EPILOG
Herr V. überlebt.
So jedenfalls fühlt es sich an.
Er geht durchs Leben und wundert sich.
Du bist einer aus der Klapse,
Sagt er sich und
Er weiß:
Die aus der Klapse
Das sind die Verlierer.
Die haben nichts mehr zu sagen.
Herr V. geht einkaufen.
Roastbeef. Ciabatta. Wasser und Saft.
Netter Plausch an der Wursttheke.
Er schiebt so den Wagen in Richtung Kasse.
Da trollert aus der Schnapsgasse
Juliane Le Viseur.
Verheert.
Betrunken.
Und weint.
Herr V. spricht die Frau an,
Sie blickt ins Leere und keift,
Dass er sie nicht belästigen solle.
»Ich bringe dich nach Hause«, sagt er.
»Fick dich«, sagt sie.
Und dann ist sie weg.
Herr V. bezahlt und würde gern trinken.
In der Nähe eine Bank,
Auf der er schon viele
Elephants niedergemacht hat.
Er setzt sich
Und lässt
Die große Hoffnungslosigkeit zu.
Wolken ziehen über München.
Die Bäume rauschen.
Die Stadt lebt.
Manchmal wünscht sich Herr V.
Zurück in die falsche Geborgenheit
Von Haar.
Herr V. nimmt seine Einkäufe
Und geht los.
Die Rückkehr ins Leben ist ein bisschen hart.
Detlef Vetten
50 Tage
lebenslänglich
Impressum
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Redaktion: Matthias Teiting, Duisburg
Umschlaggestaltung: Sonja Vallant
Umschlagfotografie: Barbara Ellen Volkmer
Satz: HJR, Jürgen Echter, Landsberg am Lech
EPUB: Grafikstudio Foerster, Belgern
ISBN Print 978-3-7474-0129-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-213-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-254-2
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Inhalt
Prolog
Drin
Juliane kauft ein
Übel- und andere Herrlichkeiten
Sarah und Rocco I
Alte Gefühle I
Wo san de Rindviecher?
Runde um Runde
Sarah und Rocco II
Hörig I
Alte Gefühle II
Sarah und Rocco III
Hörig II
Gegen die Wand
Carlo
Sarah und Rocco IV
Letzte Gedanken
Alte Gefühle III
Hörig III
Sarah und Rocco V
Draußen
Epilog
Prolog
Schreien.
Delirieren.
Fixiert sein.
Wegdämmern.
Vollgepumpt sein.
Aufgeben.
Manchmal, wenn draußen
Der Sturm geht,
Ächzt die Station.
Manchmal heult einer in sein Kissen.
Und das Kissen stinkt
Nach Medizin.
Es gibt einen Fernseher,
Der läuft von fünf bis zehn.
Mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage.
Weil – da ist man ja kulant:
Am Wochenende dürfen auch die
Irren länger.
In einem vernebelten
Raucherzimmer
Wird viel unnötig gelacht.
Ein Patiententelefon
Wimmert, zehn
Menschen springen zum Gespräch.
Telefonate.
Du wirst angerufen
Und abgehängt.
Du kannst auch auf
Den Gang gehen.
Vierzig Schritte, wenn du sie weit setzt.
Vierzig Schritte, rechtsrum: Der Mann
Mit dem Bürstenschnitt und dem sanften Blick,
Er hat sie hunderttausendmal getan.
Die Anstalt ist kalt, immer kalt.
Selbst wer an der Heizung kauert,
Wird frieren
Äste, Kälte, Schnee.
Du schaust raus, und nix geht.
Du bist drin, und es ist aus.
Freiheit?
Das Wort wird
Immer fremder.
Drin
Der Tag, an dem Herr V. eingeliefert wurde, war ungemütlich. Es hatte morgens ein wenig nass geschneit, dann war alles grau gewesen. Er hatte aus dem Fenster seiner Wohnung gesehen, einen seichten Radiosender gehört und geweint. Draußen war der Freitagsverkehr über die Leopoldstraße gerauscht, die Passanten hatten versucht, mit ihren verhuschten Bewegungen dem Winterwetter zu entfliehen. Er hatte ein Glas Wein auf ex getrunken und sich geschüttelt. Es war ein ziemlicher Fusel gewesen.
Am Tag zuvor war er auf dem Arbeitsamt gewesen. Netter Betreuer, aus Sachsen. V. hatte wieder mal eine Frist übersehen, so leid es dem Amt tue, er habe keinen Anspruch mehr. Vielleicht sollte er die Formulare noch einmal ausfüllen, hatte der nette Sachse gemeint. Dann war V. wieder auf die Straße gegangen, hatte den letzten Stolz über Bord geworfen und war in Richtung der nächsten Bierbude abgebogen.
Langer, ermattender, die Trunkenheit verstärkender Heimweg durch die Stadt. In der eigenen Butze angekommen, hatte sich Herr V. endgültig abgeschossen.
Rheinhessen, lieblich.
Aufgewacht, Wein auf ex, die falsche Musik im Radio.
Im fünften Stockwerk. Die Balkontür aufmachen. Zwei Schritte. Über die Brüstung steigen. Alles ganz einfach.
Er hatte sich nicht getraut. Einen Freund angerufen. Der hatte den Arzt und die Polizei alarmiert. Dann waren sie bei ihm gewesen. Notarzt. Zwei Polizisten. Sanitäter, zwei an der Zahl. Einer von der Feuerwehr. Hatten in seinem Apartment gestanden und Herrn V. beguckt. Einen körperlich intakten, wenngleich sehr betrunkenen 50-jährigen Mann, der in Tränen aufgelöst war. Der versuchte, sein Unglück zu beschreiben: Frau weg, Kinder weg, Job weg, Krach mit der Freundin, das ganze Scheiß-Leben.
Er saß auf seinem ungemachten Bett. Die Polizistin hatte sich vor ihm niedergekniet – er trug nur verschlissene Boxershorts, und ihr Gesicht war von seinem unerregten, seit zwei Tagen nicht mehr gewaschenen Geschlecht eine Handbreit entfernt –, und sie hatte ihm zugehört, während der Kollege aufgepasst hatte. Dann hatte sie ihn gebeten, ein paar Sachen einzupacken, und man war im Lift ins Erdgeschoss gefahren. Es war ihm ziemlich egal gewesen. Er war betrunken genug gewesen, alles mitzumachen. Sie hatten Herrn V. in den Notarztwagen gesetzt und angeschnallt, die Tür war zugeschoben worden.
Leopoldstraße. Mittlerer Ring. Autobahnzubringer. Hinter Riem nach rechts. Eine Ortschaft. Ein paar Kurven, eine Unterführung. Langsamer. Durchs kleine Fenster waren höhere Gebäude zu sehen. Eine kurze Auffahrt. Stopp. Die Tür wurde aufgeschoben. Man hatte ihn losgeschnallt, er war aus dem Wagen getaumelt.
Herr V. war durch die automatische Tür gelotst worden, in einem Lift in den zweiten Stock gefahren, ausgestiegen, hatte ein Schließsystem passiert, man hatte ihn an einem verglasten Büro, einem Trimmrad vorbei durch einen – ihm endlos vorkommenden – Gang, ein paar seltsame Menschen passierend, zu einem Büro geführt, in dem ein Radio die gleiche Musik dudelte, die er in seinem Zimmer hatte laufen lassen. Man hatte ihn auf einen Stuhl gesetzt und ihm ein paar Fragen gestellt. Wie viel Alkohol? Seit wann? Warum? Wie er sich fühle? Er hatte blasen müssen. Er war sehr müde gewesen. Ihn hatte das alles nicht interessiert. Man hatte ihn später in einen Schlafraum geführt und ihm ein Bett zugewiesen. Er hatte sich niedergelegt und um sich geblickt. Es hatte immer noch geschneit.
Ein grauenvoller Raum. Acht Betten plus eines für Intensivfälle. Schlafende, röchelnde, hässliche, stinkende Männer. Dauerlicht, das auch nicht gelöscht wird, als es später draußen Nacht wird. Das ist der Zeitpunkt, als Herr V. langsam realisiert: Ich bin drin.
Aber noch weiß er nicht, was das bedeutet. Noch schützt ihn der Alkohol. 2,4 Promille.
Juliane kauft ein
Zwei Stunden nach Herrn V. schon wieder ein Neuzugang. Eine Frau diesmal. Sehr betrunken. Der teure knöchellange Steppmantel ist auf einer Seite mit Erde verdreckt. Die Frau, älter als 60 wohl, hält sich nur mühsam auf den Beinen, wird von zwei Sanitätern gestützt. Aber sie zetert und wütet. Ihre Stimme ist stark und grell. Der Klang erfüllt die ganze Station.
Wäre sie nicht so betrunken, sie wäre eine aparte Person. Schlank ist sie, wohl vor Kurzem beim Friseur gewesen. Der hat ihr einen schicken frischen Schnitt in ihr kurzes blondes Haar gezaubert. Die Fingernägel sind penibel lachsrosa lackiert. Juliane Le Viseur trägt Designer-Jeans und unter dem roten Mantel einen gelben Kaschmirpullover. Die Stiefel hat sie aus der Maximilianstraße. Als sie sitzt, gibt ihr einer der Sanitäter eine Handtasche zurück, die mit Sicherheit ein kleines Vermögen gekostet hat.
Jetzt ist alles ein wenig angegriffen. Die Tasche hat bei dem Sturz ein paar Kratzer abbekommen und starrt vor Dreck. Mit den Stiefeln ist sie vor ein paar Stunden noch bis zu den Knöcheln durch den Isarschlamm gestapft – das sieht man auch. Die Haare sind verstrubbelt, das Make-up ist verlaufen. Sie hat ein wenig ins Höschen gemacht – die Dame riecht nicht mehr ausschließlich nach teurem Parfum.
Die Pfleger blicken auf die schreiende, schimpfende Trinkerin, dann sehen sie sich an. Das wird ein gutes Stück Arbeit, soll das wohl heißen.
»Würden Sie da bitte reinblasen?«, sagt der eine und reicht der Frau ein Gerät von der Größe einer überdimensionierten Fernbedienung mit einem simplen Display. An einem Ende ist ein Mundstück angebracht. »Bitte, Sie kennen das ja.«
Sie will nicht. Dann müsse man sie fixieren und ihr solchermaßen etwas Blut abnehmen. Sie fügt sich und führt das Mundstück an die Lippen. Bläst hinein, nichts tut sich.
»Sie müssen sich schon ein bisserl Mühe geben. Probieren Sie es noch einmal.«
Juliane Le Viseur plagt sich. Irgendwann piept das Gerät endlich. Sie darf aufhören. Pflicht erfüllt. Da ist man schon ein wenig stolz. Sie lehnt sich auf dem Hocker zurück und atmet schwer. »Jetzt will ich aber heim«, japst sie. Der Pfleger, der ihr das Gerät aus der Hand genommen hat, schüttelt nachsichtig und kaum merklich den Kopf, während er das Display fixiert. Dann entfährt ihm ein »Uih!«.
Er reicht das Gerät seinem Kollegen. Der schaut drauf, blickt die Trinkerin an und fragt: »Wissen Sie, wie viel Sie haben?« Sie schüttelt den Kopf. »4,2. Dabei haben Sie jetzt seit eineinhalb Stunden keinen Alkohol mehr zu sich genommen. Das waren ja fast 4,5. Frau Le Viseur, das ist ganz schön viel.«
Jetzt fängt sie an zu schreien. Eine Unverschämtheit sei das. »Ihr wollt mich fertigmachen. Ein paar Piccolo habe ich gehabt, und vielleicht ein, zwei Cognac. Ihr wollt mich doch nur einsperren. Aber nicht mit mir – ich will mit meinem Anwalt telefonieren. Der holt mich hier ganz schnell raus. Und dann kümmert er sich um euch. Eure Namen will ich wissen, sofort.«
»Beruhigen Sie sich erst mal, Frau Le Viseur. Wenn Sie den Wert nicht glauben, dann machen wir den Test mit einem anderen Gerät noch einmal. Und natürlich können Sie mit Ihrem Anwalt telefonieren. Aber nicht mehr heute Abend, nicht in Ihrem Zustand. Gleich kommt die Ärztin, die wird Ihnen das Gleiche sagen. Seien Sie bitte vernünftig, wir wollen Ihnen nur helfen.«
»Ich will nach Hause. Sofort. Auf der Stelle. Versteht ihr, auf der Stelle! Ich habe niemandem was getan.«
»Sie sind krank, Sie brauchen Hilfe. Ach, da kommt ja die Frau Doktor.«
Die Ärztin ist noch jung, 30 vielleicht. Spindeldürr, der weiße Kittel schlackert an ihrem Körper. Sie nimmt das Formular, das die Pfleger angelegt haben.
»Ah, Frau Le Viseur, wie geht es Ihnen?«
»Mir geht es gut. Ich will nach Hause, Frau Doktor.« Die Patientin hat ihre Stimme zurückgenommen, was das Lallen verstärkt. »Es ist alles in Ordnung. Ich möchte nur ein Taxi bestellen und heim. Ich habe ein großes Haus in Grünwald, ich habe Geld, ich muss morgen auf die Bank.«
»Aber Frau Le Viseur, morgen ist Samstag, da haben die Banken zu.«
Jetzt gellt die Stimme wieder. »Das ist doch ganz egal. Frau Doktor, Sie stecken mit denen unter einer Decke, ich werde Sie auch verklagen.«
Die Ärztin versucht ihre Patientin weiter zu beruhigen. »Frau Le Viseur, man hat 4,2 Promille bei Ihnen gemessen. Daran kann man sterben. Wir müssen Sie beobachten und Ihnen, wenn es nötig ist, die Medikamente geben, die Sie brauchen. Seien Sie sicher, dass ich Sie heute nicht mehr entlasse. Ich gebe Ihnen jetzt etwas für den Blutdruck. Sie erzählen mir, was passiert ist. In der Zwischenzeit richten wir ein sauberes Bett her, und dann legen Sie sich erst einmal hin. Anders geht das nicht. Und wenn Sie nicht aufhören zu schreien, schaden Sie sich nur.«
Einer der Pfleger hat mittlerweile eine Spritze aufgezogen. Juliane Le Viseurs Widerstand ist gebrochen. Sie beginnt zu schluchzen. Die Ärztin setzt die Spritze, lässt der Patientin Zeit. Sie bedeutet den Pflegern, sich ein wenig auf den Gang zurückzuziehen. Dort sind sie auf dem Sprung, für den Fall, dass noch einmal Leben in Juliane kommen sollte.
»Jetzt erzählen Sie mal, Frau Le Viseur, was ist denn passiert? Sie brauchen sich für nichts zu schämen. Wie gesagt, wir wollen Ihnen helfen. Und das geht am besten, wenn wir wissen, was los ist mit Ihnen.«
Und Juliane Le Viseur erzählt unter Schluchzen aus ihrem Leben:
Sie war glücklich verheiratet mit Richard. Den hatte sie bei einem Aufenthalt in Paris kennengelernt. Sie war Model für Hände, Augen und Nase gewesen. Manchmal auch für Unterwäsche, obwohl sie eigentlich zu klein war. Ihm gehörte das Hotel, in dem sie damals logierte. Er sah blendend aus, ein braun gebrannter sportlicher Erfolgstyp mit einem Charme, dem sich niemand entziehen konnte. Und er trug sie auf Händen. Wie man so sagt.
20 Jahre lebten sie in Frankreich. Kauften dann eine Villa in Grünwald, dem Nobelvorort von München, wo Juliane aufgewachsen war. Richard und sie hatten nie Kinder gewollt, waren einander genug.
Ein Leben auf der Überholspur. Heli-Skiing in Kanada, Shopping in New York, die besten Partys und Premieren in München, Freunde aus der ersten Reihe – und wenn ihnen danach war, fuhren sie übers Wochenende im Porsche in ihr schnuckeliges Haus am Gardasee, wo sie über ihren Steg die Surfboards zu Wasser ließen. Ab und zu Champagner zum Frühstück, ein Spitzenwein zum Dinner oder eine Maß Bier auf dem Oktoberfest; das war’s dann auch, für Alkohol war in diesem wundervollen Leben nicht sehr viel Platz.
Bis Richard krank wurde. 55 war er erst, scheinbar ein Baum von Mann. Doch eines Tages meinte er, er werde mal zum Arzt gehen. Da stimme irgendetwas nicht. Er kam vom Doktor zurück und war ein anderer.
Wurde immer weniger. Nichts half. Die Muskeln verschwanden aus seinem Körper. Die besten Spezialisten der Welt schüttelten mit den Köpfen. Er musste ein letztes Mal in die Klinik. Sie war bei ihm, sah, wie er den Kampf allmählich verlor. Wenn sie abends in ihr Hotel kam, ging sie an die Minibar und trank etwas. Einen Cognac und einen Wein zu Beginn, dann wurde es mehr.
Das Sterben ihres Mannes dauerte einen Monat. Am Morgen, als aus der Klinik der Anruf kam, dass es vorbei sei, brauchte Juliane lange, bis sie begriff, was das hieß. Sie schlurfte zur Minibar. Die war leer. Sie rief den Roomservice und bestellte eine Flasche Cognac. Trank drei Gläser, dann fuhr sie ins Krankenhaus zu Richards Leiche.
Die bemerkenswerte Beerdigung erlebte Juliane nur in Trance. Es waren so viele Menschen da, so viele Männer hatten etwas über den Verstorbenen zu sagen. So viele seltsame Sachen. Sie hatte gedacht, irgendwann würde es vorbei sein mit diesem Schmerz, der sie zerriss, sobald sie nicht genügend Cognac hatte.
Sie wurde seltsam.
Die Freunde schoben es auf die Tabletten, umarmten sie und versprachen, sie würden immer da sein. Dann fuhren sie in ihre eigenen Leben zurück, und Juliane blieb allein in der großen Villa mit dem großen Garten und dem hohen Zaun drum herum.
Das war vor zwei Jahren. Die Freunde kamen bald nicht mehr. Wussten nichts anzufangen mit dieser Frau, die sich so gehen ließ. Es sprach sich herum, dass die Le Viseur trinke. Falsch, dass sie soff wie ein Loch.
Ihre neuen Freunde standen unter der Großhesseloher Brücke an einem Kiosk bei Bier und Schnaps und nahmen Juliane gern in ihrer Runde auf. Der Isar-Spaziergang dorthin dauerte eine Dreiviertelstunde – Juliane sagte sich, sie lebe ja gesund mit diesem eineinhalbstündigen Marsch und dem Zwischenstopp an der frischen Luft.
Und sie hatte noch einen neuen Freund: den Mann vom Tengelmann. Zu dem ging sie morgens, so gegen elf. Sie lud ihren Einkaufswagen voll – zwei Flaschen Sekt, eine Pulle Cognac, eine Flasche Wasser, was Leckeres für die Mikrowelle. Sie zahlte, der Mann verstaute die Waren. Einen Zwei-Zentiliter-Wodka und zwei Cognäcchen gab es für die Handtasche. In der Mittagspause würde er gegen gutes Trinkgeld den Rest der Ware in ihre Villa liefern, er hatte die Schlüssel.
Juliane machte sich auf den Weg. Hinunter zur Isar, wo sie einen der wenig begangenen Sandpfade benutzte. Ab und zu ein Nipperchen Wodka zur Stärkung. Beim Kiosk angekommen, bestellte sie nur Piccolo. Und immer nur vier Stück. Sie war ganz klar und disputierte klug und über jedes Thema mit den Männern. Juliane war die einzige Frau, und die Kerle machten ihr den Hof. Ab und zu durfte ihr einer einen Klaps auf den Po geben und bekam eine ausgesprochen freundliche Ermahnung. Einmal verschwand sie mit einem in den Sträuchern hinter dem Kiosk, doch es machte keinen Spaß.
Nach vier Piccolo begab sie sich auf den Heimweg. In der Villa angekommen, waren die Cognac-Minis leer, in der Küche stand der Nachschub. Es war ungefähr halb drei am Nachmittag. Jaja, Juliane Le Viseur hatte zeitlebens auf Pünktlichkeit geachtet.
Nun hatte sie frei. Machte es sich vor dem Fernseher gemütlich. Wenn sie in Form war, schaffte sie bis zu den Tagesthemen eine Flasche Cognac und eine Flasche Sekt. Die andere war fürs Frühstück am nächsten Morgen.
Heute war der Todestag ihres Mannes. Zwei Jahre schon lag er unter der Erde – und es ging ihr noch immer nicht gut. Sie stand auf, frühstückte. Ging an den Schrank mit der eisernen Reserve. Goss sich einen Großen ein, noch einen und noch einen. Schon der Weg zum Tengelmann war beschwerlich. Sie besorgte ihre Einkäufe, die ihr Freund vom Supermarkt in Empfang nahm. Er gab ihr die Wegzehrung und eine Flasche Sekt (der Kiosk hatte im Winter geschlossen, man musste sich seine Getränke selbst mitbringen).
Sie packte alles in die geräumige Lacoste-Handtasche. Verließ den Laden und steuerte das kleine Bistro an der Ecke an, das um diese Zeit schon geöffnet hatte. Das tat sie sonst nie. Aber heute war sozusagen ein Feiertag.
Sie stand bis drei am Tresen, machte interessante Bekanntschaften, gab ein paar Runden aus. Schließlich raffte sie sich auf. Ging ein bisschen unsicher hinunter zur Isar (das war ja auch alles zu steil!). Sie musste an ihren Richard denken, ihr kamen die Tränen. Weinend wanderte sie zu ihren Freunden. Leerte dort den Sekt, machte sich auf den Rückweg.
Es dunkelte schon. Ein Schluck, jetzt waren der Wodka und die Cognacs alle. Sie tapste über den Sandweg. Es düsterte schon, und Juliane bemerkte die angeschwemmte Wurzel nicht, sie stolperte, fiel hin.
Frau Le Viseur blieb liegen. Sie weinte laut und sah in den Nachthimmel. Irgendwann beugte sich jemand – ein Jogger wohl – über sie und fragte etwas. Sie weinte weiter. Der Mann zog ein Handy aus der Tasche, später gesellten sich Sanitäter zu ihm. Die halfen ihr hoch und führten sie zu einem Auto mit vielen bunten Lichtern. Sie schnallten sie an, dann schlief sie ein bisschen.
So war das.
»Frau Le Viseur, das bekommen wir schon wieder hin«, sagt die junge Ärztin. »Ihr Bett ist jetzt auch fertig. Schlafen Sie gut.« Ein Pfleger nimmt sie am Arm. Das Bett ist weiß und kühl, und sie ist schrecklich matt. Sie lässt sich zudecken. Bevor sie einschläft, sagt sie mit gebrochener Stimme:
»Aber eins ist klar. Morgen will ich nach Hause.«
Übel- und andere Herrlichkeiten
Herr V. fühlt sich mies. Ihm ist schwummrig. Wenn er aufsteht, kann er gerade mal eine Runde auf dem Gang drehen, langsam, ohne einen Blick nach links oder rechts, ein bisschen schwankend. Dann aber nichts wie zurück ins Bett. Kein Buch interessiert ihn, ins Fernsehzimmer darf er ohnehin erst, wenn er aus dem Aufwachzimmer entlassen worden ist. So liegt er in seinem Bett und döst.
Der Tag auf der Station will nicht so recht vorbeigehen. Es gibt da das Frühstück und das Mittagessen und den Abendtisch. Wenn man schon länger auf Station ist, darf man nachmittags drei Stunden raus und abends dann fernsehen. Das schaffen einige. Andere sind vom Totschlagen der Zeit so müde, dass sie die Energie für das TV nicht aufbringen.
Bleierne Zeit, so sagt man wohl. Aufwachen um sechs, essen um halb acht, Essen at High Noon, halb sechs Abendbrot. Freigang zwischen zwei und fünf. Fernsehen nach dem Abendessen. Dreimal am Tag Medikamente. Manchmal ruft ein Pfleger etwas, manchmal lacht einer, manchmal klingelt das Patiententelefon. Visite, vor der viele Angst haben und zittrige Hände bekommen. An der Tür des Pflegerzimmers hängt oft das Schild »Nicht stören! Übergabe.« Die Bücher, die in der Geschlossenen ausliegen, sind sowieso miserabel.
Bleierne Zeit. Raucher haben es besser als Nichtraucher. Raucher latschen in das Kabuff, hören Bayern 1 und erzählen die immer gleichen Geschichten. Nichtraucher können nix mit sich anfangen, weil sie nicht rausdürfen. Nur den Gang rauf und runter.
Die Tabletten tun auch ihren Part. Sie machen träge. Also liegen die Patienten immer wieder tagsüber auf ihrem Bett und warten auf nichts. Manchmal hat man Glück: Dann kommt ein Neuer. So hat Herr V. begeistert die Ankunft eines hünenhaften Mannes beobachten dürfen, der 5,2 Promille hatte. Die Pfleger haben den Menschen wie einen alten Bekannten begrüßt – und während sie ihn verarzteten, erzählte er ohne Stocken einen Witz. Mit Pointe.
Das Zimmer, in dem Herr V. vor sich hin döst, ist schmucklos, sechs Betten stehen darin – und es gibt nichts, wohin man gern guckt. Alles ist hell und steril. Im Nachtkasten hat Herr V. eine Flasche Saft, ein paar Bücher, seine Schreibutensilien. In den ersten Tagen rührt er die Bücher nicht an – und wenn er etwas notiert, ist seine Schrift so krakelig, dass er sie kaum entziffern kann.
Er weiß nicht, wie lange sie ihn dabehalten werden, es interessiert ihn auch nicht. Nach den ersten Tagen hat er die Hoffnung aufgegeben, etwas könnte je wieder nach seinem Willen laufen.
Der neue Nachbar, ein freundlicher Saufkumpan, ist gestern Morgen eingeliefert worden. Er hat ein Frühstück verlangt, gierig drei Semmeln mitsamt Käse und Fleischwurst verschlungen, das Tablett entsorgt, sich hingelegt, zur Seite gedreht, und dann ist er eingeschlafen. Der ratzt Tag und Nacht. Lässt sich mit Tabletten und Essen vollstopfen, verrichtet seine Notdurft, geht alle paar Stunden eine rauchen und macht sich ansonsten eine ruhige Zeit.
Herr V. aber kann nicht schlafen. Er stiert an die Decke, hadert und lauert. Wenn sich etwas ereignet, bekommt er das mit. In einer Art Zeitlupe freilich. Er, der immer ein Notizbuch mit sich führt, ist kaum in der Lage, die Geschehnisse aufzuschreiben, die sich hier ereignen. Er führt den Stift mit Mühe, die Buchstaben mutieren zu zackigen, zittrigen Gebilden. Die Notizen der ersten Tage wird er später nicht einmal selbst entziffern können.
Das Schicksal von Frau Le Viseur zum Beispiel. Die hatte nach dem ersten Einschlafen eine fürchterliche Nacht. Trotz der Medikamente ist sie immer wieder aufgewacht und hat ihren Weltschmerz in die Nacht gebrüllt. Als das Frühstück kam, so gegen halb acht, war sie kaum mehr zu halten. Raus wollte sie, nach Hause, sofort, ein Taxi, ihren Anwalt. Sie war noch sehr betrunken.
Eine Pflegerin verlor schließlich die Geduld. »Seien Sie jetzt sofort ruhig«, herrschte sie die Patientin an. »Sonst hole ich den Richter.«
Frau Le Viseurs Bettnachbarin – sie heißt Anne Eiberle, ist schon zum sechsten Mal in Haar – wollte Juliane Le Viseur helfen. Sie beugte sich zur Rasenden hinüber und sagte ein ums andere Mal: »Du, pass’ auf! Nicht der Richter, nicht der Richter. Das geht nicht gut. Ich kenne das. Nicht der Richter, nicht der Richter.«
Juliane Le Viseur keifte: »Soll er doch kommen, der Scheiß-Richter. Dem werde ich schon was erzählen. Der muss mich hier rauslassen. Wo sind wir denn? Ruft ihn doch, euren Scheiß-Richter!«
Ob das ihr Ernst sei, fragte die Pflegerin, mit einem Ton der Hoffnung in der Stimme. Klar. Also, dann werde man ihn halt kommen lassen. Bis dahin möge sich Frau Le Viseur, bitte schön, ordentlich aufführen. Dieses Rumschreien werde dem Herrn Richter gar nicht gefallen.
»Ich weiß selber, wie ich mich zu benehmen habe. Und jetzt lasst mich gefälligst in Ruhe.« Danach sank die Patientin schwer atmend ins Kissen. Mitleidig sah Anne Eiberle zur Nachbarin.
Zwei Stunden später trat der Richter auf. Sein Gefolge bestand aus einer vor Scheu geduckt schleichenden Assistentin mit aufgeklapptem Laptop, der von der überlangen Schicht gezeichneten dürren Ärztin und zwei Pflegern. Die vier bauten sich vor Juliane Le Viseurs Bett auf. Die war eingeschlafen und schnarchte unregelmäßig.
Der Richter ist ein unansehnlicher Mann. Könnte 50 sein oder auch 60. Klein ist er, vielleicht 1,65 Meter groß. Dafür trägt er klobige braune Schuhe mit Plateausohlen. Sein brauner Anzug ist schon damals nicht kleidsam gewesen, als er ihn, lange ist es her, von der Stange gekauft hat. Außerdem scheint die Frau des Richters – wenn er denn eine hat – nicht gern zu bügeln. Auch das Waschmittel sollte mal gewechselt werden – der Kragen, einstmals weiß – ist ergraut. Nein, der Richter ist wirklich nicht gut angezogen.
Er hat ein ungesund helles Gesicht mit einem unstattlichen Schnauzer in der Mitte. Die Zähne sind schadhaft, die Augenbrauen buschig. Er hält sich nicht gerade, der kleine Richter. Der Rücken ist krumm. Er bewegt sich mit kurzen, watschelnden Schritten durch die Station. Wenn man ihn nicht kennt, könnte man vermuten, der Mann sei hier Patient.
Ja, das ist er, der Herr Richter. Muss man vor so einem Angst haben?
Ein Pfleger rüttelte an Juliane Le Viseurs Schulter. Die Frau wachte erschrocken auf. Sie versuchte sich zu erinnern, zu orientieren. Sie blickte auf die Versammlung vor ihrem Bett. Ganz unverschwommen sah sie die Personen nicht, langsam erkannte sie die impertinente Ärztin und die frechen Pfleger, aber wer war dieses verhuschte Persönchen mit dem Computer und wer dieser kleine, hässliche Mann?
Er stellte sich vor. Der Richter Soundso (er nuschelt ein wenig, deswegen verstand sie seinen Namen nicht) sei er, und sie habe nach ihm verlangt. Seine Aufgabe sei, zu beurteilen, ob ein Patient entlassen werden könne oder noch nicht.
Frau Le Viseur setzte sich auf, ordnete ihre Frisur ein wenig. Es tat ihr fast weh, die Konzentration halten zu müssen. »Ja, guten Tag, schön, dass Sie die Zeit gefunden haben. Sie werden sehen …«
Er regte keine Miene. Deswegen sei er ja hier. Um zu sehen, wie es ihr gehe.
»Also, wie geht es Ihnen?«
»Nicht gut, Herr Richter, ich möchte heim. Da habe ich mein eigenes Bett. Ich muss Dinge erledigen, kann nicht hierbleiben. Ich habe nichts angestellt, ich weiß gar nicht, warum ich hier bin.«
»Der Notarzt hat Sie gebracht, Sie hatten mehr als 4 Promille. Und Sie sind immer noch betrunken.«
»Aber …«
»Da gibt es kein Aber. Das sieht jeder. Und hören tut man es auch. Entschuldigen Sie uns bitte einen Augenblick, Frau Le Viseur.« Der Richter kehrte auf dem Absatz um und watschelte mit Frau Doktor ans Fenster. Was sie besprachen, konnte Juliane Le Viseur nicht hören. Gleich würde er zurückkommen und sie entlassen. So viel war schon mal sicher.
Er trat wieder an ihr Bett. »Also, Frau Le Viseur, ich bin mir da mit Frau Doktor einig. Sie brauchen dringend Behandlung. Sonst gefährden Sie sich selbst. Deswegen habe ich beschlossen, dass wir Sie 30 Tage in der Station unterbringen werden. Akzeptieren Sie das möglichst schnell, dann geht es Ihnen auch besser. Das ist ein amtlicher Beschluss und deswegen endgültig. Fräulein Miller, haben Sie das?«
Das Fräulein hatte hektisch in den Laptop getippt und hob jetzt den roten Kopf.
»Ja, Herr Richter, 30 Tage.«
»Gut«, sagte der Richter, und dann ohne den Anflug einer Freundlichkeit: »Der schriftliche Beschluss wird Ihnen morgen zugestellt, Frau Le Viseur, ich wünsche gute Besserung.«
Dann verließ er mit kurzen Schritten, seine Entourage im Gefolge, das Aufwachzimmer der Frauen.
So war das mit der ersten Zwangseinweisung, die Herr V. mitbekommen hat. Das ist jetzt gerade mal zwei Tage her. Er bekommt allmählich ein Gespür dafür, dass ihm für die Zeit, die er hier verbringen muss, die Persönlichkeit genommen worden ist. Er wird gefüttert, gespritzt, darf dies nicht und muss jenes. Vieles gefällt einem nicht. Aber Widerspruch ist zwecklos – man will ja nicht den Richter vor dem Bett haben.
Da ist zum Beispiel die Sache mit dem »Herr«. Herr V. hier, Herr V. da. Klingt ungemein höflich. Man könnte glatt meinen, die Leute von der Station hätten Respekt vor ihm. Ist aber nicht so. Das »Herr« verhindert alles Zwischenmenschliche. Ein Patient ist ein Patient ist ein Patient. Und bleibt es auch. Säufer, Schluckspecht, lächerliche Nummer. Einer, den man am besten auf Distanz hält. Man kümmert sich, man füllt Formulare aus, man misst den Blutdruck und passt auf, dass die Medikamente nach Vorschrift eingenommen werden. Man hält die »Frauen« und »Herren« still. In diesen Tagen wächst der Zorn des Herrn V. auf die Anstalt. Die stellen doch mit ihm an, was sie wollen.
Er döst ein. Da gellt die Stimme des unsympathischen jungen Pflegers mit dem langen blonden Haar und dem Ohrring durch die Station: »Herr V., Ihre Tabletten!«
Er steigt, so schnell er kann, aus dem Bett. Hastet schwankend durch die Station zum Glaskabuff neben dem Ausgang. Scheiße, hat er ganz vergessen, seine Tabletten.
Der Pfleger sieht ihn mahnend an. »Hier«, sagt er und kippt Herrn V. fünf kleine, weiße Pillen in die zitternde Rechte. Der wirft sie sich in den Rachen, verschüttet die Hälfte des Wassers, mit dem er nachspült.
»Schön schlucken«, sagt der Pfleger lächelnd.
Er schluckt das Zeug. Distra heißt es. Vor vier Tagen hat er noch nicht einmal gewusst, dass es so was gibt. Nun lernt er Distra kennen. Besser, als ihm lieb ist.
Distra ersetzt den Alkohol. Distra ist wichtig für Trinker. Distra verhindert das Delir. Distra macht einen weichen, unangenehmen Rausch. Herr V. mag das Zeug nicht und er mag die Menschen nicht, die ihm den Stoff in hoher Dosis verschreiben. Denn nun können sie ihm sagen: »Solange wir das nicht ganz ausgeschlichen haben, können Sie hier nicht raus.«
Distra hält Herrn V. in der Geschlossenen.