Peter Strasser

Kleiner Sisyphos der großen Worte

Denkwürdigkeiten aus
dem Philosophenleben

Peter Strasser (* 1950) lehrte seit seiner Habilitation 1980 Philosophie und Rechtsphilosophie an der Karl-Franzens-Universität Graz sowie seit 1999 als Gastprofessor an der Universität Klagenfurt. Er ist Autor zahlreicher, vielbeachteter Bücher und Kolumnen (Die Presse, NZZ, Hohe Luft). 2014 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik.

 

Originalausgabe
© VERLAG KARL ALBER
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021
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Umschlagmotiv: www.thedoodlelibrary.de
Porträtfoto: Stefan Winkler
Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg
Herstellung: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN (Print) 978-3-495-49239-0
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-495-82602-7

Inhalt

Prolog

I
Wie es ist, ein Philosoph zu sein

Das richtige Falsche

Spiegelung des Ego

Offenbarung: Finis philosophiae

II
Clownerien der Zeit

Bums! – Der Gottesbeweis

Auf Geisterjagd

Vom erfüllten Leben

Die virtuelle Diskussionsrunde

Was hat das alles zu bedeuten?

Ein guter alter Unbekannter

Augenseen und Rosenlippen

Allen Ernstes

Wäre es besser, nicht geboren zu sein?

Pflücke den Tag!

III
Über das richtige Leben im falschen

Die einfachen Dinge des Lebens

Die Sehnsucht in uns allen

Tot, irgendwie tot

IV
And now back to square one …

Eine Anfrage

Was Bildung wäre, wenn es sie gäbe

Beim Meister des wahren Wegs

Epilog

Bibliografische Notiz

Prolog

Über den Sinn des Lebens im Zeitalter der Pandemie. – Als ich eines Tages am Bett meines moribunden Philosophenfreundes saß, kamen wir auf den Sinn des Lebens zu sprechen. Wir beide wussten, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Ich erwartete, offen gestanden, kein tiefes Gespräch. Und dann geschah auch, was ich ohnehin irgendwie schon erwartet hatte:

Mein Freund erzählte mir Episoden aus seinem Leben, die ihm besonders bedeutsam zu sein schienen, um immer wieder einzunicken, weiterzuerzählen, und endlich einzuschlafen. Am Schluss meines Besuchs hatte ich den Eindruck, das sei ein Wink gewesen. Mein Freund hatte mir sein Leben erzählen wollen, sein ganzes Leben (was nicht geschah, nicht geschehen konnte). Darin steckte für ihn wohl eine Lehre für mich.

Es war, vordergründig betrachtet, ganz und gar nicht die Lehre des Ludwig Wittgenstein, der an einer Stelle in seiner berühmten Abhandlung Tractatus logico-philosophicus sagt, dass der Sinn des Lebens sinnvoll nicht anzugeben sei, weshalb diejenigen, die den Sinn ihres Lebens gefunden hätten, dann auch nicht sagen könnten, worin dieser Sinn bestünde. Die Lehre meines Freundes – wenn es eine Lehre sein sollte – lautete eher: Ich erzähle dir jetzt mein Leben, dann weißt du, worin der Sinn des Lebens besteht.

Ich habe seither immer wieder über diese – wie ich glaube – Lehre meines sterbenden Freundes nachgedacht. Wenn ich über den Sinn meines eigenen Lebens nachdachte, dann fielen auch mir zuerst gewisse prägende Episoden ein und, soweit es sich dabei um ausweitende Kreise handelte, immer weitere, ferner abliegende Lebensereignisse. Bis ich mir eingestehen musste, dass sich der Sinn meines Lebens – falls er nicht eine bloße Fata Morgana wäre – als die Tapisserie meines gesamten Daseins darstellte, durch welches sich unzählige Bedeutungsfäden zogen, die aus dem Ganzen erst ein Ganzes machten.

Der Sinn meines Lebens, das war mein Leben selbst. Was aber wohl miteinschloss, dass sich in meinem Leben mehr an Bedeutung »realisiert« haben musste, als jedes einzelne Ereignis meiner Biografie erahnen ließ. Auf die Frage, worin der Sinn des Lebens bestand, werde ich am Ende also dem, der fragt – zum Beispiel mir selbst – mit einer Erzählung meines Lebens zu antworten haben. Dass dabei, wie genau und vollständig ich auch, meiner Erinnerung gemäß, erzählen mag, noch immer ein Überschuss an Bedeutung wirksam bleibt, den auszudrücken mir nicht anders möglich wäre, als meine Erzählung fortzuführen – darin lag das Wahre an Wittgensteins Behauptung.

In jedes Menschen Leben gibt es wohl ein unerreichbar Nahes, das sozusagen mitten durch ihn hindurchgeht, ohne dass er sich nach ihm umzuwenden vermöchte. Diese intime Transzendenz eines jeden Lebens lässt in ihm das Unverlierbare, Allgemeine, Unbedingte aufscheinen.

Hier liegt einer der Gründe, warum uns die Abstraktionen der Philosophie jedenfalls immer dann nicht genügen, wenn es um existenzielle Probleme geht. Nicht, dass wir des Nachdenkens über die schwerwiegenden Fragen der eigenen Existenz und unseres Lebens in der Gemeinschaft mit anderen entbehren könnten. Aber es bleibt dabei doch ein Ungenügen. So, als ob der Begriffsraster, den wir ansetzen, zu grob wäre.

Kurz gesagt, die Philosophie hat einen Hang, ihre Abstraktionen durch die Fülle des Erzählerischen lebendig werden zu lassen. Darin liegt die unüberbietbare Faszination der großen Epiker, man denke an Homer. Aus ihren Erzählungen spricht, so scheint es, die ganze Weltweisheit zu uns. Das ist natürlich eine Illusion. Aber eine, die ernstgenommen werden sollte.

Gerade weil die Weisheit – und was wäre die Philosophie über die Zeiten hin, wenn nicht die Liebe zur Weisheit? – eine höchst allgemeine Einstellung vermittelt, bedarf sie einer Abklärung und Konkretisierung, die nicht anders erfolgen kann als durch das Moment des erzählerischen Details im Rahmen einer Geschichte, die potenziell die ganze Welt, das Sein und Dasein, umspannt.

Das alles sind weiträumige Perspektiven, die manche Philosophen schon veranlasst haben, Gedichte zu schreiben – zumeist verquälte (man denke an Martin Heidegger, der sich in die chinesische Haiku-Tradition vertiefte, die doch so leicht daherkommt). Ich bekenne, in meinen jungen Jahren von derlei Ambitionen nicht völlig frei gewesen zu sein. Was ich der geneigten Leserschaft im Folgenden zumute, ist weit weniger ambitiös.

Es ist die philosophisch mitbegründete Lebenseinstellung eines Menschen, der mit Ernst Jünger bereits sagen darf »Siebzig verweht!«, ohne allerdings einen Anspruch darauf zu erheben, die tiefen Dinge des Lebens nun besser erfassen zu können. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die Episoden und erzählenden Reflexionen im Folgenden eine philosophische Atmosphäre schaffen, die, teils nostalgisch, teils entspannt, teils ironisch überhöht, ins Allgemeine drängt – ins Allgemeine eines Lebens, das eine Signatur hat.

*

Ich schreibe diese Zeilen im Jänner des Jahres 2021, zu einer Zeit, da die Corona-Pandemie nach einem Jahr quälender Einschränkungen nun die Politik in Österreich und Deutschland zwingt, wieder einen sogenannten Lockdown über die Gesellschaft zu verhängen. Die Philosophie hat dazu nichts zu sagen. Aber warum schwiegen die Kirchen? Sollten sie uns nicht Gottes Willen »ausdeutschen«?

Kaum einer jener Allesbesserwisser, welche die ausbleibenden kirchentheologischen Kommentare zur neuesten Pandemie polemisch kommentieren, gehört zur Gruppe der aufrichtig Betroffenen. Weder macht den meisten Kritikern die Fadenscheinigkeit religiöser Begründungsmuster zu schaffen, noch sorgt sie der Verlust heilsgeschichtlicher Motive. Doch inwiefern erwartet der moderne Gläubige, autoritativ mit »Erklärungen« versorgt zu werden, was Gott wollte, indem er uns die Geißel Covid- 19 samt Mutationen »sandte«?

Als im Jahre 2004 der Tsunami in Indonesien fast eine Viertelmillion Todesopfer forderte, war hierzulande zwar nicht offen von einem Strafgericht Gottes die Rede. Aber der eine oder andere Kirchenfürst fühlte sich trotzdem bemüßigt, darüber zu predigen, dass Gott seinen Geschöpfen – uns – eine schmerzhafte Lehre erteilen wollte, damit wir wieder auf den rechten Weg des Lebens und vor allem des Glaubens zurückfänden. Nun, aus dem Kopfschütteln der Medien über solche Erklärungsversuche haben die Glaubensautoritäten gelernt. Die Zeiten, in denen ein mittelalterlicher Geist praktisch alle Menschheitsplagen, ob regional oder weltweit, als Strafgerichte Gottes zu interpretieren wusste, sind endgültig vorbei.

Nach den Gründen für diesen Wandel brauchen wir nicht zu suchen, sie sind offenkundig. Wichtiger ist es, klar zu erkennen, dass sich im Laufe der Zeiten das Glaubensgefühl selbst grundlegend geändert hat. Seit dem 18. Jahrhundert hat dazu die Theodizee, das heißt der bemüht-aufgeklärte, rational argumentierende Versuch maßgeblich beigetragen, unsere Welt trotz all der Übel und des Bösen in ihr als »die beste aller möglichen« zu rechtfertigen (G. W. Leibniz). Der Versuch scheiterte; er belastete Gott. War er, der Weltschöpfer, womöglich ein böswilliger Dämon? Kümmerte ihn das Schicksal seiner Geschöpfe, hatte er sich von seiner Kreation etwa abgewandt? Oder war Gott womöglich nur eine Fiktion überhitzter, verzweifelter Gehirne, die sich einen Übervater zurechtreimten?

Was die Verächter der Religionen und Heilsgeschichten, die »religiös Unmusikalischen« (Max Weber) nicht wahrhaben, indem sie auf die Glaubensschrumpfung im säkularisierten Westen hinweisen, ist die Evolution des religiösen Weltbildes. Während die Kritiker nur noch verschollene Gewissheiten und liturgische Leerläufe sehen, wirkt bei vielen derer, welche sich eine Existenz außerhalb der religiösen Lebensform kaum vorstellen können, die Symbolkraft der heiligen Schriften und ihrer Botschaft nach innen. Die Verinnerlichung des Glaubens geht einher mit der tröstlichen Gewissheit, dass, bei aller Unwissenheit über den höheren Sinn der massenhaft umlaufenden Übel, wir doch eingebettet sind in einen »Kosmos« – eine Weltordnung, von der es im biblischen Schöpfungsbericht, der Genesis, lapidar heißt, sie sei »gut«.

Im Zentrum des Glaubens wirkt ein existenzielles Paradox. Der religiöse Mensch hat sich ohne Wenn und Aber der Fürsorge Gottes überantwortet. Wittgenstein litt zeitlebens darunter, nicht in den Kreis des fraglosen Glaubens eingelassen zu werden. Das Denkgenie hielt die Ethik für mystisch und daher im Grunde für unaussprechbar. Deren oberste Maxime schien, in Worte gefasst, bloß hässlichen Unsinn zu ergeben: »Was immer passiert, mir kann nichts passieren.«

Im bäuerlichen Volksstück des österreichischen Dichters Ludwig Anzengruber, betitelt: Die Kreuzelschreiber (1872) – das sind des Lesens und Schreibens Unkundige –, wird diese Maxime ausgesprochen. Sie hat den Zuhörer Wittgenstein eine »Einsicht« beschert, an welcher er sein Leben lang festhielt: Der wahrhaft Gläubige empfindet, indem er ein gottgefälliges Leben zu führen sucht, eine Art absoluter Geborgenheit im Schlechten, deren Quelle die unbedingte Liebe Gottes ist.

Kürzlich erst erhielt ich freundliche Zeilen von einem Franziskaner, der auf einige meiner gelegentlichen Bemerkungen zur drohenden Apokalypse unserer zivilisierten Welt reagierte: »Wir leben letzten Endes nicht aus der Dramatik der Apokalypse, auch wenn ich diese für wichtig und wesentlich halte, sondern aus dem Staunen über eine sich verschwendende göttliche Liebe. Auch wir wollen lieber Heilung und Problemlösung. Aber in der Covid-Krise erinnern wir uns vielleicht neu an das Wesentliche der Liebe, die hinter allem steht.«

Dem entsprechen die christlichen Ideale der Caritas und Misericordia, der tätigen Nächstenliebe und Barmherzigkeit gegenüber den Armen und Elenden. Dabei handelt es sich um das Bemühen, dem Schöpfungswollen gerecht zu werden. Alles Weitere – das ist wohl der glaubensprofunde Grund für die Zurückhaltung der Kirche mit »Erklärungen« zur Pandemie – übersteigt das menschliche Fassungsvermögen. Man muss dieser Demut vor dem Unfassbaren nicht beitreten; indes, man sollte sich über sie auch nicht mokieren. Denn sie ist mindestens ebenso fundamental für unsere humane Verfasstheit – für den Sinn des Lebens – wie das Streben, unserem eigenen Leben Sinn zu geben, indem wir uns bemühen, das individuelle Leid zu lindern und die grassierende Welt-Not zu bekämpfen.

Finis philosophiae, Ende der Philosophie.

Und ihr Beginn …

I
Wie es ist,
ein Philosoph zu sein

Die folgende Geschichte habe ich schon öfter erzählt, an verschiedenen Orten und im Rahmen unterschiedlicher Foren. Ich erzähle sie hier noch einmal, weil in ihr vieles von dem rumort, wodurch sich meines bescheidenen Erachtens ein Philosophenleben auszeichnet – nämlich durch das eigentümliche Schwanken zwischen Tiefe und Clownerie.

Um Wahrhaftigkeit bemühte Philosophie birgt einen begriffslosen Überschuss, der an die Oberfläche des Wortes drängt. Er will mitgeteilt sein. Dabei entsteht für die unberührte, profane Umwelt leicht der Eindruck, das philosophierende Subjekt habe nicht mehr – wie es im Volksmund treffend heißt – »alle Tassen im Schrank«.

Mag sein. Doch die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn, die in den Sphären der Kunst verschwimmend und breit ist, schrumpelt in der Philosophie, bei aller Quälerei der Denkungsart; was übrigbleibt, ist meist ein kleiner Sisyphos der großen Worte.

Am Schluss sucht den denkerisch Gequälten eine »Erleuchtung« heim, die er bei sich womöglich als Offenbarung verbucht. Und dabei war es nur ein Schäumen seines überhitzten Gehirns, ein Aufwallen seiner Neuronen-Netzwerke … aber wer weiß, vielleicht verbirgt sich dahinter ja ein Geheimnis, das der Profanierung widersteht?

Ich will also von einem philosophischen Sisyphos berichten, der in meiner Geschichte »Streber« heißt. Er litt darunter, im Mitmenschen, dem Alter Ego, oft nicht »das lebendige Wesen« spüren zu können, während er den Verdacht hegte, kein Ego zu haben, gefangen zu sein in solipsistischer Ichlosigkeit.

Und dabei ist es wohl möglich, dass ich mir selbst begegnete – in einem langen Moment, als ich gerade dabei war, um eine entfremdete Ecke meiner Existenz zu biegen.

Das richtige Falsche

Es gibt solche Tage. In der Nacht hat ein eisiger Wind die Stadt blank gefegt, und nun, am Morgen, steht der Himmel blau im Fenster. Auf dem Fensterbrett schiebt sich das erste Blütenrot durch die harten, kugeligen Knospen der Zimmerkamelie. Ich aber sitze beim Frühstückstisch und denke an die Transzendenz des Ego. Die Folge: Morgengrausen.

Später am Tag dann meine Vorlesung zur Transzendenz des Ego. Hinterher stürmt ein Student in meine Sprechstunde und schaut mich herausfordernd an. Er habe, sagt er, kein Ego, daher – und dabei kommt sein Gesicht dem meinen so nahe, dass ich den Eindruck habe, er will durch meine Augen hindurchstarren – habe er auch nichts, was transzendent sein könnte. Er ist da, sagt er, einfach da: »Und damit werden Sie leben müssen!«

Er riecht nach Tabletten, ich will ihn fragen, ob er wegen seines Problems einen Arzt konsultiere, stattdessen sage ich bloß: »Ich kann Sie gut verstehen.« Da beginnt er, über das ganze Gesicht zu strahlen, es macht ihn glücklich, so einfach verstanden zu werden, statt in eine quälende Diskussion über sein fehlendes Ego und sein totales Dasein eintreten zu müssen. Er sagt noch – wozu kein Anlass besteht, es ist ja meine Sprechstunde –: »Entschuldigen Sie die Störung«, und schon ist er wieder draußen bei der Tür.

Tags darauf hat das Wetter umgeschlagen. Nebel, Regen, Smog. In meinem Dienstzimmer habe ich das Licht brennen. Das kann man von draußen durch die Oberlichten sehen. Ich habe keine Sprechstunde, dennoch tritt nach kurzem Anklopfen, das mir nicht einmal die Möglichkeit lässt, mich abwesend zu stellen, der Student ein, der behauptet, kein Ich zu haben. »Darf ich mich setzen?«, fragt er und sitzt bereits. »Aber bitte«, sage ich und rieche Tabletten.

Ich will ihn fragen, ob es ihm gut gehe, doch bevor ich den Mund aufmachen kann, sagt er: »Mir geht es gut.« Während ich mich zu ihm setze – mir fällt nichts Besseres ein, ich kann ihm nicht einfach die Tür weisen (Tablettengeruch!) –, ist mein Kopf leer; ich habe nicht die geringste Ahnung, wie ich das Gespräch beginnen soll. Er würde mir vermutlich ohnehin zuvorkommen und die Frage, die ich ihm stellen möchte, beantworten, bevor ich anfange, sie überhaupt auszusprechen. So sitzen wir eine Zeitlang da und schauen uns an.

Dann beginne ich ihm eine Geschichte zu erzählen, die mir plötzlich einfällt. Sie passt zu uns beiden, wie wir dasitzen und einander anschauen. Ich erzähle ihm, dass ich an der großen, zweiteiligen Tafel des Hörsaales, in dem ich meine Vorlesung zur Transzendenz des Ego halte, immer den falschen Knopf erwische, wenn ich versuche, den vorderen Teil der Tafel nach oben zu bewegen, sobald ich ihn vollgeschrieben habe. Immer. Immer bewegt sich der hintere Teil nach oben, was komplett sinnlos ist.

Das brachte mich eines Tages auf die Idee, meinem Auditorium, das mein Treiben an der Tafel stets belustigt verfolgte, regelrecht feierlich anzukündigen, ich würde von nun an, statt auf den Knopf zu drücken, den zu drücken ich mich bereits entschlossen hatte, immer auf den anderen drücken: Das müsste, da ich zunächst ja immer den falschen Knopf drückte, dann immer der richtige sein. »Ich habe«, sagte ich also, »mich soeben entschlossen, von diesen beiden Knöpfen hier den linken zu drücken, also drücke ich jetzt den rechten …«

»Ich war damals dabei«, sagt mein Gegenüber, »Sie haben den richtigen Kopf gedrückt.« Jetzt habe ich ihn, denke ich mir, und schaue aus dem Fenster, um mir meinen kleinen Triumph nicht anmerken zu lassen. Draußen ist die Welt fast verschwunden. Der Nebel hat alles weggepackt. Oder ist es bloß die Lustlosigkeit der Dinge, sich zu zeigen? Ungesunde Gedanken, denke ich, das muss der Tablettengeruch sein. »Ich habe den falschen Knopf gedrückt«, sage ich. »Und das«, sagt mein Gegenüber, »war in gewissem Sinne der richtige.«

Streber, denke ich. Strebergeruch. Der Streber weiß die Pointe schon im Voraus. Falls da eine Pointe ist, weiß er sie schon im Voraus.

»Wenn es wahr ist«, sagt der Streber, »dass man zuerst immer den falschen Knopf drückt, dann hilft es nichts, sich vorzunehmen, den ersten Knopf, den zu drücken man sich bereits entschieden hat, nicht zu drücken. Denn dann ist der erste Knopf, den man drückt, eben der, den zu drücken man sich erst entscheidet, nachdem man sich entschieden hat, den Knopf, den zu drücken man sich bereits entschieden hatte, nicht zu drücken. Das ist dann eben der erste Knopf, den man drückt, und daher – weil der erste Knopf, den man drückt, immer der falsche ist – nicht der richtige, sondern der falsche. Und daher«, fügt der Streber nun seinerseits mit verhaltenem Triumph hinzu, »in gewissem Sinne doch der richtige …«

Schön, denke ich, er hat zwar kein Ich, dafür ist er nicht auf den Kopf gefallen; ein dialektisches Talent. »Übrigens, wie heißen Sie, wenn ich fragen darf?«, frage ich, was keine Beleidigung ist, denn ich kann mir nicht die Namen aller meiner Studenten, die zu Hunderten in meinen Vorlesungen sitzen, auswendig merken. »Streber«, sagt er.

Da muss ich lachen, obwohl ich mir hätte denken können, dass ein Streber nicht so viel Selbsteinsicht besitzt, sich selbst »Streber« zu nennen. Der Streber freilich schaut mich bloß an (so schauen Menschen, die sich eine dumme Bemerkung über sich selbst schon tausendmal haben anhören müssen) und sagt: »Ich bin kein Streber, ich heiße bloß so.« Ich kann nicht sagen, dass mir das nicht peinlich wäre. Es ist mir peinlich, und wie immer, wenn man eine Peinlichkeit dadurch überspielen möchte, dass man eine noch größere draufsetzt, will ich ihn jetzt unbedingt, sofort, nach den Tabletten fragen.

»Ich nehme Tabletten«, sagt Streber. Das sagt er, ich hätte es voraussagen können, bevor ich ihn fragen konnte. Ich beginne, mich zu verkrampfen. Wie soll man mit einem tablettensüchtigen Menschen ein therapeutisches Gespräch führen, wenn er die Antworten auf die Fragen, die man ihm stellen möchte, stets vor den Fragen parat hat? Ich merke, wie ich mich in mich hineinverkrampfe. Ich stehe unter dem Druck, Streber eine derart hochintelligente, von ihm nicht erwartbare Frage zu stellen, dass ihm gar nichts anderes übrig bleibt, als mir zu antworten, nachdem ich die Frage gestellt habe. Also frage ich:

»Sie nehmen Tabletten, weil Sie glauben, kein Ich zu haben?«

Das ist die dümmste Frage, die einem einfallen kann, wenn man mit einem Philosophen spricht. Und Streber ist ein Philosoph, so viel steht fest! Mehr als achtzig Prozent der heute lebenden Philosophen glauben, kein Ich zu haben. Sie glauben, ihr Ich sei eine von ihrem Gehirn in grauer Vorzeit produzierte Illusion im Dienst des Überlebenskampfes. Die Theorie dazu lautet, dass Biomaschinen, die glauben, ein Ich zu haben, jenen gegenüber, die tatsächlich keines haben, weil sie nicht einmal fälschlich glauben, eines zu haben, sich langfristig an ihre Umwelt besser anzupassen imstande sind.

»Ja«, sagt Streber, »ich nehme Tabletten, weil ich glaube, kein Ich zu haben. Ich glaube aber nicht bloß, keines zu haben, ich habe keines.«

Vielleicht, denke ich, ist Streber doch kein Philosoph. Er bildet sich ein, er könne ein Ich haben, das keine Illusion wäre. Ich merke, wie ich mich entkrampfe, und in dem Maße, in dem ich mich wieder entspannt zu fühlen beginne, frage ich Streber ein wenig von oben herab: »Warum nehmen Sie dann die Tabletten, was immer das für Tabletten sind?«

»Weil«, sagt Streber, »mein Psychiater sagt, es sei zwar wahr, dass das Ich eine vom Gehirn produzierte Illusion sei, aber alle, die diese Illusion nicht hätten, schleunigst Tabletten nehmen sollten.« Wenn Streber verrückt ist, dann braucht er Tabletten, keine Gleichnisse. Ich aber wollte ihm ein Gleichnis offerieren. Das Gleichnis von den beiden Knöpfen, von denen man zuerst immer den falschen drückt.

»Angenommen«, so wollte ich Streber belehren, »ich will wissen, ob ich ein Ich habe. Ich drücke also den einen Knopf, das heißt, ich konzentriere mich auf mein Ich. Das war der falsche Knopf, denn jetzt merke ich, dass meine Konzentration ins Leere geht. Es ist, als ob ich kein Ich hätte. Was also entspricht dem jeweils anderen Knopf?« So hätte ich gefragt, und nun, ohne gefragt zu sein, antwortet Streber:

»Dem jeweils anderen Knopf entspricht, nicht auf sein Ich zu achten und nicht darauf zu achten, dass man nicht auf sein Ich achtet. Einfach vor sich hin zu leben, dies und das zu tun, eingebettet in die Plazenta der eigenen Erlebnisse, die kommen und gehen. Das ist der andere Knopf, nicht wahr? Solange alles läuft, wie es läuft, ist das Ich da. So einfach, wie das Leben da ist. Da und ungreifbar.«

»Nun also entschließe ich mich«, fährt Streber fort, »diesen anderen Knopf zu drücken. Dazu muss ich mich tüchtig anstrengen, nicht darauf zu achten, dass ich nicht auf mein Ich achte. Und peng! Schon beginne ich, auf mein Ich zu achten in der Absicht, nicht auf mein Ich zu achten. Peng! Ich habe wieder den falschen Knopf gedrückt.«

wissen,bewusst