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GAYTOMAS

Terrorist & Gentleman

  • Lächeln wie die Mona Lisa
  • „Räche mich!“
  • Dornenvögel
  • Madame Martyr
  • Wasser
  • English Rose
  • Ein tollkühner Plan
  • Einsame Entscheidung
  • Coming-out bei 250 Kilometern pro Stunde
  • Wie ein kleines Mädchen
  • The City & Sex
  • Zeitlupe
  • Angst vorm Fliegen
  • Pistolen & Petticoats
  • Der 7. Himmel
  • In the Ghetto (1)
  • Die Katze und der Fuchs
  • Perücken der Liebe
  • Verrat im Quadrat
  • Vier kleine Italiener
  • Butch Cassidy and the Sundance Kid
  • Der Mann, der den Weihnachtsmann erwürgte
  • Stahlnetz
  • Bloody Fuckin’ Hell
  • Heten ticken
  • In the Ghetto (2)
  • So Long, Farewell, Auf Wiedersehen, Adieu
  • Madonnas und Madonnen
  • Scouting for Boys (and Sirs)
  • Der kürzeste Kuss der Filmgeschichte
  • Touristen & Terroristen
  • Homophonic
  • Stille Post
  • Sodom, öffne dich!
  • Kimota
  • Der kleine Lord
  • Club Gaytomas
  • Rocket Man
  • Plan 9
  • Gin Tonic zum Frühstück
  • Normal oder Hetero
  • Ein großer Schritt für die Menschheit
  • FAQ
  • Zwei Schritte zurück
  • Die Belthams und die Thornes
  • Eine gute Nachricht
  • Showdown
  • Thomebody called me Thebastian

"Talent borrows, genius steals"

Oscar Wilde

Lächeln wie die Mona Lisa

Die Kunstsammlung des Louvre in Paris. Anfang Mai.

„Mon Dieu, das ist ja wirklich besser als Sex!“, freut sich die weiß geschminkte Gestalt in der weißen Pierrot-Verkleidung, den schwarzen Handschuhen und der ebenfalls schwarzen Dominomaske und nimmt das weltberühmte Ölgemälde von Leonardo da Vinci vorsichtig von der Wand.

Überall liegen bewusstlose Wachleute und Glasscherben, die als Clowns verkleidete Komplizen des Pierrots laufen hektisch hin und her, Alarmsirenen kreischen, Explosionen dröhnen von weit weg, Schreie und Schüsse hallen durch die Flure des ehrwürdigen Museums.

„Okay Leute, ihr wisst, was zu tun ist“, diktiert der Maskierte in das Mikrofon seines Headsets, mit dem er mit seinen Helfern verbunden ist. „Wir brauchen auf jeden Fall noch den Dürer, den Hergé, den Tizian, den Tintorello und den Bosch. Nehmt, was ihr kriegen könnt und vergesst mir bloß nicht den ‚Nackten Jüngling am Meer’, sonst gibt’s Ärger.“ Der Pierrot wirft seinen Mitstreitern einen scherzhaft autoritären Blick zu, dann klemmt er sich das gar nicht so große, etwa 1503 auf dünnem Pappelholz gemalte Bild unter den Arm, hastet die Treppen Richtung Ausgang hinunter und verlässt den ehemaligen Palast durch die gläserne Pei Pyramide über der ein Helikopter kreist, aus dem jetzt eine Strickleiter zu ihm herabgelassen wird.

„Stehenbleiben!“, ruft ein Gendarme mit nervöser Stimme, der mit gezückter Pistole auf den Kunstdieb zu eilt. „Stehenbleiben oder ich schieße!“

„Schieß doch, Bulle!“, antwortet der und hält die Mona Lisa wie einen Schutzschild vor sich. „Knipps ein Loch in das geheimnisvolle Lächeln eures Nationalheiligtums und versuch dann mal, das deinem Boss zu erklären, du Pfeife. Trau dich doch!“

Dann greift er mit seiner freien Hand nach der Strickleiter, hakt sich fest, und schon steigt der Chopper in den nachtblauen Himmel empor und entfernt sich so schnell, das dem sprachlosen Polizisten weiter nichts mehr einfällt als ein verdutztes „Zut alors!“

„Zum Musée Picasso, Lobo“, spricht der maskierte Gangster in sein Mikrofon. „Ich brauche noch den ‚Paul en Pierrot’ für meine persönliche Sammlung.“

Der Heli nimmt Kurs auf das besagte Kunstmuseum, während der Dieb leise „Parisian Pierrot, society’s hero“, vor sich hinsummt, den leichten Wind genießt, einen sichtlich amüsierten Blick auf das heillose Chaos aus Rauchwolken, Flammen und pulsierendem Blaulicht in den Straßen unter sich wirft und die Detonationen zählt, die zahlreiche Sehenswürdigkeiten der Seinemetropole unwiderruflich in Schutt und Asche legen.

Jetzt fehlt nur noch das Feuerwerk!

„Räche mich!“

Wenige Sekunden zuvor in den Straßen von Paris.

„Ist Paris nicht wunderschön?“, fragt die dunkelblonde Helena Thierry ihren Verlobten Rick Bosley.

Das junge Paar bummelt durch die Gassen der Metropole in Richtung Eiffelturm, dessen beeindruckende festliche Beleuchtung seit einigen Minuten den herrlichen Abendhimmel noch viel schöner erscheinen lässt.

Rick, ein athletischer attraktiver blonder Engländer aus Devon, legt seinen rechten Arm um ihre Schulter, haucht der hübschen Französin einen kleinen Kuss auf die Wange und radebrecht „Je t'aime!“, so gut, wie ein Engländer das halt hinkriegt.

Die beiden Agenten der ‚Globalen Geheimpolizei’ verbringen ein verlängertes Wochenende in der Stadt des Lichts, ein Incentive, ein Dankeschön dafür, dass sie maßgeblich daran beteiligt waren, einen internationalen Drogenring auszuheben. Bei der Gelegenheit haben sie sich kennen und lieben gelernt: der rationale Meisterdetektiv und die hitzköpfige Karateexpertin.

Nach einem ausführlichen Frühstück und etwas Liebe sind sie mit der Metro durch die Stadt gefahren, sind durch den Jardin du Luxembourg spaziert und haben antike Asterix-Hefte in einem Comic-Laden um die Ecke gekauft, ein bisschen Nouvelle Cuisine und ein Gläschen Roten bzw. Eau Minerale in einem kleinen verträumten Restaurant genossen, noch ein bisschen Sightseeing vom Montmarte bis zum Arc de Triomphe gemacht, und dann haben sie noch schnell die Ägyptische Abteilung des Louvre besucht, die heute bis halb zehn geöffnet ist. Ein perfekter Tag. 

Morgen werden sie Helenas Eltern in Saint Malo besuchen und ihnen von ihren Heiratsplänen berichten.

So schön kann Liebe sein!

Aber plötzlich ist der schöne Traum zu Ende. Eine lautstarke Explosion reißt die beiden aus ihren romantischen Gedanken. Trümmer eines alten Citroen 2CV fliegen über ihre Köpfe und landen im Schaufenster eines Juweliergeschäftes. Menschen schreien, Passanten rennen durcheinander und flüchten in Hauseingänge.

Helena reißt ohne nachzudenken ihre Walther PK1 aus ihrem Gucci-Täschchen und stürmt auf das brennende Autowrack zu.

„Helena, warte!“, ruft ihr Rick hinterher. „Wir sind nicht im Dienst!“ Er hat noch nicht einmal seine Dienstwaffe dabei.

„Wir sind immer im Dienst!“, entgegnet Helena, die jetzt neben den rauchenden Trümmern der Ente angekommen ist.

Bevor Rick noch irgendetwas erwidern kann, gibt es eine weitere Explosion. Ein greller Blitz zuckt durch das obere Drittel des gar nicht so fernen Eifelturmes, gefolgt von einem dunklen Grollen. Die Illumination erlischt und das Wahrzeichen der Stadt der Liebe wankt.

Hinter dem Autowrack taucht jetzt eine knatternde alte Harley Davidson auf, auf der zwei, in enges schwarzes Leder gekleidete, junge Frauen sitzen. Die blonde Beifahrerin hält eine qualmende Panzerfaust in den Armen und die schwarzgelockte Fahrerin, dem Teint nach wohl Südamerikanerin, wirft Rick und Helena ein boshaftes Lächeln zu. Ihre Zähne sind schneeweiß und so spitz, wie die eines Haifisches.

„Stehenbleiben! Polizei!“, ruft Helena und hält den beiden ihre Dienstmarke entgegen.

„Halt’s Maul, Hetenkuh, und stirb!“, kontert die Schwarzhaarige, zieht mit der linken Hand eine Pistole aus ihrer Lederjacke und eröffnet augenblicklich das Feuer auf die beiden Agenten.

Rick spürt einen dumpfen Schmerz in der Brust, fällt nach hinten um und schlägt mit dem Kopf auf den Asphalt.

Sekunden später rappelt er sich auf, greift sich ans Herz und fühlt eine kühle Flüssigkeit: Whiskey. 

Die Kugel hat seinen guten alten Flachmann getroffen und ist daran abgeprallt, sonst wäre er jetzt bestimmt tot.

„Helena!“, keucht Rick.

Sie liegt nur einen Meter von ihm entfernt auf dem Bürgersteig. Eine Blutlache breitet sich rasch um sie herum aus.

„Rick“, flüstert Helena als er sich neben sie kniet. „Ich sterbe. Räche mich. Du musst mir versprechen ...“

Und dann ist sie ganz einfach tot. Rick nimmt ihren leblosen Körper in den Arm und schaut sich um, während eine Träne an seiner Wange herabläuft.

Von den Frauen auf dem Motorrad fehlt jede Spur, Sirenen heulen, Menschen schreien, weinen und fluchen auf Französisch, Detonationen dröhnen und jetzt fängt auch noch ausgerechnet ein Feuerwerk an.

Hunderte Raketen schießen in den Himmel und explodieren so genial exakt aufeinander abgestimmt, dass für ein paar Sekunden eine gigantische, glitzernde Regenbogenfahne am Himmel entsteht.

Ein Meisterwerk der Pyrotechnik!

Dornenvögel

Drei Tage später vor den Toren von Saint Malo an der Küste der Bretagne.

 Es ist windig und regnet. Der Himmel ist grau.

Rick, Helenas Eltern und ihre Freunde und Verwandten stehen an ihrem offenen Grab auf einem kleinen Friedhof direkt an der Steilküste. Ein fetter katholischer Priester salbadert von der Auferstehung und dem Leben.

Ein olivfarbener Sikorski S-61 Sea King Helikopter nähert sich dem Friedhof. Der Lärm, den sein Motor und die Rotorblätter verursachen, übertönt das Gewäsch des Pfaffen bei Weitem. 

Der Hubschrauber landet auf einem kleinen Feld direkt neben dem Friedhof und ein in schwarz gekleideter, schwarzhaariger Mann springt aus der Maschine, noch bevor die Kufen den Boden berühren, und hastet auf die Trauergemeinde zu.

„Signor Bosley“, ruft er Rick zu. „Wenn Sie Signorita Thierrys Tod rächen wollen, kommen Sie mit.“

Rick nickt, wirft Helenas Eltern einen respektvollen Blick zu und folgt dem Mann, der jetzt wieder zu dem Helikopter zurück eilt.

Die beiden ziehen instinktiv die Köpfe ein, als sie sich dem Chopper nähern und kaum, dass sie die Tür hinter sich zugezogen haben, hebt er ab und fliegt hinaus aufs offene Meer in Richtung England.

„Bosley, ich bin Rupert Thorne“, stellt sich ein hagerer, grauhaariger, etwa 60 Jahre alter Engländer im Businessanzug vor. „Ich leite das Anti-Terror-Squad der Globalen Geheimpolizei.“

Rick ringt sich zur Begrüßung ein winziges Lächeln ab, während er sich festschnallt.

„Und das sind Steve Steinhäger aus Berlin, Umberto Patricio aus Mailand, Aurelia Morand aus Luzern und unser IT-Spezialist Jérome Hervé aus Paris“, stellt Thorne das Team vor.

„Wir sind die Dornenvögel“, scherzt der strohblonde, blauäugige Steinhäger, der aussieht wie eine Kreuzung aus Muskelmacho und Pornostar. Er fletscht seine strahlend weißen Zähne und zündet sich eine filterlose Lucky Strike an.

„Willkommen im Team!“, lächelt der schwarzhaarige Patricio, dessen starke Brustbehaarung aus seinem Hemdkragen quillt. Er ist der Mann, der Rick auf dem Friedhof aufgelesen hat.

„Ich habe mit Helena zusammen in Paris Kriminalistik studiert“, erzählt die Morand, eine enorm attraktive, vollbusige, stark geschminkte Rothaarige, die Rick einen durchaus interessierten Blick zuwirft. „Für mich ist das jedenfalls eine verdammt persönliche Angelegenheit.“

Rick nickt ihr zu und lächelt grimmig.

„Ich habe gehört, so ein Flachmann kann Leben retten“, bemerkt jetzt der Franzose Hervé, ein schlanker Mittdreißiger mit zurückweichenden dunkelblonden Haaren und Schnurrbart, und reicht Rick seinen mit französischem Weinbrand gefüllten Flachmann.

„Danke“, entgegnet der und nimmt einen Schluck. Die kleine Metallflasche enthält Napoleon Le Cuvier V.S.O.P. -genau das Richtige!

Rick denkt an seinen alten Flachmann, der ihm das Leben gerettet hat. Der ist jetzt natürlich Schrott, nachdem er die Kugel aufgefangen hat, die sonst Rick direkt ins Herz getroffen hätte. Nur ein handtellergroßer, immer noch recht schmerzhafter Bluterguss auf der Brust und eine Beule am Hinterkopf erinnert an die Schießerei.

Pech, dass Helena Antialkoholikerin war und keinen Flachmann über dem Herzen trug ...

Rick seufzt.

„Können Sie mir erzählen, was genau passiert ist?“, fragt er Thorne. „Die Zeitungsberichte waren recht widersprüchlich. Schwule und lesbische Terroristen. Kunsträuber im ganz großen Stil. Der Triumphbogen und Notre Dame zerstört ...“

„Das alles und noch viel mehr. Wir haben es mit einer weltweiten schwul-lesbischen Terrororganisation zu tun, deren Anführer das wohl größte Verbrechergenie seit Doktor Mabuse ist. Sein Deckname ist Gaytomas. Hier ist das erste und einzige Foto, das wir von ihm haben, von einer der Kameras im Louvre.“

Thorpe reicht Rick einen Computerausdruck. Darauf ist ein Schwarzweißfoto in schlechter Auflösung zu sehen, das einen athletischen, maskierten Mann in einem Pierrotkostüm zeigt, der wohl im Begriff ist, mit seiner Pistole auf das Objektiv einer Überwachungskamera zu schießen.

„Gaytomas“, murmelt Rick. „Was für ein beschissener, bekloppter Name.“

Madame Martyr

Das Hauptquartier des Anti-Terror-Squad der Globalen Geheimpolizei, weit oben in einem Bürohochhaus in Blackpool, einem heruntergekommenen Seebad an der Nordwest-Küste Englands.

Rick steht am Fenster und blickt aus dem Halbdunkel des Büros hinaus in den strömenden Regen, während Hervé einen winzigen hypermodernen Laserbeamer mit Thornes Laptop verkabelt.

Thornes Assistentin, Rose, eine gut aussehende, stark geschminkte, junge Brünette in Minikleid und High Heels, serviert Erdnüsse, Kartoffelchips, Kekse, Kaffee und Hochprozentiges.

„Was also ist bisher passiert“, doziert Thorne, der hinter seinem gewaltigen Schreibtisch im Kolonialstil thront, und startet per Mausklick eine Powerpoint-Datei, die jetzt via Beamer an eine weiße Wand seines weitläufigen Büros projiziert wird. Die erste Folie zeigt die Logos der schwulen Internetseiten ‚Gaydar’, ‚Gayromeo’ und ‚Gayroyal’. „Wir haben zuerst von Gaytomas gehört, als letztes Jahr überall in den schwulen und lesbischen Foren und Netzwerken im Internet eine Person mit diesem Namen auftauchte und Gleichberechtigung für alle Homosexuellen und Transen der Welt forderte.“

„Gleichberechtigung für Homos!“, höhnt Steinhäger, der es sich auf einem alten dunkelbraunen Ledersofa bequem gemacht hat und gerade wieder eine Zigarette anzündet. „Was für ein Witz! Was kommt als nächstes? Gleichberechtigung für Hunde und Katzen?“

„Pst!“, macht die Morand, die auf einem Ledersessel Platz genommen hat, und Thorne fährt fort, und präsentiert die nächste Folie, eine Kollage von bekannten Gesichtern aus Wirtschaft und Sport.

„Gaytomas’ Organisation hat durch diese Aktivitäten Millionen von E-mail-Adressen möglicher Sympathisanten gesammelt und ein gigantisches geheimes Netzwerk aufgebaut. Jede Menge Schwuchteln, die sich ungerecht behandelt fühlen, haben ihn seither mit Unmengen von Geld versorgt. Callboys spenden regelmäßig einen Teil ihrer Einnahmen auf eines seiner vielen geheimen Konten. Homophile Topmanager und Spitzenfußballer, die ihre widerlichen, widernatürlichen Neigungen geheim halten müssen, werden um Millionen erpresst. Vor einigen Monaten hat Gaytomas mit seiner Bande eine Ölplattform vor der Küste Ostafrikas geentert und dort sein Hauptquartier aufgeschlagen.“

Thorne klickt weiter zur nächsten Folie, die eine Ölplattform im Meer zeigt.

„Genau da sollten wir ihn angreifen!“, schlägt Hervé vor, der sich an einen Konferenztisch gesetzt hat und eine Gitanes raucht, während er die Mails auf seinem Blackberry checkt.

„Leider unmöglich. Gaytomas’ künstliche Insel steht strategisch günstig im Golf von Aden, genau dort, wo drei divergente tektonische Platten auseinanderdriften. Niemand weiß genau wie, aber es sieht so aus, als wäre Gaytomas irgendwie in den Besitz eines atomaren Sprengkörpers gekommen, der während des Irakkriegs auf mysteriöse Weise verschwand, als er nach Bagdad transportiert wurde, um dort überraschend als angebliche, gerade frisch gefundene ‚Massenvernichtungswaffe des Terrorregimes präsentiert zu werden.“ Thorne zuckt bedauernd mit den Schultern. „Gaytomas hat uns gedroht. Wenn wir ihn auf seiner Ölplattform angreifen, wird er den Sprengkörper scharf machen, den er eben dort deponiert hat. Eine mögliche Atombombenexplosion über dem Ostafrikanischen Graben könnte unabsehbare Folgen haben: Seebeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche. Nicht auszudenken! Noch nicht einmal die somalischen Piraten wagen es, ihn zu attackieren.“

„Madonna! Dieser Teufel hat eine Atombombe?“, staunt Patricio, der sich gerade aus der Bürobar bedient. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“

„Gaytomas hat uns gedroht?“, hakt die Morand nach.

„Er schickt regelmäßig Newsletter an alle Reichen und Mächtigen der Welt. Niemand weiß, woher er ihre E-mail-Adressen hat.“ Thorne klickt weiter und projiziert ein Bild des zerstörten schiefen Turms von Pisa an die Wand. „Vor zwei Monaten schlug Gaytomas zum ersten Mal zu und sprengte das Wahrzeichen Pisas.“

„Porco Miseria! Ich dachte, das wäre Al Qaida gewesen“, meldet Patricio.

„Bullshit, die haben nur versucht, es so aussehen zu lassen, weil sie selbst schon seit Jahren nichts mehr auf die Reihe kriegen. Ihr Präsident, mein lieber Commissario, fand es übrigens auch besser, es den Muslimen in die Schuhe zu schieben, schon wegen der Publicity. Wie auch immer, seither schlägt dieser Gaytomas pausenlos zu. Kleine Fische, aber immerhin: Hinrichtungen homophober Politiker und Prominenter, Raubmord, Erpressung, Entführungen ...“

„Entführungen?“, fragt Rick. Er hasst Entführungen.

„Dafür hat er eine Spezialistin: Regina Dentata.“ Thorne klickt weiter und das Fahndungsbild der schwarzhaarigen Motorradfahrerin, die Helena erschossen hat, erscheint. „Aus Mexico City. Sie wird mit internationalem Haftbefehl gesucht wegen Raub, Mord, Kidnapping, Terrorismus, Drogenhandel und so weiter. Sie ist die Anführerin der ‚Sisters of Evil’, einer äußerst brutalen lesbischen Motorrad-Gang. Sie ist extrem gefährlich. Schon als kleines Mädchen soll sie als Alligator-Ringerin gearbeitet haben.“

„Sie hat Helena erschossen!“, stellt Rick voller Bitterkeit fest.

„Genau! Und wir werden sie und ihre Spießgefährten zur Strecke bringen, Bosley. Das verspreche ich Ihnen!“, beteuert Thorne.

„Immerhin kennen wir jetzt eine Komplizin dieses Satans“, findet die Morand. „Gibt es weitere Anhaltspunkte?“

„Allerdings. Wir haben herausgefunden, wer dieses geschmacklose Regenbogen-Feuerwerk veranstaltet hat. Pierre Martyr, auch bekannt als ‚Madame Martyr’, ein ehemaliger Pyrotechniker und Travestiestar.“

„Pyrotechniker und Travestiestar?“, wundert sich Steinhäger.

„Das passt doch wohl überhaupt nicht zusammen!“

„Nicht wahr?“, brummt Thorne und klickt weiter. 

Die nächste Folie zeigt zwei Fotos: ein altes Schwarzweißfoto von einem ungemein hübschen Transvestiten mit platinblonder Langhaarperücke im kleinen Schwarzen, und ein Farbfoto neueren Datums, auf dem ein älterer dürrer Herr mit Helm vor einem beeindruckenden Feuerwerk vor der Kulisse des nächtlichen Paris zu sehen ist.

„Martyr war früher Inhaber des legendären Travestieschuppens ‚Madame Martyrs’ in der Rue des Martyrs, dem historischen Galgenweg am Montmartre. Er hat den Laden Ende der 70er Jahre verkauft und sich dann ganz und gar seinem Hobby, der Pyrotechnik, gewidmet. Er hasste ‚Normalos’ wie uns und hat schon seit Jahrzehnten gedroht, die ganze Stadt in die Luft zu jagen. Höchstwahrscheinlich hat er Gaytomas und seine Bande mit dem Anschlag beauftragt oder zumindest beraten. Wir kamen ihm jedenfalls ziemlich schnell auf die Spur. Der alte Zausel hat wohl vergessen, seine IP-Adresse zu verschlüsseln, als er E-mails an einen der Accounts von Gaytomas schickte. Als die Flics kamen, um ihn zu holen, hat er sich mitsamt seinem Haus in die Luft gesprengt. Es gab über vierzig Tote und zahlreiche Verletzte und der an sein Haus angrenzende Friedhof, Pére Lachaise, ist zu großen Teilen unter den Trümmern begraben.“

„Ein begrabener Friedhof“, deklamiert die Morand gespielt tiefgründig und nippt an ihrem Gin Tonic.

„Ist da nicht auch Jim Morrison beerdigt?“, überlegt Steinhäger.

„Und Balzac, die Callas, Bizet, Marcel Marceau, Proust, Gilbert Bécaud, Molière, Georges Méliès, Pierre Souvestre und Marcel Allain, Edith Piaf, Ives Montand, Gertrude Stein, Oscar Wilde und viele mehr“, weiß der Patriot Hervé.

„Oscar Wilde“, fällt Patricio ein. „Der war doch auch so ein Arschficker, oder?“

„Wie auch immer“, fährt Thorne fort. „Wir fanden Martyrs Notizbuch in den Trümmern. Leicht angekohlt, aber immer noch recht aussagekräftig. Die alte Tunte litt wohl an Altersdemenz und hat sich deshalb alles Wichtige aufgeschrieben. Im Augenblick lassen wir ihre Aufzeichnungen analysieren, dann sind wir bestimmt bald um einiges schlauer. Aber jetzt“, Thorne macht eine kleine Kunstpause und klickt weiter zur nächsten Folie, die das Portrait eines ungemein populären Musikers zeigt, „ist es Zeit für unseren Stargast!“ Er klatscht in die Hände und ein in eine schwarze Uniform gekleideter, rothaariger Muskelprotz betritt den Raum.

„Feverbrook, warum bringen Sie nicht Sir Ethan herein? Lassen Sie sich von Merrick helfen“, sagt Thorne und lächelt diabolisch.

„Sofort, Sir Rupert. Zu Befehl!“, antwortet der Uniformierte mit deutlichem schottischen Akzent, tippt mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand an seine Stirn und ist schon wieder verschwunden.

„Ich glaube, wir haben noch Zeit für einen Drink. Rose ...“, Thorne wendet sich an seine Sekretärin, die sich sofort zur Bar bewegt.

„Was darf es sein, Ladies und Gentlemen?“, fragt sie und wirft ein Lächeln in den Raum.

„Bier!“, ruft Steinhäger. „Eiskalt, bitte nicht wieder diese lauwarme Plörre.“

„Ich nehme einen Picon“, meldet Hervé.

Alle anderen entscheiden sich für Gin Tonic.

Rose serviert die Drinks und ein paar Sandwiches und dann kommt auch schon der Rothaarige zurück, mit einer würfelförmigen, etwa ein Meter tiefen Holzkiste, die er auf einer Sackkarre transportiert. Ihm folgt ein zweiter, unscheinbarer Mann, der einen großen Wasserkanister und eine Babybadewanne aus rosa Plastik trägt.

„Dann wollen wir mal.“ Thorne öffnet eine Schublade, nimmt ein Brecheisen und eine Packung OP-Handschuhe heraus, erhebt sich und nähert sich der Kiste, die Feverbrook vor der Fensterfront abgestellt hat.

Thorne setzt das Brecheisen am Deckel der Kiste an und stemmt sie mühelos auf, so, als hätte er so etwas schon Tausende von Malen getan. Als er den Deckel entfernt, fallen die anderen Teile der Kiste ganz einfach so zur Seite weg, Holzwolle verteilt sich auf dem Teppichboden und der zusammengepresste Körper eines laut stöhnenden, gefesselten Mannes in einem schmutzigen pastellgelben Anzug wird sichtbar und rollt den Agenten direkt vor die Füße.

Der Mann, ein kleiner, feminin wirkender Kerl um die 60, mit zerbrochener Brille auf der Nase und verrutschtem Toupet, starrt die Agenten fassungslos an. Er stinkt nach Schweiß, Urin und Angst.

Rick erkennt ihn sofort. Es ist Ethan James. Sir Ethan James. Der berühmte Popstar und Multimillionär. Den kennt in England jedes Kind.

„Sir Ethan, darf ich Ihnen Sir Rupert vorstellen?“, fragt Feverbrook mit vor Sarkasmus triefender Stimme.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, erkundigt sich Thorne, der sich schon auf das freut, was jetzt folgen wird.

Er hat die Songs von Ethan James schon immer gehasst. Dämliches, sentimentales Tuckengedudel.

Wasser

„Wasser“, krächzt Ethan James. Er weiß gar nicht mehr, wie lange er in dieser verdammten Kiste eingesperrt war. Stunden? Tage? Wochen? Er glaubt zu verdursten.

„Wasser“, äfft ihn Feverbrook nach und zeigt dann auf Sir Ethans Schritt, in dem sich ein feuchter Fleck im Stoff der hellen Hose abzeichnet. „Sieht ganz so aus, als hätte da jemand sein Wasser nicht halten können.“

Merrick, sein Kollege, lacht böse.

„Apropos Wasser“, grinst Thorne. „Ertrinken soll ja bekanntlich der schönste Tod sein. Dementsprechend dürfte dann wohl Waterboarding die schönste Verhörmethode sein, nicht? Gentlemen, wenn ich bitten dürfte ...“

Das lassen sich die beiden Schwarzgekleideten nicht zweimal sagen. Feverbrook zieht ein Paar OP-Handschuhe an, packt den alternden Popstar am Schlafittchen und presst dessen Oberkörper in die rosa Babybadewanne. Merrick öffnet derweil den Kanister und lässt dann ganz sachte etwa zwei Liter Wasser über das Gesicht des Gefesselten laufen, der sich windet und hustet und prustet und seine zerbrochene Brille und sein Toupet werden einfach weggespült.

„Sir Ethan hat ein Musikfestival für Schwule und Lesben vor den Toren von Paris veranstaltet“, erzählt Thorne und nimmt einen Schluck Gin Tonic. „Mit freiem Eintritt und zahlreichen internationalen Top Acts. Zeitgleich zu den Anschlägen. So waren wirklich alle Homos außerhalb der Stadt und nicht eine einzige Pariser Schwuchtel ist zu Schaden gekommen. Merkwürdig, nicht? Was haben Sie uns darüber zu erzählen, alter Knabe?“

Ethan James hustet noch ein bisschen mehr.

„Zufall. Das Rainbow Festival war seit Monaten geplant“, lispelt er dann.

„Zufälle gibt es bei uns nicht. Die Anschläge waren mit Sicherheit auch von langer Hand vorbereitet. Nebenbei haben wir Ihre Konten gecheckt, Sir Ethan. Da gab es in den letzten drei Jahren immer wieder hohe Überweisungen auf das Konto eines gewissen Thomas Finland auf den Caymans. Den Namen haben wir auch in den Notizen von Pierre Martyr gefunden. Was für ein Zufall! Raus mit der Sprache, James, was haben Sie mit Gaytomas zu schaffen?“

„Von mir erfahren Sie nichts. Ich will meinen Anwalt ...“

Bevor er den Satz zu Ende bringen kann, presst Feverbrook den Kopf des Sängers in die Wanne und Merrick schüttet ganz ganz langsam noch ein paar Liter Wasser über sein Gesicht, das vor Angst verzerrt ist.

„Und?“, fragt Sir Rupert, als der Gefangene wieder zu Atem kommt.

Der spuckt eine Wasserfontäne in Thornes Richtung und flucht.

„Bloody bastards!“

„Weiter!“ Thorne schnippt mit den Fingern.

Während sich die beiden Schergen wieder ans Werk machen, schaut sich Rick im Raum um.

Thorne scheint das Schauspiel zu genießen. Hervé zündet sich mit ernstem Gesicht eine weitere Gitanes an und denkt wohl an seine zerstörte Heimatstadt. Patricio und die Morand folgen dem Geschehen eher gelangweilt und Steinhäger findet es anscheinend richtig komisch.

„Tolle Kollegen!“, denkt Rick, der insgeheim ziemlich schockiert über das inhumane Vorgehen seines neuen Vorgesetzten ist. Das ist doch wohl wirklich nicht die feine englische Art!

Rick wirft einen Blick in Richtung der Sekretärin von Thorne.

Rose sitzt auf der Ledercouch und zieht sich in aller Seelenruhe die Lippen nach. Sie ist so vertieft in diese Beschäftigung, dass sie außer ihrem eigenen hübschen Antlitz in ihrem kleinen, mit Swarovski-Kristallen besetzten Schminkspiegel überhaupt nichts anderes wahrzunehmen scheint.

„Raus mit der Sprache, James. Wenn sie es jetzt nicht ausspucken, sorge ich persönlich dafür, dass Sie den Rest ihres erbärmlichen Lebens in Gaytanamo Bay verbringen!“, poltert Thorne.

„Gaytanamo!“, lacht Steinhäger, der dieses kleine Wortspiel anscheinend irre witzig findet.

Feverbrook und Merrick fahren mit der Wasserfolter fort. Ethan James zuckt und zappelt und windet sich und hustet und prustet und gurgelt und gluckst und dann bäumt er sich noch einmal auf und fällt zurück in die Wanne und rührt sich nicht mehr.

„Mist, er ist hin“, stellt Feverbrook fest.

„Ertrunken. 20 Meter über dem Meeresspiegel!“, feixt Merrick.

„Bloody hell!“, flucht Thorne. „Euch beiden Trotteln fehlt ja wirklich jedes Fingerspitzengefühl. Na ja, egal. Good riddance to bad rubbish. Rose“, er schnippt mit den Fingern. „Ich glaube, wir können jetzt alle noch einen Drink vertragen. Aber bitte kein Wasser, okay?“

English Rose

Später, in den eigentlich nur aus Schlaglöchern bestehenden, menschenleeren Straßen von Blackpool.

Rose lenkt ihren uralten Mini Cooper vorbei an der schon seit Jahren geschlossenen ‚Easy Bingo Hall’. Es regnet immer noch wie aus Eimern und die bunten Neonlichter der heruntergekommenen Nightclubs, Fish & Chips Shops, Chinese Takeaways und Pubs spiegeln sich in den riesigen Pfützen, die sich überall auf dem Asphalt gebildet haben. Sie biegt nach rechts ab, in eine der finstersten Nebenstraßen des Vereinigten Königreiches.

Im Radio läuft ‚Romantic Rain’ von Ethan James. Ausgerechnet!

Ethan James war der Lieblingsstar ihrer Mutter gewesen und ‚Romantic Rain’ war 1970 sein allererster ganz großer Hit. Nummer 1 in England und ganz oben in den Top 40 in den USA und eigentlich überall auf der Welt. Das war lange vor Roses Geburt.

„Driving down lovers’ lane, no one can see us, romantic rain, romantic rain ...”

Wenn ihre Mutter wüsste, dass sie zugesehen hat, wie ihr Idol zu Tode gefoltert wurde. Nicht auszudenken! 

Rose dreht am Sendersuchlauf ihres altmodischen Autoradios. Jetzt läuft ‚English Rose’, ebenfalls von Ethan James. Er hat das Lied 1997 zur Beerdigung von Prinzessin Diana geschrieben und es war mit fast einer Milliarde verkaufter Tonträger sein allergrößter Hit weltweit.

„You’ll never wilt, my English Rose ...“

Rose unterdrückt ein Schluchzen, wischt eine Träne aus dem Gesicht und verflucht ihren Boss, Sir Rupert Thorne, den verdammten erzreaktionären Rassisten, Sadisten und Sexisten, der ihr bei jeder Gelegenheit mit unverhüllter Geilheit auf die Brüste starrt.

Sie parkt auf der Rückseite des ‚Happy Starfish Pub’. Sie weiß, dass die CCTV-Kamera, die den Parkplatz des Pubs überwacht, schon seit Monaten kaputt ist. Außerdem hat der Pub einen Hot Spot. Mit wenigen Handgriffen verbindet Rose ihren iPod Touch mit dem versteckten USB-Anschluss ihres Schminkspiegels, bei dem es sich tatsächlich um eine raffiniert getarnte Digitalkamera handelt und überträgt die Fotos, die sie während des Verhörs von Sir Ethan geknipst hat, in das Bilderverzeichnis ihres iPod Touch. Sie checkt die Bilder: Allesamt ein bisschen zu dunkel, aber sie hätte ja wohl schlecht einen Blitz benutzen können. Die Morand, der Franzose, der blöde blonde Sauerkrautfresser und der Italiener sind trotzdem ganz gut zu erkennen. Den Trauerkloß Bosley hat sie aber einfach nicht aufs  Bild gekriegt, er stand permanent im Abseits. Na ja, kann man nicht ändern ...

Rose ruft ihr konspiratives Yahoo E-mail Account auf und wählt aus der Kontaktliste Tom@finland.

„Die Tupper-Party war ein großer Erfolg“, tippt sie über die virtuelle Tastatur ihres kleinen Media Players. „Die vergessliche Madame M. hat ihr Notizbuch liegen lassen. Der Kanarienvogel hat nicht gesungen, ist aber entflogen. Anbei die Fotos unserer neuen Tupper-Beraterinnen.“

Sie häü

Jetzt fühlt sie sich besser, startet den Mini und fährt nach Hause in ihr kleines Zwei-Zimmer-Apartment, das sie sich allein mit ihrem Scotchterrier Minty teilt, der in ihrer Abwesenheit bestimmt wieder auf die Auslegeware gepinkelt hat.

Rose arbeitet schon seit sechs Monaten für Sir Rupert. Noch länger arbeitet sie aber als ehrenamtliche Schläfer-Agentin für Gaytomas, den geheimnisvollen Outlaw, der unermüdlich für die Rechte von Transen, Schwulen und Lesben wie Rose kämpft und nicht ruhen wird, bis nicht der oder die Letzte von ihnen befreit ist.