik. Das Publikum fährt zusammen.
I can’t get no – sa-tis-fac-tion.
Dann ist die Bühne zu sehen, in flackerndes Licht getaucht wie von einem sterbenden Feuer. Auf der Bühne ein Mann in einem bodenlangen roten Mantel. Makellose Haltung, orientalischer Hut. Ringe an den Fingern. Dunkle, bohrende Augen.
Das wird dann wohl dieser Professor Fawkes sein.
Der große Professor Fawkes.
Besonders groß ist er ja nicht.
Fawkes lässt sich den roten Zirkusmantel von den Schultern gleiten. Darunter trägt er Jeans und ein Muskelshirt. Und Muskeln. Er lächelt leise. Es ist, als würde er sich über uns und unsere Erwartungen und vielleicht auch über sich selbst ein wenig lustig machen.
Fawkes schlägt aus dem Stand drei Saltos, perfekt ausgeführt, ohne dabei den orientalischen Hut zu verlieren.
Dann steht er still und verbeugt sich. Die Musik bricht ab.
Zögernd plätschert Applaus durch den Raum.
Die eigentliche Vorstellung beginnt damit, dass der große Fawkes auf einmal weg ist. Nicht verpufft, mit Hilfe von Blitz, Donner, Nebel und Bühnenmaschinerie, einfach nur weg.
Dafür steht ein großer Blumentopf auf der Bühne. Der Blumentopf ist wirklich groß.
Dann nichts.
Noch immer nichts.
Genau in dem Moment, in dem das Publikum anfängt, unruhig zu werden, regt sich auf einmal etwas in dem Topf, grün und windend. Eine Schlange? Ein Keim!
Der Keim entfaltet sich, erste Blätter glänzen, frisches grünes Laub sucht tastend den Weg nach oben, höher und höher, ein Baum entsteht, die Blätter ständig bewegt, blind suchend. Ein seltsames, elastisches Knistern erfüllt den Raum.
Auf der Bühne ist es Frühling geworden.
Knospen sprießen, Blüten öffnen sich. Nachtschwarze Bienen tanzen trunken von Blüte zu Blüte, Früchte wachsen, seltsam glatt und kalkig und weiß. Niemand hat je solche Früchte gesehen, und als der Bühnensommer sich seiner Vollendung zuneigt, kann man erkennen, dass der Baum nicht wirklich Früchte trägt, sondern Eier. Aus den Eiern schlüpfen nach und nach weiße Vögel, keck und anmutig, spatzenhaft.
Plötzlich wirbelt Fawkes wieder auf die Bühne. Er pflückt einige der noch nicht völlig gereiften Eierfrüchte und beginnt damit zu jonglieren, drei, fünf, sieben, neun, schwindelerregend schnell. Noch während er jongliert, schlüpfen die Vögel und schwingen sich in die Luft. Endlich ist nur noch ein einziges Ei übrig, dann keines. Vögel schwirren durch den Raum und machen Jagd auf die Nachtbienen.
Fast unbemerkt sind die Blätter des Baumes inzwischen golden geworden, ein kühler Wind weht von nirgendwoher, Blätter fallen und tanzen in Wirbeln über die Bühne.
Die Vögel sammeln sich zu einem Schwarm, kreisen, steigen höher und höher.
Fawkes klatscht in die Hände, ein unnatürlich lauter Knall. Die Vögel sind verschwunden, weiße Federn fallen wie Schnee, der Baum steht kahl.
Der Professor haucht in seine Hände, so als wolle er sie wärmen, zwinkert uns zu und verbeugt sich.
Wir sind zu benommen für einen vernünftigen Applaus.
So geht es weiter, Wunder um Wunder, Rehe und Kaninchen, Feuer und Eis, zu viel, zu schnell, zu unglaublich, um sich wirklich an etwas festhalten zu können.
Hinterher wird uns alles wie ein Traum vorkommen, aber ein Moment bleibt im Gedächtnis, klar und kalt wie Wasser: Leuchtende Luftquallen, die nach Quallenart ziellos durch den Raum schweben, schon vergessen, woher. Ihre Berührung hinterlässt fluoreszierende Male auf der Haut, seltsam kühl und angenehm, pulsierend und verblassend.
Als wir unsere Aufmerksamkeit wieder der Bühne zuwenden, ist da eine Frau, erhöht auf einem Gerüst. Ein dunkler Mantel umspielt ihre Gestalt. Ihr Gesicht ist glatt wie ein Teich, ihr Haar eine Wolke aus Licht.
Sie klammert sich an dem Gerüst fest, wie um sich zu stützen. In ihrem Haar bewegt sich etwas, eine kleine Schlange, nein, ein zierlicher Oktopusarm, der sich nervös kräuselt.
Die Frau lässt das Gerüst los und hält sich einen Moment lang aufrecht, leise schwankend. Dann fällt sie. Sie wird sich beim Aufprall verletzen, aber auf der Bühne steht auf einmal ein großer gläserner Wassertank, und die Frau taucht hinein. Ihr Mantel ist verschwunden, aber seltsamerweise kann sich nachher niemand mehr daran erinnern, ob sie darunter nun nackt war oder nicht. Ein Fischschwanz? Vielleicht …
Das Wunderbare, das wirklich Unglaubliche ist, dass die Frau nicht wieder auftaucht. Luftperlen sind in ihrem Haar gefangen, aber sie scheint nicht zu atmen. Fawkes legt einen stabil aussehenden Stahldeckel über den Tank. Der Deckel wird mit Riegeln und Schlössern fixiert.
Das Publikum stöhnt.
Dann vergehen quälend lange Minuten, in denen die Frau einfach nur durch den Tank schwebt, den Oktopusarm nun animierter, das Gesicht leuchtend und still.
Eine kleine Ewigkeit.
Diese Nummer endet nicht wie üblich damit, dass die Dame triumphierend ihrem Gefängnis entsteigt, nein, auf eine Geste Fawkes’ hin rollen einige Assistenten den Tank einfach hinter einen Vorhang.
Fawkes wirbelt noch einmal radschlagend über die Bühne, dann kniet er da, schweißglänzend, die Arme weit ausgebreitet, auf den Lippen wieder sein halbes Lächeln.
Es sind natürlich alles nur Tricks. Es müssen Tricks sein. Doch was für Tricks!
Wir verlassen die Vorstellung stumm vor Staunen, trunken von Wundern, betört von Licht und Schatten, schlafwandelnd und mondsüchtig.
Was für ein origineller Typ dieser Fawkes doch ist! Wie fit und klug. Wie cool! Wir wollen ihm folgen, auf Facebook und Twitter und vielleicht sogar persönlich. Ob es einen Fanclub gibt? Ob man für ihn arbeiten kann? Oder wenigstens ein Autogramm?
Doch da ist mehr.
Unsere Blicke streifen die Assistenten des Professors, die im Foyer Getränke anbieten und Nachtbienenhonig verkaufen, und finden unerwartete Dinge: einen Huf, einen Schweif, glänzende braune Augen, schöne angelegte Rehohren, wo eigentlich nur Haar sein sollte. Wir wünschen und ahnen und hoffen auf einmal, dass dies alles vielleicht doch viel mehr ist als nur ein Trick.
Leute in Abendgarderobe taumeln verzückt durch das Foyer, kaufen Gläser schwarzen Nachtbienenhonigs, Programmhefte und Fliedersekt. Wir versuchen, den rehohrigen Assistenten Geld zuzustecken, damit sie uns hinter die Bühne lassen. Vergebens. Ergriffen von einer Art Verzweiflung stellen wir der »Fawkes Stiftung für das Unnatürlich-Natürliche« einen stattlichen Scheck aus. Zwei Herren im Smoking bewerfen sich gegenseitig mit Geldscheinen, um das letzte Programmheft zu erringen.
Mehr! Mehr! Wir wollen mehr tun, mehr geben. Vielleicht braucht der Professor ja noch einen Mäzen, einen Hilfsarbeiter, einen Sklaven?
Doch dann verlöschen eines nach dem anderen die Lichter, Samtvorhänge werden aufgezogen, Hände schieben uns sanft, aber bestimmt Richtung Tür in einen kalten, nassen Hinterhof.
Wir treten widerwillig nach draußen, die Hände voll Honig, die Seele voll Staunen, in den Regen.
Spät im September
Das Hausboot liegt im Morgennebel wie etwas Lebendiges, ein gestrandeter Wal vielleicht oder eine faule Robbe, reglos, aber wach. Aufmerksam. Wartend.
»Mr. Birdwell? Julius Birdwell?«
Nichts. Draußen auf dem Kanal fliegt eine Ente auf.
Dave überprüft noch einmal die Bootsnummer, dann geht er über den schwankenden Holzsteg an Bord und klopft in Ermangelung einer Haustüre an eines der verbarrikadierten Fenster.
»Hallo? Halllooo? Mr. Birdwell?«
Weiter hinten an Deck öffnet sich plötzlich eine Klappe.
»Komm rein!«
»Ich komme von Joe, Sir, ich habe eine Lieferung für …«
»Jaja, komm rein, sage ich!«
Joe hat ihn gewarnt, dass der Job kein Zuckerschlecken ist, also fasst sich Dave ein Herz, taucht durch die niedrige Tür ins Innere des Bootes, macht einen Schritt – und steht auf einmal im Dunkeln.
Verdammt!
»Hallo? Mein Name ist Dave Collins, ich habe eine Lieferung für Julius Birdwell. Sind … sind Sie das?«
Kein Laut. Nur sein eigener Herzschlag.
»Mr. Birdwell?«
»Wo ist Joe?«
»Krank. Blinddarm. Pech, was? Ich … ich mache den Job, bis er wieder auf den Beinen ist.« Daves Stimme klingt piepsig. Warum klingt er immer so piepsig, wenn es darauf ankommt?
»Und du hast den Stoff?«
»Natürlich!« Dave hält die Hand mit dem Päckchen vor sich hin.
Wieder diese Stille. Sein Herz klopft noch lauter. Er hat keine Illusionen darüber, dass das, was er da ausliefert, nicht ganz legal ist. Keine richtigen Drogen, wie ihm Joe versichert hat, eher … Medikamente. Medikamente, die der Doktor seinen Kunden nicht verschreiben will und an die Joe als Sanitäter leicht herankommt.
Alles harmlose Typen, hat Joe gesagt, ein bisschen schräg vielleicht, aber solide. Na toll! Und jetzt steht Dave hier im Dunkeln mit irgendeinem irren Junkie!
»Weißt du, was da drin ist?«, fragt eine Stimme hinter ihm, näher, als ihm lieb ist.
Dave schüttelt den Kopf, aber natürlich hat er doch geguckt: Blutkonserven. Verschiedene Blutgruppen. Und frischer Fisch vom Billingsgate-Fischmarkt. Den Fisch hat Dave nach Joes Anweisungen selbst besorgt.
Fisch?
Joe hatte mit den Achseln gezuckt. Jeden Montag und Mittwoch. Solange er zahlt, stelle ich keine Fragen, und du solltest auch keine stellen.
Also hält Dave einfach nur weiter die Tüte mit Blut und Fisch vor sich hin und hofft darauf, dass alles bald vorbei sein wird.
Jemand nimmt ihm das Päckchen ab und schnüffelt.
»Warte hier!«
Dave hört Schritte, die sich entfernen. Eine Tür schließt sich. Plätschern und Schlürfen, zärtliches Murmeln und etwas, das wie das Kichern eines Mädchens klingt. Jedes Geräusch für sich genommen harmlos genug, aber zusammen genommen verursachen sie bei Dave eine Gänsehaut. Nur weg hier, Geld oder nicht!
Er will sich gerade im Dunkeln zurück zur Tür tasten, als plötzlich das Licht angeht und ein gutgekleideter junger Mann mit Sonnenbrille den Raum betritt und ihm lächelnd die Hand hinstreckt.
»Hi Dave, ich bin Julius. Tut mir leid wegen dem Licht vorhin. Mal funktioniert es, mal funktioniert es nicht. Bruchbude!«
Dave blickt sich benommen um. Flauschige Teppiche, Ledersessel und ein Glastisch. Wie in einer Bruchbude sieht es hier drin eigentlich nicht aus, ganz im Gegenteil, das Hausboot ist sehr viel besser ausgestattet, als er erwartet hat. Und dieser Julius … Gutaussehend. Elegant. Energische federnde Bewegungen. Alles andere als ein Junkie.
Julius blättert Geldscheine auf den Tisch und plaudert dabei über Sportfischen und das Wetter. Seltsam, was für einen Unterschied das Licht macht. Hat er sich wirklich gerade noch vor diesem umgänglichen Typen gefürchtet?
»Kaffee?«
Dave zögert. Joe hatte ihn davor gewarnt, sich mehr als nötig mit seinen Kunden einzulassen. Aber Dave ist auf einmal neugierig auf Julius, der ihn über den Rand der Sonnenbrille hinweg mit offenen grünen Augen anblickt.
»Warum nicht!«
»Hervorragend!« Julius Birdwell strahlt und macht sich in einer Kochnische an einer edelstahlglänzenden Espressomaschine zu schaffen.
Blut und Fisch – natürlich hat sich Dave da so seine Gedanken gemacht. Ein Satanist? Ein Vampir? Aber das scheint nicht zu Julius Birdwell zu passen, der Kaffee abmisst und sich anschließend die Hände an einem sauberen Geschirrtuch abwischt.
»Ich wüsste wirklich nicht, was ich ohne Leute wie dich und Joe machen würde. Es gibt einfach Beschwerden, gegen die man mit der Schulmedizin nicht wirklich ankommt. Cappuccino oder … Ach!«
Birdwell hat die Kühlschranktür geöffnet und äugt entschuldigend zu Dave hinüber.
»Die Milch ist alle. Schon wieder! Das ist wirklich … Trinkst du ihn auch schwarz?«
»Kein Problem.«
»Zucker?«
Die Espressomaschine hat ihre Arbeit getan, und Birdwell stellt eine dampfende Tasse vor Dave ab.
Plötzlich ist Dave verlegen. Er schüttelt den Kopf und rührt in der Tasse herum, obwohl es eigentlich gar nichts umzurühren gibt. Er nippt. Viel zu heiß. Verdammt – jetzt muss er hier mit diesem Birdwell herumsitzen und Konversation treiben, bis sein Kaffee abgekühlt ist!
»Bist du auch Sanitäter? Wie Joe?«
Birdwell lässt sich neben ihm in einen Sessel fallen und überkreuzt die Beine.
»Medizinstudent.« Dave nimmt vorsichtig einen ersten Schluck. Schöne Augen hat er, der Julius, das muss man ihm lassen.
»Student, was?« Julius beugt sich vor, legt seine Hände aneinander und blickt Dave eindringlich an. »Dave, hast du vielleicht Lust, dir ein bisschen Geld dazuzuverdienen?«
Dave merkt, wie er rot wird. Woher weiß denn der Typ, wenn noch nicht einmal seine Eltern …? Ist es wirklich so offensichtlich …? Er holt tief Luft und nimmt sich zusammen. Joe hat ihn gewarnt, dass so etwas passieren kann. Wenn man illegales Zeug verhökert, scheinen manche Leute zu denken, der ganze Rest ist auch einfach so zu haben.
Er steht auf. »Nein, nicht mein Ding. Ich muss jetzt wirklich gehen, Mr Birdwell.«
»Julius.«
Julius sieht ihn einen Moment lang verblüfft an, dann lacht er los. »Setz dich, Dave, ich meine doch nicht das. Nein! Das hier ist eher eine äh … medizinische Angelegenheit.«
Julius’ Überraschung ist so echt, dass Dave nicht wie geplant aus dem Zimmer stürmt. Seine Phantasie ist da wohl wieder einmal mit ihm durchgegangen. Jetzt ist er wahrscheinlich richtig rot, puterrot, bis zum Haaransatz.
Er wendet sich von Julius ab und blickt verlegen umher. Eine Ecke des Raumes ist anders, verspielter irgendwie, nicht so hell und glatt wie der Rest. Dunkler. Intimer. Dave schlendert hinüber, halb aus Neugier, halb, um seinen roten Kopf vor Julius zu verbergen.
Eine Kommode aus dunklem Holz, darauf eine antik aussehende silberne Spieluhr, eine klassische Marmorbüste und eine kleine schwarze Kiste, bemalt mit goldenen Zeichen. Auf der Büste ein feiner schwarzer Zylinder, etwas zu groß für den Marmorkopf. Daneben so etwas wie eine winzige Bühne, Samtvorhang, Plattform – und eine Leiter, die hinauf in einen Wattewölkchenhimmel führt, alles so klein und fein, dass noch nicht einmal ein ausgewachsener Marienkäfer dort auftreten könnte.
Über der Kommode hängen gerahmte Zeitungsausschnitte und ein Plakat.
Professor Fawkes’ Wunderkammer!
Die größte Show der Welt!
Das Ganze erinnert Dave ein wenig an die Trophäenecke, in der seine Mutter seine Jugendfotos und Rugbypokale ausstellt. Der Typ auf dem Plakat sieht allerdings ganz und gar nicht wie Julius aus, gedrungener, muskulöser. Trotzdem glaubt Dave eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden festzustellen, im Blick vielleicht oder in der Haltung.
»Ist das ein Verwandter?«
»Nicht wirklich.«
Dave streckt bewundernd die Hand nach der glänzenden Seide des Zylinders aus. »Bist du, äh, bist du Künstler oder so was?«
Künstler! Das würde alles erklären!
Plötzlich steht Julius neben ihm und setzt sich mit einer eleganten Bewegung den Zylinder auf.
»Zirkusdirektor, genau genommen.«
Wenig später sitzen eine ganze Menge Flöhe auf Daves Unterarm und saugen sich mit seinem Blut voll. Es kitzelt ein bisschen, aber nicht zu sehr. Schlimmer ist schon der Gedanke, dass sich gerade parasitische Insekten über seine Säfte hermachen.
Flohzirkusdirektor! Wie konnte er nur auf so etwas hereinfallen?
Dave rutscht unruhig auf seinem Sitz herum. »Wie lange wird das denn noch dauern?«
»Oh, eine kleine Weile. Wenn sie fertig sind, sind sie fertig.« Julius lächelt. »Mach dir’s bequem. Keine Sorge, sie fressen dich nicht auf.«
Dave nippt Kaffee. Der hat jetzt genau die richtige Temperatur.
»Deine, äh, Beschwerden …«, fragt er so unauffällig wie möglich, »wie lange hast du die denn schon?« Dieser Julius interessiert ihn wirklich. Nur deshalb hat er sich von ihm zu der Blutspende überreden lassen. Das extra Geld schadet natürlich auch nicht.
»Was?« Julius blickt ihn irritiert an. Der Zylinder ist ihm ein wenig in die Stirn gerutscht, und auf einmal sieht er wirklich wie ein Zirkusdirektor aus einem Schwarz-Weiß-Film aus. Jeder Zoll ein Zirkusdirektor.
»Deine Beschwerden …«
»Ach so.« Julius blickt träumerisch zu dem Plakat hinüber. »Eigentlich noch gar nicht so lange. Eigentlich erst seit April …«
Bird
1. Im Fluss
Es war ein ungewöhnlich kalter Aprilabend. Julius Birdwell eilte die Straße entlang, eine kleine schwarze Kiste fest gegen die Brust gepresst. Es wurde schon dunkel, zu schnell, so als würde jemand mit einem Staubsauger das Licht aus London absaugen. Julius hasste die Dunkelheit. Dunkelheit stellte mit den Dingen seltsame Sachen an. Die Häuser rückten näher an ihn heran, vielgestaltig und irgendwie sprungbereit. Er guckte nicht so genau hin. Es war eine Abkürzung, die er nicht allzu oft nahm, aber der Wind ging ihm auf die Nerven, und er hatte es eilig, nach Hause zu kommen.
Ein schwarzes Taxi fuhr vorbei, dann war die Straße wieder menschenleer.
Plötzlich löste sich ein Schatten aus einer Toreinfahrt und versperrte ihm den Weg.
»Birdie! Hey, Birdie! Bist du’s? Mensch, Birdie! Lange nicht gesehen!«
Oh shit! Julius blieb stehen, ein enges Gefühl in der Kehle. Er kannte die Stimme. Fred? Five-Finger-Fred oder irgend so ein idiotischer Ganovenname. Schließlich hatte so gut wie jeder fünf Finger.
»Mensch, wie lange haben wir uns schon nicht mehr gesehen. Seit der Beerdigung?«
»So ungefähr.« Julius schluckte. Es war jedes Mal seit der Beerdigung, obwohl ihm der Typ inzwischen schon vier Mal aufgelauert hatte.
»Schau dich an, der kleine Birdie mit Mantel und Anzug. Mann, dein Großvater wär stolz auf dich!«
Julius schwieg und umklammerte seine kleine schwarze Kiste. Er wusste, was als Nächstes kommen würde.
»Ich habe mich gefragt, ob du vielleicht wieder mit uns arbeiten möchtest. Das wär doch was!«
»Ich kann ja mal in meinen Terminkalender gucken«, sagte Julius geheuchelt beiläufig. »Aber ich fürchte, da sieht es schlecht aus.«
Finger-Fred, oder wie auch immer er genau hieß, lächelte, aber es war kein gutes Lächeln. »Nun ja, das ist aber doch so verdammt schade, weißt du, die ganzen schönen Tricks, die dir dein Großvater beigebracht hat, alles für die Katz.«
Wie auf ein Kommando glitt neben ihm eine Katze unter einem Auto hervor, fauchte und schoss davon. Julius sah ihr neidisch nach.
»Ich arbeite nicht für Katzen.« Ein lahmer Witz, aber wenn schon. Hauptsache, der Typ merkte nicht, dass Julius Angst vor ihm hatte.
Schlösser knacken war nichts für ihn. Nicht nur weil er sich davor fürchtete, erwischt zu werden, das auch, natürlich, aber dahinter steckte eine noch viel größere, irrationalere Angst, die Angst, dass irgendwo in der Dunkelheit etwas auf ihn lauerte und »Buh!« machte. Er hatte einfach nicht die Nerven für eine Kriminellenkarriere. Der Großvater hatte das schließlich eingesehen, aber nun, nach seinem Tode, fingen seine sogenannten Freunde an, Problem zu machen.
»Du müsstest nicht mal reinkommen. Nur Schmiere stehen. Und zehn Prozent plus Spesen. Fairer geht’s nicht!«
»Nein.«
Der Typ hatte auf die nette Tour nichts erreicht und beschloss, ungemütlich zu werden. Er trat ganz nah an Julius heran, zupfte an seinem Kragen und prüfte den Stoff seines Mantels.
»Feine Klamotten tragen, aber für die alten Kumpels deines Großvaters hast du nichts übrig. Nicht schön, Birdie, gar nicht schön. Zu fein für richtige Arbeit, was?«
Julius senkte die Augen und umklammerte seine Kiste noch fester.
Finger-Fred bemerkte es.
»Was hast du denn da in dem Ding? Gib mal her!«
»Nein!«, sagte Julius, ein Zittern in der Stimme.
Finger-Freds Augen weiteten sich.
»Ach du Scheiße, sind das etwa die …?«
Er ließ los und trat mit angewidertem Gesichtsausdruck einen Schritt zurück.
»Genau!«, sagte Julius. Er hielt die Kiste hoch. »Sie haben seit gestern nichts gegessen. Sie sind hungrig.«
»Okay«, sagte Finger-Fred. »Schon gut. Lass den Quatsch. Aber überleg dir’s, Birdie. Vielleicht komme ich ja später mal in deinem feinen Atelier vorbei.«
Der Fingermann formte seine Finger zu einer unfeinen Geste, dann drehte er sich eilig um und ging die Straße hinunter. Bald war er um eine Biegung verschwunden.
Julius stand schwer atmend im kalten Wind. Panik überschwemmte ihn. Sie würden ihn nie in Ruhe lassen, sie würden in sein Atelier kommen, und dann, irgendwann … Wussten sie, wo er wohnte? Würden sie ihm folgen? Er rannte los, so schnell er konnte, die Straße entlang, gegen den peitschenden Wind, links, gerade, über die Kreuzung, herum um eine Frau mit Einkaufstüten, vorbei an dem kleinen Park.
Endlich stand er vor seiner Haustür. Seine Hände zitterten so sehr, dass er die schwarze Kiste abstellen musste, um mit beiden Händen mühsam den Schlüssel ins Schlüsselloch zu manövrieren. Wenn Finger-Fred gesehen hätte, wie er sich mit seiner eigenen Haustür anstellte, hätte er ihn vielleicht in Ruhe gelassen.
Endlich hatte er es doch geschafft, stürzte in den Flur und schob alle verfügbaren Riegel vor.
»Es ist nur die Kälte«, dachte er. »Ich zittere vor Kälte.«
Doch das war zumindest eine halbe Lüge.
Ein eisiger Wind wehte. Das Tageslicht blinzelte bleich und lustlos auf den Kanal herab.
Julius Birdwell, bis zu den Knöcheln im Schlamm, blinzelte zurück. Wasser rann aus seinen Haaren in seine Augen, die Beine hinab, um sich dann in seinen Schuhen zu sammeln. Wasser leckte Welle um Welle an seinen Zehenspitzen.
Er stand im Niemandsland, nicht mehr im Wasser, aber auch noch nicht so richtig im Trockenen. Vor ihm kräuselte sich der Kanal und spielte träge mit leeren Plastikflaschen, kaputten Verkehrskegeln, Zigarettenstummeln und anderem städtischen Treibgut. Über ihm wölbte sich ein backsteinerner Brückenbogen. Efeu hatte sich in den Ritzen eingenistet und griff gierig nach dem Licht.
Etwas Schwarzes schoss plötzlich aus dem Wasser.
Julius zuckte zurück.
Kormoran.
Er drehte sich um, der flachen Böschung zu. Dürre Rankenpflanzen versperrten ihm den Weg, aber dahinter, etwas höher, führte glücklicherweise ein Fußweg am Ufer entlang. Ein Jogger rannte vorbei, sah ihn nicht oder wollte ihn nicht sehen.
»Alles ist gut«, wiederholte Julius zum hundertsten Mal und wickelte sich tiefer in die schmutzige alte Picknickdecke, die ihn wie ein freundlicher Rochen umhalste.
»Alles ist gut. Alles wird gut. Alles ist okay.«
Das allein war natürlich schon ein sicheres Zeichen dafür, dass rein gar nichts okay war. Genau solche Dinge sagten Leute in Filmen, kurz bevor sie von Aliens oder Sauriern gefressen wurden. Nun, so weit würde es heute wohl doch nicht kommen. Andererseits: Konnte er sich da nach den jüngsten Ereignissen wirklich noch so sicher sein? Wie war er hierhergekommen? War es wirklich erst gestern gewesen, dass Finger-Fred ihm aufgelauert hatte? Es schien eine Ewigkeit her.
Julius Birdwell begann, mit einer gewissen Dringlichkeit die Taschen seines triefnassen Anzuges abzusuchen. Aber nach was? Zigaretten? Nein, er rauchte nicht, hatte nie geraucht und wollte ganz sicher nicht damit anfangen. Autoschlüssel? Das war es auch nicht, er hatte ja noch nicht einmal einen Führerschein. Wer brauchte in London schon einen Führerschein? Trotzdem hatte Julius das sichere Gefühl, dass ihm etwas fehlte, etwas Entscheidendes. Irgendetwas Wichtiges war plötzlich aus seinem Leben verschwunden, und er war nicht mehr ganz.
Julius fröstelte und versuchte, sich wieder daran zu erinnern, wie es ging, Julius Birdwell zu sein, Schmieder von Geschmeide, Sammler fluchbeladener Juwelen, größter Angsthase und bester Flohdompteur weit und breit.
Erst einmal musste er vom Wasser weg. Er konnte sich nicht einmal mehr richtig daran erinnern, wie er auf die Brücke gekommen war, geschweige denn darunter, und mit der stinkigen alten Picknickdecke wollte er eigentlich auch nichts zu tun haben. Julius ließ sich die Decke von den Schultern gleiten und fröstelte noch mehr. Er watete durch öligen Schlamm, Plastiktüten, Kondome, Kronkorken und Gottwerweißwasnoch, dann kämpfte er sich, beobachtet von einer Stockente und drei kritischen Tauben, bis zu dem Fußweg, der unter der Brücke hindurchführte, immer am Kanal entlang.
Nebel hing über dem Wasser. In der Ferne hörte er Baulärm, Kirchenglocken und den unermüdlichen Singsang des Londoner Straßenverkehrs. Er schlug den klatschnassen Kragen hoch und ging los, den Pfad entlang. Nur weg von hier, zurück in die Zivilisation.
»Sie hat dich also gehen lassen! Hätte ich nicht gedacht.«
Die Stimme kam vom Wasser, so als hätte der Nebel gesprochen oder der Kanal selbst.
Julius blieb stehen. Am Ufer lag eine Reihe von Hausbooten, bunt und schäbig wie Zirkuswagen, und auf einem der Boote regte sich etwas. Jemand faltete sich mühsam aus einem Liegestuhl, ein Rausschmeißertyp mit Seemannsmütze und schlechten Zähnen. Neben ihm dampfte es aus einer Thermoskanne. Vermutlich war es der Anblick der Thermoskanne, der Julius davon abhielt, einfach Hals über Kopf davonzulaufen.
Der Mann hatte es endlich aus seinem Liegestuhl geschafft, trat an die Reling und schob sich die Mütze aus der Stirn.
»So was habe ich schon lange nicht mehr … Was hat sie dir denn versprochen? Und viel wichtiger: Was hast du ihr versprochen, Jüngelchen?«
»Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen«, flüsterte Julius und schielte sehnsüchtig nach der Thermoskanne.
»Kalt?«
Julius klapperte zur Antwort mit den Zähnen.
»Komm an Bord, Junge, du holst dir den Tod!« Der Mann deutete auf die schmale Planke, die zu dem Boot hinaufführte. Julius verspürte einen Widerwillen dagegen, auf das Schiff zu gehen, wieder hinaus aufs Wasser, aber der Typ hatte Recht. Er konnte entweder weiterlaufen und sich unterwegs eine Lungenentzündung einfangen, oder er konnte sein Glück mit dem Hausboot versuchen.
Mittlerweile zitterte Julius so sehr, dass er es kaum noch die Planke hinauf schaffte.
Der Mann hatte inzwischen auf Deck eine Klappe geöffnet und winkte ihn einladend hinunter in den Bauch des Bootes. Drunten knurrte und kläffte es.
Schock. Es musste der Schock sein, sonst wäre er nie im Leben einfach so in ein fremdes Hausboot geklettert, hinein in die kläffende Dunkelheit.
Julius stieg schlotternd die Leiter hinab, rutschte auf einer der letzten Sprossen aus und landete mit einem Platsch auf dem Hosenboden. Vor ihm saß der hässlichste, bedrohlichste Pitbull, den er je gesehen hatte, und leckte ihm freundlich das Gesicht. Die warme Hundezunge brannte und prickelte auf seiner Haut wie tausend Nadelstiche.
»Das ist Bullseye. Und ich bin Pete.«
Pete tätschelte Bullseyes Kopf, und Bullseye sabberte freundschaftlich auf Julius’ Ärmel und wedelte dazu mit seinem Stummelschwanz.
»Birdwell. Julius Birdwell.«
Julius flüchtete mit letzter Kraft vor Bullseyes Mundgeruch auf einen Stuhl. Um ihn herum schälte sich das Hausbootinnere aus der Dunkelheit. Zwei Sessel. Ein Klapptisch. Ein Gaskocher und ein Waschbecken, dahinter ein karierter Vorhang. Julius schauderte. Er könnte nie auf so einem Hausboot leben, schwankend, glucksend, so dicht über dem dunklen Wasser.
Pete knipste ein Licht an.
»Mann, Birdwell, du musst aus deinen nassen Sachen.«
Julius war inzwischen alles egal. Er riss sich schlotternd den Anzug vom Leib, während ihm Pete von hinter dem Vorhang Kleidungsstücke zuwarf. Weite Wollhosen, einen senfgelben Pullover, grüne Weste, Holzfällerhemd. Nicht gerade modisch. Aber warm.
Bullseye kläffte enthusiastisch.
Später saß Julius unter diversen Wolldecken neben einem kleinen Holzofen, ins Trockene gebracht wie ein sprichwörtliches, buntkariertes Schäfchen, und hörte endlich mit dem blöden Zähneklappern auf.
Pete hatte die Ärmel hochgekrempelt und machte sich mit Wasserkessel und Gaskocher zu schaffen. Julius’ Blick fiel auf ein Tattoo auf Petes Unterarm: eine Meerjungfrau mit Kussmund und Fischschwanz und daneben, rot mit schwarzem Rand, ein Herz.
Julius schauderte. Da war es wieder, das Gefühl, dass ihm plötzlich etwas fehlte.
Pete bemerkte seinen Blick und schüttelte den Kopf.
»Mach dir nichts draus, mein Junge, sie sind nun mal ein launisches Volk.«
»Was?«, krächzte Julius. »Wer?«
»Du musst nicht darüber sprechen«, sagte Pete. »Ich verstehe schon.«
»Aber ich verstehe nicht.« Julius wurde langsam ungehalten. Was wollte dieser Pete von ihm? Hatte er noch alle Tassen im Schrank?
Tassen.
Schrank.
Tee!
Pete hielt ihm eine dampfende Teetasse unter die Nase. »Vielleicht besser so.«
Julius griff gierig zu. Es gab so gut wie nichts auf der Welt, was man mit heißem Tee nicht wieder hinbekam. Eigentlich wäre ihm Grüntee natürlich lieber gewesen, aber Pete hatte Schwarztee gebraut, ein pechschwarzes Teufelszeug.
Pete tätschelte Julius’ Kopf, genau wie er vorher Bullseye getätschelt hatte.
»Ich muss wieder auf meinen Posten, Junge. Trink was. Wärm dich ordentlich auf. Bleib, solang du willst. Und wenn er zu laut ist, gib ihm ruhig eins hinter die Ohren!«
Letzteres galt Bullseye, der sich zu Julius’ Füßen zusammengerollt hatte und einen lautstarken Hundetraum träumte.
Julius nickte abwesend, während Pete die Leiter wieder hinaufkletterte und durch die Klappe verschwand.
Ruhe. Wenigstens so eine Art Ruhe, unterbrochen von Pitbulljapsen.
Er starrte in seinen Tee.
Schwarz.
Beschützt von Wolldecken, Ohrensessel und dem schlafenden Pitbull wagte Julius vorsichtig den Blick zurück in die jüngste Vergangenheit.
Heute Morgen …
Heute Morgen hatte es keinen Tee gegeben, eigentlich untypisch, aber nach der schlaflosen Nacht und dem Ärger mit Finger-Fred war er einfach zu mitgenommen gewesen für Nahrung, fest oder flüssig. Er hatte aus dem Küchenfenster geblickt und überlegt, wie er Fred und seine Kumpane ein für alle Mal loswerden konnte. Dann hatte er Raureif auf dem Fenstersims entdeckt, und auf einmal hatte sich ein flaues Gefühl in seiner Magengrube breitgemacht.
Noch flauer als Angst.
Schuld.
Frost! Nachtfrost. Noch so spät im Frühjahr?
Wo zum Teufel war der Flohpalast?
Der Flohpalast war eigentlich nur eine kleine hölzerne Kiste, schön lackiert in Schwarz und Gold, mit bequemem Tragegriff und guter Belüftung. Er befand sich weder auf seinem angestammten Platz neben Julius’ Bett noch unter seinem Bett noch …
Julius stürzte zur Haustüre und riss sie auf. Dann setzte er sich geschockt auf die oberste Treppenstufe. Dort, direkt neben ihm, stand der Flohpalast, hatte die ganze Nacht dort gestanden, vergessen in der Panik, in der Kälte, ungeschützt. Es hätte nicht passieren dürfen, aber es war passiert.
Seine Flöhe brauchten nicht viel, ein bisschen Blut, ein bisschen Dunkelheit, ein Stück Filz als Wohnungseinrichtung. Sie hätten die alte Decke unter der Brücke zu schätzen gewusst.
Julius schluckte ein paar Tränen weg.
Denn eines brauchten Flöhe im Übermaß: Wärme. Jede Menge Wärme.
Er hätte eigentlich gar nicht nachsehen müssen, aber natürlich guckte er doch, durchsuchte jede Lumpenfalte nach Überlebenden. Marie Antoinette, Zarathustra, Oberon, Tesla, Lear, Faust, Freud, Cleopatra, Madam P., Lazarus der Albinofloh …
Im Tode sahen sie sich alle erstaunlich ähnlich.
Seine kleinen Künstler. Seine Artisten. Seine – Blutsbrüder?
Der größte, der schönste und beste, der einzige freie Flohzirkus der westlichen Welt war nicht mehr.
Julius nahm einen Schluck zu heißen Tee und beobachtete Bullseye, der zuckend über Traumwiesen rannte.
Er war nicht zurück ins Haus gegangen. Wozu? Sehr sacht hatte er den Flohpalast in der Diele abgestellt und sich seinen Zylinder aufgesetzt. Seinen Flohzirkusdirektorenzylinder. Eigentlich war der Hut für die Show gedacht, aber jetzt kam er Julius auf einmal als Trauerkluft angemessen vor. Er hatte die Haustüre hinter sich abgeschlossen und begonnen, durch die Straßen zu wandern. Richtung Atelier, dachte er zuerst, aber bald bemerkte er, dass er die Gegend um sich herum nicht kannte. Die Häuser schienen kleiner, die winzigen Vorgärten wilder, als er es sonst von London gewöhnt war. Verirrt. Verloren. Er wollte sich verlieren. Julius fühlte sich dunkel wie lange nicht mehr. Wie eine Kerze, deren Docht in Wachs ersoff, dimm und flackernd und rußig und doof. So ungeheuer doof.
Der Flohzirkus war eine ihrer beiden Familientraditionen – diejenige, die Julius mochte.
Flohzirkus und Einbrüche.
Brot und Spiele, hatte sein Großvater gesagt. Seit er sich erinnern konnte, hatte Julius den Flöhen bei ihren Flohrennen und anderen Flohgeschäften zugesehen und ab und zu sogar bei der Fütterung geholfen.
Dann, sieben Jahre alt, hatte er beschlossen, sich selbst als Zirkusdirektor zu versuchen.
Sein Großvater, der gerade in dunklem Overall von der Arbeit zurückkehrte, war nicht begeistert gewesen.
»Es ist nicht wirklich ein Zirkus«, hatte er gesagt. »Es ist nur ein Trick.«
Julius hatte den Großvater entgeistert angesehen. Er sah es doch, Flöhe, die tanzten oder auf dem Hochseil balancierten. Mit seinen eigenen zwei Augen. Wo sollte denn da der Trick sein?
»Ungeziefer!« Aber dann hatte der Großvater sich Julius doch auf sein Knie gesetzt, ihn an seinem Bier nippen lassen und ihm alles erklärt.
Die Flöhe mussten die Dinge tun, die sie taten. Sie wurden in Golddraht gebunden und bewegten Dinge, weil sie an ihnen festhingen – aber eigentlich wollten sie nur weg.
»So ist es im Leben«, sagte der Großvater und zuckte mit den Achseln.
»Warum?«, hatte Julius gefragt und damit ein bisschen das Leben und sehr den falschen Flohzirkus gemeint.
»Die Leute gucken eben gerne zu, wenn die Kleinen große Dinge tun«, meinte der Großvater. »Und sie glauben die Dinge, die sie glauben wollen.«
In vielen Flohzirkussen gab es überhaupt keine richtigen Flöhe mehr, nur Spielzeug, das sich mit Hilfe von Magneten und Mechanismen bewegte. Das Publikum bildete sich die Flöhe dazu ganz einfach ein. Verglichen damit war ihr Zirkus ein hochanständiger, grundsolider Betrieb.
»Man kann Flöhen nichts beibringen«, hatte der Großvater gesagt, »man kann sie nur benutzen.«
Zu diesem Zeitpunkt trainierte Julius heimlich schon eine hochmotivierte Truppe von fünf Flöhen, die papierene Wägelchen zogen, auf dem Rande eines Fingerhutes tanzten und durch Zwiebelringe sprangen, einfach so, ganz ohne Golddraht, nur weil Julius sie darum bat.
Ein bisschen benommen von der nackten Wahrheit und dem dunklen Bier des Großvaters hatte Julius damals beschlossen, dies alles für sich zu behalten.
Und bis heute wusste niemand, dass sein Flohzirkus anders war. Echt. Kein Ausbeuterladen. Freie, glückliche Flöhe. Es war Julius’ bestgehütetes Geheimnis. Viele Flohgenerationen waren seither ins Land gegangen, und Julius hatte mit seiner Truppe Kindergärten, Schulen, Pubs, Dinnerpartys und einmal einen Junggesellenabend besucht, sie waren im Fernsehen aufgetreten, auf Festivals und sogar vor einem Mitglied des Königshauses, bewundert, bestaunt und bejubelt. Der beste Flohzirkus weit und breit.
Nur Julius selbst wusste, wie gut sie wirklich waren.
Und jetzt? Wo in aller Welt sollte er im antibakteriellen, frischgeduschten London der Neuzeit Menschenflöhe herbekommen?
Bullseye war verstummt. Julius starrte verzweifelt hinunter in seinen beharrlich dampfenden Schwarztee.
Nebel.
Nebel über einem dunklen Fluss.
Julius brauchte den Flohzirkus. Der Zirkus war das Beste an ihm, das Echteste, vor aller Augen und doch vor allen verborgen.
Er war auf der Brücke angekommen.
Drunten tanzten Wirbel und Wellen, Licht floss, spielte und brach, hypnotisch und überraschend attraktiv. Julius, erschöpft von seinem ziellosen Spaziergang und der Aussicht auf eine flohlose Zukunft, war einfach über das Brückengeländer geklettert, hatte sich weit vorgelehnt und vom Wasser locken, necken und verführen lassen. Natürlich war es nur ein Spiel, ein dunkles Spiel. Natürlich war er nicht lebensmüde! Natürlich würde er nicht wegen ein paar Flöhen springen, schon gar nicht in diese Brühe. Was für ein Klischee! Wieso sprangen Leute überhaupt von Brücken? Weil es unten nicht so hart war? Und was war das für eine Einstellung, wenn man sowieso mit dem Leben abgeschlossen hatte?
Der Wind zupfte ihm den Zylinder vom Kopf, Wasser trug ihn davon, kleiner und kleiner. Julius blickte dem Hut melancholisch nach.
»Hey, tu’s nicht!«, hatte auf einmal eine Stimme hinter ihm gerufen, und Julius war vor Schreck ausgerutscht und ins Wasser gefallen.
Noch im Fall war ihm die Sache peinlich gewesen. Ein Unfall, ein dämlicher Unfall, aber so schlimm nun auch wieder nicht. Schließlich konnte er schwimmen …
Das Wasser war so kalt, dass Julius dann erst einmal gar nichts konnte, nicht einmal paddeln. Er sank mit offenen Augen, umschwirrt von Luftblasen, liebkost von schlängelnden grünen Wasserpflanzen. Eine Plastiktüte schwebte vorbei, seltsam schön.
Als er dann endlich mit dem Schwimmen anfing, war es gar nicht mehr so einfach zu sagen, wo oben war und wo unten. Sein Mantel zerrte an ihm, seine Lunge brannte, etwas hatte sich um seinen Hals gewickelt, und die ganze Zeit über versuchte er verzweifelt, irgendjemandem zu erklären, dass dies alles nur ein Missverständnis war, dass er gar nicht sterben wollte.
Doch niemand hörte ihm zu, und Julius war dabei zu ertrinken, Missverständnis oder nicht.
Aber dann … Wasserpflanzenhaar, ein plätscherndes Lachen, ein fließender Kuss. Er hatte sich Nixen immer blau vorgestellt, karibikblau und glitzernd, aber sie war dunkel wie ein Fluss im Winter, moorig, moosig und tief, unendlich glatt und schön. Dunkel die Haut, dunkler die Augen und obsidianschwarz ihr Lächeln.
Es war auf eine seltsame Art schlimmer gewesen, als wirklich zu ertrinken, ein Ertrinken an Küssen, jeder tiefer und trauriger als der vorherige, und jeder mit einem bitteren kleinen Luftbläschen Hoffnung, das ihn schwindelig werden ließ vor Sehnsucht nach dem Leben.
Und zwischen Küssen und schlängelnden Umarmungen und perlendem Lachen hatte die Flussjungfrau ihm einen Handel vorgeschlagen.
Und Julius Birdwell, halbtot und halbverliebt, hatte zugestimmt.
Doch was für einen Handel? Daran erinnerte er sich nun kein bisschen mehr.