Christiane Tramitz
Himmelsspitz
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von Lutz Eberle und
lunia / photocase.com
ISBN 978-3-8392-3718-2
Für einen kurzen Augenblick sah der Bub das schwarze Loch direkt vor sich. Aus der Tiefe roch es modrig. Noch einmal krachte der Deckel in seine Fugen zurück. Die Hand krallte sich in seinen Nacken und drückte ihn zu Boden. Er hörte Fluchen und schweres Atmen. Für einen kurzen Moment löste sich die Umklammerung. Schnell entwischen, dachte er, doch die Hand ergriff sein Bein und zog ihn zurück. Dabei bohrte sich ein Schiefer in seinen Schenkel. Weit offen stand der Deckel nun, das schwarze Loch lag vor ihm, gierig wie ein unendlicher Schlund.
Der Junge klammerte sich an die Jacke. Kurz fanden seine Finger Halt an einem Knopf. Dann riss der Faden. Ein starker Stoß in den Rücken ließ das Kind die steilen Stufen in die Tiefe stürzen.
Der schwere Deckel fiel zu Boden, Dunkelheit senkte sich über den Bub wie ein schwarzer Vorhang. Nur durch eine Ritze fiel, einem feinen Faden gleich, ein blasser Lichtstrahl. Auf allen vieren tastete sich der Junge die Stufen hinauf. Er hämmerte gegen das Holz des Deckels, von oben antwortete ihm schepperndes Lachen. »Verrat, wo’st den Zettel hast.«
Der Junge presste die Lippen zusammen. Er hörte den Mann die Treppe hinauf in den ersten Stock und dort auf und abgehen. Dann kehrte er zurück. »Hast’s dir überlegt?« Der Junge hielt sich die Ohren zu und schwieg.
Die Schritte wurden leiser. Eine Tür fiel ins Schloss.
Der Bub tastete sich die Wände entlang, spürte nichts als feuchte, glitschige Steine. Er ließ sich auf die kühle Erde nieder und rutschte von Ecke zu Ecke. Er fühlte den Lehm, ein paar Steine, und plötzlich: etwas Hartes, Rundes. Er kroch zurück zu den Stufen, um im fahlen Lichtstrahl zu betrachten, was er gefunden hatte.
Er lächelte. Ein letztes Mal.
Dann umklammerte er seine Knie und wartete.
Er wartete auf die Zeit, bis sie ihn finden mögen, und hoffte auf die Erinnerung, auf dass sie ihn nicht vergessen würden.
Es war so still, dass er hörte, wie Geister erwachten. Er fühlte, wie sie ihm Trost ins Gesicht hauchten, an sein Ohr schwebten und ihm Geschichten zuraunten. Von oben. Vom Himmelsspitz.