Inhaltsverzeichnis

Das Buch
Die Autorin
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Copyright

Die Autorin

Durch einen Blizzard entdeckte Nora Roberts ihre Leidenschaft fürs Schreiben: Tagelang fesselte 1979 ein eisiger Schneesturm sie in ihrer Heimat Maryland ans Haus. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman. Zum Glück – denn inzwischen zählt Nora Roberts zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren ebenso erfolgreich Kriminalromane. Auch in Deutschland sind ihre Bücher von den Bestsellerlisten nicht mehr wegzudenken. Für ihre mehr als 85 internationalen Bestseller erhielt Nora Roberts nicht nur zahlreiche Auszeichnungen, sondern auch die Ehre, als erste Frau in die Ruhmeshalle der Romance Writers of America aufgenommen zu werden.

Epilog

Das prasselnde Kaminfeuer verbreitete eine gemütliche Wärme im Wohnzimmer. Draußen lagen schon zwei Meter Schnee und es schneite immer weiter. Kasey legte ein letztes Geschenk unter den Christbaum und trat dann einen Schritt zurück, um ihn zu bewundern. Bunte Popcornketten ringelten sich kreuz und quer um die dichte Tanne. Sie grinste, als sie an das Chaos dachte, das sie am Abend zuvor beim Auffädeln der Ketten in der Küche veranstaltet hatten. Das Chaos schien zu ihrem Leben zu gehören wie die Luft zum Atmen.

Sie beugte sich vor und wog ein Päckchen mit ihrem Namen in der Hand.

»Ha, jetzt hab ich dich beim Mogeln ertappt«, hörte sie Jordans Stimme hinter sich und richtete sich schnell auf.

»Keineswegs.« Sie wartete, bis er den Raum durchquert und seine Arme um sie geschlungen hatte. »Ich habe nur getastet. Tasten ist nicht mogeln. Tasten ist erlaubt.«

»Ist das Ihre wissenschaftliche Analyse des Weihnachtsfestes, Dr. Taylor?« Er vergrub das Gesicht in ihrem Nacken.

»Ganz recht. Wie geht es mit deinem Buch voran?«

»Bestens. Meine Hauptdarstellerin macht sich wunderbar.« Er schob Kasey von sich weg, um sie anzusehen. Sie strahlte. »Ich liebe dich, Kasey.« Er küsste sie zärtlich. »Und ich bin stolz auf dich.«

»Warum?« Sie verschränkte die Hände hinter seinem Nacken und lächelte ihn an. »Du weißt, ich liebe präzise Komplimente.«

»Weil du deinen Doktor gemacht hast, eine Familie bemutterst und uns ein gemütliches Heim bereitest.«

»Das habe ich natürlich alles ganz allein zu Wege gebracht«, lachte sie und nahm sein Gesicht in beide Hände. »Jordan, du bist schrecklich lieb. Ich bin verrückt nach dir.« Sie zog ihn an sich, bis sich ihre Lippen trafen.

Sekunden später waren sie in einen heißen Kuss versunken. Zärtliche Gefühle und wilde Leidenschaft verschmolzen miteinander.

»Es schneit«, murmelte Jordan.

»Ja, das habe ich gesehen.« Kasey seufzte leise, als seine Lippen über ihren Hals strichen.

»Wir haben jede Menge Holz.«

»Das du so professionell gehackt hast wie ein Holzfäller. Ich bin beeindruckt.« Sie legte den Kopf so weit zurück, dass ihr Mund den seinen fand.

»Und Wein im Keller.« Begierde stieg in ihm auf. Ihr Verlangen nacheinander schien nie nachzulassen. Er schob die Hände unter ihr Hemd und streichelte ihren nackten Rücken. »Erinnerst du dich noch daran, was wir uns vor zwei Jahren an Weihnachten ausgemalt haben?«

»Mmm.« Kasey schmiegte sich enger an ihn. »Eingeschneit zu sein«, flüsterte sie. »Wir beide, mit einem Vorrat an Holz und Wein.«

Der Cockerspaniel kam kläffend ins Zimmer gestürmt, gefolgt von zwei wild mit den Armen rudernden Kleinkindern.

Renn um dein Leben, dachte Kasey und bettete lächelnd den Kopf an Jordans Schulter.

»Bryan, Paul, ihr zwei kommt sofort zu mir!«, rief Alison, die den beiden dicht auf den Fersen war. »Ihr wisst genau, dass ihr Maxwell nicht ärgern dürft.« Sie schüttelte seufzend den Kopf, als die beiden mit Maxwell in der Mitte auf dem Boden umherkugelten.

Jordan beobachtete, wie seine Söhne unter fröhlichem Geschrei den armen Hund liebkosten, und legte Kasey den Arm um die Schulter. »Sie sind zum Fressen«, murmelte er an ihr Ohr. »Ich staune immer wieder, was das für gelungene Prachtburschen sind.«

»Und so wohlerzogen«, fügte Kasey kichernd hinzu, als Bryan seinen Bruder zur Seite schubste, um sich auf den Hund zu stürzen. Alison griff noch rechtzeitig ein, um das arme Tier aus den Fängen der Kleinen zu befreien.

Jordan lachte und drehte Kaseys Gesicht zu sich herum. »Was ist nun mit unserer Fantasie …«

»Wir treffen uns um Mitternacht«, flüsterte sie. »Genau hier.«

»Du bringst den Wein mit, und ich das Holz.«

»Abgemacht.« Die Kinder wurden immer ausgelassener, und Kasey wusste, dass eine Unterhaltung bald unmöglich sein würde. Außerdem hatte sie Lust, sich mit ihnen herumzubalgen. »Eins noch«, sagte sie und schenkte ihm ihr unschuldigstes Lächeln.

Jordan sah sie verdutzt an. »Wir werden bald noch ein Kind haben«, flüsterte sie, den Mund dicht an dem seinen. »Oder zwei«, fügte sie noch schnell hinzu, ehe er ihr die Lippen mit einem leidenschaftlichen Kuss verschloss.

1

Die Dämmerung war hereingebrochen, jenes seltsame, beinahe mystische Zwischenspiel des Tages, wenn es für kurze Zeit hell und dunkel zugleich ist. In wenigen Augenblicken würde die untergehende Sonne den noch azurblauen Himmel in eine glühende Feuersbrunst verwandeln. Dann würden die Schatten länger werden, und die Vögel allmählich verstummen.

Kasey stand am Fuße der breiten Steintreppe, die zum Taylor Mansion emporführte. Beeindruckt ließ sie ihren Blick an den massiven weißen Säulen, den rostroten Backsteinen und den glitzernden Fensterfronten entlangwandern. Es gab drei Stockwerke. Da und dort drang gedämpftes Licht durch geschlossene Vorhänge nach draußen. Das Gebäude strahlte wohlhabende Würde aus. Altes Geld und den damit verbundenen Stolz.

Beängstigend, dachte sie, während sie den Blick noch einmal über die altehrwürdige Fassade schweifen ließ.

Kasey ließ den Messingtürklopfer gegen das schwere Eichenportal fallen. Das Echo des dumpfen Schlags hallte gespenstisch durch die Dämmerung. Tapfer gegen die beklemmende Stimmung anlächelnd, drehte Kasey sich um und blickte in den Himmel hinauf, um noch einmal das Farbenspiel zu bewundern. Hinter ihr wurde ein Türflügel geöffnet. Kasey fuhr herum und sah sich einer kleinen, dunkelhäutigen jungen Frau in schwarzer Dienstbotenuniform mit blütenweißer, gestärkter Schürze gegenüber.

Wie im Film, schoss es ihr durch den Kopf, und sie musste erneut lächeln. Die Geschichte ließ sich recht abenteuerlich an.

»Hallo.«

»Guten Abend, Ma’am«, grüßte das Mädchen höflich, blieb aber wie ein Palastwächter in der Tür stehen.

»Guten Abend«, grüßte Kasey leicht amüsiert zurück. »Ich glaube, Mr. Taylor erwartet mich.«

»Miss Wyatt?« Das Mädchen musterte sie misstrauisch und machte keine Anstalten, den Weg freizugeben. »So viel ich weiß, rechnet Mr. Taylor erst morgen mit Ihrer Ankunft.«

»Ja, das ist richtig, aber nun bin ich schon früher gekommen.« Immer noch lächelnd, trat sie an dem Dienstmädchen vorbei in die Halle. »Vielleicht wären Sie so freundlich, Mr. Taylor Bescheid zu geben«, schlug sie vor. Ein dreiarmiger Kerzenleuchter warf tanzende Lichtkreise auf den kostbaren Perserteppich.

Mit einem besorgten Blick in Kaseys Richtung schloss das Mädchen die Tür. »Wenn Sie bitte hier warten wollen«, sagte es und deutete auf einen zierlichen Louis-Seize-Sessel. »Ich werde Mr. Taylor Ihre Ankunft melden.«

»Danke, sehr freundlich«, erwiderte Kasey abwesend. Sie hatte an der gegenüberliegenden Wand ein Selbstporträt von Rembrandt entdeckt. Die Hausangestellte huschte lautlos davon. Kasey studierte das Bild und wandte sich dann dem nächsten Gemälde zu. Ein Renoir. Das Haus ist ein wahres Museum, dachte sie und schlenderte durch die Halle wie durch eine Galerie. Ihrer Ansicht nach sollten solche Kunstschätze der Öffentlichkeit zugänglich sein, damit möglichst viele Menschen sie ansehen und sich an ihnen erfreuen konnten. Ob in diesen Gemäuern überhaupt jemand wohnt?, fragte sie sich unwillkürlich und strich mit dem Zeigefinger ehrfürchtig über einen der dicken Goldrahmen.

Vom Klang gedämpfter Stimmen aus ihren Betrachtungen gerissen, drehte sie sich um und lauschte unvermittelt den gemurmelten Worten. »Sie ist eine der führenden Experten auf dem Gebiet der Indianischen Kultur, Jordan. Ihre jüngste Veröffentlichung fand in der Fachwelt großes Interesse. Dabei ist sie mit ihren fünfundzwanzig Jahren noch ein Baby in der sozusagen altehrwürdigen Riege der Anthropologen.«

»Das ist mir bewusst, Harry, sonst hätte ich deinen Vorschlag, sie als Beraterin für mein Buch hinzuzuziehen, wohl kaum angenommen.« Jordan Taylor nippte an seinem Aperitif, den er sich stets vor dem Dinner genehmigte. Er trank ihn langsam und mit Genuss. Der Martini war trocken und mit dem kleinen Schuss Wermut genau nach seinem Geschmack gemixt. »Dennoch frage ich mich ernsthaft, wie sich die nächsten Monate gestalten werden. Gelehrte Damen dieser Fachgebiete machen mir immer ein wenig Angst und ich zähle sie eigentlich nicht zu meiner bevorzugten Gesellschaft.«

»Du suchst ja auch keine Gesellschafterin, Jordan«, parierte sein Gesprächspartner trocken und angelte eine Olive aus seinem Martiniglas. »Was du suchst, ist ein Experte für Indianische Kultur. Und genau den beziehungsweise die Expertin hast du gefunden«, setzte er hinzu und schluckte die Olive hinunter. »Außerdem kann ein kluges Gegenüber durchaus für Unterhaltung sorgen.«

Jordan Taylor stellte sein Glas ab. Eine gewisse Unruhe hatte ihn erfasst, die er sich nicht erklären konnte. »Ich glaube kaum, dass ich deine Miss Wyatt als unterhaltend empfinden werde.« Er versenkte die Hände in den Taschen seiner maßgeschneiderten Flanellhose und beobachtete, wie sein Freund sein Glas mit einem Schluck leerte. »Weißt du, ich sehe die gelehrte Dame schon bildlich vor mir: aschblondes Haar, streng aus dem hageren Gesicht gekämmt, auf der langen, spitzen Nase eine altmodische Hornbrille mit dicken Eulengläsern. Das Ganze in einem formlosen grauen Kostüm verpackt, um die fehlenden Kurven zu kaschieren, dazu solide Halbschuhe aus dem Fachgeschäft für orthopädische Schuhe, Größe zweiundvierzig.«

»Achtunddreißig.«

Die beiden Männer fuhren in einer synchronen Bewegung herum und erstarrten.

»Hallo, Mr. Taylor«, sagte Kasey fröhlich. Sie ging auf die beiden zu und streckte Jordan eine Hand entgegen. »Und Sie müssen Dr. Rhodes sein. Wir haben in den vergangenen Wochen eifrig miteinander korrespondiert, nicht wahr? Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«

»Ja, nun – ich …« Harry warf ihr einen verlegenen Blick zu.

»Ich bin Kathleen Wyatt.« Sie schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln, ehe sie sich wieder Jordan zuwandte. »Wie Sie sehen, trage ich mein Haar nicht streng zurückgekämmt. Es würde sich auch jedem Versuch widersetzen, es in dieser Art zu bändigen«, fügte sie hinzu und zupfte an einer der Korkenzieherlocken, die ihr frech in die Stirn fielen.

»Zu meiner Haarfarbe möchte ich bemerken, dass diese in Friseurfachkreisen als Goldblond bezeichnet wird.« Ihre Stimme klang ganz sanft. »Und hager würde ich mein Gesicht auch nicht nennen, obwohl ich recht ausgeprägte Wangenknochen besitze, die ich persönlich sehr hübsch finde. Hätte vielleicht einer der Herren Feuer für mich?«

Kasey kramte in ihrer Handtasche nach den Zigaretten und warf Harry Rhodes dabei einen erwartungsvollen Blick zu. Er zog hastig ein Feuerzeug aus seiner Sakkotasche. »Vielen Dank. Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja«, setzte Kasey ihren Monolog fort, noch ehe einer der beiden Männer den Mund aufmachen konnte. »Zum Thema Brille möchte ich bemerken, dass ich tatsächlich mitunter eine trage, allerdings nur zum Lesen und vorausgesetzt, ich finde sie. Aber ich glaube nicht, dass Sie das gemeint hatten. Hm, was könnte ich Ihnen denn sonst noch von mir erzählen … Darf ich mich setzen? Meine Schuhe bringen mich um.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ sie sich auf einem Brokatsessel nieder und schnippte die Asche ihrer Zigarette in einen kristallenen Aschenbecher. »Meine Schuhgröße ist Ihnen ja bereits bekannt.« Damit lehnte sie sich zurück und fixierte Jordan Taylor aus tiefgrünen Augen.

»Tja, Miss Wyatt«, bemerkte dieser nach einer Weile gedehnt, »ich weiß nicht, ob ich mich entschuldigen oder applaudieren soll.«

»Ach, ich würde mich auch mit einem Drink begnügen. Haben Sie zufällig einen Tequila?« Kopfschüttelnd trat Jordan an den Bartisch. »Da muss ich Sie leider enttäuschen, fürchte ich. Würden Sie auch mit einem Wermut vorlieb nehmen?«

»Aber gewiss. Vielen Dank.«

Kasey sah sich ein wenig um. Sie befanden sich in einem großen, viereckig geschnittenen Raum mit dunkler Holzvertäfelung. Eine Wand wurde von einem reich verzierten Marmorkamin beherrscht. Darüber hing ein großer Mahagonispiegel. Die Perserteppiche waren alt, die Vorhänge schwer.

Zu ungemütlich, beurteilte Kasey spontan die steife Eleganz. Wäre sie hier die Hausherrin, hätte sie darauf bestanden, dass die Vorhänge tagsüber aufgezogen waren, oder besser noch, sie hätte sie ganz entfernt und durch duftige Stores ersetzt. Unter den dicken Teppichen vermutete sie ein blank gebohnertes Hartholzparkett.

»Miss Wyatt.« Jordan lenkte Kaseys Aufmerksamkeit wieder auf sich, indem er ihr den Drink reichte. Ihre Blicke, in denen sich unverhohlene Neugier spiegelte, trafen sich, wurden jedoch gleich darauf von einer Bewegung an der Tür abgelenkt.

»Jordan, Millicent sagte mir gerade, dass Miss Wyatt eingetroffen ist, aber anscheinend ist sie hier irgendwo verloren … oh!« Die Frau, die in den Salon geschwebt war, blieb wie angewurzelt stehen, als sie Kasey erblickte. »Sie sind Kathleen Wyatt?« Mit demselben Misstrauen, das auch das Dienstmädchen hatte erkennen lassen, beäugte sie die Frau in der grauen Flanellhose und der schillernd blauen Seidenbluse.

Kasey nahm einen Schluck Wermut und lächelte freundlich. »Ja, das bin ich«, erwiderte sie und unterzog nun ihrerseits die gepflegte Dame einer eingehenden Musterung. Jordan Taylors Mutter, Beatrice Taylor, war sorgfältig geschminkt, tadellos frisiert und sehr geschmackvoll gekleidet. Die Erscheinung dieser Frau ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich ihrer Person und ihrer Stellung sehr bewusst war, dachte Kasey.

»Sie müssen unsere Verwirrung entschuldigen, Miss Wyatt. Wir haben Sie erst morgen erwartet.«

»Nun, meine Angelegenheiten haben sich rascher erledigt, als ich dachte«, erklärte Kasey und nippte abermals an ihrem Drink. »Deshalb habe ich einen früheren Flug genommen.« Sie lächelte. »Ich sah keinen Grund dafür, unnötig Zeit zu verschwenden.«

»Natürlich.« Beatrice’ Stirn legte sich für einen Moment in Falten. »Ihr Zimmer ist bereits gerichtet«, sagte sie dann und blickte zu ihrem Sohn. »Ich habe Miss Wyatt im Regency-Zimmer untergebracht.«

»Neben Alison?« Jordan, der sich gerade einen Zigarillo ansteckte, hielt kurz in der Bewegung inne und sah seine Mutter stirnrunzelnd an.

»Ja, ich dachte, Miss Wyatt würde ihre Gesellschaft vielleicht als angenehm empfinden. Alison ist meine Enkeltochter«, erklärte sie mit Blick auf Kasey. »Sie lebt bei uns, seit mein Sohn und seine Frau vor drei Jahren tödlich verunglückten. Die arme Kleine war damals erst acht.« Ihr Blick wanderte zu Jordan zurück. »Entschuldigt mich jetzt bitte. Ich möchte mich um Miss Wyatts Gepäck kümmern.«

Nachdem seine Mutter den Salon verlassen hatte, nahm Jordan die Unterhaltung mit Kasey wieder auf. »Vielleicht sollten wir vorab kurz das Geschäftliche besprechen.«

»Selbstverständlich«, stimmte Kasey zu. Sie trank ihr Glas aus und stellte es auf dem Tischchen neben sich ab. »Bevorzugen Sie eine starre Arbeitsregelung – festgesetzte Stunden, meine ich – von neun bis zwei, und von acht bis zehn, oder wollen Sie das Ganze lieber gleitend?«

»Gleitend?«, wiederholte Jordan und warf Harry einen fragenden Blick zu.

»Sie wissen schon: gleiten.« Kasey machte eine entsprechende Bewegung mit der Hand.

»Ah, jetzt verstehe ich«, nickte Jordan amüsiert. Diese Miss Wyatt entsprach eindeutig nicht dem Bild der verknöcherten, ehrgeizigen Wissenschaftlerin, das er sich von solchen Frauen bislang gemacht hatte. »Ich würde sagen, wir versuchen es mit dem goldenen Mittelweg.«

»Einverstanden. Ich möchte mir morgen gern Ihre Manuskripte ansehen, um mir einen allgemeinen Überblick zu verschaffen. Und Sie sagen mir dann, worauf Sie sich als Erstes konzentrieren möchten.«

Kasey musterte Jordan für einen Augenblick, während Harry sich einen zweiten Martini mixte. Sehr attraktiv, stellte sie fest, das Musterbeispiel eines Wall-Street-Gentleman. Kräftiges Haar mit ein paar hellen Strähnen, die vermuten ließen, dass er dieses Museum von Zeit zu Zeit doch einmal verließ. Obgleich sie bezweifelte, dass er ein begeisterter Sonnenanbeter und Strandmensch war. Sie hatte ein Faible für Männer mit blauen Augen, und die seinen waren dunkel wie Tinte – und ausgesprochen klug. Ein schmales Gesicht. Markante Züge. Man könnte fast annehmen, er habe Cheyenne-Blut in sich, überlegte sie, während sie die Form seines Schädels betrachtete. Seine kultivierte Kleidung und das weltmännische Auftreten standen in einem gewissen Widerspruch zu seinen sinnlich geschwungenen Lippen, was ihr auf Anhieb gefiel. Sein Schneider war offensichtlich teuer und konservativ. Leider, dachte Kasey.

Aber hinter seiner aristokratischen Fassade verbarg sich bestimmt mehr, als man sehen konnte. Aus der Lektüre seiner Bücher wusste sie zum Beispiel, dass er ein hochintelligenter Kopf war. Der einzige Makel seiner Arbeiten bestand in einer gewissen Kaltschnäuzigkeit.

»Ich bin sicher, dass wir sehr gut zusammenarbeiten werden, Mr. Taylor«, sagte sie lächelnd. »Ich kann es kaum erwarten, anzufangen. Sie sind ein ausgezeichneter Schriftsteller.«

»Vielen Dank.«

Jordan erwiderte ihr Lächeln automatisch, während er sich gleichzeitig fragte, was in den nächsten Tagen wohl auf ihn zukommen würde.

»Ich freue mich sehr über die Gelegenheit, Ihnen bei Ihren Recherchen behilflich sein zu können«, fuhr Kasey fort. »Und ich nehme an, ich sollte vor allem Ihnen danken, Mr. Rhodes, dass Sie mich für diese Tätigkeit vorgeschlagen haben.« Ihr Blick fixierte Harry.

»Nun, Sie, äh … Ihre Referenzen waren ausgezeichnet.« Harry geriet unwillkürlich ins Stottern bei dem Versuch, jene Kathleen Wyatt, deren Unterlagen er studiert hatte, mit diesem lockenköpfigen, schlanken Wirbelwind in Verbindung zu bringen, der ihn jetzt so freimütig anlächelte. »Sie haben Ihr Examen an der Maryland Universität mit magna cum laude abgeschlossen, nicht wahr?«

»Das ist richtig. Ich habe an der Maryland Anthropologie im Hauptfach studiert und an der Columbia meinen Magister gemacht. Anschließend hatte ich das Glück, Dr. Spalding auf seiner Amazonas-Expedition begleiten zu dürfen. Ich nehme an, dass Sie deshalb auf mich aufmerksam wurden.«

»Verzeihung, Sir.« Das dunkelhäutige Dienstmädchen erschien in der Tür. »Miss Wyatts Gepäck wurde bereits in ihr Zimmer gebracht. Mrs. Taylor nimmt an, dass sie sich vor dem Dinner noch etwas frisch machen möchte.«

»Ich lasse das Abendessen ausfallen, danke«, sagte Kasey zu der jungen Frau und drehte sich dann wieder zu Dr. Rhodes um. »Aber trotzdem werde ich jetzt in mein Zimmer gehen, wenn Sie gestatten. Diese langen Flüge machen mich immer fix und fertig. Gute Nacht, Dr. Rhodes. Ich nehme an, wir werden uns in den kommenden Monaten noch öfter begegnen. Bis morgen Früh, Mr. Taylor.«

Kasey rauschte genauso selbstbewusst aus dem Salon, wie sie hereingekommen war, und ließ die beiden Männer staunend zurück.

»Tja, Harry …« Jordan hatte das unbestimmte Gefühl, dass in diesem Salon niemals wieder die alte Geruhsamkeit herrschen würde. »Was hast du vorhin so treffend in Bezug auf Unterhaltung gemeint?«

Nachdem Kasey dem Mädchen die Treppe hinauf in die erste Etage gefolgt war, blieb sie in der Tür zu ihrem Zimmer stehen und ließ den Blick über dieses Farbenmeer aus Rosa und Gold schweifen. Rosafarbene Vorhänge vor gebrochen weißen Wänden, rosafarbene und goldene Polster auf kunstvoll geschnitzten Regency-Sesseln, eine goldgerahmte Frisiertoilette neben einer dick gepolsterten Liege in einem etwas dunkleren Rosaton und dazu ein riesiges Himmelbett mit rosafarbenen Vorhängen und einer ebensolchen Satindecke.

»Allmächtiger!«, entfuhr es ihr, als sie über die Schwelle trat.

»Verzeihung, Miss, was meinen Sie?«

Kasey drehte sich um und lächelte die Hausangestellte an. »Oh, nichts! Das ist ja wirklich ein tolles Zimmer!«

»Das Badezimmer befindet sich dort drüben, Miss Wyatt. Soll ich Ihnen ein Bad einlassen?«

»Mir ein Bad – nein.« Kasey konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Nein, danke – Millicent, richtig?«

»Ja, Miss. Wenn Sie einen Wunsch haben, drücken Sie einfach die Neun auf dem Haustelefon.« Lautlos verließ Millicent das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.

Kasey warf ihre Handtasche aufs Bett.

Für ihren Geschmack war das Zimmer viel zu gestylt und viel zu rosa. Aber sie beschloss, die Tatsache zu ignorieren und so wenig Zeit wie möglich in diesen vier Wänden zu verbringen. Im Moment war sie zudem so müde von den Flügen und den Taxifahrten, dass es ihr völlig gleichgültig war, wohin sie ihr Haupt bettete. Zielstrebig machte sie sich auf die Suche nach ihrem Nachthemd, das Millicent wahrscheinlich in irgendeiner Schublade verstaut hatte.

Als es an der Tür klopfte, rief sie: »Herein!«, und kramte weiterhin in den Stapeln ihrer ordentlich zusammengefalteten Wäsche. Dann blickte sie in den Spiegel. »Oh – hallo! Du musst Alison sein.«

Sie sah ein hoch aufgeschossenes, dünnes Mädchen in einem einfach geschnittenen, aber teuren Kleid. Sein langes blondes Haar war ordentlich gebürstet und wurde von einem Haarband streng aus der Stirn gehalten. Es hatte große dunkle Augen, die recht unbewegt dreinblickten. Kasey spürte einen Anflug von Mitleid in sich aufsteigen.

»Guten Abend, Miss Wyatt«, brach Alison das Schweigen, blieb aber abwartend an der Tür stehen. »Ich dachte, ich sollte mich Ihnen vorstellen, da wir für die nächsten Monate das Badezimmer teilen.«

»Sehr nett.« Kasey drehte sich zu Alison um und sah das Mädchen direkt an. »Obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass wir uns früher oder später ohnehin im Bad über den Weg gelaufen wären.«

»Wenn Sie bestimmte Zeiten haben, Miss Wyatt, richte ich mich selbstverständlich gern nach Ihnen.«

Kasey trat ans Bett, um ihr Nachthemd abzulegen. »Ach, ich bin da ganz unproblematisch. Ich habe mir schon öfter mit jemandem ein Badezimmer geteilt.« Kasey setzte sich vorsichtig auf die Bettkante und warf einen zweifelnden Blick auf den Baldachin. »Ich werde versuchen, dir morgens nicht in die Quere zu kommen. Du gehst sicher zur Schule, nehme ich an.«

»Ja, seit diesem Jahr. Letztes Jahr hatte ich einen Hauslehrer. Ich bin sehr nervös.«

»Tatsächlich?« Kasey hob die Brauen und kämpfte gegen ein Grinsen an. »Ich bin die Ruhe selbst.«

Jetzt runzelte Alison die Stirn. Unsicher, ob sie eintreten oder sich zurückziehen sollte, blieb sie in der Tür stehen.

Kasey bemerkte ihr Zögern. Dieses Mädchen war ausgesprochen gut erzogen und hatte die Hände sittsam auf Höhe der Hüften gefaltet. Ihr fiel ein, dass Alison erst elf Jahre alt war. »Sag mal, Alison, was tust du denn hier eigentlich, wenn du dich amüsieren willst?«

»Amüsieren?« Fasziniert trat Alison näher.

»Ja genau, amüsieren. Du sitzt doch nicht von morgens bis abends in der Schule, oder?« Kasey strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. »Und ich werde mit Sicherheit auch nicht rund um die Uhr arbeiten.«

»Es gibt hier einen Tennisplatz.« Alison zögerte. »Und den Swimmingpool natürlich.«

Kasey nickte. »Ich schwimme für mein Leben gern«, sagte sie, und ehe Alison etwas einwerfen konnte, fuhr sie fort: »Und Tennisspielen kann ich auch ganz gut. Und du?«

»Ich auch, ich …«

»Fabelhaft. Dann kannst du mir ja vielleicht ein paar Trainingsstunden geben.« Kaseys Augen wanderten durch den Raum. »Sag mal, ist dein Zimmer auch ganz rosa?«

Alison starrte sie für einen Moment stumm an. Offenbar musste sie den plötzlichen Themenwechsel verdauen. »Nein, es ist blau und grün.«

»Hmmm, auch nicht schlecht.« Kasey warf einen Blick auf die Vorhänge und schnitt eine Grimasse. »Ich habe mein Zimmer purpurfarben gestrichen, als ich fünfzehn war, und danach zwei Monate lang Albträume gehabt.« Sie registrierte Alisons unbewegte Miene. »Ist was?«

»Sie sehen gar nicht aus wie eine Anthropologin«, platzte Alison heraus und hielt sich gleich darauf erschrocken über ihre Unhöflichkeit die Hand vor den Mund.

»Nein?« Kasey dachte an Jordan und runzelte unwillkürlich die Stirn. »Warum denn nicht?«

»Sie sind so hübsch«, murmelte Alison und wurde knallrot.

»Findest du?« Kasey stand auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie kniff die Augen zusammen. »Manchmal finde ich das auch, aber meistens denke ich, dass meine Nase zu klein geraten ist.«

Alison fixierte Kaseys Spiegelbild. Als sich ihre Blicke begegneten, lächelte Kasey das scheue Mädchen warm an. Und Alison erwiderte das Lächeln genauso unbewusst wie ihr Onkel.

»Ich muss jetzt zum Dinner nach unten.« Alison verließ rückwärts das Zimmer. »Gute Nacht, Miss Wyatt.«

»Gute Nacht, Alison.«

Als die Tür leise ins Schloss fiel, drehte Kasey sich seufzend um. Eine interessante Familie, befand sie. Ihre Gedanken kehrten zu Jordan zurück. Sehr interessant.

Sie ging hinüber zum Bett, hob ihr Nachthemd auf und zog den seidigen Stoff abwesend durch die linke Hand. Und wo, fragte sie sich, ist Kathleen Wyatts Platz in dieser Gruppe? Sie stieß einen Seufzer aus und ließ sich auf der Chaiselongue nieder. Die Unterhaltung zwischen Jordan und Dr. Rhodes, die sie belauscht hatte, fand sie im Nachhinein eher amüsant als beleidigend. Und dennoch … Kasey ließ Jordans Beschreibung ihrer Person noch einmal im Geiste Revue passieren.

Das typische Bild, das sich ein Laie von einer Wissenschaftlerin macht. Kasey war sich sehr wohl bewusst, dass sie Harry Rhodes reichlich verblüfft hatte. Sie lächelte leise. Irgendwie mochte sie ihn. Er wirkte sehr seriös und steif – und gleichzeitig unheimlich süß. Bei Beatrice Taylor lag der Fall ganz anders. Kasey lehnte sich zurück und versuchte sich zu entspannen. Zwischen ihr und der älteren Dame gab es keine gemeinsame Ebene, doch mit etwas Glück würde es zu keinen Feindseligkeiten kommen. Und das Mädchen …

Kasey schloss die Augen und knöpfte langsam ihre Bluse auf. Alison. Ziemlich reif für ihr Alter – vielleicht zu reif. Kasey wusste, was es bedeutete, als kleines Kind seine Eltern zu verlieren. Sie kannte die Verwirrung, das Gefühl verraten worden zu sein, und das Schuldbewusstsein. Damit musste ein so junger Mensch erst einmal fertig werden. Wer vertrat jetzt wohl die Mutterstelle bei Alison?, fragte sie sich. Beatrice? Kasey schüttelte den Kopf. Nein, irgendwie konnte sie sich nicht vorstellen, dass diese elegante Dame eine Elfjährige bemutterte. Wieder regte sich ihr Mitleid.

Und dann war da noch Jordan. Mit einem weiteren Seufzer stand Kasey auf, um die Bluse auszuziehen und die Schuhe abzustreifen. Jordan war kein Mann, mit dem man leicht warm wurde. Und Kasey war sich keineswegs sicher, ob sie das überhaupt wollte.

Sie zog ihre Hose aus und ging ins Bad. Sie wollte ihre Ausbildung und ihre Erfahrung in sein Buch einbringen. Sie wollte, dass die Informationen, die sie ihm gab, auf die bestmögliche Weise genutzt wurden. Doch im Moment wollte sie nichts lieber, als in Ruhe ein Bad nehmen. Kasey drehte den Heißwasserhahn auf. Die Stunden im Flugzeug, denen eine Woche anstrengender Vorlesungen in New York vorausgegangen waren, hatten sie an den Rand der Erschöpfung gebracht. Die Gedanken an Jordan Taylor mussten erst einmal warten.

Der morgige Tag, befand sie, als sie sich in das heiße Wasser gleiten ließ, würde noch früh genug beginnen.