Ute Backmann, Dipl. Sozialarbeiterin und M.A. der Kultur- und Sozialwissenschaften, ist KBT-Therapeutin an der Uniklinik Heidelberg und in freier Praxis in Heppenheim. Sie ist Heilpraktikerin für Psychotherapie, Supervisorin / Coach (DGSv) sowie Dozentin an Hochschulen und Institutionen.
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ISBN 978-3-497-03059-0 (Print)
ISBN 978-3-497-61525-4 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61526-1 (EPUB)
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Inhalt
Vorwort
1Einführung
1.1Sexualität: Grundlegende Differenzierungen
1.1.1Die biologische Sexualität
1.1.2Die psychologische Sexualität
1.1.3Die soziologische Sexualität
1.1.4Die philosophische Sexualität
1.2Geschlecht: Gender und Sex
1.3Sexualität in der Psychoanalyse
1.3.1Zentrale Begriffe
1.3.2Sexualtrieb und Neurosenlehre
2Grundlagen der Konzentrativen Bewegungstherapie
2.1Geschichte und Entwicklung
2.2Kernelemente
2.2.1Selbstwahrnehmung
2.2.2Symbolisierungsfähigkeit
2.2.3Gruppentherapeutischer Ansatz
2.3Wissenschaftliche Grundannahmen
2.3.1Gestaltkreislehre
2.3.2Entwicklungspsychologie
2.3.3Leibphilosophie
2.3.4Neurowissenschaften
2.3.5Psychoanalytische Theorien
2.3.6Objektbeziehungstheorien
2.3.7KBT-Diagnostik
2.3.8Wissenschaftliche und klinische Evidenz
3Sexualität als Thema in der Konzentrativen Bewegungstherapie
3.1Sexualität in der Leibphänomenologie
3.2Psychoanalytische Modelle der sexuellen Entwicklung
3.2.1Sigmund Freud: Triebmodell, konstitutionelle Bisexualität und psychosexuelle Entwicklung
3.2.2Carl Gustav Jung: Anima und Animus
3.2.3Wilhelm Reich: Charakteranalyse
3.2.4Judith Le Soldat: Konstitutionelle Homosexualität
3.2.5Jean Laplanche: Verführungstheorie
3.2.6Ilka Quindeau: Konstitutionelle Geschlechtervielfalt
4Sexueller Leib und Körper in der körperpsychotherapeutischen Praxis
4.1Sexualorgane
4.1.1Normative Anatomie
4.1.2Intersexualität
4.2Sexuelle Identität
4.2.1Geschlechtsidentität
4.2.2Transidentität
4.3Sexuelle Orientierung
4.4Sexuelles Selbsterleben
4.4.1Sinnlichkeit, Hingabefähigkeit und Begehren
4.4.2Berührung
4.4.3Tastsinneserfahrung
4.4.4Sexuelle Selbstbemächtigung
4.5Sexualisierte Atmosphären
4.5.1Formen von Sexualisierungen
4.5.2Gründe für Sexualisierungen
4.5.3Sexualisierungen in der Therapie
5Sexualität unter störungsspezifischen Aspekten
5.1Sexualität und Trauma
5.1.1Körpererleben und Körperbild
5.1.2Polyvagaltheorie
5.1.3Sexuelle Gewalt
5.1.4Körpererinnerung
5.2Sexualisierte Gewalt durch Geschwister
5.3Sexualität und Borderline-Störung
5.4Sexuelle Funktionsstörungen
5.5Sexualität und Essstörung
5.6Sexualität und Adipositas
5.7Sexualität und somatoforme Schmerzstörung
6Reflexionsimpulse für Therapeutinnen und Therapeuten
6.1Sexuelle Übertragung und Gegenübertragung
6.2Persönliches sexuelles Skript
6.3Körperkontakt und Berührung
6.4Sprache zur Sexualität
6.5Gruppenleitung
6.5.1Allgemeine Wirkfaktoren in Gruppentherapien
6.5.2Wirkfaktoren in KBT-Gruppen
6.5.3Die Rolle als KBT-Gruppenleiter*in
6.6Weiterbildung und Supervision
7Abschließende Gedanken
Literatur
Sachregister
Vorwort
Was sollte eine psychodynamisch orientierte Körperpsychotherapie über Sexualität und das Sexuelle wissen?
Sexualität gehört in jedem Fall zu den menschlichen Grundbedürfnissen und ist mit Körperlichkeit verbunden. Die verschiedenen Aspekte von Sexualität sind eng miteinander verknüpft. Das psychodynamische Verständnis hat sich sowohl in den psychosexuellen Entwicklungslinien und Erscheinungsformen, als auch in der Ausübung von Sexualität als Verhaltens- und Erlebensweise gewandelt.
Die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) ist mit ihrem therapeutischen Ansatz der Körperlichkeit, mit biografischem Verständnis und aktuellen Lebenssituationen verknüpft, und somit besonders geeignet, sich den Themen der Sexualität und des Sexuellen zuzuwenden. Die leibliche Dimension ist in diesem Therapiekonzept stark verankert und prägt damit den entscheidenden Unterschied zu den reinen Gesprächstherapien.
Das Anliegen dieses Buches ist es, zur Thematik der „Sexualität“ im Kontext analytischer und phänomenologischer (Körper-)Psychotherapie einen Überblick zu verschiedenen Entwicklungslinien und relevanten Inhalten und Forschungsarbeiten darzustellen. Es soll Lust machen, Neugierde wecken und dazu „verführen“, sich weiter zu vertiefen – ganz im Sinne eines analytischen prozessorientierten Denkens. Es ist der Versuch der Umschrift (gesellschaftlich) tradierter sexueller Konzepte in progressive Sichtweisen, die meine „KBT-Sicht“ auf die Patientinnen und Patienten und mein methodisches Vorgehen neu geprägt haben. Dieses wird in vielen Handlungsangeboten dargestellt, reflektiert und anhand zahlreicher Kasuistiken vertieft.
Die Fallvignetten wurden anonymisiert und teilweise aus verschiedenen Elementen von Biografien und Lebensumständen rekonstruiert, so dass eine Identifikation bestimmter realer Personen nicht möglich ist. Die Fotografien sind von mir erstellte exemplarische Nachstellungen und damit keine Abbildungen von Gestaltungen der Patientinnen und Patienten.
Das vorliegende Buch richtet sich nicht nur an Fachleute aus (psycho-)therapeutischen Berufen, sondern an alle Interessierten, die die Konzentrative Bewegungstherapie kennen lernen möchten. Es soll generell Menschen erreichen, die sich vertieft mit Fragen zur Sexualität im Kontext von (stationären) Therapien befassen möchten.
Da das Buch vor dem Hintergrund meiner körperpsychotherapeutischen Tätigkeit in der Behandlung von Menschen mit psychosomatischen Erkrankungen entstanden ist, werden viele Themen im Kontext sexueller Gewalterfahrungen und sexualisierter Atmosphären dargestellt. Viele Krankheitsbilder sind Ausdruck von Störungen in der psychosexuellen Entwicklung mit Auswirkungen auf das sexuelle Selbsterleben. Es soll somit als praxisnahes körperpsychotherapeutisches Handbuch verstanden sein.
Mein grundsätzliches Verständnis von Sexualität als menschliches Grundbedürfnis mit den Dimensionen von Lust, Erotik, Begehren, Fantasie und körperlicher Sinnlichkeit, darf mitgelesen werden.
Mit diesem Buch möchte ich all meinen Patientinnen und Patienten danken, die ich in ihren therapeutischen Prozessen begleiten durfte. Ohne sie hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können.
Heppenheim, im Frühjahr 2021
Ute Backmann
1Einführung
Die Vorstellung, Menschen in ihrer sexuellen Körperlichkeit zu beachten, ist ein vielschichtiges und komplexes Thema, das im philosophischen, psychoanalytischen, gesellschaftspolitischen, intrapsychischen, interpersonellen und klinisch psychosomatischen psychotherapeutischen Kontext betrachtet werden kann. Trotz des Versuches grundlegender Begriffsdefinitionen (Ermann 2019a) werden auf allen Gebieten eher Phänomene von Erfahrungen konzeptualisiert, die zum Nachdenken anregen, als abschließende Sichtweisen zu begründen.
Sexualität bildet sich an den Vorstellungen aus, die Menschen mit dem, was sie jeweils als sexuell empfinden, gemacht haben. Sie ist mit den jeweiligen konstituierenden Erfahrungen, der Geschichte und den Kontexten, in die sie gestellt ist, verbunden (Dannecker 2017).
Sexualität und Moral sind eng miteinander verknüpft. Möglicherweise hat die Kraft der Sexualität – alles durcheinanderbringen zu können – dazu geführt, dass eine Kontrolle auf den Ebenen der gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen stattfinden sollte (Lemma/Lynch 2019). Sexualität begründet in ihrer Ausformulierung des zwangsheterosexuellen Diskurses noch immer unsere gesamte bürgerliche Gesellschaft (Butler 1991). Daher ist gesellschaftspolitisch besonders auf die kritische Auseinandersetzung zur Thematik „Sexualität, Macht und Moral“ hinzuweisen (Foucault 1983).
In der Religion ist Sexualität mit dem „Sündenfall“ und der Vertreibung aus dem Paradies verbunden. Die Strafe für Ungehorsam ist beschämende Nacktheit. Sexuelles Begehren und die Einschränkung der Sexualität ist mit der Autorität Gottes begründet (Lemma/Lynch 2019). Die historische abendländische christliche Tradition hat Sexualität als Sünde bekämpft und damit die eigene Triebhaftigkeit ad absurdum geführt, mit erheblichen Folgen für die psychosexuelle Entwicklung von Individuen und Entwicklungen in religiösen Organisationen.
In der Psychoanalyse wurde die Sexualität von Sigmund Freud (1905) in den Konstrukten der psychosexuellen (Trieb-)Entwicklung, der Theorie unbewusster Konflikte, der Libido als sexuelle Energie und der Neurosenentstehung als Folge verdrängter Sexualtriebe verstanden (Storck 2018b).
Besonders Wilhelm Reich (1933) befasste sich in Weiterführung und Abgrenzung zu Freud mit der Sexualität als Triebimpuls zur Lebensgestaltung. Mathias Hirsch (2014) beschreibt die Thematik der Sexualität im Kontext von Schuld und Schuldgefühlen.
Zeitgenössische psychoanalytische Schulen stellen nicht mehr die Bedeutung der Sexualität, sondern Konzepte von Liebe und Bindung in den Fokus des Denkens (Bowlby 2016; Stern 1992; Spitz 1988; Fonagy 2009).
Die psychoanalytische Genderforschung hingegen hat unter dem Einfluss feministischer Theorien der Sexualität wieder mehr Aufmerksamkeit geschenkt (Quindeau 2008; Lemma 2019). Quindeau greift Freuds Triebmodell auf und erweitert es um den Begriff des „Begehrens“. Ebenso überführt sie das Konzept der Bisexualität in gesellschaftliche Prozesse konstitutioneller Geschlechtervielfalt und der Gleichwertigkeit von Homo- und Heterosexualität (Quindeau 2008).
Sigusch befasst sich umfangreich mit den gesellschaftlichen Veränderungen hinsichtlich der Sexualität (Sigusch 2015). Diese haben Ende 2018 durch die Einführung des „dritten Geschlechts“ als Personenstand politische Bedeutung bekommen. Der Begriff „Sexualität“ wandelt sich zu „Sexualitäten“, Identität wird zu „Identitäten“ (Schweizer 2018). Damit wird ein Konzept erstellt, dass die Menschen in einem Wandel zu beschreiben sucht, in dem Identität und Sexualität beständig neu konstruiert oder umgeschrieben wird. Sexualität kann frei und vielfältig gelebt werden. Neben der gesellschaftlichen Dimension sind damit auch der subjektive Wandel und die sexuelle Transformation aufgrund der persönlichen Reife im „Älterwerden“ angesprochen (Dannecker 2017).
Sexualität und die mit ihr verbundenen Erfahrungen können nie ganz erfasst werden (Lemma 2019). Doch unter welchen Aspekten sie auch immer betrachtet wird – Sexualität ist und bleibt mit körperlichen Dimensionen verbunden, selbst in vorrangig psychischen Prozessen der Erinnerung, der Wünsche und Fantasien.
„Sexualität ist – ähnlich wie Geschlecht – eine kulturelle Erfindung und Zwangsjacke; der eigenlogisch fungierende Körperleib kennt keine Sexualität (wie er auch kein Geschlecht kennt), aber er kennt Erregbarkeiten und Lüste“ (Abraham 2017, 174).
1.1 Sexualität: Grundlegende Differenzierungen
Es können mindestens vier kategoriale Unterscheidungen von Sexualität vorgenommen werden. Diese betreffen die biologische-, psychologische-, soziologische und philosophische Sexualität (Sigusch 2015). In dieser Einteilung wird deutlich, dass die Begriffe Geschlecht und Sexualität synonym verwendet werden, was im alltägliche Sprachverständnis zu Irritationen führen kann, in der kritischen Auseinandersetzung mit der Etymologie des Begriffs jedoch verständlich wird.
Bis zum 19. Jahrhundert hatte die gesellschaftliche Sexualform keinen ihr angemessenen Namen. Erst dann geschah eine Transformation der bis dahin zahllosen Worte und Begriffe zu Geschlecht, Liebe, Lüste, Vorstellungen und Empfindungen unter das Kollektivsingular „Sexualität“ (Sigusch 2015). Dieser Begriff und die Sichtweise auf sexuelles Erleben unterlagen in den vergangenen zwei Jahrhunderten beständiger Veränderungen mit politischen und juristischen Folgen. Mit den Stichworten der „sexuellen Revolution“ und der „Geschichte der Homophobie“ sind nur zwei Aspekte der historischen Bedeutung benannt (Herzog 2019).
1.1.1 Die biologische Sexualität
Diese Kategorie bezieht sich auf die biologisch-medizinischen Aspekte der Sexualität mit den Stichwörtern Genetik, Instinkte, ZNS (zentrales Nervensystem), Transmitter, Enzyme, Hormone etc.
„Sexualität“ (lat. Sexus = Geschlecht) bezeichnet im engeren biologischen Sinne die Gegebenheit von mindestens zwei verschiedenen Fortpflanzungstypen (Geschlechtern) von Lebewesen derselben Art, die nur jeweils zusammen mit einem Angehörigen des (bzw. eines) anderen Typus (Geschlechts) zu einer zygotischen Fortpflanzung fähig sind. Hier dient die Sexualität einer Neukombination von Erbinformationen. Das biologische Geschlecht wird durch die Geschlechtschromosomen festgelegt. Je nach chromosomalem Geschlecht entwickelt sich das gonadale Geschlecht der Keimdrüsen (Entwicklung der Gonaden zu Hoden oder Ovar zu Eierstock). Durch die Produktion von Hormonen steuern die Keimdrüsen dann sowohl die Ausbildung des somatischen Geschlechts (Entwicklung der inneren und äußeren Geschlechtsorgane), als auch die Geschlechtsreifung in der Pubertät. Im verhaltensbiologischen Sinne bezeichnet der Begriff die Formen dezidiert geschlechtlichen Verhaltens zwischen Geschlechtspartner*innen. Bei vielen Wirbeltieren hat das Sexualverhalten zusätzliche Funktionen im Sozialgefüge der Population hinzugewonnen, die nichts mehr mit dem Genomaustausch zu tun haben müssen, sodass dann die handelnden Partner*innen auch nicht unbedingt unterschiedlichen Geschlechts sein müssen.
Diese Definition von Körpergeschlecht impliziert eine Einheitlichkeit in der jeweils weiblichen und männlichen biologischen Entwicklung, die so nicht gegeben sein muss. Im Zusammenhang mit (verborgener) Intersexualität können eine Vielzahl von anatomischen und morphologischen „Mischformen“ entstehen (Schweizer 2012b).
Gerald Hüther (1999) befasst sich mit den biologischen Grundlagen der Erotik und fragt, warum sich überhaupt männliche und weibliche Formen einer Art unterscheiden. Er bezweifelt, dass Sexualität und Erotik zum Zweck der Fortpflanzung „erfunden“ wurden. Urformen der Erotik lassen sich bereits bei Einzellern nachweisen. Mikrobiologen haben nachgewiesen, dass diese Einzeller Lockstoffe aussenden, die zur Anziehung jeweils zweier Partner*innen führen und durch Aneinanderlegen Bestandteile des Inneren austauschen. Auf der Grundlage der erotisch-sexuellen Beziehung werden heute in der menschlichen Spezies die gesammelten Erfahrungen in den jeweiligen Lebenswelten ausgetauscht und verschmolzen.
Damit schlägt Hüther eine Brücke zwischen naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Ansätzen und Erkenntnissen der Sexualität.
Die Medizin in der Sexualwissenschaft mit den entsprechenden Forschungsgebieten ist weiterhin notwendig, um die Verbindung sexueller Themen mit biologisch-medizinischen (auch medizinethischen) Aspekten zu gewährleisten (Sigusch 2015; Briken 2019).
1.1.2 Die psychologische Sexualität
Die psychologische Sexualität beschreibt die subjektive sexuelle Selbstdefinition oder individuelle Identifizierung mit einem Geschlecht unabhängig von dem biologischen Geschlecht. Je nach wissenschaftlicher Richtung werden Reiz-Reaktions-Muster oder unbewusste Sexualität in Form von (unbewussten) Trieben, Ängsten und Wünschen in den Fokus genommen. Unter diesem Begriff werden die sexuelle Orientierung (bevorzugte Wahl der Sexualpartner*innen ausgehend vom eigenen Geschlecht und bezogen auf das Geschlecht des Sexualpartners oder der Sexualpartnerin), die sexuelle Präferenz (bevorzugte sexuell erregende Reize) und die sexuelle Identität (subjektives Erleben der Geschlechtsidentität) subsumiert (Hüther 1999).
Um die Nöte der Menschen hinsichtlich sexueller Themen zu verstehen, ist die Psychoanalyse mit ihren zugrunde liegenden Theorien des Unbewussten und des Konfliktes essenziell. Die Psychoanalyse ist mehrheitlich auf das Individuum bezogen und versucht, das sich wiederholende Sexuelle zu verstehen. Ebenso versucht sie das Sexuelle auf der Ebene des Psychosomatischen plausibel abzuhandeln (Sigusch 2015).
Da die KBT mit tiefenpsychologischen Ansätzen verknüpft ist, werden andere psychologische Ansätze an dieser Stelle nicht vertieft.
1.1.3 Die soziologische Sexualität
Die soziologische Sexualität betrifft das von der Gesellschaft wahrgenommene Geschlecht einer Person und die zugeschriebenen geschlechtsspezifischen Verhaltensmuster (konstruktivistische Ansätze). Es beinhaltet auch die in der Gesellschaft und Herkunftsfamilie übertragenen Werte, Normen, Symbole, Rituale, Vorurteile etc. Feministische Ansätze haben das Konstrukt der Verbindung von Körper, Geschlecht und gesellschaftlicher Hierarchisierung kritisch hinterfragt (Butler 1991, 2014).
Im weiteren Sinne bezeichnet die soziologische Sexualität die Gesamtheit der Lebensäußerungen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Interaktionen von Lebewesen in Bezug auf ihr Geschlecht. Zwischenmenschliche Sexualität wird in allen Kulturen auch als ein möglicher Ausdruck der Liebe zwischen zwei Personen verstanden (Mehlmann 2006).
Der Soziologe Hartmut Rosa (2016) beschreibt, warum Sexualität als Berührung und Durchdringung von Subjekt und Welt gesehen werden kann:
„Erstens, weil es sich um eine intensive und leibliche Form der ‚Selbst-Welt-Interpretation’ handelt, zweitens, weil es sich um einen Akt der (potentiellen) Welterschaffung handelt, und drittens, weil er eine Form der ‚Selbst-Welt-Verschmelzung’ ermöglicht.“ (Rosa 2016, 137)
1.1.4 Die philosophische Sexualität
Die klassische Philosophie befasst sich mit der Sexualität auf metaphysisch-körperlose Weise. In diesem Kontext ist Sexualität mit einem guten Leben verknüpft. Die Philosophie befasst sich auch mit der materiell-lebensweltlichen Thematik von Sexualität. Das schließt Triebe und Begehren ein, was andere Personen zu Objekten macht.
Im philosophischen Sinne ist Sexualität eine „Form des Seins“, unabhängig von sexueller Identität, Orientierung und sexueller Betätigung (Kant 2009; Fromm 1982). Hermaphroditismus und doppelgeschlechtliche Wesen sind in der griechischen und römischen Mythologie genauso beschrieben wie geschlechtliche Metamorphosen und homoerotische Liebesbeziehungen (Mehlmann 2006).
Gesamthaft ist Sexualität eine im Biologischen verankerte, aber nicht notwendig manifest werdende Möglichkeit des menschlichen Erlebens und Verhaltens. Sexualität ist weder als ausschließlich biologische Körperfunktion noch als psychische Funktion zu begreifen. Für die Erlebnis- und Funktionsfähigkeit im Sexuellen sind anatomische, genetische, physiologische, hormonelle und biochemische Grundlagen ebenso bedeutsam wie Gefühle, Fantasien, Erinnerungen und Kognitionen. Somit ist ein Ineinandergreifen biologischer und psychologischer Vorgänge essenziell und kann in Form eines psychosomatischen Modells dargestellt werden (Ermann 2019a).
1.2 Geschlecht: Gender und Sex
Der Begriff „Gender“ wird vor allem als Synonym für das soziokulturelle und subjektive Geschlecht verstanden, während „Sex“ das biologische Geschlecht definiert. Das Geschlecht ist in diesem Verständnis dual. Es wird sowohl durch die geschlechtliche Fortpflanzung, als auch durch seine menschliche Symbolisierung festgeschrieben (Laplanche 2017a).
Diese Beschreibung drückt die gesamte Komplexität der intrapsychischen und interpersonellen Entwicklungen von Sexualität im psychoanalytischen Verständnis aus.
Die moderne Sexualwissenschaft vertritt ein offenes Genderkonzept, in dem es keine singulären Konzepte von Homo-, Bi- oder Heterosexualität gibt, sondern individuelle Entwicklungen zu subjektiven Sexualitäten führen (Ermann 2019a).
1.3 Sexualität in der Psychoanalyse
Ilka Quindeau (2008) beschreibt als entscheidendes Kennzeichen der menschlichen Sexualität die Unabhängigkeit sexueller Erregung von sinnlicher Wahrnehmung. Das verweist auf die Bedeutung bewusster und unbewusster sexueller Fantasien als Resultat von Introjektions- und Identifikationsprozessen in sozialen Interaktionen.
1.3.1 Zentrale Begriffe
„Das Kennzeichen der Sexualität in der Psychoanalyse ist für Freud immer der Wunsch. Im Gegensatz zur Liebe ist dieser definitiv auf eine bestimmte körperliche Grundlage angewiesen, und im Gegensatz zum Bedürfnis macht er die Befriedigung von phantasierten Bedingungen abhängig, die die Objektwahl und die Anordnung der Aktivität streng determinieren.“ (Laplanche/Pontalis 1967, 470)
Libido (lat. = Begehren, Begierde) stammt aus der Psychoanalyse und bezeichnet eine psychische Energie, die mit den Trieben und Motiven der Sexualität verknüpft ist. Als Synonym zu sexueller Lust und Begehren ist dieser Terminus in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen.
Im Ursprung war die Libido bei Freud den Selbsterhaltungs- und Destruktionstrieben gegenübergestellt. Die Libido war bei ihm jedoch nicht allein auf das Sexuelle begrenzt, sondern fand eine Sublimierung in das kulturelle Leben hinein (Freud 1905).
Als Erotik wird das Erleben einer vitalisierenden Kraft beschrieben, die den Menschen ganz erfasst im Leib, in der Psyche (kräftemobilisierend, Steigerung der Lebenslust) und den Geist (Motivation, Interesse, Entscheidung). Erotik wird als Einladung zur geschlechtlichen Annäherung an einen anderen Menschen erlebt bzw. an Objekte, da Erotik nicht unbedingt personal sein muss. Das subjektive Empfinden ist angereichert von Fantasie, Erfahrung, Assoziation und Übertragung. Es lebt im Spannungsfeld von Anziehung und trennender Distanz und ist daher gleichsam „Zärtlichkeit ohne Berührung“, die sich in der Aufgabe der Distanzierung in der geschlechtlichen Vereinigung verliert. Der Drang zur sinnlichen Annäherung wird vital spürbar und kann durch die Möglichkeit der fantasierten sexuellen Vereinigung ausgelotet werden. Erotik erlaubt daher ein freies, ungehindertes Ausleben vitaler sexueller Kräfte und Bedürfnisse auf spielerischer Ebene. Gerade diese Freiheit der Vitalität im Schutz einer bestehenden Distanz trägt wesentlich zum Reiz und der Mächtigkeit der Erotik bei, wodurch sie einen verführerischen Bann erzeugen kann (Laplanche/Pontalis 1967).
Françoise Dolto (2000) unterscheidet Libido und Sexualität/Erotik dahingehend, dass bei der Sexualität das Bewusstsein im Fokus steht, während die Libido dem Unbewussten angehört. Sie argumentiert, dass das Gebiet des Unbewussten nicht verlassen werden darf, da das Lustprinzip nur vom Unbewussten verstanden werden kann, mit den damit verbundenen schöpferischen Möglichkeiten (Dolto 2000).
Hartmut Rosa (2016) unterscheidet sexuelle und erotische Resonanz, indem er darauf verweist, dass Sexualität als resonanzfreier mechanisch körperlicher Akt vollzogen werden kann, Erotik hingegen den Weltbezug des ganzen Subjektes transformiert und gewissermaßen in Resonanzbereitschaft versetzt. Die Differenz zwischen Sexualität und Erotik formuliert er auch dahingehend, dass Erstere tendenziell das Weltverhältnis fixiert und verhärtet, während Zweitere das Verhältnis „verflüssigt“ (Rosa 2016).
Das Begehren stellt ein Grenzgebiet zwischen dem Psychischen und Somatischen her. Es hat seinen Sitz im Körperlichen und ist zugleich eine psychische Repräsentanz. Die Entstehung des Begehrens kann im intersubjektiven Raum (im Zwischenraum oder der Zwischenleiblichkeit) angesiedelt werden. Das Begehren ist von Grund auf konflikthaft angelegt und dem bewussten Zugriff weitgehend entzogen. Die Konfliktlinien verlaufen zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten, aber auch innerhalb des Unbewussten und zwischen einzelnen Subjekten. Der Konflikt ist somit unvermeidlich in die psychische Struktur eingeschrieben und keine Störung oder Abweichung. Das Begehren, das Streben nach Lust und Befriedigung wird zur Hauptantriebskraft menschlichen Handelns. Sie bezieht sich (nach Freud) nicht nur auf sexuelle Aktivitäten, sondern liegt jeder menschlichen Tätigkeit zugrunde. Das Begehren als menschliche Antriebskraft entwickelt sich im Verlauf einer individuellen Biografie (Quindeau 2008).
Im psychoanalytischen Sinne bildet die „Verführung“ das Grundmuster für die Beziehung eines Kindes zu einem oder einer Erwachsenen, aus der sich die psychische Struktur des Kindes im Allgemeinen und das sexuelle Begehren im Besonderen entwickelt. Der Ursprung menschlicher Sexualität liegt im Wesentlichen in einer sozialen Situation. Der Begriff „Verführung“ bringt den grundsätzlichen Charakter der Beziehung zur Geltung, die von unbewussten sexuellen Botschaften der Erwachsenen an das Kind geprägt sind. Damit bildet es das Primat des Anderen in der Entwicklung des Subjekts. Versteht man Verführung als solche grundlegende Sozialisationsstruktur, bietet sich zugleich ein Ansatz zur Konzeptualisierung menschlicher Sexualität, die ihren Ursprung im anderen findet (Quindeau 2008; Laplanche 2017b).
Das Bedürfnis bezieht sich auf vitale physiologische Erfordernisse wie Nahrung, Schlaf oder Wärme. Der Wunsch hingegen gehört in die psychische Kategorie. Er ist eine psychische Regung, die Erinnerungsspuren besetzt und die Wahrnehmung der Befriedigung wiederherstellen will. Sexualität ist ein Wunsch, der auf Befriedigung zielt und damit kein grundlegendes Bedürfnis. Das Wunschkonzept ist jedoch mit Teilen des Bedürfnisbegriffes verbunden, da die somatische Dimension der Sexualität berücksichtigt werden muss. Die Erfüllung besteht in einer „psychischen Aktivität“, mit dem Ziel einer körperlichen Wahrnehmungsidentität – eine Vermischung zwischen physiologischem Geschehen, das auf psychischen Vorgängen beruht. Sexuelles Begehren kann nie vollständig befriedigt werden, da sich der Wunsch immer wieder erneuert.
Dabei spielt die Fantasie eine konstitutive Bedeutung, da sie auf die Wiederholung der Wahrnehmung zielt und Erinnerungsbilder besetzt und verändert. Die Fantasie ist eine Verarbeitungsform von Erinnerungsspuren; sie kombiniert Erlebtes, Gehörtes und Vergangenes. Das Verhältnis der Fantasie zur Zeit ist bedeutsam. Die seelische Arbeit knüpft an einen aktuellen Eindruck an, der imstande ist, große Wünsche zu wecken (Gegenwart); sie greift von da aus auf Erinnerungen zurück (Vergangenheit) und schafft eine auf die Zukunft projizierte Erfüllung eines Wunsches.
Sexuelle Fantasien sind solche, die zu sexueller Erregung führen, wobei nicht nur die Fantasie, sondern auch die Erregung unbewusst bleiben kann (Quindeau 2008).
1.3.2 Sexualtrieb und Neurosenlehre
Der von Freud beschriebene Sexualtrieb wird vorrangig dem körperlichen Erleben zugeschrieben (Freud 1905). Diese Definition hat sich im Zuge der Entwicklung von der biologischen Fortpflanzung auf soziale beziehungsstiftende Prozesse in der Verknüpfung von Sexualität, Erotik und Liebe verlagert (Ermann 2019a). Die Neurosenentstehung sah Freud im Zusammenhang mit den verdrängten Sexualtrieben. Anfangs sah er den Kern in der Verdrängung traumatisierender sexueller Erfahrungen in der Kindheit. Diese Annahme erschien ihm selbst nach einiger Zeit als ungeheuerlich, weswegen er sie wieder modifizierte.
In den vergangenen Jahrzehnten ist das Ausmaß sexueller Traumatisierungen deutlich ins gesellschaftliche Bewusstsein getreten. In zahlreichen psychotherapeutischen Konzepten sind phasenspezifische Behandlungsformen entwickelt worden (Reddemann 2008). Sexuelle Traumatisierungen in der Familie und in Institutionen bekommen die ernsthafte Aufmerksamkeit, die ihnen gebührt.
2Grundlagen der Konzentrativen Bewegungstherapie
Die Konzentrative Bewegungstherapie (KBT) ist eine körperorientierte, psychotherapeutische Methode. Sie nutzt Wahrnehmung und Bewegung als Grundlage von Erfahrung und Handeln und basiert damit im Wesentlichen auf der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsäckers (1986). Dabei werden unmittelbare Sinneserfahrungen mit psychoanalytisch und psychodynamisch orientierter verbaler Bearbeitung verbunden. Als theoretische Basis dienen entwicklungspsychologische, tiefenpsychologische und lerntheoretische Denkmodelle. Durch die konzentrierte Hinwendung auf das eigene Erleben – einfühlend und erlebend – werden Erinnerungen belebt, die sich körperlich in Haltung, Bewegung und Verhalten ausdrücken. Das Körperliche bildet die Grundlage und das Beziehungsfeld für individuell-eigengesetzliche, physische, psychosomatische und psychische Abläufe. Die Problematik wird „begreifbar”. Dies kann durch unmittelbare Auseinandersetzung mit der Körpererfahrung oder durch verbale Bearbeitung des Erlebens geschehen, das aus der bewussten und vorbewussten Lebensgeschichte aufgetaucht ist (DAKBT 2020, 9).
2.1 Geschichte und Entwicklung
Die Anfänge der Konzentrativen Bewegungstherapie sind im 19. Jahrhundert und im Kontext der Lebensreformbewegung und der mit ihr einhergehenden Körperkulturbewegung anzusiedeln. Diese Bewegungen schenkten dem Körper, seiner Gestaltung und Selbstkontrolle, aber auch der Einheit von Körper, Geist und Seele als gesellschaftliches Phänomen besondere Aufmerksamkeit. Die Aufwertung des Körpers kann unter verschiedenen Aspekten verstanden werden. Zum einen gingen die Anhänger der Körperkulturbewegung davon aus, dass die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Industrialisierung ihren Körper schwächte und degenerierte. Dagegen wurde das antiindustriell aufgewertete reformerische Körperbild der Körperkultur mit Natürlichkeit, Authentizität und Individualität verknüpft. Zum anderen galt die Annahme, dass durch die Ausbildung eines gesunden Körpers auch gesellschaftliche und soziale Probleme gelöst werden können. Ziel der Praktiken der Körperkultur war nicht die Leistung durch den Körper, sondern die gesamthafte Ausbildung des Körperbildes (Backmann 2019).
Während der Lebensreformbewegung im beginnenden 20. Jahrhundert entwickelten sich auch die Ansätze der Psychoanalyse entscheidend weiter. Diese stellten die rationalen, wissenschaftsgläubigen, vernunftorientierten Denkmuster der Aufklärung infrage und beschrieben ein Menschenbild mit archaischen Wahrnehmungs- und Sinnbildungsfähigkeiten mit schwer vorhersehbaren Wirkungen. Das (kollektive) Unbewusste bekam eine besondere Bedeutung. Die in der KBT vorgenommene Verknüpfung des freiheitlichen Körpererlebens mit der Psychoanalyse ist somit auch aus historischer Sicht konsequent.
Elsa Gindler (1885–1961) entwickelte eine Form der Gymnastikarbeit, die die „Konzentration” auf die Selbstwahrnehmung und das Selbsterleben in den Fokus rückte. Dabei ging es darum, einen subjektiven körperlichen Ausdruck zu erlangen, der dem inneren (psychischen) Ausdruck entsprach (Arps-Aubert 2010). Während der Zeit des Nationalsozialismus schlossen sich viele Schulrichtungen der Rhythmischen Gymnastik als Teil des Deutschen Gymnastik-Bunds an. Viele Lehrer*innen mussten aufgrund ihrer jüdischen Herkunft emigrieren oder arbeiteten zurückgezogen von der Öffentlichkeit weiter, so auch Elsa Gindler (Backmann 2019).
Gertrude Heller (1892–1984) arbeitete mit den erworbenen Kenntnissen von Elsa Gindler in einer schottischen Klinik mit psychisch kranken Patientinnen und Patienten und entwickelte daraus einen pädagogisch-therapeutischen Ansatz, in dem sie bereits das Wahrnehmungs- und Bewegungserleben mit psychodynamischen Ansätzen verband. Im Kontakt mit Dr. Helmuth Stolze fand dieses Konzept zwischen 1959 und 1962 erstmals Eingang bei den Lindauer Psychotherapiewochen (Schreiber-Willnow 2016). Miriam Goldberg setzte diese Tradition fort.
In den folgenden Jahren bewährte sich die KBT in den psychosomatischen Kliniken. Zu den klinischen Pionierinnen und Pionieren gehörten Christine Gräff und Dr. Ursula Kost. Zusammen mit weiteren KBT-Kolleginnen und -kollegen wurde durch ein experimentelles Erproben die KBT zur „Methode”. Ihren sperrigen, aber dennoch treffenden Namen erhielt sie durch Dr. Helmut Stolze. Auf Initiative von Dr. Ursula Kost wurde 1977 der „Deutsche Arbeitskreis für Konzentrative Bewegungstherapie” gegründet, in dessen Verband bis heute die Weiterbildung und Forschung durchgeführt und weiterentwickelt wird.
Inzwischen hat sich die Methode im europäischen Raum unter dem Dachverband des „Europäische Arbeitskreises für Konzentrative Bewegungstherapie” etabliert. Dr. Helmuth Stolze (1958) und Dr. Hans Becker (1981) ordneten die KBT dem psychotherapeutischen Kontext zu und gaben der Methode eine psychodynamische theoretische Fundierung.
2.2 Kernelemente
2.2.1 Selbstwahrnehmung
Ausgehend von der basalen körperlichen Selbstwahrnehmung im Liegen, Sitzen, Stehen und Gehen, aber auch im Umgang mit verschiedenen Gegenständen, wird ein sinnliches Selbsterleben und damit die Idee der biografischen Subjektivität gefördert. „So wie ich bin, verkörpere ich meine eigene Geschichte.“ Die taktilen und haptischen Wahrnehmungen bilden die Basis unseres Welterlebens (Grunwald 2017). Wahrnehmungen und Gefühle können differenziert entwickelt werden. Die dazugehörigen theoretischen Modelle entstammen der Leibphilosophie, der Neurobiologie, der Entwicklungspsychologie und den psychoanalytischen Ansätzen.
2.2.2 Symbolisierungsfähigkeit
Für die KBT sind Symbolisierungsprozesse, szenisches Verstehen und ihre Verbindung zur Sprache von Evelyn Schmidt (1994) erarbeitet worden.
Die Wirkmächtigkeit der Symbolisierung bestimmt das Leben jedes Menschen auf diese Weise grundlegend. Freud verstand das Symbol als Ausdruck des Verdrängten, ein Erinnerungssymbol, dass sich in einem Symptom äußert. Nur was verdrängt ist, wird symbolisch dargestellt, nur was verdrängt ist, bedarf der symbolischen Darstellung. C. G. Jung (1987) sieht in dem Symbol Botschaften aus dem kollektiven Unbewussten. Er verweist auf das nicht ganz Erfassbare, dass in der Funktion eines lebendigen Symbols liegt.
Die Philosophin Suzanne Langer (1984) beschreibt Symbolisierung als eine grundlegende Tätigkeit des menschlichen Geistes – ein dem Denken wesentlicher Akt, der die äußere Welt mit seiner inneren Welt in Verbindung bringt und damit in einer schöpferischen Art und Weise sein Selbst erschafft.
In der KBT verstehen wir die Fähigkeit zur Symbolisierung als einen ganzheitlichen Prozess – die verleiblichte Symbolschöpfung des ganzen Menschen. Die Symbolisierungsfähigkeit entwickelt sich durch gelungene frühe Bindungen, in denen Innen- und Außenwelt kohärent exploriert werden können. Die Einheitlichkeit semiotischer (körpernaher) Repräsentanzen wie Rhythmus, Atmosphäre und sensomotorische Modalitäten sind Grundlage für die Affektorganisation, die eine Ausbildung der Symbolisierungsfähigkeit ermöglicht. Das Semiotische ist ein Erlebnishorizont, auf dem sich das Nonverbal-Symbolische und das Verbal-Symbolische entwickeln und in verschiedenen Formen ausdrücken kann (Küchenhoff/Agarwalla 2012).
Aus symboltheoretischer Sicht ist die Besonderheit in der Körperpsychotherapie die Entfaltung des Themas im Sinne des Leiblichen. So ist die Symbolisierungsfähigkeit nicht beschränkt auf Vorstellungsbilder, sondern erstreckt sich vielmehr auf den gesamten menschlichen Ausdruck und das Handeln (Merleau-Ponty 1966). Chronische Schmerzen und psychosomatische Krankheitsformen sind somit Ausdruck leiblicher nonverbaler Symbolisierungen.
Die Verwendung von Gegenständen eröffnet einen symbolischen szenischen Raum. Gegenstände haben in der KBT verschiedene Bedeutungen. In der Symbolisierung können sie zum Beispiel Schmerzerleben oder bestimmte Aspekte des Schmerzerlebens darstellen. Ebenso können sie das interaktionelle Erleben in der Gruppe oder in der Familie darstellen. Zudem können Gegensätze herausgearbeitet werden, die zwischen unbewussten Wünschen, Werten und Fantasien Ambivalenzkonflikte bilden. In der symbolisch-szenischen Verwendung von Gegenständen kann eine konfliktzentrierte Sichtweise angesprochen werden. Das Symbol ist eine besonders indirekte Darstellung. Der Gegenstand in der symbolischen Verwendung steht als Bindeglied präsentativer Symbolik (der persönlichen Bedeutsamkeit) und diskursiver (versprachlichter, allgemein mitteilbarer) Symbolik. In den Gegenstand fließen individuelle Sichtweisen, Erlebens- und Erfahrungsinhalte und Affekte als Bedeutungsgebung ein. In der Arbeit mit Gegenständen zur Symbolisierung können Hypothesen gebildet werden. Der Gegenstand erhält eine Mittler- und Klärungsfunktion innerpsychischer Prozesse. Im Umgang mit dem Gegenstand kann sich die handelnde Person einen „Begriff“ machen, was sich intrapsychisch abspielt. Ebenso wird der Gegenstand und/oder die Gestaltung zum Botschaftsträger in der Mitteilung anderen gegenüber. Die jeweils aktualisierte innere Szene wird somit auf die gedankliche – und im Gegenstand auf die äußere – Bühne gebracht und beschreibt verschiedene Bedeutungskomplexe wie z.B. Erinnerungen, aktuelles Geschehen, affektive Besetzung und Fantasien. Die symbolische Bedeutung ist meistens weitgehender und mehrdeutiger als im Moment zu erfassen ist (Hochgerner 2015).
Die Symbolisierung mit Gegenständen kann darüber hinaus verstanden werden als Vorstufe zur Sprache, als Ergänzung zur Sprache, als Möglichkeit der Distanzierung und als Möglichkeit der handelnden Veränderung.
2.2.3 Gruppentherapeutischer Ansatz
Die KBT hat sich als gruppentherapeutisches Verfahren entwickelt. Damit sind vielfältige Möglichkeiten gegeben, sich selbst in Beziehung zu anderen Menschen wahrzunehmen, Beziehungs- und Konfliktmuster zu reflektieren und experimentell anders zu gestalten. Gegenstände wie Bälle oder Seile können diesen Prozess unterstützen. In aller Regel reinszenieren sich frühe Beziehungs- und Störungsmuster aus dem Körpergedächtnis, als eine Form des Erinnerns in Bewegung und Handlung.
2.3 Wissenschaftliche Grundannahmen