ROSEMARIE NÜRNBERG
ANDERS BETEN

Rosemarie Nürnberg

Anders
beten

Impulse von
Madeleine Delbrêl

VERLAG NEUE STADT
MÜNCHEN · ZÜRICH · WIEN

INHALT

Zur Einführung: Eine Erfahrung für unsere Zeit

WAS IST BETEN?

Gebet als Bewegung zu Gott hin

Gebet als Ausrichtung auf Gott allein

Die „absolute Notwendigkeit“ des Gebets

Gebet als Begegnung mit dem lebendigen Gott

„UM DAS BETEN BETEN“

WIE – WANN – wo BETEN?

Wie beten?

Tiefenbohrung

Sehnsucht der Liebe

Bekannte Gebete und kleine Gesten als Hilfe

Zerstreuungen

Fehlende oder ungute Gefühle als Chance

Wann beten?

Atemzüge – Zeitmulden – Zeitstaub

Blickkontakt aufnehmen

Praktische Ratschläge zur „ Gebetszeit“

Wo beten?

DER „INTIME GEHILFE DES GLAUBENS“

BITTEN

Bitten und fürbittendes Gebet

Überwindung von Stolz und Egoismus

Inständig und voll Vertrauen bitten

Nicht erhörte Bitten?

Um Licht bitten

Stellvertretendes Gebet

ANBETEN

IN DER GEMEINSCHAFT DER KIRCHE – FÜR DIE WELT

Ausblick

Zur Einführung:
Eine Erfahrung für unsere Zeit

Wie soll ich beten? Wann soll ich beten? Woher soll ich mir die Zeit nehmen? Unsere schnelllebige Zeit, die vielen Termine, die zahlreichen Ablenkungen und Abwechslungen, wo lassen die uns Zeit und Raum zum Beten? Die Zeitnot nimmt zu – das ist die Erfahrung vieler Menschen heutzutage. Einen Zeit-Raum für Gott zu finden, ist viel schwieriger und scheint manchmal unmöglich geworden. Mit dem ihr eigenen Realismus erkannte das bereits die französische Christin Madeleine Delbrêl (1904–1964). Ihre Reflexionen und Beobachtungen, vor allem aber ihre Erfahrungen erweisen sich immer deutlicher als wegweisend für ein Leben in der Verbundenheit mit Gott in einem fordernden, betriebsamen Alltag. „Mystikerin der Straße“ wird sie genannt, weil sie ihren Alltag mit seinen Aufgaben und Pflichten in solch inniger Verbundenheit mit Gott lebte, im lebendigen Austausch mit Gott, anders gesagt: in einem vielgestaltigen Beten.

Katholisch getauft, religiös erzogen, hatte Madeleine mit 15 Jahren ihren Glauben an Gott verloren. Fünf Jahre lang hatte sie Gott strikt abgelehnt, ihn geradezu bekämpft, ehe sie ihm im Alter von 20 Jahren ganz neu begegnet ist – oder besser: bis Gott ihr begegnet ist. Ihr überraschender Entschluss zu beten hat dazu den fruchtbaren Boden bereitet. Eine Gruppe junger Christen, mit denen sie immer wieder gerne zusammentraf, hatte sie dazu gebracht: Deren lebendiger Glaube verunsicherte sie in ihrer atheistischen Haltung. Ihre bisherige Frage: Wie kann ich beweisen, dass Gott nicht existiert? wandelte sich in die Frage: Existiert er vielleicht doch? Mit einer bemerkenswerten Ehrlichkeit sich selbst gegenüber gesteht sie sich ein:

„Wenn ich aufrichtig sein wollte, durfte ich Gott, der nicht mehr strikt unmöglich war, auch nicht so behandeln, als ob er ganz gewiss nicht existierte. Ich wählte deshalb, was mir am besten meiner veränderten Perspektive zu entsprechen schien: Ich entschloss mich zu beten …“ (OC XI 212f , zit. nach Schleinzer 35f).

Ein ebenso verblüffender wie konsequenter Entschluss! Damit setzte sie ein Wort Teresas von Avila (1515–1582) in die Tat um, das sie einmal bei den jungen Leuten aufgeschnappt hatte: „Wenn du nicht weißt, ob es Gott gibt, dann knie jeden Abend nieder und bete fünf Minuten zu ihm. Dann wird es sich herausstellen.“

Madeleine berichtet:

„Vom ersten Mal an habe ich kniend gebetet, immer noch voller Angst, ich könnte einer Idee aufsitzen. Ich habe das an diesem Tag und an vielen anderen Tagen gemacht, ohne auf die Uhr zu schauen.
Seitdem habe ich lesend und nachdenkend Gott gefunden. Aber indem ich betete, habe ich geglaubt, dass Gott mich gefunden hat und dass er lebendige Wahrheit ist und dass man ihn lieben kann, wie man eine Person liebt“ (OC XI 214 , zit. nach Schleinzer 36).

Madeleine „findet“ Gott in dem Moment, in dem sie sich „lesend und nachdenkend“ nach Gott ausstreckt; in dem Moment, da sie betend Gott sucht in der offenen Bereitschaft, ihn wirken zu lassen, da weiß sie sich von ihm gefunden. Der Mensch, der nach Gott sucht, und Gott, der nach dem Menschen sucht, begegnen sich. Johannes vom Kreuz erklärt dazu: „Mein Herr und mein Gott! Wer dich mit reiner und schlichter Liebe sucht, warum sollte er dich nicht finden, ganz wie er es wünscht und ersehnt? Bist du es doch, der sich als Erster auf den Weg macht, um denen zu begegnen, die dich finden wollen“ (Weisungen 2). Gott ergreift die Initiative; er ist der, der sich auf den Weg macht und dem Menschen, der bereit ist, der offen ist, der sich – betend – ausstreckt nach ihm, entgegenkommt. Der Mensch muss es nur wollen, er muss es ersehnen. Alles andere tut Gott. Madeleine wollte es und ersehnte es, deshalb betete sie, wohlgemerkt als Suchende (!) – „ohne auf die Uhr zu blicken“. Überwältigend erfährt sie: Gott lebt! Gott ist „lebendige Wirklichkeit“! Das ist für sie, die Wirklichkeitsliebende, die sensible, präzise beobachtende Realistin, eine durchschlagende Erfahrung. Es ist keine rationale Erkenntnis, sondern ein existenzielles Erleben:

„Für den Glaubenden ist Gott nicht der schönste Einfall der Menschen, nicht ihr erhabenster Gedanke, nicht ihr wunderbarstes Ideal. Gott ist für ihn überhaupt nicht irgendetwas, er ist Jemand“ (Frei 151).

„Man kann ihn lieben, wie man eine Person liebt“, notiert sie – und bestätigt damit, was Reinhold Schneider einmal so formuliert hat: „Keiner glaubt an Gott, weil er seine Existenz beweisen könnte, sondern weil Gottes Wirklichkeit in ihm geschehen ist.“ Genau das ist ihr widerfahren: Gottes Wirklichkeit ist in ihr „geschehen“; Madeleine erfährt, ja, man kann sogar sagen, ihr widerfährt die Wirklichkeit Gottes, die lebendige Wirklichkeit seines Seins. Und diese Wirklichkeit ist Liebe: Sie erfährt die Wirklichkeit der Liebe Gottes; des Gottes, der Liebe ist, „weil er dreieinig ist“ (Frei 82). Hatte sie zuvor in intensiver Weise die Absurdität und Sinnlosigkeit eines Lebens ohne Gott erfahren, so erlebt sie jetzt das „ungeheure, umwerfende Glück“ (OC VIII 127 = NK 237) des Lebens mit dem lebendigen Gott. Deshalb will sie fortan in ihrer aufreibenden Tätigkeit mitten im Lärm der Stadt und bei den alltäglichen Beschäftigungen mitten unter den Menschen immer wieder den Kontakt zu Gott suchen.

Als Sozialarbeiterin hatte sie in Ivry, einem Arbeitervorort von Paris, eine Stelle angenommen – in einem kommunistisch-atheistischen Milieu. Sie bleibt dort, um unter den Nichtglaubenden „Gott einen Ort zu sichern“ (Frei 14) – durch ihren Glauben und ihre Liebe. Ihre Devise lautete, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und zwar jeden Nächsten; der Herr habe ja nicht hinzugefügt: „mit Ausnahme der Kommunisten oder der Atheisten“.

Als eine „Pionierin des Glaubens in einer säkularisierten Welt“ hat man Madeleine bezeichnet. Sie war zutiefst überzeugt: Dort, wo man glaubt und liebt, wo im Glauben und Lieben das innerweltliche Dasein auf die transzendente, die göttliche Wirklichkeit hin überschritten wird, entsteht eine „Insel göttlicher Anwesenheit“ (Frei 14) – mitten in der Welt, auch und gerade mitten unter den Nichtglaubenden. Mit gleichgesinnten Gefährtinnen wollte Madeleine dafür leben, indem sie sich darum bemühten, jederzeit allen Menschen in Not, ob Christen oder Nichtchristen, ein offenes Ohr und eine helfende Hand zu bieten. Die Verbundenheit mit Gott war für sie eine einzigartige Quelle der Kraft. Und als aufmerksame Leiterin ihrer kleinen geistlichen Gemeinschaft wusste sie: Der Kontakt mit Gott im Gebet, die Beziehung zu dem, den sie liebt, ist nicht nur wichtig, sondern geradezu lebensnotwendig. Angesichts ihres eigenen zeitintensiven Einsatzes und der Zeitnot vieler Menschen stellt sie aber auch nüchtern und realistisch fest:

„Es ist wahr, man kann heute nicht mehr beten wie früher, es sei denn, man wäre in einem Kloster oder in einer bestimmten außergewöhnlichen Lebenslage. Doch folgt daraus keineswegs, dass man nicht mehr beten soll; man wird anders beten müssen, und dieses ‚Anders‘ gilt es zu entdecken“ (Gebet 50).

Beten? Unbedingt! Doch es geht nicht mehr wie früher. Wie aber kann dieses „Anders-Beten“ aussehen? Dazu stellt Madeleine immer wieder neue Überlegungen an, die sie in den Jahren von 1940 bis zu ihrem Tod 1964 niederschreibt, zum großen Teil als „Aufzeichnungen“, auch in verschiedensten Briefen und Notizen für ihre Gemeinschaft, ihre Équipe. Zu dieser gehören engagierte Frauen, die nach den sogenannten Evangelischen Räten leben wollen, das heißt in Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam, aber nicht in einem Kloster, sondern mitten in der Welt. Die konkreten Umstände dieses Lebens, die zeitlichen und räumlichen Vorgaben ihres beruflichen und gesellschaftlichen Einsatzes wie auch die Erfordernisse und Gesetzmäßigkeiten eines geistlichgemeinschaftlichen Miteinanders verlangen einen freien, kreativen Umgang mit dem Gebet: Den jeweiligen Möglichkeiten muss und darf Rechnung getragen werden; denn „ das Gebet ist frei aus der Freiheit Gottes“ (Frei 16). Madeleine offenbart nicht nur ihren Realismus, sondern zugleich auch ihre große innere Freiheit, wenn sie erklärt:

„Dafür gibt es kein Buch mit Kniffen oder Rezepten. Das Leben jedes einzelnen Menschen zeigt in seinen Umständen, wo die persönlichen Möglichkeiten liegen, je nach Bedingungen und je nach Begabungen“ (Gebet 81).

Anders beten, das beinhaltet eine neue Freiheit und Eigenverantwortlichkeit des Einzelnen: Eine jede, ein jeder ist ganz persönlich gefordert, hinzuschauen und die Frage zu beantworten: Was ist mir möglich? Mit dieser Freiheit, was das „Wie“ des Betens betrifft, wächst in Madeleine zugleich die Überzeugung, dass Beten gerade im Leben mitten in der Welt unerlässlich ist, „damit sich das Leben Christi in uns lebendig, wirksam, fruchtbar erweist“ (Gebet 74).

Madeleines Gedanken, die ursprünglich zumeist für ihre Gefährtinnen bestimmt waren, haben universelle Bedeutung für Christen, die mitten in der Welt ihren Glauben, ihre Gott-Verbundenheit leben möchten.

Madeleine hat selbst übrigens eine lange Zeit der Erfahrung mit dem Beten gebraucht, um verdeutlichen zu können, wie ein Leben des Gebets unter den Bedingungen eines modernen Alltags möglich ist; so hat sie ihre „Notizen über das Gebet I und II“ mit ihren Gefährtinnen über mehrere Jahre erarbeitet (Gebet 51–68.74–93). Was sie notiert, ist somit das Ergebnis eines längeren, gemeinschaftlich durchlebten Prozesses.

EIN BUCH FÜR DIE MEDITATION UND REFLEXION

Im Folgenden sollen wichtige Erfahrungen und Einsichten Madeleines für die eigene Meditation und Reflexion, vielleicht auch in einer kleinen Gruppe mit anderen Interessierten, dargelegt werden. Diesem Anliegen wurde auch bei der Textgestaltung Rechnung getragen. Es ist nicht ratsam, dieses Buch in einem Stück zu lesen, auch weil es sich hier nicht um eine ausgefeilte, logisch und kontinuierlich sich entwickelnde Gebetslehre handelt (Madeleine hat ihre eigene Glaubenserfahrung übrigens nie als exemplarisch verstanden!). Vielmehr wird den Leserinnen und Lesern in den vorliegenden Texten eine Fülle von unterschiedlichen Impulsen für ihr eigenes Beten angeboten, unter denen sie die für sich und ihre Situation passenden entdecken können.

ZUR GLIEDERUNG

Die Zuordnung der einzelnen Gedanken, Anregungen, Ratschläge und Ermunterungen zu Themenkreisen dient der Orientierung. Sie konnte nicht immer eindeutig erfolgen, sodass sich teilweise Überschneidungen und auch Wiederholungen ergeben. Das sollte nicht als Mangel verstanden werden, sondern eher als Chance, die sich aus einer jeden Wiederholung für den Interessierten ergibt. Zudem zeigt sich darin auch ein Spezifikum der geistig-geistlichen Welt Madeleine Delbrêls: Für sie wichtige, lebens-wichtige Themen lassen ihr Denken und Beten nicht los, sondern werden in immer neuen Ansätzen angereichert und vertieft. Daraus entstehen Überlegungen in einer erstaunlichen Dichte, die je für sich ausgekostet werden wollen.

In sieben Kapiteln werden wir einzelnen Themen nachgehen:

– Am Anfang steht die grundsätzliche Frage: Was ist Beten? Für Madeleine, die von der Liebe Gottes „überwältigt worden war“ (NK 266), ist die Beziehung zu Gott, die sich im Gebet verwirklicht, eine „absolute Notwendigkeit“ – aber nicht im Sinne einer äußeren Verpflichtung, sondern als ein „Muss“ in der Logik der Liebe: Gerade weil sie aus einem Leben ohne Bezug zu Gott kommt, hat Madeleine einen klaren Blick für das Entscheidende: Gebet ist nichts anderes als Liebe, Gespräch der Liebe.

Um das Beten beten