Frithjof Bergmann

Die Freiheit leben

Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Michael Schäfer

Für Jandy und Lukas

© 2005 Frithjof Bergmann

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Eva Bachmann

Titelfoto: ©plainpicture/Thöt, P., 2005

Umschlaggestaltung und Satz: Rosalie Schnell – blauburg

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-364-8

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Im Bemühen um einen Beitrag zu achtsamer Gendergerechtigkeit wechseln generisches Maskulinum und generisches Femininum im folgenden Text ab, stets beginnend mit dem Femininum. Ist dies sprachlich nicht möglich oder inhaltlich nicht präzise, werden auch bloßes Femininum, Alternativauszeichnungen oder ein Binnen-I verwendet. Ist nicht inhaltlich explizit auf eine Geschlechtsidentität hingewiesen, stehen beide Formen stets für Personen beliebiger, im jeweiligen Kontext irrelevanter Geschlechtsidentität.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

1 Den Widerspruch bloßlegen

2 Eine Theorie der Freiheit

3 Freiheit und absolute Unabhängigkeit

4 Wählen können – frei sein?

5 Freiheit und das Selbst

6 Freiheit und Erziehung

7 Freiheit und Gesellschaft

Anhang

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Der Kern dieses Buches ist ein einziger Kontrast. Die beste Formel, die ich dafür gefunden habe, ist der Unterschied zwischen einem Gott und der Verunstaltung dieses Gottes zu einem Götzen. Die Freiheit ist zum Götzen verhunzt worden. Am aktuellsten erleben wir diesen Götzendienst gerade im Irak. Götzendienst war schon immer mit Menschenopfern, mit dem Verbrennen von Menschen verbunden, und das ist jetzt auch bei George W. Bush so: Seine Vorstellung, dass die Art von Wahl, die man jetzt im Irak erzwungen hat, Freiheit bedeutet, ist Götzendienst. Diese Wahl hat ebensowenig mit wirklicher Freiheit zu tun wie die Anbetung eines Zahns, der angeblich einmal im Kiefer eines Heiligen gesteckt hat, mit echter Religiosität.
Die Verfälschung der Freiheit zum Götzen entstand im 18. Jahrhundert. Damals entwickelte sich die Idee, Freiheit sei die Abwesenheit aller Grenzen. Das war das Zeitalter, in dem das symbolische Bild für die Freiheit der „leere Raum“ wurde, ein Raum, in dem man von nichts eingeschränkt oder behindert wird. Dies ist der völlig leere Raum, in dem ein Astronaut taumelt, wenn seine Sauerstoffschläuche durchgeschnitten worden sind. Freiheit als die Idee, dass „alles möglich“, dass „alles erlaubt“ ist; dass wir frei sind, wenn es keine Zäune mehr gibt (die amerikanische, die Cowboy-Idee der Freiheit: „Don’t fence me in“). Das ist die Quintessenz der Götzen-Idee der Freiheit.

Man muss das Perfide, das Alles-auf-den-Kopf-Stellende, das in der Tat Reaktionäre an dieser Verfälschung in seiner lachhaft transparenten Klarheit sehen. Jede Mutter und jeder Vater und jeder Lehrer weiß, dass es ohne Grenzen „einfach nicht geht“, dass „keine Grenzen“ das Chaos, den Untergang im Durcheinander, in der Wüstenei bedeuten. Und das war und ist die plumpe, bauernschlaue, unterdrückerische Logik hinter dieser Verhunzung und Verunstaltung der Freiheit. Leichter konnte und kann man sich das Irreführen kaum machen. Mit einem einzigen taschenspielerhaften Falschmünzertrick konnte und kann man eine Unzahl von Menschen an der Nase wegführen von der Freiheit. Wenn man Freiheit so definiert, wenn man ihr diese Bedeutung in die Schuhe schiebt – oder um den Hals hängt –, dann erkennen ja die meisten Menschen sofort, sozusagen auf den allerersten Blick, dass Freiheit auf gar keinen Fall realisierbar oder praktikabel ist. Der innere Drang bleibt vielleicht abgeschwächt noch bestehen, aber alle „vernünftigen“ Menschen sind sich jetzt einig, dass es in ein ganz fürchterliches Pandämonium hineinführen würde, wenn man die Freiheit ernst nähme, sie „leben“ würde. Und deshalb ist der selbstverständliche nächste Schritt in dieser Logik: Wenn die Freiheit so aussieht, dann versteht man jetzt, aus ganz eigener innerer Überzeugung, die Notwendigkeit der Autorität, der Grenzen, der Polizei, der Gefängnisse, ja der Staatsgewalt. Auf Deutsch: Man erkennt jetzt, durch diese Falsch-Definition, die absolute Notwendigkeit der Unfreiheit – und welch ein Triumph, was für ein lachendes Fest für die Herren der Erde: Ein Wortspiel hat genügt! Eine kleine Gaukelei! Man musste der Freiheit nur eine plumpe, fratzenhafte Maske aufsetzen, und Simsalabim: Schon waren die Menschen dazu bereit – jetzt auch noch freiwillig! –, weiter die Galeeren zu rudern.

Weil diese Karikatur der Freiheit sofort zum Chaos führ­ten, würde man sie im Ernst verwirklichen, geschieht das also nicht. Man wird sich im Vorfeld darüber klar, dass die Freiheit eine Unmöglichkeit ist. Deshalb wird man, wie sehr viele heute, zynisch, oder was vielleicht noch schlimmer ist: Man wird „realistisch“, „pragmatisch“, mit anderen Worten: klein – und kleinkariert. Ein bisschen Freiheit, aber bitte nur in genau abgesteckten Grenzen. Freiheit ja, aber nur in einem Käfig, dessen Gitterstäbe „Verantwortung“ heißen. Dieses Beschneiden der Freiheit, diese unendlich vielfältigen Arten der Kastration: Auch sie wurden durch die Bedeutungs-Verfälschung der Freiheit vorbereitet – mehr noch, sie werden durch diese Verfälschung gerechtfertigt und zu etwas Selbstverständlichem gemacht.

Aber das Thema dieses Buches ist ein Gegensatz. Die ursprüngliche, eigentliche, authentische Idee der Freiheit war nämlich völlig und von Grund auf anders! So anders, aus so ganz anderem Holz geschnitzt, dass man sich wundern muss, wie es überhaupt dazu kam, dass zwei so grundverschiedene Dinge denselben Namen bekamen. Freiheit im eigentlichen und wahren Sinne drückt sich in ganz anderen Bildern aus: nicht im Bild des grenzenlosen leeren Raums, sondern im Urbild eines Menschen, der nicht Sklave ist, der nicht auf den Knien liegt, der sich nicht artig verbeugt; im Bild einer Frau, die ihren eigenen Willen hat, die selber entscheidet; im Bild eines Menschen, der Kraft hat, der sich selbst achtet und eben deshalb nicht die Stiefel eines anderen küsst – auch wenn dieser andere Macht und Titel besitzt.

Dass die Götzen-Idee der Freiheit grauenvolles, zum Himmel schreiendes Unheil angerichtet hat, ist am Ende sogar leichter zu begreifen und auch leichter anzuklagen und zu beschreiben als die Kehrseite: Wie lebt man das, was Freiheit eigentlich ist? Wie hilft man anderen Menschen, seinen eigenen Kindern, Schülern oder Studenten, freie Menschen, das heißt: kraftvolle, wirklich und tatsächlich lebendige, lebende Menschen zu werden, Menschen, die sich selbst nicht hassen, sondern sich an sich selbst freuen? Mit welcher vielleicht ganz anders gearteten Politik, in welcher vielleicht ganz anders gearteten Gesellschaft und Kultur könnte man einen neuen Anfang machen und damit das Wachsen solcher Menschen fördern und unterstützen? Dadurch, dass man Menschen alle vier Jahre einmal wählen lässt, werden sie nicht zu freien Menschen in diesem ernsten und ursprünglichen Sinn. Unvergleichlich mehr ist dazu nötig. Die Frage ist, was könnten diese Voraussetzungen sein und wie könnte man sie erfüllen? Wie könnte man denn den lange verlorenen Faden, der hinführt zur tatsächlichen Befreiung der Menschen, wieder aufgreifen, und wie könnte man ihm folgen?
Dieses Buch ist als Wegweiser gedacht: Es markiert den Weg, der dorthin führen könnte, für den einzelnen Menschen, für unsere Bildung, aber auch für die Gesellschaft. Gehen aber muss man diesen Weg selbst, und zwar auf ureigene, selbst gefundene und nicht vorgeschriebene Art. Denn man erreicht die Freiheit nur dadurch, dass man nicht „folgsam“ ist.

Ann Arbor, Michigan, 17. Februar 2005

Frithjof Bergmann

„Kein Vogel fliegt zu hoch,
wenn er mit seinen eigenen
Schwingen fliegt.“

William Blake, „Die Hochzeit von Himmel und Hölle“

„Die Kunst aller Künste, die Herrlichkeit des Ausdrucks und der Sonnenschein aus den Büchern heißt
Einfachheit.“

Walt Whitman, „Grashalme“ (Vorrede, 1855)

1
Den Widerspruch bloßlegen

Unsere Kultur hat eine schizophrene Auffassung von der Freiheit. Zwei Denkrichtungen vertreten den Begriff Freiheit und gehen noch heute nebeneinander her. Diese beiden Denkrichtungen gelangen von völlig verschiedenen, fast gegensätzlichen Prämissen zu ebenso unterschiedlichen und widersprüchlichen Schlussfolgerungen – und doch streiten sie sich nicht darüber. Der Kon­flikt wird nicht offengelegt. Es gibt keinen Austausch, nicht viel Kommunikation. Die beiden gehen eigene, getrennte Wege, als gäbe es ein „gentlemen’s agreement“, Stillschweigen zu bewahren.

Die beiden Traditionsströme des Freiheitsdenkens

Für die erste Denkrichtung ist es eine unverzichtbare Grundannahme, dass Freiheit etwas Wunderbares ist: Freiheit unterscheidet den Menschen vom Tier und erhebt ihn über die bloße Natur; sie ist die Conditio sine qua non seiner herausragenden Stellung. Seine Freiheit gibt dem Menschen einen einzigartigen und unvergleichlichen Status, der verloren geht, wenn er sie einbüßt. Sein Anspruch auf sie kann nicht in Frage gestellt werden, da sie sein Wesen ausmacht und definiert; sie ist die Essenz des Menschseins. Sie zu erobern hat Vorrang vor allen anderen Zielen, sie zu verlieren ist die endgültige Niederlage.

Die „offizielle“ Tradition der Freiheit …

Dies ist sozusagen die „offizielle“ Tradition. Sie betrachtet Freiheit als etwas Befriedigendes, als natürliches und selbstverständliches Ziel für das Streben eines jeden. Nach dieser Auffassung will der Mensch die Freiheit genauso spontan und direkt, wie ein Baby Milch will. Alle politischen Glaubensrichtungen, egal wie sehr sie in anderen Bereichen differieren, bekennen sich zu dieser Auffassung – wenn auch auf sehr verschiedene Weise. Alle kämpfen für die Freiheit. Jede Eroberung ist eine „Befreiung“. Sogar die Nazis verkündeten, sie seien dafür.

Die Diskrepanzen zwischen den verschiedenen politischen Ideologien scheinen in diesem Punkt nicht größer als die zwischen den verschiedenen Abspaltungen einer Religion. Alle berufen sich auf denselben uralten Text: dass Freiheit erstrebenswert sei. Wenn in der heutigen Zeit die Politik die Rolle spielt, die im Mittelalter die Religion innehatte – wenn sie jetzt also den grundlegenden Orientierungsrahmen liefert, die Werkzeuge der Erlösung und die einzigen Ideen, die ähnlich mächtig sind wie die theologischen Vorgänger –, dann hat in diesem Orientierungsrahmen die Freiheit jetzt den Platz, der früher göttliche Gnade hieß. Nur wenn er in das Königreich der Freiheit eintritt, wird aus dem alten Adam der neue Mensch hervorgehen.

… und ihr Geschichtsbild

Diese Auffassung von Freiheit prägt auch unser allgemeines Bild der Geschichte, in dem die Welt immer noch als großes Fortschritts-Drama angesehen wird. Wir denken, die Menschheit erlange immer größere Freiheit. Es war Hegel, der diese Hoffnung als Erster zu einem System ausarbeitete. Er entwarf ein Bild der Geschichte, in dem die Menschheit unter Schwierigkeiten zu ihrer eigenen Befreiung fortschreitet, und er schrieb der Freiheit einen Wert von immenser Strahlkraft zu. Er sah aber in der Geschichte keinen stetigen Aufstieg, der sich für alle auszahlte, sondern für ihn war sie süchtig danach, zu horrenden Preisen Irrwege zu erforschen. Er hielt sie, mit seinem berühmten Ausspruch, für „die Schlachtbank, auf welcher das Glück der Völker … zum Opfer gebracht“ wird.1 Und doch glaubte er, dass sie trotz aller Schlächterei und Vergeudung irgendwie gerechtfertigt und als vernünftig betrachtet werden könne. Warum? Weil sie zur Freiheit führte. Freiheit war genug. Sie war den Preis wert.

Von dieser Schule des Denkens haben wir auch gelernt, Freiheit zum letztgültigen Beurteilungsmaßstab hinsichtlich der Überlegenheit unseres Lebensstils, unserer Institutionen, sogar unserer Überlegenheit als Menschen zu machen. Wir sind frei, und deshalb sind wir besser. Das ist der Fels unseres Glaubens. Damit ist die Debatte beendet. Und der Ursprung sowie die Rechtfertigung für viele Strategien in der Innen- und Außenpolitik folgt demselben Muster. Die letzte Bastion, auf die man sich zurückzieht, ist, dass dieses oder jenes Vorgehen die Freiheit fördert. Jeder weiß, dass diese Argumentation oft heuchlerisch ist. Aber die Tatsache, dass man sich als Anhänger der Freiheit geriert, obwohl man keiner ist, zeigt nur, wie selbstverständlich und sakrosankt Freiheit als Wert geworden ist. „Gib mir Freiheit oder gib mir den Tod!“ könnte der Wahlspruch dieser ersten Tradition lauten.

Die zweite Tradi­tion: „Der Mensch hat Angst vor der Freiheit“

Wollte man die zweite Tradition auf einen Nenner bringen, so könnte er „Flucht vor der Freiheit“ lauten. Herausragende Vertreter dieser Schule sind Sartre und Kierkegaard, aber von Fjodor Dostojewskij stammt die Formulierung, die für moderne Schriftsteller klassisch geworden ist. Es ist das Großinquisitor-Kapitel aus den Brüdern Karamasow, und wir werden es etwas genauer untersuchen.

In diesem Kapitel erzählt Aljoscha eine Parabel, die im Spanien des 16. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt der Inquisition spielt: Jesus kommt für einen Tag auf die Erde zurück, einen Tag, nachdem der Großinquisitor eine Massenhinrichtung von Ketzern überwacht hat, ein prächtiges, spektakuläres Autodafé, bei dem fast hundert Irrgläubige auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Die Menge erkennt Jesus und ist bereits in Hosianna-Rufe ausgebrochen, als der Großinquisitor, der Jesus ebenfalls erkannt hat, ihn von seinen Wachen verhaften lässt. In der Nacht besucht der Großinquisitor Jesus im Untersuchungsgefängnis, und der Großteil der Geschichte schildert die Unterhaltung, die zwischen den beiden stattfindet und in der der Großinquisitor vor Jesus sich und seine Inquisition und sogar Jesu Verhaftung rechtfertigt. Der Kern seiner Argumentation lautet, dass Jesus versucht habe, die Menschheit zu befreien, die Menschheit Freiheit jedoch nicht wolle und nicht ertragen könne. Er, der Großinquisitor, hat ihnen aus Mitleid und Güte dieses schreckliche Geschenk deshalb abgenommen. Die Freiheit, die Jesus den Menschen verliehen hat, war eine Plage und eine Geißel. Der Mensch leidet darunter und kann sie nicht ertragen. Sie stellt Ansprüche an ihn, denen er nicht gerecht werden kann. Er besitzt nicht das Format, die Statur und die Stärke, um sie auszuhalten. Was die Menschheit wirklich will, was sie ersehnt, sind Geheimnis und Autorität: „Der Mensch strebt nach nichts so unablässig und unter solchen Qualen wie danach, jemanden anbeten zu können.“

Im Wesentlichen stellt uns der Großinquisitor vor ein Dilemma: Man kann der Menschheit entweder gewähren, was sie verlangt, obwohl diese Wunscherfüllung entwürdigend ist, oder man kann ihr hehre Ideale anbieten, aber dann muss man grausam sein. Man hat nur die Wahl zwischen einem Mitleid, das der Menschheit die Vulgaritäten zugesteht, nach denen sie lechzt – oder einem Willen, ihr zu Höherem zu verhelfen, der letztendlich brutal ist. Es ist unmöglich, ihr gleichzeitig Glück und Würde zu gewähren. Angesichts dieses Entweder-oder beschließt der Großinquisitor, milde zu sein und der Menschheit das zu geben, was sie verlangt: Geheimnis, Autorität, ein Objekt der Verehrung, Unterwerfung. Er weiß, dass das, was er tut und gibt, widerwärtig ist, aber die Tatsache, dass er sich selbst so abstoßend macht, ist ein Gradmesser seines Mitleids. Nur das zu gewähren, was sich mit der eigenen Makellosigkeit vereinbaren lässt, ist zu wenig. Der Großinquisitor bringt ein größeres Opfer, und Jesus steht als Angeklagter da, dem man Halbherzigkeit vorwirft.

Für diese Tradition lautet der erste Grundsatz, dass wir zwei einander entgegengesetzte Wahlmöglichkeiten haben. Entweder-oder – aber nicht beides. Im Roman macht Iwans Empörung gegen diese grundlegende Prämisse ihn unfähig zu handeln. Er ist zu edelmütig, um der Menschheit zu geben, was sie verlangt, aber auch zu sensibel, um sie mit hehren Idealen zu behelligen. Dass er sich weigert, sich für eine Möglichkeit zu entscheiden, hält ihn in qualvollen Fesseln gefangen. Und demselben Dilemma hat sich eine ganze Reihe von Denkern von Platon bis Sartre (Die schmutzigen Hände) gegenübergesehen.

Von dieser Weggabelung aus betrachtet, erscheint der Liberalismus wie ein hoffnungsloser Versuch, beides zu erreichen; er verknüpft Glück und Freiheit, Befriedigung und Edelmut, damit man zwischen ihnen nicht wählen muss. Es ist erstaunlich, dass der Liberalismus das als völlig selbstverständlich ansieht, dass er so redet, als habe es nie in Frage gestanden. Aber es gibt dabei zumindest ein Problem, dem man sich stellen muss.

Zwei Menschenbilder

Die Entscheidung, vor die uns Iwan stellt, ist einem Denkmuster diametral entgegengesetzt, das während der Aufklärung dominierte und unser Denken immer noch in großem Maß beherrscht: Im Kern lautet es, dass die Mängel der Gesellschaft und der Menschen letztendlich aus der Unterdrückung des Menschen herrühren, aus den verschiedenen Arten und Weisen, in denen er niedergehalten wird. Befreiung ist deshalb die Antwort schlechthin, und die politische Frage lässt sich einfach auf die Frage reduzieren, wie ein Maximum an Freiheit zu gewinnen ist. Man verfährt nach der Grundannahme, dass es für das Maß an Freiheit, das die Einzelperson will (und das für sie gut ist), keine Obergrenze gibt, und man glaubt, dass das Bedürfnis nach Grenzen rein äußerlich ist. Das bedeutet, dass die Gesellschaft sich nur jenes Minimum an Regeln auferlegen sollte, das zum Schutze der Mitmenschen nötig ist, und es bedeutet auch, dass andere Menschen und die Gesellschaft primär als etwas angesehen werden, das Grenzen setzt.

Dieses Denkmuster zu attackieren stellt nicht nur das Fundament in Frage, auf dem der Liberalismus ruht. Es bedroht das gesamte Spektrum der politischen Diskussion und durchkreuzt auch die große Hoffnung, die die meisten Revolutionen antreibt. Nehmen wir nur einmal die berühmten Schlusszeilen von Trotzkis Literatur und Revolution. Wenn die Revolution gesiegt hat, wird

„der Mensch (…) unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. Die Formen des Alltagslebens werden dynamische Theatralität annehmen. Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über diese Gebirgskette werden neue Gipfel aufragen.“2

Warum hat der Mensch diese Gipfel nicht vorher erreicht? Weil es aktiv verhindert wurde. Wenn er von den Hindernissen einmal befreit ist, wird sein Aufstieg fast von allein geschehen. Die Fähigkeiten steckten von Anfang an in ihm; sie brauchten nur Raum, um sich zu entfalten.

Diese Sichtweise sieht den Menschen als blockiert an. Sie glaubt, dass sein Edelmut nur freigesetzt zu werden braucht. In Dostojewskijs Parabel treffen wir auf eine andere Sichtweise: eine, die im Menschen eine größere Schwäche und gleichzeitig mehr Böses sieht.

Die Menschen wollen „Freiheit“ – oder was sonst?

Wollen die Menschen wirklich frei sein? Beispiele

Diese beiden Traditionen miteinander in Berührung zu bringen liefert uns keine Lösung, und unser Motiv, es zu tun, zielt auch auf eine andere Art von „Lösung“: nämlich ein paar festsitzende Dogmen über die Freiheit zu lösen, zu erschüttern. Aber die Vorstellung, dass man aus Mitleid Unterwerfung gebietet, könnte uns dennoch als grobe Übertreibung vorkommen. Wir zucken die Achseln. Wir wissen, dass die Menschen im Grunde Freiheit wollen.

Wirklich?

Dostojewskij ging es offensichtlich nicht um banale Entscheidungen. Der Großinquisitor sagt, dass es ihm um das Bedürfnis nach Wundern, nach dem Geheimnisvollen und nach Autorität geht; es war der Hunger nach einem Gegenstand der Verehrung, den er zu stillen versuchte. Aber ist dieser Hunger so groß? Ein Gradmesser seiner Intensität ist der schnelle Aufstieg der psychoanalytischen Bewegung. Sogar wenn wir den wissenschaftlichen Wert von Freuds Ideen außer Acht lassen (und die Tatsache ignorieren, dass viele sie dazu benutzt haben, sich zugunsten der Mysterien ihres eigenen Unbewussten aus der Verantwortung zu stehlen); sogar wenn wir nur die Popularität der psychoanalytischen Behandlung ins Auge fassen, bekommen wir eine Ahnung von diesem Hunger. Die bloße Tatsache, dass so viele Menschen es für nötig halten, ihr Leben einer Prüfung zu unterziehen, dass so viele sich gedrängt fühlen, intimste Dinge für eine Beurteilung offenzulegen, und vor allem, dass sie das trotz aller Zweifel und Bedenken tun, beweist die Realität dieses Bedürfnisses zu Genüge.

Oder nehmen wir den Totalitarismus: Wir wiederholen Formulierungen wie „Menschen brauchen eine Identität“ oder „Menschen müssen sich irgendwie definieren können“ wie geistesabwesend. Und doch sind diese Bedürfnisse so handfest wie die nach Sex oder Nahrung. Um ein Gefühl für ihre Realität und ihre Stärke zu bekommen, muss man sich daran erinnern, wozu Menschen fähig sind – den Hunger, die Strapazen und Frustrationen, die sie für ein „Etikett“, einen „Titel“, einen „Namen“ zu akzeptieren gewillt sind (für einen Anstecker am Revers) –, und wie für jemanden die ganze Tonlage und der ganze Rhythmus seines Lebens sich ändert, wie er plötzlich anders geht, weil es jetzt eine Formulierung oder ein Image gibt, die zu ihm passen.

Es ist gut möglich, dass die eigene Vorstellung davon, wie Totalitarismus entsteht, auf den Kopf gestellt wird, wenn man einmal konkret über dieses „Bedürfnis nach Identität“ nachgedacht hat. Gewöhnlich stellen wir uns vor, dass zwei gegensätzliche Kräfte am Werk sind: das Verlangen nach Freiheit und zum Beispiel die Angst, hungern zu müssen. Wir denken, dass diese beiden im Konflikt stehen und dass die Freiheit dabei manchmal den Kürzeren zieht. Aber eigentlich geht es oft gar nicht so vor sich. Wenn sich jemand einer stark reglementierten Gruppe anschließt, tut er das oft nicht aus einem wohlüberlegten Entschluss heraus. Da werden nicht zwei Dinge gegeneinander abgewogen. Der Drang geht allein in eine Richtung. Ein Gefühl der Erleichterung stellt sich ein, sogar der Euphorie. Man hat Unabhängigkeit gar nicht gesucht, man hat sich vor der Freiheit gefürchtet.

Für manche Zusammenhänge akzeptieren wir das als Binsenweisheit. Wenn es um die biederen Bürger der amerikanischen Vorstädte oder um studentische Korporationen geht, braucht uns niemand daran zu erinnern, dass die Menschen im Allgemeinen „nicht auffallen wollen“, „irgendwie dazugehören wollen“, „akzeptiert werden wollen“, dass es für jeden einsamen Wolf ein Rudel gibt. Und doch fließen diese Selbstverständlichkeiten nicht in andere Kontexte ein. Praktisch jede abstrakte politische, philosophische oder moralische Diskussion über Freiheit geht vom Gegenteil aus: dass die Menschen Individualität und Freiheit wollen, dass nur Maßnahmen wie Unterdrückung und Gehirnwäsche diese Wünsche beschneiden können und dass der Mensch rebelliert, wenn man ihm keine Freiheit gewährt. Wieder haben wir dieselbe schizophrene Spaltung, und hier wird sie durch die Semantik verstärkt. Statt rundheraus zu sagen, dass der Mensch keine Freiheit will, sagen wir, dass er ein Gefühl der Solidarität und Gemeinsamkeit braucht oder – im schlimmsten Fall – dass er „konform gehen“, sich „anpassen“ will. Motive, die der Freiheit zuwiderlaufen, werden mit anderen Etiketten versehen, wodurch die Illusion aufrechterhalten werden kann, dass der Drang nach Freiheit uneingeschränkt und absolut ist. Dieses Schubladendenken wird bis ins Extrem verfolgt, so dass sogar historische und theoretische Erklärungsansätze für den modernen Totalitarismus sich streng daran halten. In der Analyse totalitärer Bewegungen lautet die Hauptfrage gewöhnlich: Was hat ein Volk an diesem Punkt dazu gebracht, seine Freiheit aufzugeben und sich einer diktatorischen Herrschaft zu unterwerfen? Aber das ist wahrscheinlich die falsche Frage. Sie geht davon aus, dass es eine natürliche Tendenz hin zur Freiheit gibt und dass die „Erklärung“ für den Totalitarismus im Endeffekt aus einer Liste der Repressalien besteht, die über diese Tendenz siegten. Vielleicht wird umgekehrt ein Schuh daraus; wenn der Mensch im Allgemeinen die Freiheit nicht wünscht, dann muss die wichtige Frage vielleicht lauten: Was hat an diesem Punkt die Durchsetzung von Individualität und Freiheit geschwächt und erlaubt, dass der natürliche Drang nach Anpassung sich ungehindert entfaltete?

Zwiespältige Freiheit

Es gibt keinen Grund, warum wir von einem Mann, der seiner Pensionierung mit Bangen entgegensieht, nicht sagen sollten, dass er sich vor einer gewissen Freiheit fürchtet, oder nicht von einer Mutter, die sich an ihre Kinder klammert, dass sie an einer Form von Knechtschaft festhält. Diese Krisen sind teilweise deshalb so schmerzlich, weil man entdeckt, dass die Anforderungen des Berufslebens oder der Kindererziehung, die bis dato als Einschränkungen erlebt wurden, vielmehr dem Leben eigentlich Struktur und Zusammenhalt gegeben haben. Das Gefühl der Sinnlosigkeit, die Gereiztheit, weil es keine äußere Instanz mehr gibt, die unsere Dienste verlangt, die ganze Erfahrung, nun „für sich selbst“ leben zu müssen – für nichts außer die Fortsetzung der eigenen Existenz –, all diese Dinge sind die Auswirkungen einer bestimmten Art von Freiheit. Sogar völlig übertrieben wirkende Aussprüche werden plötzlich plausibel, wenn sie in diesen Zusammenhang gerückt werden. Sartre hat gesagt, dass wir „zur Freiheit verurteilt“ sind, und in einem seiner Dramen (Die Fliegen) sagt Orest, dass die Freiheit ihn getroffen habe „wie der Blitz“. Würde man dies von einem Mann sagen, dessen Lebenswerk ihm gerade weggenommen worden ist, würden wir es sofort verstehen.

Ein letztes Beispiel. Betrachten wir einmal, wie wir für unser Handeln Rückendeckung und Unterstützung bei abstrakten Begriffen suchen. Wir haben die Neigung, „im Namen von irgendetwas“ zu handeln. Wenn nichts Plausibles zur Hand ist, halten wir nach windigen, fragwürdigen Ideen Ausschau; wir werden zu Bannerträgern des Fortschritts, der Aufklärung, der Ordnung, der Vernunft. Es ist, als bräuchten wir etwas, und sei es nur eine abgehalfterte Illusion, dem wir unser Handeln unterordnen können; etwas, das ihm den Anschein eines Instruments geben wird, das einem Zweck dient. Auch die Moral können wir aus dieser Perspektive betrachten und sie uns als eine Art letzter Zuflucht vorstellen: Wenn alles andere versagt, können wir immer noch ihre ehernen Kategorien beschwören und wenigstens im Namen des Guten handeln. Das ganze Phänomen stellt wieder eine neue Taktik dar, mit der wir die Freiheit vermeiden. Dass wir darin so erfinderisch sind und das Bedrohliche einer autonomen, nackten Tat mit solchen Verbrämungen verschleiern, zeigt, wie tief unsere Furcht vor der Freiheit wirklich sitzt.

Vorgefasste Meinungen, kulturelle „blinde Flecke“

Die Erkenntnis, dass uns die Freiheit, wie man sie auch definiert, nicht uneingeschränkt willkommen ist, bringt uns der Möglichkeit, sie von Grund auf neu zu überdenken, nur einen Schritt näher. Ein nächster und dennoch vorläufiger Schritt muss sein, ein paar weitere vorgefasste Meinungen zu entkräften.

Freiheit und Sklaverei

Wir denken uns Freiheit und Sklaverei als diametral entgegengesetzt. Wir sehen sie als Polarität und glauben, dass Freiheit das eine Extrem darstellt und Sklaverei das andere. Das macht die Beweisführung zugunsten der Freiheit kategorisch einfach. Wer will schon ein Sklave sein? Aber ist der Unterschied zwischen Herr und Sklave wirklich der, dass einer eine Freiheit hat, die der andere entbehrt? Lebt nicht der Herr in einem Herrenhaus und der Sklave in einer Baracke? Muss nicht der Sklave sich abmühen, während der Herr Julep3 trinkt? Schwingt nicht der Herr die Peitsche, die auf dem Rücken des anderen Striemen hinterlässt? Dem Leben des Herrn den Vorzug zu geben sagt also wenig über Freiheit aus.

Wissenschaftliche Methodik verlangt, die Eigenschaft zu isolieren, die man untersucht. Das heißt zum Mindesten, dass man nicht ein Leben, das unfrei, aber auch in anderer Hinsicht unerträglich ist, mit einem vergleichen sollte, das Freiheit und dazu eine Anzahl weiterer Annehmlichkeiten beinhaltet. Schon das kleine Einmaleins der Fairness und der Vernunft erfordert, dass die zwei Lebensformen in jeder anderen Hinsicht zumindest annähernd gleich sind. Wir sollten mit dem Herrn also jemanden vergleichen, der ein leichtes Leben mit ähnlichen Annehmlichkeiten hat, und uns dann fragen, wie viel besser dieses Leben wäre, wenn wir noch Freiheit hinzufügten, und wie viel schlechter, wenn der Rest gleich bliebe und nur die Freiheit weggenommen würde.

Freiheit und Klosterleben

Oder wir könnten einen Vergleich mit Mönchen ziehen. In bestimmten strengen Orden fordern die Regeln nicht nur sexuelle Kasteiung, sondern auch in der Ernährung, nahezu ungebrochenes Schweigen, völlige Unterordnung unter Vorgesetzte und strenge Disziplin sogar hinsichtlich der eigenen privaten Gedanken. Ohne Frage gibt es in solch einem Leben noch weniger Freiheit als in dem eines Sklaven, und dennoch ist das Leben von Mönchen zumindest manchmal beeindruckend.

(Der Einwand, dass Mönche bewusst auf ihre Freiheit verzichten, trifft zunächst auf die Gegenfrage: Wirklich? Wie viele sind ins Kloster eingetreten, weil ihre Eltern ein Gelübde abgelegt haben? Was ist mit den Gefahren in dieser und in der jenseitigen Welt? Aber auf jeden Fall, sogar wenn er die Wahl hätte, und sogar wenn ein Trappisten-Mönch in gewissem Sinn die Freiheit hätte, sein Habit abzulegen – mit demselben Recht könnte man argumentieren, ein Sklave habe das Recht zu rebellieren –, würde das den fraglichen Punkt nur untermauern: Denn genau die Tatsache, dass jemand solch ein Leben wählt und sich dafür entscheidet, auf seine Freiheit zu verzichten, zeigt, dass der Verlust der Freiheit allein das Leben noch nicht zum blanken Horror macht.)

Dies bringt mehrere Konsequenzen mit sich: zum einen die, dass Sklaverei nicht gleichbedeutend ist mit dem Fehlen von Freiheit. Die beiden Begriffe sind einander nicht polar entgegengesetzt, und die Sklaverei stellt nicht auf einer Skala abnehmender Freiheit den Endpunkt dar. Es ist möglich, noch weniger Freiheit zu besitzen als ein Sklave. Ein Beispiel dafür ist der Mönch. Ein anderes anschauliches Beispiel wäre, dass Sie mich wie einen Hund an einem Pfahl in Ihrem Hof festbinden. Das würde mir mehr Freiheit wegnehmen, als man den meisten Sklaven nimmt – und doch würde es mich nicht zu Ihrem Sklaven machen. Was einen Menschen auf diesen Zustand reduziert, ist der Entzug von anderen Dingen, der viel lähmender und nicht so uneindeutig ist wie das Einschränken seiner Freiheit.

Die Kehrseite davon ist recht simpel: Wenn jemand nicht dadurch zum Sklaven wird, dass man ihm seine Freiheit wegnimmt, dann wird es auch nicht genügen, ihm die Freiheit zurückzugeben, um seine Entwürdigung zu beenden. Ihn freizulassen ist womöglich der einfachste und kleinste Teil von dem, was an Wiedergutmachung geleistet werden muss.

Leben in totalitären
Gesellschaften

Die Angewohnheit, Herr und Knecht auf der individuellen Ebene nebeneinander zu stellen, findet ihr Gegenstück auf der Ebene der Gesellschaftsformen. Wir halten die schlimmsten Beispiele des Totalitarismus (vor allem unter Hitler und Stalin) neben die besten Vertreter freier Gesellschaften, und wieder siegt die Freiheit kampflos. Der springende Punkt ist wieder derselbe: Der Unterschied zwischen Hitlerdeutschland oder dem stalinistischen Russland auf der einen und der Schweiz oder Schweden auf der anderen Seite besteht nicht so sehr darin, dass die Menschen in den Ersteren „unfrei“ gewesen, in den Letzteren dagegen „frei“ wären. Egal, wie man Freiheit auch immer versteht, gibt es andere und viel größere Unterschiede. Hitlerdeutschland war rassistisch, chauvinistisch, mörderisch, militaristisch, anti-intellektuell und auf Zerstörung aus. Diese Eigenschaften hatten vielleicht mehr mit seinen Gräueln zu tun als lediglich die Abwesenheit von Freiheit, und sie waren es vielleicht, die diese Gesellschaft „totalitär“ gemacht haben. „Totalitär“ ist deswegen nicht einfach das Gegenteil von „frei“. Es hat Gesellschaften gegeben, in denen wenig Freiheit herrschte und die dennoch diese anderen Untugenden nicht praktizierten. Warum nicht die freien Gesellschaften mit diesen vergleichen – zum Beispiel mit den meisten „primitiven“ Gesellschaften, mit Sparta oder dem mittelalterlichen China?

Kehrseiten des Glaubens an die Freiheit

Ein anderer stillschweigender Taschenspielertrick zugunsten der Freiheit, genauso routinemäßig angewandt, betrifft Ursache und Wirkung. Im Allgemeinen stimmt jeder zu, wenn man sagt, dass Ideologien und Institutionen in ihrem historischen und sozialen Umfeld beurteilt werden müssen. Wenn wir Religionen beurteilen, beispielsweise den Buddhismus oder den Islam, geschieht das oft mit glänzendem Einfühlungsvermögen. Aber wenn es um die Freiheit geht, sind wir oft einseitig – was die Vorteile angeht, sind wir unserer Sache sicher, aber die Schattenseiten betrachten wir nicht so genau. Wie sehr wir einer Seite zuneigen, wird anschaulich, wenn wir uns übungshalber einmal auf die andere Seite hinüberlehnen und ein paar negative Auswirkungen Revue passieren lassen, die der Glaube an die Freiheit vielleicht mit sich gebracht hat.

Natürlich müsste der Rahmen dafür sehr weit gesteckt sein. Um nur einigermaßen angemessen vorzugehen, müsste man die gesamte Entwicklung der westlichen Kultur im Überblick betrachten und etwa folgendes Bild skizzieren:

Die westliche oder weiße Zivilisation hatte in der Antike und im Mittelalter keine klar dominierende Stellung. Sie war im Grunde auf die kleine europäische Halbinsel beschränkt und alles in allem nicht weiter entwickelt als die indische oder chinesische oder bestimmte südamerikanische Zivilisationen. Sie übte auch über diese anderen keine politische Hegemonie aus. Eigentlich konnte sie ihre eigene Stellung jahrhundertelang nur unter großen Schwierigkeiten behaupten, und manchmal nicht einmal das, beispielsweise, als sie sich gegen die großen slawischen und muslimischen Vorstöße nicht verteidigen konnte. Der sagenhafte und unvergleichliche Aufstieg des Westens zu überlegener Macht lässt sich natürlich nicht säuberlich datieren, aber allgemein gesprochen ging er einher mit der Entwicklung und sukzessiven Institutionalisierung der Ideale individueller Unabhängigkeit und der Entstehung einer überlegenen Technik und eines Wirtschaftssystems, die sich aus diesen Idealen speisten und sie wiederum verstärkten.

Soziale Entfremdung

Daher müsste man vielleicht diese Technik und dieses wirtschaftliche System mit ihren positiven und negativen Seiten zu den langfristigen Konsequenzen des Glaubens an individuelle Freiheit rechnen. Dasselbe würde für viele Phänomene gelten, die heute unter dem Begriff der sozialen Entfremdung zusammengefasst werden. Vor allem sie hängen sehr direkt damit zusammen und sind vielleicht nur die Kehrseite der Medaille: Wenn Individualität über Gebühr gepriesen wird und man auf den Vorrechten der eigenen Privatsphäre und der eigenen individuellen Neigungen besteht – wenn jeder Mensch sich also von einem Zaun von Rechten umgeben sieht –, dann wird man sich zwangsläufig isoliert fühlen. Soziale Entfremdung ist vielleicht ein völlig unvermeidliches Nebenprodukt von „Freiheit“, und die Diskussionen über den heutigen „Verlust des Gemeinschaftsgefühls“ sind reine Larmoyanz ohne die Einsicht, dass Individualität und Gemeinschaft sich tendenziell ausschließen, dass der Spielraum, den das eine gewinnt, dem anderen verloren gehen muss.

Totalitarismus
und Krieg

Man könnte weiterhin argumentieren, dass durch die Betonung der Individualität in der modernen Industriegesellschaft gewisse fundamentale Bedürfnisse vernachlässigt werden, die sich dann nach und nach aufstauen und schließlich die Schranken durchbrechen, die sie bis dahin eingedämmt haben. Einmal außer Kontrolle geraten, feiern sie eine Orgie der sozialen Kohärenz und der interpersonellen Integration. Ein hemmungsloses Gemeinschaftsgefühl überkompensiert die Verzweiflung eines eingezäunten Privatlebens. Also muss vielleicht auch der Totalitarismus in diese Bilanz eingerechnet werden – natürlich nicht einfach nur auf der negativen Seite, sondern in einer Weise, die die weitläufigen kausalen Zusammenhänge darstellt. Und vom Totalitarismus ist es nur ein kleiner Schritt zu den katastrophalen Kriegen, die als partikularistische Konflikte innerhalb des Westens begannen, bevor sie fast die ganze Welt in den Abgrund rissen. Auch sie könnten in dieser Kalkulation auftauchen, und der Erste Weltkrieg nicht weniger als der Zweite. Denn der Erste Weltkrieg wurde, wie viele Forscher gezeigt haben, von genau der großen Klasse Menschen aktiv herbeigesehnt, die von den Idealen der individuellen Freiheit am meisten beeinflusst waren. Der Großteil des europäischen mittelständischen Bürgertums begrüßte euphorisch den Ausbruch dieses Krieges. Wie später beim Totalitarismus sahen sie in ihm eine Chance, ihrer reglementierten, biederen individuellen Existenz zu entkommen; ihre Ungeduld war langsam gestiegen, bis sie sich schließlich mit unerwarteter Gewalt Luft verschaffte.

Expansion und Zerstörung
fremder Kulturen

Und bei diesen Kriegen haben wir die eine Tatsache noch nicht erwähnt, die turmhoch allen ins Auge sticht, die die Angelegenheit als Außenstehende beurteilen: die Tatsache, dass die Idee der individuellen Freiheit organischer Bestandteil einer Kultur war, die solchen Expansionsdrang und solche Expansionsfähigkeit entwickelte, dass sie alle anderen Zivilisationen zerstörte – einige durch Ausrottung, den Rest, indem sie sie verwestlichte.

Nur „Betriebsunfälle“?

In diesen Eigenschaften des Westens lediglich „zeitweilige Entgleisungen“ zu sehen, „Betriebsunfälle“, „Kinderkrankheiten“, ist genau die Hauptstrategie, mit der wir diese ganze Beurteilung beschönigen. Was berechtigt uns zu dem Glauben, dass die dunklen Seiten irgendwie weggelassen werden können, dass irgendwann rein das, was man sich von der Freiheit erhoffte und was man mit dieser Idee bezweckte, verwirklicht werden kann – ohne Nebenwirkungen und ohne Verluste an anderer Stelle? Weshalb annehmen, dass die schrecklichen und dämonischen Züge des Westens nur zufällige, momentane Fehler sind? Ihre Wurzeln reichen womöglich genauso tief wie die seiner glänzendsten Leistungen. Vielleicht hängt beides, das Hervorragende und das Abstoßende, gleich eng mit der Idee der Freiheit zusammen.

Am Ende könnte das einer der Hauptgründe dafür sein, warum andere Menschen dieses Geschenk von uns nur widerwillig annehmen – sie sind nicht gewillt, „Freiheit“ als unverfälschten, „reinen“ Wert an sich anzusehen, sondern sehen, in unserer Version, einen organischen Arm des Westens. Und sie haben Recht. Wenn sie einen Beitrag zu unserer Größe geleistet hat, dann trägt sie auch Verantwortung für unsere Verbrechen. Sie ist nicht unschuldig. Sie hat mitgeholfen, als der Westen zwei Drittel der Menschheit zu Aussätzigen machte.

Die Geschichte vom einsamen Dorf

Vielleicht gibt uns eine kleine Geschichte ein paar erste, ungefähre Vorstellungen von dem Weshalb und Wozu dessen, was hier folgen soll:

Stellen wir uns ein sehr abgelegenes, tadellos ordentliches Dorf vor. Alles ist im rechten Winkel, nichts ragt irgendwie störend hervor. Die Menschen, die es bewohnen, sind viel kultivierter als gewöhnliche Bauern. Vor Hunderten von Jahren haben sie schon sehr leise und melodisch gesprochen, und nun haben sie einen Grad der Verfeinerung erreicht, der nahezu völlige Stille gebietet. Fast ihre gesamte Kommunikation geht mit Hilfe ausgesucht subtiler ritueller Gesten vor sich. Zum Beispiel gibt es mindestens hundert verschiedene Arten, die Augen vor der Sonne zu schützen, und jede davon hat eine eigene Bedeutung.

Im Zentrum dieses Dorfes steht ein alter strohgedeckter Tempel, und in diesem Tempel hängt ein enormer Gong aus poliertem Messing, so groß wie die Oberfläche eines Teiches. Wenn irgendetwas geschieht, was das ganze Dorf betrifft, wenn der Fluss über die Ufer tritt oder ein Feind die Grenze überschritten hat oder eine Heuschreckenwolke das Land überschattet, dann rennt jemand zum Tempel, und nach Monaten oder manchmal Jahren würdevoller Strenge und Stille ertönt das Dröhnen dieses Gongs. Nach der langen Stille trifft dieser Lärm sie wie ein Schlag. Manche – zugegeben die Kultiviertesten – fallen zu Boden, den Kopf in den Armen bergend. Die Übrigen zittern so, dass sie nicht einmal mehr die Gesten ihrer Taubstummensprache ausführen können, und bei diesem Lärm zu flüstern ist sinnlos. Das macht es jedem sehr schwer herauszufinden, warum der Gong geschlagen worden ist, und so wird das Dorf zur leichten Beute jeder Gefahr und jedes Feindes.

„Freiheit“ ist nicht der höchste,
letzte, absolute Wert

Der Punkt, auf den es ankommt, ist, dass uns der Klang der „Freiheit“ so betäubt wie der Gong jene Bauern. Wenn wir einen gemeinsamen Nenner suchen, etwas, das die vielfältigen Defizite unserer Gesellschaft zusammenfasst, dann hat die Formel, dass wir „unterdrückt“ seien, dieselbe Wirkung wie in unserer Geschichte das Dröhnen des Gongs: Sie füllt unsere Ohren, bis wir keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Wider das bessere Wissen, dass das vielleicht ein Fehlurteil ist, dass es jedenfalls keine zentrale Rolle spielt oder nicht die Diagnose ist, die wir brauchen, beendet diese Formel mit ihrer Wucht sofort die Möglichkeit echten Nachdenkens. Und das Gleiche geschieht, wenn wir wissen wollen, welches Ziel wir uns stecken, in welche Richtung wir gehen sollen. Auch dann sagt uns die Antwort „größere Freiheit“ nichts. Wieder hören wir nur Gedröhn. Alle machen mit und formen wie betäubt das Wort mit ihren Lippen nach, aber jeder meint etwas anderes, und es wird keinerlei Intelligenz oder Information ausgetauscht.

Es sollte klar sein, dass es nicht die Absicht dieser Untersuchung ist, die Idee der Freiheit mit dem berühmten Körnchen Salz zu würzen oder eine weitere Definition aus dem Hut zu zaubern, was Freiheit „wirklich“ bedeutet. Sie ist vielmehr durch den starken Verdacht motiviert, dass der Begriff der Freiheit zum Nachdenken nicht taugt. Der Versuch, zu einem sinnvollen Verständnis sozialer Angelegenheiten zu gelangen, hat sich in den Fallstricken dieser Idee verfangen. Eine theoretischer Orientierungsrahmen für die Gesellschaft oder den Staat lässt sich auf dieser Basis nicht aufbauen. Es geht deshalb nicht darum, über Wert oder Unwert der Freiheit zu diskutieren. Stattdessen möchten wir den Weg für die Erkenntnis bereiten, dass solch ein intellektueller Wettstreit fehl am Platz ist, dass er ein sinnloses und ermüdendes Tauziehen darstellt. Das Ziel ist also, kurz gesagt, genau das Gegenteil davon, in den Diskussionen um die Freiheit Stellung zu beziehen. Es besteht eher darin, eine Art des Nachdenkens vorzubereiten, die nicht den Spagat zwischen diesen beiden Gegenpolen machen muss.

Ein neuer
Orientierung­s-
­rahmen ist nötig

Das heißt nicht, dass viele der Dinge, die unter der Idee der Freiheit vertreten, verfochten und gedacht wurden, nicht gut und großartig gewesen wären oder dass, im selben Sinne, vieles von dem, was auf den Nenner „Unterdrückung“ gebracht wurde, eigentlich nicht schlecht gewesen sei. Es heißt vielmehr, dass diese Idee nicht mehr als Bewertungsbasis dient und wir deshalb ein neues Koordinatensystem brauchen, in dem die Dinge ihren Platz finden. Es heißt, dass die alten Gründe nichtssagend geworden sind und wir neu nachdenken müssen, wo hinten und vorn, wo oben und unten ist.

In der gegenwärtigen Situation mangelt es vielen sozialen Theorien an Selbstvertrauen. Die meisten von uns haben eine vage und dumpfe Ahnung, dass die Grundlagen schwanken, dass wir keinen festen Boden unter den Füßen haben und wir deshalb nach immer neuen Strohhalmen greifen. Es gibt wenig Eigenständiges, kaum wagemutige Vorstöße. Es zeichnet sich keine echte Struktur ab, die ihr eigenes Gewicht tragen, geschweige denn neue Orientierungslinien vorschlagen (und zu gewichtigen Schlussfolgerungen führen und sie stützen) könnte. Die eigentümliche Doppeldeutigkeit der Idee der Freiheit hat zu dieser Lähmung beigetragen, weil sie einerseits ein Ziel und einen Rahmen postulierte, andererseits aber so problematisch ist, dass sie weder Orientierung noch einen schlüssigen Sinnzusammenhang liefern kann. Wir kommen über ein kasuistisches Blindekuh-Spiel nicht hinaus. Die Idee der Freiheit ist bis jetzt wie eine Haube, die den Falken des Gedankens auf dem Lederhandschuh hält. Denn sie gibt uns die Illusion, dass wir ein Ziel haben, dass es bekannt ist, dass es dafür einen Rahmen gibt und wir alles richtig verstehen – und deshalb werden die großen Fragen gar nicht erst gestellt.


1 G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, hrsg. von Hermann Glockner, Stuttgart: Frommann, 1927, S. 49.

2 Leo Trotzki, Literatur und Revolution, Essen: Arbeiterpresse-Verlag, 1994, S. 252.

3 Julep ist das sprichwörtliche Getränk der Plantagenbesitzer des amerikanischen Südens.