Was Peter Handke als 22Jähriger in einem Brief an seinen Verleger Siegfried Unseld als sein »erstes« und sein »letztes Stück« bezeichnet hatte, gab den Auftakt für einen Werkkomplex, der im zeitgenössischen Theater singulär ist. Mit Publikumsbeschimpfung, inszeniert von Claus Peymann am Theater am Turm in Frankfurt, wurde der junge Schriftsteller 1966 schlagartig bekannt. Handkes grundlegende Kritik am Theaterbetrieb und seinen Kunstformen machten ihn zum Star eines neuen Theaters. Es folgten über 20 Theaterstücke und Übersetzungen, von Handkes Sprechstücken über Kaspar (UA 1968), Der Ritt über den Bodensee (UA 1971), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (UA 1989), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (UA 1992), Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück zum Film vom Krieg (UA 1999) bis Die schönen Tage von Aranjuez (UA 2012) und Immer noch Sturm (UA 2011), für das Peter Handke 2012 den Mülheimer Dramatikerpreis erhielt.
In vier Gesprächen zeichnen Peter Handke und Thomas Oberender Handkes imposante Werkgeschichte im Theater nach. Oberender fragt als profunder Kenner der Bühne, als sensibler Leser, er ist Stichwortgeber für einen aufschlußreichen Dialog über Handkes literarische Einflüsse, seine ausgeprägte und reflektierte Liebe zu Schauspielern, über Motive und den Formenreichtum seiner Stücke sowie Kontinuitäten im Werk dieses großen Epikers des zeitgenössischen Theaters.
Peter Handke, 1942 in Griffen (Kärnten) geboren, lebt heute in Chaville bei Paris. Zuletzt sind im Suhrkamp Verlag erschienen: Immer noch Sturm (2010), Die schönen Tage von Aranjuez (2012), Versuch über den Pilznarren (2013), Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2014).
Thomas Oberender, 1966 in Jena geboren, ist Autor, Dramaturg, Essayist und seit 2012 Intendant der Berliner Festspiele.
Peter Handke
Thomas Oberender
Nebeneingang oder Haupteingang?
Gespräche über 50 Jahre Schreiben fürs Theater
suhrkamp spectaculum
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2014.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
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Lektorat: Nina Peters
Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlaggestaltung: Katja Bohlmann
eISBN: 978-3-518-73710-1
www.suhrkamp.de
Vorwort von Thomas Oberender
Vom Sprechstück zur Figur
Erstes Gespräch
Der Große Fall und »der Schauspieler als Held« – Wahrspieler sein – »Durchlässige Menschen sind oft Schauspieler« – »Ist jemand erzählwürdig?« – »Ein Schriftsteller ist kein Handwerker« – »Das Unorthodoxe ist das Wahrhaftige« – Die epische Form ab Über die Dörfer – Gesamtwerk auf »ung« – Publikumsbeschimpfung, diese Simultanität – »Der Engel der Frechheit« – Die Sprechstücke, der Rhythmus, das Seelenhämmern – Claus Peymann und der Blick vom Schnürboden – »Art und Wahn gehören vielleicht zusammen« – Poesie kommt aus den Konstellationen – Die schönen Tage von Aranjuez, »was ist das, Mann und Frau?« – Immer noch Sturm, »der Rhythmus der Tragödie« – »Kontrolliert phantasiert« – Humor im Theater – Kaspar, »damit bin ich Theaterautor geworden« – Ritt über den Bodensee, »wie wird mit Reden Macht ausgeübt?« – Sprachmontage, der Zorn der frühen Stücke – Die Unvernünftigen sterben aus, »ein konventionelles Stück« – Immer noch Sturm, der befangene Chronist – Über die Dörfer, »wie erzähle ich eine Familiengeschichte?« – Novas Monolog – Den Pessimismus nicht durchhalten – Selbstbezichtigung, »eine schöne Banalität« – Das Spiel vom Fragen, Reise ans Ende der Welt – Der »Scheißfaust« von Goethe – Schmerz des Vergehens – Kritiker – Kaspar und Parzival
Unsere sekundären Stücke
Zweites Gespräch
Klaus Michael Grüber – Helena von Euripides – Luc Bondy, eine gewisse Lakonie – Becketts Das letzte Band – Formeln, Redeweisen oder Körperkonstellationen – Die sogenannten Niederlagen – »Sich gehenlassen ist vor allem fürs Theaterschreiben wichtig« – Der Ritt über den Bodensee, das Erscheinen des Erzählers – »Als Medium spielt das Theater immer mit« – Selbstreferenzen – Die Stunde da wir nichts voneinander wußten, Muggia, ein Pfingsterlebnis – Schreiben ist eine Schwelle – Sprache handelt – »Nichts ist von vornherein natürlich« – Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater – »Ich bin dem Theater ein Fremder« – Zeitgenosse meiner selbst sein – »Ich verirre mich gern« – Peter Stein, der ideale Schiller-Regisseur – Becketts Pausen – »Ich bin ein Epikuräer« – »Tschechows Erzählungen müßten alle aufgeführt werden« – »Ich, Aktionen?« – Sterben spielen – »Alles habe ich eigentlich aus dem Western« – Bis daß der Tag euch scheidet, keine Romantik – Raimund und Tschechow nachgebildet – Der Schauspieler als Held II.
Es muß Theater werden
Drittes Gespräch
»Wilde Männer« und »Wilde Frauen« – Das Visionäre des Märchenhaften – Die Fahrt im Einbaum, ein Privatmythos – »Ich war immer Prosaist« – Theater, alles in der Totale – »Sprunghaftes hat in der Kunst nichts zu suchen« – Große Geschichten, Ibsen – Eine Wir-Zuversicht – Der Ritt über den Bodensee, Stars werden zu Kindern – »Aus dem Gerümpel der Welt Aufgesammeltes« – Kaspar, Eine Moralität wie Jedermann – »Ach Geschichte, ah Leben« – Notizen – Nebensächliches – »Große Momente entziehen sich der Bedeutung« – »Ich fühle mich im Kino eigentlich dauernd übers Ohr gehauen« – Zurüstungen für die Unsterblichkeit, »Einer, der groß wird wider Willen« – Das Ferdinandraimundhafte – Das Volk, ein Mensch … – Theaterstücke als »Forschung im Urwald« – »Deswegen habe ich meine Ahnen verehrt« – »Kann man nicht neue Menschenrechte finden?« – Die schönen Tage von Aranjuez, »Kunst ist die wesentliche Ablenkung« – Über die Dörfer, Novas Weisung – Georg Büchner – »Betrachten will betrachtet werden« – Immer noch Sturm, Spiel und Historie zusammenbringen – Jede Tragödie hat ihre eigene Geschichte – »Aufgepaßt, Volk« – Eine Heimaterklärung wie schon lange nicht mehr – Phantasie ist die Erwärmung des Vorhandenen
Formarbeit
Viertes Gespräch
Zurüstungen für die Unsterblichkeit, ein Volksstück– »Es müssen neue Traditionen gegründet werden, statt einfach bei Brecht aufzuhören« – Das frische Aufleben einer Tradition, das Problem des Stückeschreibens – Eine Entwicklung und doch eine Kontinuität – Bewußtsein für Spiel und Form – Alles Suggestive fällt weg – »Das Tatsächliche musikalisiert sich durch die Begegnung mit dem Möglichen« – »Eine Figur wird durch andere Gestalt«, das Prinzip von Die Stunde da wir nichts voneinander wußten – »Arbeiten heißt Existieren« – Muß ich denn spielen? –– »The child is the father to the man« – Schreiben, »ein anderes Wachsein« – Der Große Fall, Ein Gegen-Kafka-Brief – Innige Ironie – »Wie nennt man Rollen?« – Das Theater-Machen muß mitspielen – »Bedürfnis nach Unmittelbarkeit« – Nietzsche über Schauspieler – Poesie als das Übergängliche der Sprache – »Ein gesunder Mensch ist empfindsam« – Laufen lassen – »Nicht das bin ich, sondern so bin ich« – »Ein Amokgeher«
Uraufführungen der Theaterstücke von Peter Handke
Uraufführungen der von Peter Handke übersetzten Theaterstücke
Werke von Peter Handke, auf die Bezug genommen wird
Von Peter Handke übersetzte Theaterstücke
Weiterführende Literatur zu Peter Handke
Personenregister
Biographisches
Im Grunde haben wir nur im Garten gesessen und über das Theater geredet. Die ersten beiden Gespräche fanden im September 2012 statt, auf der Terrasse hinterm Haus von Peter Handkes Verlegerin Ulla Unseld-Berkéwicz. Für die anderen beiden trafen wir uns ein Vierteljahr später in Handkes Wohnort Chaville bei Paris. Wobei es tatsächlich eine Rolle spielt, daß wir im Garten saßen. Es entstand eine besondere Form der Begegnung – am Gartentisch wirkt ein Gespräch nicht so vorsätzlich geführt, die Abschweifung lag in der Luft.
Ich erinnere mich, daß Peter Handke, als wir uns in Berlin trafen, gerade von einem Morgenspaziergang durch die Rehwiesen unweit des Hauses zurückkehrte. In der Hand hielt er einen Strauch Sauerampfer. Und so, wie alles etwas sagt oder zu sprechen beginnt, wenn man es lange genug anschaut, erscheinen mir die Umstände unserer Gespräche rückblickend eben auch erwähnenswert. Für uns beide hatte der Beschluß, über ein halbes Jahrhundert seiner Theaterarbeit zu sprechen, etwas Einschüchterndes: Wie soll das gehen? Zuviel Zeit, zu viele Etappen, Personen, Texte und Interviews, Preise und Krisen. Ich hatte für unsere Begegnungen vorab keine Fragen vorbereitet, sondern hielt mich an einzelne Beobachtungen und versuchte die Themen erst im Gespräch zu finden. Um einen Eindruck von Handkes Sprache, deren Rhythmus und Klang zu vermitteln, hatten wir uns darüber verständigt, daß ich immer wieder aus seinen Stücken zitieren sollte.
Zu Herbert Gamper hatte Peter Handke Ende der 1980er Jahre gesagt, daß sein Ausgangspunkt beim Schreiben nie eine Geschichte oder ein Ereignis, ein Vorfall sei, sondern immer ein Ort. Tatsächlich beruhen viele seiner Stücke auf irgendeinem Platz in der Welt – Stücke wie Über die Dörfer, Spuren der Verirrten, Immer noch Sturm, Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts oder Die schönen Tage von Aranjuez. Die frühen Stücke hatten immer das Theater selbst als Ort. Genauso erstaunte mich, wie lange es dauerte, bis der bereits erfolgreiche Dramatiker Handke zum ersten Mal Figuren auftreten ließ, also Schauspieler, die eine Rolle spielen – wobei Peter Handke die Rolle des Dramatikers nie angenommen hat, er, der stets betont, dem Theater ein »Fremder« zu sein. Im gleichen Gespräch bekennt Handke, daß er als Epiker alle Tricks des Erzählens kennt und sie natürlich auch meidet, genauso wie er gerne vermeidet, romantypische Geschichten zu erzählen. Wenn das so ist, wie konnte er dann Stücke schreiben? Dramen ohne Tricks, ohne dramatische Entwicklung und Handlung? In seinen Radiobeiträgen für das Landesstudio Steiermark des ORF hatte er bereits in seiner Studentenzeit das moderne Theater als Ausbruchversuch aus diesem Konzept des Dramas, der Belehrung und Geschichte am Beispiel der Stücke von Pirandello und Brecht analysiert. Aber was kommt dann?
Mich interessierte seine Eigenart, den Schauspielern paradoxe Spielhaltungen mit auf den Weg zu geben, und überhaupt die merkwürdige Weise, wie er sich als Autor bis heute auf die Bühne schleicht, die Epik ins Dialogische oder Monologische gleiten läßt und eine sehr eigene Situation der Schwelle und des Übergangs schafft. Mir fielen die Motive und Konstellationen in seinen Stücken auf, die oft mit großen zeitlichen Abständen anknüpften an früher Geschriebenes. Und diese grundsätzliche Treue der Frage gegenüber, wie es gehen kann, daß man auf der Bühne nicht »lügt«. Wie kann ein Autor einerseits zulangen, eine Position beziehen, einen kräftigen Ton anschlagen, und doch nicht naiv sein und das Theater als Theater vergessen. Dieses »schöne Problem«, nicht zu »lügen« auf der Bühne, und die vielfältigen Versuche Handkes, es als Epiker zu lösen, hatten mich beschäftigt.
Bei meiner Ankunft in Chaville im September 2012 saß Peter Handke bereits hinter dem blauen Hoftor und hatte vielleicht nicht auf mich gewartet, aber doch zumindest nichts getan, was die Ruhe stört. Er mußte meine Schritte auf dem kurzen, von Bäumen gesäumten Kiesweg, der von der Straße her zu seinem Haus führt, gehört haben. Das Hoftor war offen, er rief und kam mir beim Eintreten von seinem Platz am Holztisch entgegen. Wir setzten uns an diesen Tisch seitlich des Hauses, auf dem Herbstäpfel lagen, ein durchgeweichtes Taschenbuch und eine zerkratzte Glasscheibe, die er zurechtschneiden wollte. Er war zwei Tage mit seiner Frau Sophie Semin auf dem Land gewesen und gerade zurückgekehrt. Während er Wein und Essen aus dem Haus holte, installierte ich das Aufnahmegerät zwischen den Gartenäpfeln und dachte noch einmal an unsere früheren Begegnungen zurück.
Aufgewachsen bin ich nicht mit den Büchern von Peter Handke. Das Jahr seines literarischen Durchbruchs, 1966, war das Jahr meiner Geburt. Obgleich viele seiner Bücher auch in der DDR veröffentlicht wurden, bei einem Verlag mit dem schönen Namen Volk und Welt, kaufte ich mir das erste Buch von ihm erst nach dem Fall der Mauer in einem Antiquariat in der Düsseldorfer Bahnhofstraße. Es hieß Als das Wünschen noch geholfen hat, war eine Erstausgabe, und der Buchhändler hatte sie wie ein besonderes Gut in einer Gefriertüte ins Fenster gelegt. Diese Langgedichte brachten mich auf den Geschmack. Lange Zeit las ich angenehm zweckfrei in seinen Büchern, vor allem seine Sprechstücke hatten es mir angetan.
Es waren die Arbeiten der englischen Theatergruppe Forced Entertainment, die mich dann ein paar Jahre später wieder zu seinen Stücken zurückgebracht haben. Forced Entertainment zeigte Mitte der 1990er Jahre mit ihren Dauerperformances im Berliner Kunsthaus Podewil eine Form von Theater, die im deutschen Kontext atemberaubend intensiv und verstörend wirkte – waren das Stücke oder bloß Spiele, spielten da Schauspieler oder war das privat? In den Performances kamen klassische Theaterkategorien wie Dialog, Figur oder Handlung schlicht nicht mehr vor, sondern es entstand ein seltsames Schillern zwischen Professionalität und Intimität, Keuschheit und Prostitution. Die Aufführungen wirkten vital, unmittelbar und aufwühlend. Als ich anfing, eines dieser neuen Stücke oder eigentlich eher Spiele, die der junge Tim Etchells für und mit Forced Entertainment geschrieben hatte, zu übersetzen, fielen mir die dreisten, abstrakten und doch direkten Sprechstücke von Peter Handke wieder ein – sie waren literarische Vorläufer dieser erstaunlichen Theaterpraxis aus England und, wie so oft, als szenische Literatur Mitte, Ende der 1990er Jahre der Entwurf eines Theaters, das da erst noch kommen mußte und ja auch kam. So öffneten mir die Produktionen der Künstler meiner Generation rückwirkend die Augen für die Experimente des jungen Peter Handke und seinen Versuch, das »Glaubwürdige« auf der Bühne, nicht nur hinsichtlich der Aussagen, die dort gemacht werden, sondern auch der Form, in der dies geschieht, anders zu begründen oder herzustellen. Auch er führte dem Theater bis dahin völlig fremdes Material zu, das sich zunächst nicht mehr in Biographien und Figuren auflösen wollte, sondern die Strukturen der Sprache und des Theatermetiers selbst als Drama begriff, als Formen der Machtausübung. Tim Etchells hat in Quizoola! wie Peter Handke zunächst eher auf Sprechformate reagiert, vom Popsong bis zum Verhör, sie gemischt und auf der Bühne eine experimentelle Situation hergestellt, in der radikal zeitgenössische Kunst entstand, ein Erlebnismoment gesellschaftlicher Wahrheit und originaler Schönheit. Über diesen Umweg wurde mir der junge Peter Handke kostbar. Und zum Zeitpunkt dieser Einsicht war Handke 30 Jahre weitergewandert.
Als Leiter des Schauspielprogramms der Salzburger Festspiele wollte ich 15 Jahre später sein Stück Spuren der Verirrten uraufführen. 2005 fuhr ich zum ersten Mal nach Chaville, das Stück war inzwischen Claus Peymann versprochen. Wir sprachen bei dieser Begegnung über Beckett, und ich schickte ihm, wieder daheim, einen Essay, den ich zuvor in der »Neuen Zürcher Zeitung« veröffentlicht hatte. Der Satz »Nur der Baum lebt« aus Becketts Warten auf Godot, sei einer der traurigsten Theatersätze überhaupt, so die zentrale These des Aufsatzes. »Finden Sie wirklich?« fragte mich Peter Handke lächelnd, und schickte nach einigen Monaten den ersten Entwurf von Bis daß der Tag euch scheidet oder Eine Frage des Lichts – sein Antwortstück auf Becketts Das letzte Band. Beide Stücke wurden 2008 zunächst als szenische Lesung mit Sophie Semin und Thomas Holtzmann in Max Reinhardts Schloß Leopoldskron aufgeführt, und ein Jahr später in der Regie von Jossi Wieler mit Nina Kunzendorf und André Jung als Doppelabend mit Das letzte Band am Salzburger Landestheater. 2011 brachten wir Peter Handkes großes Traumspiel, sein Familien- und Historiendrama Immer noch Sturm auf der Perner-Insel in Hallein heraus. Er hatte auf einer Uraufführung in Österreich bestanden, und mit Dimiter Gotscheff fanden wir einen Regisseur, der wie Handke eine Phase in seiner Werkgeschichte erreicht hatte, in der seine Arbeit beinahe mühelos wirkte, lässig im sicheren Umgang mit den Formen und doch auch durchlässig für die Existenz hinter den Worten, die Geschichte, Poesie und Tragik.
Da Immer noch Sturm gemeinsam mit Goethes Faust I und II auf dem Spielplan in Hallein stand, hatten wir als riesiges Werbeplakat ein kärntnerisches Ortsschild malen lassen, auf dem, durchgestrichen, »Da steh ich nun« in slowenischer und deutscher Sprache stand. Dieses Zitat traf auch sehr gut auf Handkes Stück zu, in dem seine »Ich«-Figur unter einem Apfelbaum steht und ihre Ahnen und frühere Zeiten herbeispricht. Für Dimiter Gotscheff war es die erste Inszenierung eines Handke-Stückes, und auch für ihn galt dieser Satz auf dem Ortsschild, empfand er sich doch als Bulgare und Ausländer und war ein gefährdeter Mensch, aber auch als ein starkes, eigensinniges Regie-Gegenüber zum Autor. Es zählt zu den großen Kümmernissen, daß die Begegnung dieser Künstler durch den Tod Dimiter Gotscheffs keine Fortsetzung finden konnte.
Ein Jahr nach dieser Uraufführung wurde Peter Handke 70 und ich aus diesem Anlaß dazu eingeladen, für die Ausstellung Die Arbeit des Zuschauers. Peter Handke und das Theater im Österreichischen Theatermuseum zu seiner Arbeit als Dramatiker ein kurzes Gespräch zu führen. Katharina Pektor vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek stellte dafür eine Fülle von originalen Interviews und entlegenen Texten von und zu Peter Handke bereit, wofür ich ihr sehr danke. Nina Peters, Lektorin im Theaterverlag bei Suhrkamp, gab die Anregung, die Unterhaltungen fortzusetzen für ein größeres Buchprojekt. So entstanden die hier abgedruckten, längeren Gespräche. Sie wurden im Freien geführt, auch wenn sie drinnen stattfanden.
Am letzten Tag regnete es, und wir sprachen in seinem Haus. Als er mich hineingeführt hatte, verschwand er in der Küche, während aus einer kleinen Anlage am Boden frühe Kirchenmusik von Pérotin erklang, und Peter Handke ließ mir viel Zeit, mich umzuschauen. Dieses Haus scheint weniger eine Behausung als ein Ort der guten Geister und Erinnerungsstücke, die den Dichter nicht verlassen sollen, Bilder, Fundstücke, Liebgewordenes. Den beiden Zimmern im Erdgeschoß fehlt alles Repräsentative. Selbst flüchtige Ansammlungen von Stiften, Federn oder Bücherhaufen scheinen der einen Sache zu dienen: einen Zustand zum Schaffen des Künstlers kreieren. Handkes Haus hat in diesem Sinne keine Einrichtung, alles ist Ausrichtung, eine Gesamtinstallation von geregeltster Unordnung, die restlos von ihm, dem Dichter, zeugt, von seinen Ahnen und Wegen. Peter Handke war während unserer Gespräche in seinem Haus und Garten stets hoch konzentriert, aber er brauchte dafür eine Umgebung der Fülle und Heiterkeit, also nicht des Büros und der abgezirkelten Zwecke. Statt dessen seine Öffnung für flüchtige Impulse, wobei sein tastendes, verwerfendes, dann wieder lospreschendes Reden die eigene Rede genauso reflektiert, wie der Dramatiker die Form des Dramas, der Sprach- und Theaterkonventionen. In Handkes Welt, am Gartentisch wie auf der Bühne, gibt es kein unbedachtes Sprechen. Das Selbstverständliche wird, wo es sich zeigt, immer zerstört und auf einer zweiten, erworbenen Ebene wiederhergestellt.
Man hört den Gesprächen an, wie Peter Handke sich selber hört, beim Sprechen, wie er abwägt, nachschmeckt und entdeckerisch umgeht mit seinen eigenen Äußerungen, die er immer wieder zurückholt aus dem eben noch Geschehenen in die Reflexion, meist, ohne sie zu korrigieren. Und doch wird das Gesagte überprüft, in einen Kontext gestellt, auf die Form hin betrachtet. Und genauso, denke ich, schreibt Peter Handke auch – in den Fluß steigend, und darin sich immer wieder gegen die Strömung stellend, um sich zu prüfen und zu spüren, und genauso den Strom. Insofern habe ich mich bemüht, in der Abschrift der Gespräche den originalen Rededuktus, das Tasten und Befühlen der Worte und Sätze, Peter Handkes Verstummen und seine Neuansätze, die Abirrungen und Variationen der Aussagen zu erhalten. Noch im Verwischen der Aussagen wird eben ihr herstellender Charakter offenbar, die Welterzeugung des Dichters durch sein Sprechen. Dieses »schöne Problem«, daß wir zur Unmittelbarkeit nur durch das sich selbst Bewußthalten der Verhaltensvorgänge gelangen, prägt die Dramatik Peter Handkes vom ersten Stück an. Die Entwicklung dieser Strategie, scheinbar selbstverständliche Konventionen der Theaterwelt als »künstliche« Verabredungen bewußt zu machen, durchzieht auch unsere Gespräche wie ein roter, werkgeschichtlicher Faden. Mir wurde erst spät klar, daß bereits ein Stück wie Publikumsbeschimpfung der Vorschlag eines jungen Autors war, sich auf der Bühne in einer Form zu bewegen, die nicht »lügt«. Die ist, was sie ist: Keiner spielt etwas vor, etwas nach, man tut, was man tut.
Diese Grundhaltung seines epischen Theaters ist die große Konstante im Werk von Peter Handke und wird begleitet von einer immerwährenden Bewegung der Suche nach neuen, frischen Wegen, auf der Bühne »nicht zu lügen« – konkrete Poesie, Nestroy, Raimund, Shakespeare oder Euripides, durch all diese Traditionen und Formen hindurch entwickelte der Dramatiker Handke seine eigene Sprache und eine vergleichslose Vielfalt von szenischen Werkformen. Und doch kommt noch etwas hinzu: Vielleicht kann man es die seriöse Lebensklugheit Handkes nennen, obwohl er sich doch so erfolgreich bemüht, kein allzu seriöser Mensch zu sein. Als ich nachfolgende Rede aus seinem Stück Über die Dörfer las, wußte ich, daß er an dem Lebenspaket, das wohl jeder Mensch mit sich herumträgt, als einer der wenigen Autoren etwas aufzuschnüren vermag. »Spiele das Spiel. Gefährde die Arbeit noch mehr. Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark. Sei schlau, laß dich ein und verachte den Sieg. Beobachte nicht, prüfe nicht, sondern bleib geistesgegenwärtig bereit für die Zeichen. Sei erschütterbar. Zeig deine Augen, wink die andern ins Tiefe, sorge für den Raum und betrachte einen jeden in seinem Bild. Entscheide nur begeistert. Scheitere ruhig. Vor allem hab Zeit und nimm Umwege. Laß dich ablenken. Mach sozusagen Urlaub. Überhör keinen Baum und kein Wasser. Kehr ein, wo du Lust hast, und gönn dir die Sonne. Vergiß die Angehörigen, bestärke die Unbekannten, bück dich nach Nebensachen, weich aus in die Menschenleere, pfeif auf das Schicksalsdrama, mißachte das Unglück, zerlach den Konflikt. Beweg dich in deinen Eigenfarben, bis du im Recht bist und das Rauschen der Blätter süß wird. Geh über die Dörfer. Ich komme dir nach.«
Dieser Text stammt aus dem ersten Vorläufer von Immer noch Sturm. Welch schönen, alten Traum vom Theater träumt hier ein Künstler in Über die Dörfer, wenn er, tief in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, plötzlich eine weibliche Lichtgestalt auf die Bühne stellt, die Rat gibt und auf den blanken Brettern der Bühne von etwas spricht, das der Freude dient, dem guten Leben und wertvollen Erwachsenwerden. Momente eines solchen Durchatmens schenkt Handke. Sein episches Theater, in diesem Fall von ihm ein »dramatisches Gedicht« genannt, bringt etwas Naives in seinem Schaffen auf – einen Märchenton, einen Volkstheaterton, ein freies Verkünden, das nichts Besserwisserisches hat, sondern die Erzähllust jener, die etwas Staunenswertes gefunden haben oder vollbringen. Sicher stellt Über die Dörfer einen Wendepunkt in Handkes Schreiben für das Theater dar – das zwar episch bleibt, aber, wie es Hans Höller in Eine ungewöhnliche Klassik nach 1945 beschreibt, immer deutlicher Züge eines rettenden Erzählens annimmt und die Wende zu einer ungewöhnlichen Form der Klassik nach 1945 vollzieht. Handke ist einer der kostbar Naiven, die unsere Bühnen als etwas, das der Verkündigung dient, begreifen. Wobei zu den Paradoxien der Person und des Werkes von Peter Handke zählt, daß er nichts weniger ist als naiv, sondern hyperreflektiert, jederzeit die dritte Person seiner selbst ist, und zugleich geradezu mutwillig glaubenswillig. Vielleicht machen die hier wiedergegebenen Gespräche auch davon etwas spürbar.
Thomas Oberender, Berlin im März 2014