Verkörperter Wandel
Die Praxis der Integrativen Yogapsychologie
© 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2021
Lektorat: Pascal Frank
Titelfoto: © shevtsovy/istock.com
Der Auszug der Texte aus dem Yogasutra von Patanjali, herausgegeben von R. Sriram, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Theseus Verlags in Kamphausen Media, ISBN 978-3-89901-241-5
Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de
www.arbor-verlag.de
ISBN E-Book: 978-3-86781-368-6
Alle in diesem Buch vorgestellten Übungen dienen der Gesundheitsprävention oder unterstützen die Praxis der Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind vom Autor sowie Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden.
Die Behandlung und Diagnose von Krisen und Störungen mit einem Krankheitswert sind in Deutschland ausschließlich (Fach-)Ärzt*innen, Psycholog*innen, Psychiater*innen, Psychotherapeut*innen und Heilpraktiker*innen mit einer entsprechenden Heilerlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz gestattet.
Sollten Sie sich in einer akuten oder andauernden Krise befinden, die das Denken, Fühlen und Handeln so beeinträchtigt, dass Sie nicht mehr in der Lage sind, Ihre persönlichen Probleme zu bewältigen, wenden Sie sich bitte an Fachkräfte wie oben aufgeführt mit entsprechender Heilerlaubnis. Im Fall einer akuten Krise, in der sich suizidale Gedanken oder Handlungen aufdrängen, suchen Sie bitte eine psychiatrische oder psychosomatische Ambulanz in Ihrer Nähe auf. Eine Haftung des Autors oder des Verlags für Personen,- Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.
Vorwort von Anna Trökes
Einführung
Teil I
Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation (MAP): Grundhaltung und Orientierung
Prolog
Die Wissenschaft vom Sein
Drei-Farben-Weiß: Das Erscheinen von Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation
Eine holistische Perspektive
Vom Yogasutra zur Psychopathologie: Eine yogapsychologische Brücke
Depression
Ängste
Teil II
Integrative Yogapsychologie: Das Absolute und das Konkrete
What You Gonna Say to the Real Me?
Kleshas in der Entwicklungspsychologie
Grundmuster der Charakteranalyse:Klesha-Reaktion auf Verletzungen in verschiedenen Entwicklungsstufen
Ein Mann Besatzung
Wir sind einander:Yoga und Beziehung
Folgen von Avidya:Eine yogapsychologische Perspektive zum Verständnis sexualisierter Gewalt im Yoga-Umfeld
Purushartha
Auf der anderen Seite
Die Alte Gestalt: Samskara – das Blockademodell der Yogapsychologie
Der andere Flügel: Pratipaksha Bhavana
Die neue Gestalt: Unterstützende Samskaras – das Ressourcenmodell der Yogapsychologie
Ressourcing: Die Quelle finden
Das Herz ist das Selbst
Herz-Geist-Yoga
Das Chakrenmodell in der Yogapsychologie:Alltag als Transformationsprozess
Svabhava und Svadharma: In den Eigenfarben des Selbst
Kaivalya: Verbundene Freiheit
Jyotismati
Teil III
Die Praxis der integrativen Yogapsychologie
MAP: Die Karten zur Selbst-Orientierung
Die Alte Gestalt: Das Auffinden biografischer Gefühle
Die Neue Gestalt: Das Auffinden der Ressourcen-Gefühle
Bhavana-Meditation
Das innere Kind und die Alte Gestalt
Embodiment: Die Verkörperung der Neuen Gestalt
Die fünf Fragen: Aufbruch in die Freiheit
Yoga entlang der fünf Fragen
Pulsation zwischen den Ressourcen
Epilog
Anhang
Dank
Literaturverzeichnis
Glossar
Über den Autor
Langsam spricht es sich in der westlichen Welt rum, dass Yoga noch viel mehr ist als Sonnengrüße, Armbalancen und kräftigende Standhaltungen. Nach mehreren Jahrzehnten der Körper-Übungspraxis lässt sich bei vielen Übenden ein zunehmendes Interesse beobachten, den Yoga in der Vielschichtigkeit seiner Wirkweisen verstehen zu lernen.
Warum vertreten alle Yoga-Richtungen den Anspruch, uns aus leidhaften Erfahrungen herausgeleiten zu können? Warum fühlen wir uns tatsächlich nach (fast) jeder Yogapraxis wohler und sind besser gestimmt als vorher? Was wirkt hier?
Viele Antworten auf diese Fragen finden wir in den uns überlieferten Quellentexten, wie zum Beispiel dem Yogasutra. Wenn wir – mit der Unterstützung eines erfahrenen Lehrers/einer erfahrenen Lehrerin – diesen Text studieren, werden wir verstehen lernen, wie unser Geist funktioniert und womit er sich immer wieder selbst leidhafte Erfahrungen erschafft. Es werden uns Konzepte und vor allem Methoden – in Form von Übungs-Wegen (sadhana) – angeboten, die uns zeigen, wie wir alte, beschwerende Erfahrungen hinter uns lassen können und wie bestimmte Veränderungen unseres Verhaltens zu mehr Wohlbefinden führen. Die Quellentexte können das leisten, weil sie in Indien nicht als rein philosophische Texte (eben »Yoga-Philosophie«) verstanden werden, sondern als »Atma-Vidya«, also als eine Wissenschaft (vidya) vom Selbst (atman). Im Zentrum fast aller Lehren steht die Einladung zur Entwicklung von Meta-Perspektiven (Beobachter, Zeuge, Seher, drashthu), um uns selbst zu erforschen (svadhyaya), von einer Ebene aus, die es möglich macht, unseren Wesenskern (svarupa) bzw. unser unwandelbares Selbst (purusha oder atman) zu erkennen und zu erfahren.
So geschah es, dass sich die Yogapraxis in der für sie typischen Kombination aus Körperpraxis, Beschäftigung mit den Konzepten des Atman-Vidya und der Verinnerlichung in der Reflexion oder Meditation allmählich immer mehr zu einer »Yogabasierten Psychotherapie« wurde – und damit zu dem, als was Yoga eigentlich gedacht war.
Wer so wie ich seit Jahrzehnten die Körperarbeit (asana, pranayama) und Meditation in Verbindung mit der ständigen Reflexion der Yogakonzepte unterrichtet, weiß, dass dieser Weg nur in genau dieser Vernetzung nachhaltig wirksam werden kann. Lehrerinnen und Lehrer wie ich verfügen über sehr viel Erfahrung in der Umsetzung der Konzepte und der Begleitung der Übenden auf ihrem Weg, aber wir waren lange Zeit selber dafür verantwortlich, schlüssige Theorien herauszubilden, warum der Yoga diese Wirkungen zeigt. Eine »Psychologie des Yoga« bildete sich erst langsam und vereinzelt heraus und blieb deswegen ohne Breitenwirkung.
Ich denke, das wird sich nun grundlegend ändern!
Mit »Verkörperter Wandel«, dem Buch, das uns Martin Witthöft hier vorlegt, steht uns nun endlich ein Grundlagenwerk (!) zu diesem wichtigen Thema zur Verfügung. Ein Grundlagenwerk, weil Martin sich dieses Themas wirklich grundlegend angenommen hat.
Mit großer Sorgfalt hat er Konzepte des Yoga, die sich mit unserem Gewordensein (vasanas und samskaras) und unserem aktuellen Sein und Verhalten (repräsentiert durch die Wirkkraft der kleshas) beschäftigen, zu Konzepten der modernen Psychologie wie Neuropsychotherapie, Bindungsforschung und Körperpsychotherapie, insbesondere der Biosynthese in Beziehung gesetzt.
Wir lernen verstehen, wie wir uns natürlicherweise zu einer »Gestalt« formen (bzw. durch Erziehung und gesellschaftliche Bedingungen zu ihr geformt werden), die zumeist in ihren Annahmen, Bewertungen, Glaubenssätzen und in ihren Verhaltens- und Handlungsmustern (= »alte Gestalt«) erstarrt ist. Yoga hilft uns mit seinen oft herausfordernden Praktiken wie intensives Atmen und vor allem der Meditation, dass wir uns als Erstes dessen bewusst werden und in der Folge für uns klären können, ob wir so weiterleben und weitermachen wollen – oder nicht.
Falls wir spüren, dass sich etwas in uns wandeln möchte, bietet der Yoga uns Konzepte an, die uns darin unterstützen, zu einer »neuen Gestalt« zu finden. Diese Gestalt zeigt die Wesenszüge von zunehmender Bewusstheit, Achtsamkeit, Klarheit und innerer Freiheit, aber auch von Einfühlungsvermögen, Mitgefühl und einem lebendigen Mitfließen mit den sich ständig wandelnden Strömungen des Lebens.
Diesen Prozess der Umkehr (pratipakshabhavana) und der Wandlung beschreibt Martin genau und nachvollziehbar. Er weist uns auf unsere Ressourcen hin, auf die Kraft, die sich auftut, wenn wir zu unserem eigenen Weg (svadharma) und zu unserer eigenen, authentischen Gestalt (svabhava) finden.
Wesentlich ist meiner Ansicht nach, dass er seinen Leser*innen eine Vielzahl von Übungen mit auf den Weg gibt. Die meisten dieser Übungen sind so angelegt, dass sie zu einer achtsamen und von Selbstmitgefühl geprägten Selbstreflexion einladen, die hilft, mehr Klarheit und Einsicht in das eigene Fühlen und Denken und das daraus resultierende Verhalten und Handeln zu gewinnen.
»Verkörperter Wandel. Die Praxis der integrativen Yogapsychologie« ist somit ein unverzichtbares Handbuch für Yogalehrende, Meditationslehrer*innen und vor allem für alle, die Yogalehrer*innen ausbilden. Es ist aber auch ein wertvoller Begleiter für die Yoginis und Yogis, die als Übende auf dem Yogaweg unterwegs sind und merken, dass eine Sehnsucht in ihnen sie hinausführen möchte über die stete Verfeinerung der asanas – nämlich in die Begegnung mit sich selbst.
Die Themen der Yogapsychologie sind vielschichtig, komplex und gehen oft sehr tief. Martin ist das Kunststück gelungen, diese Tiefe zu bewahren und trotzdem einen Ton zu finden, der von Leichtigkeit und Verständlichkeit geprägt ist. Dabei helfen die diversen biografischen Einschübe sehr, mit denen Martin sich uns als ein Spiegel anbietet, und seine sehr schöne, oft bildhafte Sprache.
Ich wünsche diesem reichhaltigen, so spürbar auf Erfahrung beruhenden Buch eine vielfältige, interessierte und offene Leserschaft, und empfehle es gleichermaßen gerne vom Kopf und vom Herzen.
Anna Trökes
Berlin, März 2021
Meine erste Berufsausbildung erhielt ich auf einer Schule für zeitgenössische interdisziplinäre Kunst. Bis heute profitiere ich sehr von dieser großartigen Zeit. Unter einem Dach vereinten sich unterschiedliche Disziplinen wie Malerei, Schauspiel, Tanz und Akrobatik. In den verschiedenen Fächern lernte ich, bisher vertraute Dinge immer wieder neu und frisch zu betrachten, aber auch infrage zu stellen und zu erneuern, indem ich sie mit scheinbar Fremdem in Beziehung setzte.
Ausgelöst durch eine frühe Krise, hatte ich schon in der Kindheit begonnen, mich mit spirituellen Themen auseinanderzusetzen. So standen immer auch der Mensch, seine Verkörperung und die vielschichtige Bedeutung seiner gegenseitigen Beziehungen im Zentrum meiner gestalterischen Arbeit, der Zeichnungen, Bilder und Installationen. Existiert ein alle Menschen und Wesen verbindendender Seinsgrund? In welchem Verhältnis steht dieser zur Individualität des Menschen, seinem freien Ausdruck?
Die kreative Auseinandersetzung führte mich über eine Weiterbildung zum Yogalehrer in eine fünfjährige Ausbildung, die sich mit der »Biosynthese«, einem somatisch und tiefenpsychologisch fundierten Verfahren, befasste. Obwohl sich der Schwerpunkt meiner Tätigkeit damit verlagerte, ich immer mehr mit Gruppen, Paaren oder im Einzelsetting arbeitete, blieben das Grundthema meiner Arbeit, ihr Motiv und ihre kreative Haltung identisch.
In den folgenden Jahren entwickelte sich die Einsicht, dass Yoga und Psychologie nicht nur voneinander profitieren – sie erschienen mir wie zwei Seiten derselben Praxis. In dieser Verbindung lagen die Antworten, nach denen ich gesucht hatte, und so begann ich ihre gemeinsame Essenz eingehender zu erforschen.
Die Traditionen des Yoga lehren uns die Verbindung zum Absoluten, unsere Heimkehr in das Ganze, das All-Eine. In der Psychologie beschäftigen wir uns hingegen mit den Beziehungen im Konkreten, zu uns selbst, den Menschen, Situationen und Dingen, die uns prägen.
Die vielleicht grundlegendste Verbindung zwischen dem Absoluten und Konkreten erleben wir in den Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und lebendiger Pulsation, dem prozesshaften Sein. Das dabei entstehende Akronym »MAP« verweist auf das englische Wort für »Karte«. So wurde auch die Idee der Orientierung ein Leitgedanke des vorliegenden Buches.
Entlang dieser Linie entstand in den vergangenen 20 Jahren eine eigenständige Methode: die integrative Yogapsychologie. Mit einem breiten Repertoire an Tools und Skills bildet sie heute die Grundlage für eine ganzheitliche yogapsychologische Beratung, yogapsychologisches Coaching und Yogapsychotherapie. Sie ist zugleich eine vielseitige Inspiration für die psychologische Erweiterung des klassischen Yogaunterrichts.
MAP-Sensing steht dabei für das feine, sinnliche und zugleich zielvolle Vorgehen beim Suchen, Finden und Begleiten eines letztendlich immer prozesshaften Weges.
Damit richtet sich dieses Buch einerseits an interessierte Yogapraktizierende, andererseits – und insbesondere – aber auch an professionelle Yogalehrende, Therapeut*innen, Berater*innen etc.
Jedes der Kapitel verbindet Erfahrungen und Einsichten der alten spirituellen Traditionen mit Erkenntnissen der modernen, zeitgenössischen Psychologie. Quellentexte des Yogasutra, der Sankhya Karika oder Bhagawadgita begegnen der modernen Neuropsychologie, Körperpsychotherapie, Charakteranalyse und anderen humanistischen Ansätzen.
Die einzelnen Abschnitte und ihre Inhalte sind aufbauend strukturiert, können aber immer auch einzeln und themenbezogen gelesen und verstanden werden. Die durchgängig begleitenden Übungen erlauben die eigene praktische Erfahrung, lassen sich aber auch problemlos auf Coaching- bzw. Unterrichtssettings übertragen. Illustrierende Fallbeispiele ermöglichen zudem ein Anwendungsverständnis für die Beratung, das Coaching oder die Psychotherapie. Die Personen in den Beispielen sind fiktiv und setzen sich aus Aspekten verschiedener Fälle zusammen.
Der Text ist in drei Teile gegliedert und behandelt die integrative Yogapsychologie von den Grundlagen bis zur Praxis:
Der erste Abschnitt beginnt mit einer vergleichenden Betrachtung von Entwicklungsbiologie und den Ursprüngen des Yoga. Über die Parallelität dieser Perspektiven entsteht ein erweitertes Verständnis der Ebenen Fühlen, Denken und Handeln. Anschließend folgt eine Einführung in die Qualitäten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation mitsamt ihren spirituellen und psychologischen Dimensionen. Sie bilden die Grundlage der integrativen Yogapsychologie.
Der zweite Teil verbindet Aspekte des Yogasutra mit zeitgenössischen Erkenntnissen, insbesondere der Neuropsychologie, um ein eigenständiges, psychologisches Ressourcen- und Blockademodell zu entwickeln. Entlang der Chakren werden sieben Entwicklungsfelder vorgestellt, die eine klare Orientierung innerhalb der prozesshaften Persönlichkeitsentwicklung ermöglichen.
Im letzten Abschnitt wird der Theorieteil in die Praxis überführt. Dabei steht jeder der Übungsbeschreibungen eine begleitende Einführung zur Seite. Diese sorgfältige Einbettung ermöglicht die Erweiterung der persönlichen Übungspraxis und bildet eine verantwortungsvolle Grundlage für die Übertragung in die professionelle Arbeit mit Gruppen und Klient*innen.
Für den Erhalt einer Tradition können neue Einflüsse und Perspektiven eine große Herausforderung bedeuten. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Kunst, Spiritualität oder Wissenschaft handelt. Nicht selten fühlen sich die Bewahrer der Tradition von den Erneuerungen bedroht. Polarisierende Konflikte sind die Folge.
Das vorliegende Buch möchte mit der Verbindung zwischen Yoga und Psychologie generell nicht reformieren und infrage stellen, sondern eine alternative, erweiterte Sicht anbieten. Dabei geht es vor allem um die Orientierung am eigenen Selbst, das immer auch ein verbundener Teil und damit Ausdruck der Gesamtheit ist.
Wenn es uns gelingt, der Intelligenz dieser gestaltenden Quelle zu vertrauen, können wir beginnen, uns von alten Glaubenssätzen, Konzepten und Ideologien zu lösen – als achtsame, mitfühlende und lebendige Wesen in einer sich beständig wandelnden Welt.
Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment. Ein Jahr zuvor hatte ich meine Ausbildung zum Yogalehrer absolviert und eine weitere Ausbildung in tiefenpsychologisch orientierter Körperpsychotherapie abgeschlossen.
Unsere Tochter war gerade drei Jahre alt. Wir saßen auf dem Balkon und genossen den weiten Blick über das Tal. Die Sonne schien heiß. Ich schnitt auf einem Teller Gemüse für das Mittagessen, während sie am Tisch eines dieser wunderbaren Bilder malte.
Nach ihrer Geburt waren meine Frau und ich aufs Land gezogen, etwas abseits des Dorfes, in die Nähe eines Bauernhofs, von Wiesen und Wäldern umgeben. Jetzt im Juli war das dominante Gelb der Löwenzahnblüte schon den feinen Farben der Wiesenkräuter gewichen. Die Kühe standen auf ihrer täglichen Wanderung nah am Haus, und wir hörten ihr Schmatzen und Reißen am Gras.
Als meine Tochter von ihrem Stuhl aus über den Balkonrand zu den Kühen schaute, bat ich sie, sich nicht weiter über das Geländer zu beugen. Das sei gefährlich, sagte ich. Meist antwortete sie dann: »Ja, ja.« Ein Ja zu viel, wie ich als Vater finde. Doch dieses Mal schaute sie mich nur an und erklärte: »Du musst keine Angst haben! Jeder Mensch hat Schutzengel, die ihn bewachen.« Ich war überrascht, legte das Gemüse auf den Teller ab und fragte: »Jeder Mensch?« »Ja!«, antwortete sie, als wäre es selbstverständlich. »Jeder Mensch hat drei Schutzengel. Einen blauen, einen grünen und einen roten!« »Woher weißt du das«, fragte ich, »habe ich auch drei Schutzengel?« »Natürlich! Der blaue und der rote sitzen auf deiner Schulter.« Sie zeigte rechts neben meinen Kopf: »Und der grüne ist auf der anderen Seite.«
Damals lebte ich beruflich wie privat in einer herausfordernden Zeit. Der dauernde Wechsel zwischen meiner Rolle als Vater, meiner inneren Arbeit und der gerade beginnenden Tätigkeit mit Klient*innen machte mir zu schaffen. Ich erlebte die Übergänge oft als mühsam und empfand sie als Bruch. Gab es nicht ein gemeinsames inneres Zentrum dieser Lebensfelder, eine beständige Essenz, auf die ich mich ausrichten könnte? So würden alle Wechsel und ihre entsprechenden Rollen rein äußerlich bleiben. Die Suche nach einer in sich ruhenden und zugleich mit dem Leben verbundenen Nabe beschäftigte mich sehr.
Zurück in der Küche, noch berührt vom schönen Engelbild meiner Tochter, setzten sich etwas später – fast plötzlich – Vatersein, Meditation und Psychologie wie Puzzleteile in mir zusammen. Ich erkannte, dass ich lernen musste, mich dem Leben selbst anzuvertrauen, um die in mir empfundenen Brüche zu überwinden. »Du brauchst keine Angst zu haben …«, hatte sie so unbeirrt gesagt. »Wir alle werden beschützt. Du auch!«
Aber was bedeutet es, mich dem Leben anzuvertrauen? Wer oder wo ist das Leben? Sofort schoss mir die die Antwort ins Bewusstsein: Das Leben ist hier, in mir, unmittelbar. Dem Leben vertrauen bedeutet, meinem Körper, meinen Gefühlen und meinem Geist zu vertrauen. Jede dieser drei Ebenen hat einen vollkommen reinen und makellosen Anteil, gleich den drei Wesen, von denen meine Tochter so selbstverständlich sprach. Das konnte ich spüren.
Dem Bild folgend, steht der rote Engel für das beständige und ausgleichende Pulsieren meines Körpers, für die Essenz jeder lebendigen Körperlichkeit. Alles was lebt, pulsiert. Denn das Leben ist kein Zustand, sondern drückt sich in einer fortdauernden, rhythmischen Bewegung aus.
Der grüne Engel steht für den Urgrund meiner emotionalen Ebene: das Mitgefühl. Voraussetzung für wahrhaftige Begegnung, Ausgangspunkt jeder Beziehung und Quelle der Liebe.
Zuletzt repräsentiert der blaue Engel die Essenz meines geistigen Feldes: die Achtsamkeit. Tor meines Bewusstseins in die Welt, stiller Beobachter und anhaftungslose Quelle des Seins. Was für eine Freude!
Pulsation, Mitgefühl und Achtsamkeit bilden als Kernqualitäten die Verbindung zwischen dem Absoluten und dem Konkreten. In ihrer gemeinsamen Mitte befindet sich die eigenschaftslose Quelle des Seins. Alle drei fühlen sich wie der intimste Teil von mir an, sind zugleich aber das, was mich liebevoll und beständig über meine Persönlichkeit hinausführt.
Ich verstand, dass im Spektrum meiner verschiedenen Tätigkeiten Mitgefühl, Achtsamkeit und Pulsation der heilsamste Ausdruck meines Selbst waren. Dieser Einsicht bin ich seither beständig gefolgt. Mit den Jahren ist sie zur Grundlage eines einheitlichen und zugleich vielseitigen Modells geworden, in dem sich das Wissen der traditionellen Spiritualität und einer modernen transpersonalen Psychologie miteinander verbinden.
Ein wesentlicher Punkt besteht dabei in der Beobachtung, dass tiefgreifende Veränderungen immer dann – und oft wie von »selbst« – geschehen, wenn wir das werden, was wir sind. Mitfühlend und achtsam betrachtet, ist jeder Ausdruck unserer Seele, mag er zunächst auch noch so niedrig oder egoistisch erscheinen, immer auch ein notwendiger Teil unserer spirituellen Entwicklung. Wenn ich lernen will, mich dem Leben hinzugeben, werde ich Fehler machen. Aber, wie Miles Davis so treffend sagte: »When you hit a wrong note, it’s the next note that makes it good or bad.«
Das Leben ist nun mal nicht perfekt. Perfektion ist ein Konzept, ein Hindernis, eine Idee des Egos. Wenn wir lernen, die nächste Note aus dem Zentrum von Mitgefühl und Achtsamkeit zu spielen, können wir uns dem pulsierenden Leben vollständig anvertrauen. Dann stehen wir weniger zwischen dem Absoluten und dem Konkreten, sondern erscheinen als die Verkörperung des einen im anderen.
Staunend und dankbar betrachtete ich meine Tochter beim Essen. Fühlen, Denken und Handeln kamen bei ihr aus einer Quelle und widmeten sich in diesem Augenblick leidenschaftlich den Kartoffeln. Die Kühe waren ein Stück weitergezogen und suchten die Kühle im Schatten eines Baumes. Am Horizont tauchten Wolken auf, und die Luft roch bereits nach der erdigen Feuchte des Regens.
Wie soll es gehen, sich dem Leben zu anvertrauen – dem Körper, den Gefühlen und dem Geist? In gewisser Hinsicht widerspricht das allen spirituellen Traditionen.
Denn raten diese nicht gerade davon ab, sich dem trieborientierten, instinktgesteuerten Körper zu überlassen? Dem Körper, der anfällig für Krankheiten und Ursache vielfältigen Leids ist und zuletzt sterben wird?
Widerspricht es nicht jeder Vernunft, sich den impulsiven, unbewussten und irrationalen Gefühlen hinzugeben? Denn es gibt ja nicht nur die Sonnenseite von Liebe, Freude und Mut. Warum sollten wir auch unseren verzweifelten Ängsten trauen, zerstörerischer Aggression, besitzergreifender Eifersucht oder missgünstigem Neid?
Und sind wir nicht genauso oft von unserem Geist in die Irre geleitet worden: Waren wir nicht immer wieder überzeugt, etwas zu wissen, und hatten letztlich doch nur Behauptungen aufgestellt? Sind es nicht unsere Wertungen, Ideologien und Konzepte, die uns von der lebendigen Gegenwart trennen?
Der Körper, die Emotionen und der Geist sind Ausgangspunkt von tiefen, leidvollen Erfahrungen. Das führt zur Frage: Was passiert, wenn wir Körper, Emotionen und Geist ablehnen, ihnen misstrauen? Wie bleiben wir mit dem Leben verbunden? Woran können wir uns stattdessen orientieren? Was hilft uns zu erkennen, ob wir uns in Richtung Wachstum, Entwicklung und Freiheit bewegen oder wir stattdessen ausweichen, vermeiden und uns täuschen?
Zunächst ist es hilfreich zu erkennen, dass die Kategorien Richtig oder Falsch, Ja oder Nein, Vertrauen oder Misstrauen auch nichts weiter als Konzepte des Geistes sind. Das Leben vollzieht sich aber in dem differenzierten, oft chaotischen und spontanen Raum zwischen Schwarz und Weiß. Es besteht nicht nur aus reinem Licht oder vollkommener Dunkelheit. Unsere Existenz erscheint immer in unzähligen Schattierungen und Farben.
Können wir also eine Neugier in uns spüren, ein Interesse, diesen Zwischenraum, dieses Spektrum zu erforschen? Können wir wahrnehmen, wie dabei Mut aufkommt – eine zarte Kraft – und mit ihm die Bereitschaft, uns auf etwas Neues einzulassen? Wo in uns können wir diesen Mut spüren? Können wir ihm etwas Raum geben? Vielleicht möchten wir seine Energie in Bewegung setzen, ganz körperlich. Anfangs noch vorsichtig, einen Fuß nach dem anderen, später selbstbewusster, spielerisch oder lustvoll. Hier geht es entlang! Körper, Emotionen und Geist agieren jetzt aus einer verbundenen Mitte. Diesem Impuls gilt es zu vertrauen.
Dazu fragen wir uns in einem ersten Schritt: Was verbindet das Yoga mit den Ebenen Geist, Emotionen und Körper? Für die Antwort unternehmen wir eine weite Reise: zweieinhalb Jahrtausende zurück bis zu den Wurzeln des heutigen Yoga.
Die damals entstandene Sankhya-Philosophie ist eine kosmische Evolutions- und zugleich spirituelle Befreiungslehre. Um ihre Relevanz für eine zeitgemäße Yogapsychologie zu verdeutlichen, stelle ich sie hier der Entwicklungsbiologie gegenüber. Dabei werden wir sehen: Fühlen, Denken und Handeln sind unterschiedliche Facetten ein und derselben Quelle.
»Nach dem Tod wirst du sein, was du vor deiner Geburt warst.«
Das Sankhya ist eine der wichtigsten Lehren der indischen Philosophie. Kapila, sein Begründer, entwickelte es vor etwa 2500 Jahren. Wegen seiner nüchternen, präzisen Klarheit sollte es später zur Grundlage des Mahabharata, der Bhagawadgita sowie des Yogasutra von Patanjali werden. Auch heute noch gehört die Sankhya-Philosophie zu einem der nachhaltigsten und einflussreichsten geistigen Einflüsse des indischen Subkontinents.
Die Entwicklungsbiologie hingegen ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft. Ihr Anliegen ist es zu verstehen, wie sich aus nur wenigen Zellen komplexes, bewusstseinsfähiges Leben entwickelt. Sicherlich haben Menschen schon immer danach gestrebt zu entschlüsseln, wie aus der Verbindung von Mann und Frau ein neuer, ganz eigener Mensch hervorgehen kann. Die moderne Medizin hat uns zuletzt in dieser Hinsicht neue Erkenntnisse gebracht.
Sankhya und Entwicklungsbiologie verbindet auf den ersten Blick, dass sich beide mit der Entstehung des Menschen und damit eines ganzen Kosmos befassen: Wie kommt unser Bewusstsein aus dem scheinbaren Nichts in die Welt? Wie inkarniert sich die Seele in einem Körper, der es ihr ermöglicht, sich in dieser Welt zu verwirklichen? Georg Feuerstein nennt Sankhya »die Wissenschaft vom Sein« (Feuerstein 2008) – eine Beschreibung, die zweifelsohne auch auf die Entwicklungsbiologie zutrifft.
Sowohl Sankhya als auch Entwicklungsbiologie beginnen mit einem Blick auf den Schöpfungsakt. Im Sankhya stehen sich dabei zwei Grundprinzipien gegenüber: Purusha (»Mann, Mensch, Menschheit, Urseele«), das allgegenwärtige und ewige Bewusstsein, und sein Gegenstück Prakriti (»Materie, Natur«), die veränderliche und unbewusste Grundlage der Natur und all ihrer Erscheinungen (siehe Abb. 1).
Der Ausdruck von Prakriti entsteht aus dem Zusammenspiel dreier fundamentaler Qualitäten, der Gunas. Ihnen liegen alle materiellen und psychischen Phänomene zugrunde: Sattva, das helle, leichte und heitere Prinzip, Rajas, das stimulierende, leidenschaftliche und bewegliche Prinzip sowie Tamas, das unbewegliche, verbergende und stoffliche Prinzip. Aus ihrem Mischungsverhältnis entfaltet sich die gesamte, für uns bekannte und unbekannte Welt.
Mit seinen feinstofflichen Eigenschaften entspricht Sattva auch unserem geistigen Ausdruck, dem Bewusstsein, der Unterscheidungsfähigkeit und Vorstellungskraft. Rajas, mit seiner Leidenschaft und Hitze, verweist auf die Emotionalität, unsere Gefühle inklusive ihrer zur Handlung drängenden Energie. Die stoffliche, materielle Dimension von Tamas dagegen bezieht sich auf die Grundlage unseres Körpers wie Haut, Muskeln, Knochen und Organe.
So wie sich im Sankhya der gesamte Kosmos aus den drei Gunas und ihren verschiedenen Eigenschaften zusammensetzt, besteht auch der Mensch aus diesen drei Elementen. Dabei sind die Qualitäten der Gunas weder gut noch schlecht, sondern haben jeweils ihre eigene Aufgabe und Berechtigung im dynamischen Gleichgewicht der Kräfte.
Auch in der menschlichen Schöpfung steht die Begegnung von zwei gegenüberliegenden Polen am Anfang: des männlichen Prinzips und des weiblichen Prinzips.
Die sexuelle Vereinigung beider ermöglicht, dass sich der männliche Samen mit der weiblichen Eizelle verbindet. Bereits in den ersten 24 Stunden nach der Empfängnis beginnt daraufhin die Zellteilung in der befruchteten Eizelle.
Georg Feuerstein vergleicht die Gunas mit dem physikalischen Prinzip von Atom, Energie und Materie (Feuerstein 2008); Ralf Skuban bezeichnet sie in seinem Buch Die Psychologie des Yoga als »Schöpfungsmasse« (Skuban 2014). Mit dem Moment der Befruchtung der Eizelle entfalten die Gunas demnach ihr kreatives und zugleich hochgradig strukturiertes Potenzial.
»Es ist unmöglich, zu wahrer Individualität zu gelangen, ohne im Ganzen verwurzelt zu sein.«
Mit dem Beginn der Aktivität der Gunas erscheint im Sankhya zunächst unser geistiges Potenzial: Bewusstsein verbindet sich mit Materie. Die verschiedenen Eigenschaften des Bewusstseins werden im Antahkarana, dem »inneren Organ«, zusammengefasst. Dazu gehören Buddhi, die Intelligenz, Ahamkara, die Fähigkeit der Identifikation, und Manas, die Fähigkeit der Wahrnehmung, des Denkens und Fühlens.
Auf der embryologischen Ebene öffnet sich parallel dazu das Feld der Gastrulation (von griech. gaster, »Gefäß«). Aus dem ursprünglichen Zellkern entwickeln sich drei unterschiedliche Schichten oder Keimblätter. In jeder dieser winzigen Zellschichten ist bereits das Potenzial für die Ausgestaltung unseres gesamten Körpers enthalten (siehe Abb. 2).
Auch wenn wir in diesem Stadium noch nicht von Intelligenz, Ego, Fühlen und Denken sprechen können, lässt sich doch sagen, dass hier das Feld der pränatalen Psychologie beginnt. Alles, was von nun an geschieht, kann Spuren in uns hinterlassen. Unser Denken und Fühlen sowie die Identifikation mit beidem sind jetzt zumindest angelegt. So sagte der britische Entwicklungsbiologe Lewis Wolpert über die Gastrulation: »Es ist nicht die Geburt, die Hochzeit oder der Tod, sondern die Gastrulation, welche in Wirklichkeit der wichtigste Zeitpunkt in deinem Leben ist« (Wolpert 1998).
Sowohl im Sankhya als auch in der Entwicklungsbiologie entsteht aus einem dualen Gegensatzpaar etwas eigenes, unabhängiges und zunächst nonduales Drittes. Schon heute hat die Wissenschaft den materiellen Aspekt dieses Vorgangs, bestehend aus Zellteilung und der anschließenden Neuorganisation von Erbmaterial, Organzellen und Zellinhalten durch einzelne, steuernde Enzyme, im Großen und Ganzen entschlüsselt. Welche Voraussetzungen jedoch erfüllt sein müssen, damit ein Bewusstsein, unsere Seele, in den entstehenden Körper einzieht, entzieht sich bisher jeder Kenntnis.
Gegenwärtig können wir beobachten, wie auf der ganzen Welt zunehmend leistungsfähigere Computer entstehen. Gespannt wird dabei die Frage diskutiert, ob – und wenn ja, ab welchem Potenzial von Intelligenz – sich dabei eigenständiges, kreatives Bewusstsein entwickeln kann. Wann wird auf einem Display das erste kindliche, hochbegabte »Hallo – ist da jemand? Wer bin ich?« erscheinen? Doch während die Rechenleistung, zuletzt mit der Entwicklung von Quantencomputern, in kaum noch nachvollziehbare Dimensionen reicht, ist daraus bis heute kein selbstbewusstes Bewusstsein hervorgegangen.
Möglicherweise braucht es dafür die Wechselwirkung zwischen Denken und Fühlen auf der Grundlage eines sinnlich erfahrenden Körpers. Auch im Sankhya erscheint die Natur (Prakriti) immer in Gestalt aller drei Gunas, und soweit wir wissen, ist die Gastrulation mit der Entstehung der drei Keimblätter Ausgangspunkt unserer Psyche.
Bewusstsein ist sicherlich mehr als die Summe seiner Teile Denken, Fühlen und Handeln. Zugleich aber sind diese Teile scheinbar eine unverzichtbare Grundlage von Sein, das sich seiner selbst bewusst ist.
Das entstandene Leben braucht einen eigenen Körper, um die Welt zu erfahren und sich in ihr ausdrücken zu können. Im anschließenden Prozess der weiteren Ausdifferenzierung offenbart sich in beiden Schöpfungstheorien noch eine bemerkenswerte Parallele. Die Grafiken weiter unten geben zu den Ausführungen einen Überblick.
Hier entsteht eine Differenzierung, die den entwicklungsbiologischen Prozessen auf faszinierende Weise genau entspricht. Beschrieben werden:
Auf der entwicklungsbiologischen Ebene entfaltet sich der Mensch aus den drei oben bereits angesprochenen Keimblättern. Sie werden als Ektoderm, Mesoderm und Entoderm bezeichnet. Ihr Potenzial gestaltet sich, wie folgt:
»Die Kraft, die den Körper erschaffen hat, kümmert sich auch um ihn.«
Die drei eben beschriebenen Seinsebenen können wir als unsere grundlegendsten Arbeits- oder Orientierungsfelder begreifen. Gerät eine dieser Ebenen aus der Balance, verliert sie leicht den Kontakt zu den anderen beiden.
So kann sich beispielsweise ein in Konzepten und Ideologien verstrickter Geist immer weiter von den Emotionen entfernen. Ein hyperaktiver Körper kann dagegen kaum noch einen rationalen Gedanken fassen, sondern läuft Gefahr, sich in blindem Aktionismus zu verlieren. Eine hohe emotionale Ladung wiederum führt zu explosiven Ausbrüchen und verhindert ergebnisorientierte, geplante Handlung.
Immer wenn wir auf einer Ebene blockiert sind, fallen Fühlen, Denken und Handeln auseinander. Daher ist es hilfreich, die jeweiligen Funktionen der Ebenen zu verstehen, um so auch ihre Blockaden erkennen und benennen zu können.
Sowohl Sankhya als auch Entwicklungsbiologie beschreiben eindrucksvoll die Ursache und Bedeutung unserer inneren Dreiteilung. Die Schlussfolgerung liegt nahe, dass sich die drei wichtigsten Arbeitsfelder des Yoga an dieser organischen Architektur orientieren. Sie bildet das Fundament für Atemübungen, Körperarbeit und Meditation.
Wir finden sie in den ursprünglichen Yogawegen Karma-Yoga, Bhakti-Yoga und Jnana-Yoga wieder. Sie sind Gegenstand der Unterweisung, die Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, dem Krieger Arjuna in der Bhagawadgita zukommen lässt.
Karma-Yoga: Karma bedeutet Handlung und ist uns bereits im Zusammenhang mit unseren Handlungsorganen, den Karmendriyas, begegnet. Karma-Yoga ist demnach das Yoga der Handlung, Yoga auf der Ebene des Körpers. Im Karma-Yoga geht es darum, sein Leben entsprechend der eigenen Bestimmung zu leben, ohne sich mit den Ergebnissen dieser Handlung zu identifizieren.
Jnana-Yoga: Jnana ist die Erkenntnis; die Jnanendriyas sind die Erkenntnisorgane. Jnana-Yoga ist das Yoga auf der Ebene unseres Geistes. Es führt über den Intellekt, das Studium und die Auseinandersetzung zu Urteilskraft und Unterscheidungsvermögen (viveka). Diese Klarheit ist die Voraussetzung, um das wahre Wesen, die Essenz aller Dinge zu erkennen.
Bhakti-Yoga: Bhakti bedeutet Liebe, Verehrung oder Anbetung und meint damit die Hingabe zu Gott. Dies ist das Yoga der Emotionen. Jede Tat in Liebe zu vollbringen, führt den Bhakti-Yogi zur Selbsterkenntnis. Eine derartige Liebe ist allumfassend und geht weit über die persönlichen Emotionen und Motive des Übenden hinaus.
Patanjali vereinigte später diese drei Formen des Yoga im Ashtanga-Yoga oder königlichen Weg. Er führt über acht Stufen (Ashtanga) zur Befreiung. Inhaltlich umfasst er Anleitungen zu Pranayama, verschiedene Atemübungen und Asanas, einschließlich der heute so populären Körperübungen, sowie Meditation.
Pranayama: Prana bedeutet Energie oder Lebensenergie, Ayama steht für Kontrolle. Im Pranayama geht es also um die Kontrolle der Lebensenergie. Das bei uns gebräuchliche Wort Psyche stammt aus dem Altgriechischen und bedeutete ursprünglich Atem oder Hauch. Wenn wir von der Psychologie als Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen sprechen, greifen wir die enge Beziehung zwischen Atem, Emotionen und Körper unmittelbar auf. Pranayama steht dabei nicht nur für die Kontrolle der Lebensenergie, sondern unterstützt auch die Regulation von Gefühlen. Er hilft, eine ausgleichende Harmonisierung des Körpers zu erreichen.
Asana: Heute werden alle Körperstellungen im Yoga Asana genannt (eigentlich »Sitz« oder »Körperhaltung«). Asana-Sequenzen sind dementsprechend aufeinander folgende Körperhaltungen. In der Regel sind die Positionen dabei so aufeinander abgestimmt, dass sie unseren Energiehaushalt, die Körperspannung und den Geisteszustand ausgleichen und verbinden können. Der Körper ist sehr viel mehr als nur die stoffliche Grundlage für Geist und Emotionen. Sinn und Sinnlichkeit sind eng miteinander verbunden. So erleben Menschen, die sich aus ihren körperlichen Empfindungen zurückgezogen haben, nicht selten auch eine geistige Leere. Die Asanas stehen insgesamt für die Körperarbeit im Yoga.
Dharana: Im Yoga geht die Übung der Konzentration (Dharana) der Meditation (Dhyana) voraus. Zunächst schulen wir unseren Geist, sich auf ein Objekt auszurichten und zu sammeln, ohne dabei in blockierende Anstrengung zu geraten. In der sich anschließenden Meditation löst sich die Identifikation vom Meditationsgegenstand ab. Der Geist geht über ihn hinaus und öffnet sich in einen Zustand losgelöster Freiheit. Meditation als regelmäßige Praxis kann uns dabei unterstützen, immer tiefer reichende Gleichmut (Vairagya) zu erreichen. Diese ist nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit, vielmehr geht es in dieser annehmenden Offenheit um ein umfassendes Vertrauen und unsere Bereitschaft, sich dem Leben auf allen Ebenen hinzugeben. Fassen wir im folgenden Abschnitt die Perspektiven zusammen.
Wenn wir uns auf der energetischen Ebene befinden, geht es um das Gleichgewicht zwischen Sympathikus und Parasympathikus, um die Pulsation zwischen Auf- und Entladung. Auf der Ebene des vegetativen Systems offenbart sich damit das Phänomen der Überladung, wie während einer Manie, oder das der Unterladung, wie während einer Depression.
Auf der Ebene des vegetativen Nervensystems geht es darum, die Schwingungsfähigkeit zwischen den beiden Funktionsmodi Anspannung und Aktivierung (Sympathikus) sowie Entspannung und Erholung (Parasympathikus) wiederherzustellen.
Die meisten Bereiche des vegetativen Nervensystems lassen sich nicht willentlich steuern. Allerdings beeinflusst die Regulierung des Atems, wie beispielsweise das Anhalten, Verlangsamen oder Beschleunigen, die verschiedenen vegetativen Funktionen. Damit befinden wir uns auf dem Feld des Pranayama.
Auf der einen Seite können wir hier die Entspannungsfähigkeit des Organismus fördern, um das Nervensystem zu beruhigen. Mit verlangsamenden Atemübungen lernen wir, belastende Stresskreisläufe zu unterbrechen, um eine chronische Überladung zu korrigieren.
Auf der anderen Seite haben einzelne Atemübungen aber auch das Potenzial, den Sympathikus zu aktivieren, Aktionsfähigkeit zu steigern und einer Unterladung, beispielsweise bei Erschöpfung, entgegenzuwirken.
Wechselt die Unterrichtsstunde zwischen aktivierenden und entspannenden Sequenzen, macht der Organismus die Erfahrung lebendiger Pulsation zwischen beiden Polen und lernt mit der Zeit, in diesen natürlichen Regulationsprozess zurückzufinden. Im Yogasutra von Patanjali heißt es dazu:
»Prāṇāyāma (die Atemtechnik) wird geübt mit umsichtiger Einfühlung in die Ausatmung, die Einatmung und das Anhalten, die Körpergegend, in der sich die Atmung abspielt, die Länge jeder Atempause und die Anzahl der Atemzüge. Dabei wird der Atem lang und zugleich sanft geführt« (Sriram 2006).
Auf der Handlungsebene reguliert das Stammhirn innerhalb des extrapyramidalen Systems unser Gleichgewicht zwischen bewussten, halb bewussten und unbewussten Bewegungen. Dies können wir als Überspannungen und Unterspannungen erleben. Hypertonische, »überspannte« Muskulatur kann als übererdet bezeichnet werden. Schlaffe, hypotonische Muskulatur dagegen als untererdet.
Wir alle kennen die Neigung zu muskulären Verspannungen bei privater oder beruflicher Belastung. In gewisser Weise leiden wir dabei unter aufgestauter, nicht umgesetzter Handlungsenergie: Wir speichern gleichsam Stress in der Muskulatur ab.
Auf der Ebene des Bewegungsapparates bietet Yoga mit seinen abwechslungsreichen Asanas und Asana-Sequenzen ein differenziertes und präzises Angebot an strukturierten Bewegungen und Haltungen, um überflüssige Anspannung zu lösen. Die einzelnen Übungen bauen dabei aufeinander auf und sprechen ganz gezielt die verschiedenen Muskelgruppen des Körpers an. Durch die systematischen Bewegungen kann sich gestaute Energie entladen. Überschüssiges Cortisol, das Stresshormon unseres Körpers, wird abgebaut und ausbalanciert.
Zudem lernen wir in den angeleiteten Asana-Klassen ein verfeinertes Körper- und Bewegungsbewusstsein. Die Asanas laden uns dazu ein, nach innen zu spüren und unser Bewusstsein auch für sehr kleine, feine Erfahrungen im Körper zu öffnen. Asana-Sequenzen sind Meditation in Bewegung. So kann sich unser Bewusstsein wieder im Körper erden. Das schafft die Voraussetzung für eine vitale Pulsation zwischen gezielter Anspannung und ausreichender Regeneration.
Auf der Wahrnehmungsebene geht es um das Filtern, die Verarbeitung und Einordung empfangener Reize durch unser zentrales Nervensystem. In der Körperpsychotherapie spricht man von einer Unterfokussierung, wenn es nicht gelingt, Reize ausreichend zu filtern. In der Folge erleben wir uns als überflutet; Konzentration fällt schwer oder misslingt ganz. Die Regulationsfähigkeit hinsichtlich der Menge und Art einströmender Reize ist diesem Zustand beeinträchtigt. Eine Überfokussierung hingegen liegt dann vor, wenn wir mit einseitiger, zwanghafter Wahrnehmung versuchen, unerwünschte Erfahrungen auszublenden (Boadella 1991).
Sadhana
In der Arbeit mit der prozesshaften Wechselwirkung zwischen Gefühlen, Gedanken und Körper entfaltet die integrative Yogapsychologie ein breites Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten. Sie schafft ganzheitliche Erfahrungsräume – und damit das Potenzial für Verarbeitung, Integration und Wachstum.
Das Ziel des Yoga beschreibt Patanjali gleich zu Beginn des Yogasutra:
»Yoga ist der Zustand, in dem die Bewegungen des citta (des meinenden Selbst) in eine dynamische Stille übergehen« (Sriram 2006).
Wodurch aber gerät Citta aus der Ruhe? Sowohl im Sankhya als auch in der entwicklungsbiologischen Beschreibung der Keimblätter stehen unser Fühlen bzw. Denken, unser Wahrnehmen und Handeln nebeneinander. Auch wenn sie aus derselben Quelle stammen, ist ihre Verbindung untereinander verletzlich. Führt ein äußerer Einfluss dazu, dass sie gestört oder blockiert wird, fließen unser Denken bzw. Fühlen, Wahrnehmen und Handeln nicht länger aus einem gemeinsamen Zentrum. Dann erleben wir uns als fragmentiert.
Wenn unsere innere Ganzheit zerbricht, verlieren wir auch leicht den Kontakt zur äußeren Realität, das Vertrauen in ein ganzheitliches Aufgehobensein geht verloren. Das Wort Yoga kann mit »verbinden« oder »vereinigen« übersetzt werden. Die aufgebrachten Wellen unserer Psyche (Cittavrittis) kommen erst zur Ruhe, wenn unsere Seinsebenen wieder miteinander verbunden sind. Dann können wir die Identifikation mit ihnen lösen und zurückkehren zu unserer Quelle, zu unserem Selbst. So lässt sich Yoga erweitert definieren als die Lehre von der Integration unserer Lebensfelder: Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Handeln und Energie.
Dabei ist es vor allem die Fähigkeit zu achtsamem Mitgefühl jenseits beurteilender Wertung, die uns heilen lässt. Verständnis ohne Liebe bleibt immer kalt. Eine Technik ohne Kontakt lässt uns allein zurück, und eine Erfahrung ohne Beziehung bleibt frei von Bedeutung. Entwicklung beginnt mit Beziehung – sowohl im Sankhya als auch in der Biologie. Je mehr wir die Hüllen unserer Identifikationen abstreifen, umso mehr kann sich diese ursprüngliche, liebevolle Kraft offenbaren. Sie ist der Eingang und Ausgang in das bedingungslose Sein, unsere wahre Natur.
»Sind Sie im Herzen, dann wissen Sie, dass das Herz weder der Mittelpunkt noch der Umfang ist. Es gibt nichts getrennt von ihm.«
Nach dieser Fahrt auf dem zweiädrigen Strom von Philosophie und Biologie möchte ich einen Moment innehalten, um zu würdigen und zu staunen. Es ist undenkbar, dass Kapila vor 2500 Jahren oder Ishvarakrishna, der wenig später Kapilas Lehre in der Sankhya Karika zusammenfasste, ein Wissen über die Embryogenese haben konnte. Sie ist eine Entdeckung des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Damit ist die Entwicklungsbiologie eine späte, unerwartete, aber auch besonders schöne Bestätigung von Kapilas Einsicht in die Ordnung des Seins.