Das Buch
Als Politiker kämpfte Theo Waigel entschlossen, aber stets fair. Der Grundsatz, Freund und Gegner gegenüber ehrlich zu sein, durchzieht wie ein roter Faden sein Leben. Bis in die Kindheit reicht dieser Anspruch zurück – »heuchlerisch« nennt Waigel heute das Klima der Fünfzigerjahre, in dem die NS-Verbrechen verschwiegen und verdrängt wurden. In seiner Autobiografie erinnert er sich an Weggefährten wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Franz Josef Strauß, erzählt von 1989/90 und den entscheidenden Gesprächen mit Gorbatschow, Mitterrand und Bush, die zur deutschen Einheit führten. War die Zustimmung zum Euro tatsächlich der Preis, den die Deutschen für die Wiedervereinigung zahlen mussten, wie manche behaupten? Waigel schreibt sein politisches Vermächtnis und stellt sich den wichtigen Fragen der Gegenwart: Wohin führt der Weg der CSU? Und hat die europäische Idee noch eine Chance?
Der Autor
THEO WAIGEL, geb. 1939 in Oberrohr / Schwaben, war von 1989 bis 1998 Bundesminister der Finanzen und von 1988 bis 1999 Vorsitzender der CSU. Seit 2009 ist er Ehrenvorsitzender seiner Partei. In seine Amtszeit als Bundesfinanzminister fiel die Währungsumstellung in der DDR und die Einführung des Euro. Der gelernte Jurist arbeitet in der Kanzlei seines Sohnes in München und lebt mit seiner Frau Irene Epple-Waigel in Seeg im Allgäu.
THEO WAIGEL
EHRLICHKEIT IST EINE WÄHRUNG
Erinnerungen
Econ
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ISBN: 978-3-8437-2038-0
© der deutschsprachigen Ausgabe
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
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Titelfoto: © Thomas Trutschel, getty images
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Prolog: Die Augenbraue
Neuneinhalb Jahre war ich als Bundesfinanzminister im Amt. Ich war der, »dem die Schnurrbärte fidel über den Augen hüpften«, wie der Journalist Jürgen Leinemann einmal schrieb. Jetzt, wo ich die achtzig erreiche, wird es Zeit zu fragen: Was war denn da noch?
Ich war ja nicht nur Politiker, sondern bin auch Familienmensch. Ich war ein Kriegskind Jahrgang 1939, geprägt vom frühen Verlust meines gefallenen Bruders und zugleich gehalten im Glauben meiner Kirche. Aus diesen Erfahrungen meiner Jugend und der stetigen Auseinandersetzung mit Theologie und Religion erwuchs mein Wertegerüst bis heute. Meine Partei, die Christlich-Soziale Union, ist für mich Ausdruck dieser Überzeugung. Und als Politiker in Bayern, Deutschland, Europa und der Welt war ich dankbar, darauf bauen zu können. Ich sehe es als einen Glücksfall, dass ich in meiner Amtszeit die entscheidenden Weichen für die Zukunft unseres Landes mitstellen durfte: Die deutsche Wiedervereinigung und die Europäische Währungsunion sind die großen Meilensteine meines politischen Lebens.
Als Finanzminister ist man nicht der erklärte Liebling der Nation. Wer populär sein will, sollte sich einen anderen Beruf suchen – das war immer mein Motto. Gegen blauäugige Kritik und haltlose Unterstellungen habe ich mich stets verwahrt, aber für eine passende Anekdote, eine gute Pointe oder eine scharfzüngige Bemerkung war ich jederzeit empfänglich. Daher rührt auch mein entspanntes Verhältnis zur Karikatur. Im Jahr 2009 zeigte das Kloster Roggenburg eine Ausstellung »Die Augenbraue« mit Zeichnungen von Dieter Hanitzsch, Horst Haitzinger und Ernst Maria Lang. Letzterer sagte zu mir: »Lieber Herr Waigel, Sie haben jedenfalls ein Gesicht.« Und meinte damit, für einen Karikaturisten gäbe ich ein dankbares Objekt her.
Vielleicht habe ich von der Wiedererkennbarkeit meiner Gesichtszüge sogar profitiert. Mein jüngster Sohn hat mich darauf gebracht. An einem Sonntagvormittag beim Frühstück, ich hatte Konstantin auf dem Schoß, schauten wir gemeinsam eine Sonntagszeitung an. Dabei fiel uns eine Karikatur ins Auge: Zu erkennen war ein Wald, hinter jedem Baum lauerte ein mit dicken Augenbrauen gezeichneter Räuber und wartete auf arglos vorbeiwandernde Steuerzahler. Bevor ich dem Kleinen das Bild erklären konnte, zeigte sein Finger schon auf die Räuber. Freudig krähte er: »Papa, Papa, Papa!« Auch als Räuber hatte mich mein Sohn sofort erkannt.
Jetzt im Alter wachsen die Schnurrbärte ungeordneter, ich lasse sie von niemandem verändern. Man sollte zu dem stehen, was man ist. Etliche gut gemeinte Versuche, den Wildwuchs zu zähmen, habe ich abwehren müssen. Wie sagte einmal der Philosoph Max Müller? »Sei so, wie nur du sein kannst, und lass andere so sein, wie nur sie sein können.«
Zu diesem Anspruch, ich selbst zu bleiben, zählt für mich die Ehrlichkeit. Deshalb habe ich sie als Haltung meinem Buch vorangestellt. Denn wenn man das achtzigste Lebensjahr vollendet, wird es Zeit, zurückzublicken – vor sich selbst und anderen Bilanz zu ziehen. Auch aus diesem Grund habe ich meine Erinnerungen geschrieben. Ich wollte persönlich erzählen, ohne Privates preiszugeben. Meine ehrliche Überzeugung sollte zum Ausdruck kommen, Verbiegen war noch nie meine Sache. Ob diese Biografie eine lesenswerte Lektüre darstellt, möge am Ende der Leser entscheiden.
Seeg im Allgäu, Februar 2019
Theo Waigel
BAYERN
Jahrgang 1939
Kindheit und Jugend
Wenige Monate vor einem fürchterlichen Weltkrieg begann mein Leben an einem Samstag – dem 22. April – im mittelschwäbischen Dorf Oberrohr. Schon kurz nach meiner Geburt wurde mein Vater mit 44 Jahren als Soldat eingezogen. Trotzdem wuchs ich zunächst unbesorgt und behütet auf. Maria, die aus einer früheren Beziehung meines Vaters stammte, war mir eine liebevolle ältere Schwester. Mein 13 Jahre älterer Bruder Gustl kümmerte sich in rührender Weise um mich. Ich erinnere mich noch, wie er mich mit in die Ursberger Klosterkirche nahm und hoch auf der Empore auf die Brüstung setzen wollte. Ich hatte Angst und wehrte mich heftig. Falls ich nach vorne überkippte, so glaubte ich, würde mich selbst mein großer Bruder nicht halten können. Als ich einmal unsere Katze mit dem Schwanz an den Gartenzaun angebunden hatte, wollte er mich bestrafen. Ich versuchte zu fliehen, doch vor dem Stadeltor erwischte er mich und versohlte mir kräftig den Hintern.
An Gustls Einberufung zum Wehrdienst 1943 und seinen Abschied hingegen kann ich mich nicht mehr bewusst erinnern. Umso deutlicher steht mir ein Oktobertag 1944 vor Augen: Der Bürgermeister von Oberrohr, Karl Thoma, kam ins Haus, um uns die grausame Nachricht mitzuteilen. Gustl war tot. Meine Mutter brach zusammen. Ich saß in einer Ecke der Küche auf einer Holzkiste, fast unbeteiligt, verstand nicht, was geschehen war. Eine klösterliche Krankenschwester aus Ursberg wurde gerufen, um die Mutter zu beruhigen. Tröstend nahm sie die Verzweifelte in die Arme und zeigte beschwichtigend auf mich, den kleinen Sohn. Doch dass ich meinen Eltern geblieben war, konnte deren Leid nicht lindern. Zum Gedenkgottesdienst in der Ursberger Klosterkirche kamen die Verwandten und meine Taufpatin, die meine Hand nahm. Noch war mir nicht so recht klar, welch tragische Lebenswende eingetreten war.
Tragisch auch für mich, obwohl ich das Geschehen als Kind kaum einordnen konnte. Bisweilen fand ich meine Mutter weinend am Fenster der Schlafkammer, sehnsüchtig in die Ferne schauend. Sie trauerte ihr ganzes Leben um ihren Sohn, den sie 1943 in Augsburg letztmals gesehen hatte. Er war im Juni zum Reichsarbeitsdienst eingezogen und danach gleich weiter an die Westfront geschickt worden. Am 30. September 1944 war er gefallen – einen »Heldentod«, vermerkte das militärische Abschiedsschreiben seines Vorgesetzten.
Manchmal hielt meine Mutter ein kleines Paket mit vergilbten Kuverts in ihren Händen, die von einer Seidenschnur zusammengehalten wurden. Es waren 61 Briefe, die Gustl zwischen dem 28. August 1943 und dem 24. September 1944 an meine Eltern geschrieben hatte. Als ich sie Jahrzehnte später öffnete und Gustls handschriftliche Zeilen Wort für Wort entzifferte, konnte ich erstmals ermessen, wie sehr das Leben und Sterben meines Bruders mich selbst geprägt hatten. Meist schloss Gustl seine Zeilen mit vielen Grüßen »an Euch alle, besonders an Theo«. Wenn ich seinen Briefen auf diesen ersten Seiten bewusst viel Raum einräume, dann aus dem Grund, weil mir die letzten Erinnerungen an meinen gefallenen Bruder so kostbar und teuer sind. Zudem geben sie der Nachwelt ein Zeugnis gegen Krieg und Nationalismus.
Aus der Anfangszeit existiert ein Feldpostbrief vom »Panzergrenadier Waigel«, auf dem Marsch verfasst und am 14. Dezember 1943 abgestempelt. Er sei mit 45 Mann in einem Waggon, und sie hätten eben die deutsche Grenze überschritten und befänden sich nun im Elsass. Man erkenne an den Dörfern, dass sie nicht mehr den Deutschen gehörten. Er hofft auf ein baldiges Wiedersehen und grüßt Maria und Theo.
Im nächsten Brief vom 15. Dezember vermeldet Gustl, sie seien nun in Frankreich. »Wo wir sind, dürfen wir nicht schreiben, das ist ja egal.« Natürlich gehe es hier in den nächsten acht Wochen schwer zu. Was andere ausgehalten hätten, werde er wohl auch aushalten. Er wünscht alles Gute zu Weihnachten und schreibt, er wäre am Heiligen Abend gerne daheim.
Am Heiligabend 1943 berichtet mein Bruder von der trostlosen Weihnachtsfeier an der Front, die nicht vergleichbar sei mit Weihnachten zu Hause. Er spricht die Hoffnung aus, dass Theo schon eine nette Bescherung bekommen habe. Er hätte gern etwas geschickt, aber die nächste Stadt, wo man etwas kaufen könne, sei 15 Kilometer entfernt. Wo er nun sei, könne man sich ja denken – mutmaßlich war es Marseille –, schreiben dürfe er es leider nicht. Von Augsburg sei er 2000 Kilometer entfernt an der spanischen Grenze. Wieder endet sein Brief mit Grüßen an mich und die Schwester.
Am 15. Januar zeigt er sich bestürzt über die Nachricht, dass unser Nachbar Andreas Lerchner gefallen sei. Er könne es gar nicht glauben.
Und im Februar 1944 wendet er sich dann direkt an mich:
Nun lieber Theo.
Wie geht es dir denn immer? Hoffentlich gut. Denkst auch noch manchmal [an mich] oder hast du deinen bösen Bruder schon vergessen. Es freut mich schon sehr, daß du für mich betest. Nach dem Krieg komme ich schon wieder heim. Nun sei recht brav und folge Vater und Mama immer recht schön.
Dein Bruder Gustl
Ich weiß nicht mehr, ob meine Eltern mir diesen Brief vorgelesen haben. Als ich ihn vor ein paar Jahren zum ersten Mal bewusst in Händen hielt, zog sich mein Herz zusammen, und die Tränen wollten nicht versiegen.
Im Brief vom 20. März beklagt sich Gustl, dass überhaupt keine Post mehr ankomme. Sie befänden sich wieder in einer Übung und seien 180 Kilometer von ihrem eigentlichen Standort entfernt. Er wisse aber nicht, wie das Städtchen heiße. In der Nähe seien mehrere Züge in die Luft geflogen, und da könne auch die für ihn bestimmte Post vernichtet worden sein, die er so sehnlichst erwarte.
Einmal, am 25. März 1944, legt Gustl sogar ein kleines Foto von sich in Uniform bei. Es zeigt ihn, den mir kaum bildlich erinnerlichen Bruder, vor einem alten Gebäude neben einem Baum. Auf einem weiteren Foto ist er mit einem Kameraden zu sehen. Beide sehen aus wie Buben in Uniform. In seinem nächsten Brief schwingt Hoffnung mit auf einen Fronturlaub, denn »es wäre halt doch schön«, wenn er zu Hause sein könnte. Er erzählt weiter von einem Gottesdienst des Regimentspfarrers und erwähnt, dass er die Möglichkeit zum Beichten gehabt habe. »Wenn sonst eine Kirche ist, dürfen wir nicht hingehen, sonst würde ich schon öfters gehen.« Ich las aus diesen Sätzen ein unermessliches Heimweh heraus. Mein Bruder vermisste den Trost, den ein religiöses Leben, wie er es als Ministrant und aus unserem Elternhaus kannte, zu spenden vermochte.
Wenn »nur einmal der Krieg ein Ende nehmen würde«, hofft Gustl immer stärker. Besonders bewegend ist der Brief vom 7. Mai 1944, der wieder einmal direkt an mich geht:
Lieber Theo!
Will dir doch heute auch mal einige Zeilen senden. Wirst mir schon böse sein, weil ich dir so lang nicht geschrieben habe. Vielleicht komme ich bald heim zu dir, dann raufen wir wieder ein bischen, dann ist wieder alles vergessen. Nun lieber Theo, wie geht es dir immer? Hoffentlich gut. Ich werde dich halt fast nicht mehr kennen, wenn ich nach Hause komme. Nun sei immer recht brav und folge Mama und Papa immer schön und sei vielmals gegrüßt
von Gustl
Der Brief vom 17. Mai 1944 geht an die Mutter mit herzlichen Gratulationen zum Muttertag. Er könne sich nur wünschen, dass sie recht gesund bleibe und er noch lange eine gute Mutter habe. Wenn man ein Soldat sei, dann wisse man, was es wert sei, wenn man gute Eltern hat. »Ich möchte nur mal wieder für einige Tage nach Hause kommen«, aber es gebe dafür keine Aussicht, weil er wieder auf einen Lehrgang müsse. Wo dieser Lehrgang stattfinde, wisse er noch nicht. Er hoffe, dass die Mutter diesen einzigen Tag im Jahr auch gut verbringe.
Am 1. Juni 1944 schreibt er, er sei durch Zufall in ein Wirtshaus gekommen, und dort habe ihm die Frau gesagt, dass ihr Sohn in Thannhausen – in unmittelbarer Nachbarschaft von Oberrohr – bei den Fleischwerken Zimmermann als Metzger arbeite. Sie habe ihm sogar Bilder von Thannhausen gezeigt. Er habe ihr angeboten, dass der Sohn nach Oberrohr kommen und meine Eltern besuchen könne. Dazu ist es auch gekommen, denn der Zwangsarbeiter übersandte Gustl einen Brief mit der Bitte um Weiterleitung an seine Eltern. Dieser menschliche Vorschlag meines Bruders hat mich angerührt.
Mein Vater hatte als Maurerpolier in Ursberg während des Krieges auch französische Arbeiter zu beaufsichtigen. Als der Krieg zu Ende und Oberrohr französisch besetzt war, kam einer von diesen Fremdarbeitern zu uns ins Haus und bat seine Landsleute, doch korrekt zu uns zu sein, weil auch mein Vater gut zu ihnen gewesen sei. Damit hatte er Erfolg, denn wir kamen mit den beiden französischen Soldaten, die einige Wochen in unserem Haus wohnten, sehr gut aus.
In den folgenden Wochen werden Gustls Klagen bitterer, die Stimmung düster. Er denkt nun manchmal in vielsagenden Punkten über den »Scheißkrieg« nach – obgleich er den Ausdruck selbst weder gebrauchen wollte noch durfte. Die Soldaten seien wie »die Ratten« untergebracht. Die SS sei der Wehrmacht voraus und habe »schon vorher die Stadt durchstöbert und es hat natürlich böse ausgeschaut«. Man kann nur ahnen, was dort vorgefallen ist. Ich wünsche mir für meinen Bruder, dass er mit diesen Einsätzen und den schrecklichen Verbrechen nichts zu tun hatte. In keinem einzigen seiner Briefe taucht das Wort Hitler auf, auch nicht als Abschiedsgruß. Es findet sich keine Verherrlichung oder Verteidigung des Krieges und kein Loblied auf militärischen Erfolg. Skepsis, Distanz und Schwermut sprechen aus den letzten Briefen.
Am 9. Juli 1944 schreibt er an die »lieben Eltern«: »Wir liegen zur Zeit in der Nähe von Montauban … Zum Kirchengehen bin ich nicht wieder gekommen. Wenn ich schon nicht mehr heimkommen soll, dann wird uns auch Gott vielleicht so vergeben.«
Immer stärker wird Gustls Todesangst: Am 16. Juli fragt er bang, wie lange der Krieg wohl noch gehen könne und was die Eltern davon hielten. Nach seiner Unterschrift fügt er noch an: »Vertrauen wir auf Gott, dann wird alles gut gehen.«
Der nächste Brief datiert vom 28. Juli. Sie seien wieder auf Fahrt. Die »Banditen« würden ihnen diesmal ziemlich zu schaffen machen. Es sei fast jede Brücke gesprengt, und sie bekämen jedes Mal ganz schön Feuer. Er fragt sich, was das noch alles abgebe. Gestern sei er bei einer Familie einquartiert gewesen, und da sei es beinahe wie daheim gewesen. Als er wegging, weinten alle. »Ich ging wirklich sehr hart von ihnen weg. Es war ein Professor und er sprach deutsch.« Zum Schlafen kämen sie überhaupt nicht mehr. »Bei Tag, da fahren wir, und bei Nacht müssen wir Posten stehen«, schreibt er. »Man macht ja alles gern, wenn man wüßte, ob man überhaupt noch einmal heimkommt. Ich denke mir schon manchmal, wenn es mich nur gleich erwischen würde. Aber es lebt doch jeder gern. Nun will ich für heute schließen und seid recht herzlich gegrüßt von Eurem Gustl.«
Am 12. August stellt er die Frage: »Was sagt Ihr zur Kriegslage? Es wäre Zeit, daß bald eine Entscheidung käme. Hoffentlich geht es gut aus, sonst sehe ich schwarz.«
Noch in seinem vorletzten Brief berichtete er von kleineren Verletzungen – »ein paar Splitter«. »Einen im Gesicht, zwei im Rücken, einen im Fuß. Ist aber schon beinahe wieder gut, braucht Euch keine Sorgen machen.« Er schließt mit den Worten: »Nun auf ein baldiges Wiedersehen und seid vielmals gegrüßt von Gustl.« Zu diesem Wiedersehen ist es nie mehr gekommen, und die Trauer darüber hat mich mein ganzes Leben begleitet.
Am 24. September 1944 verfasst Gustl auf dünnem Papier, in schwacher Bleistiftschrift, auf seinem Motorrad sitzend, seinen letzten Brief. Er wurde sechs Tage später, an seinem Todestag, in Saarburg aufgegeben. Die idyllischen Worte des Poststempels trügen: »Tor zu den Vogesen«.
Westfront, 24. 9. 1944
Liebe Eltern!
Will euch wieder einige Zeilen schreiben. Wie es hier jetzt steht, wißt ihr ja selber. Sind jetzt nicht mehr an der Schweizer Grenze, sondern sind versetzt worden und sind schon beinahe in Deutschland. Es ist sehr schwer den Amerikaner aufzuhalten, denn er macht uns seinen schweren Waffen nix tun. Wenn unsere Artillerie einen Schuss abgibt, dann bekommen wir dafür mindestens 15–20. Hoffentlich nimmt dieser Krieg bald ein Ende. Nun wie geht es euch immer. Hoffe das Beste. Es wäre halt doch schön, wenn ich bei euch allen daheim wäre. Ich denke mir immer, lieber jetzt ein bischen mehr aushalten, als wenn bei euch daheim Krieg wäre und die ganzen Häuser würden zusammengeschossen. Nun müßt ihr schon entschuldigen wegen der schlechten Schrift, aber wenn du auf dem Motorrad schreiben mußt, geht es nicht viel besser.
Nun wünsche ich euch weiterhin alles Gute und laßt bald wieder hören, denn ich habe schon 5 Wochen keine Post mehr von Euch.
Auf Wiedersehen
Gustl
Immer wieder bringt Gustl sein Gottvertrauen und die Hoffnung auf die Gnade der Vergebung zum Ausdruck. Beides begleitete ihn bis zum 30. September 1944, seinem Todestag.
Und so kam der nächste Brief von Gustls Vorgesetztem. Auf drei handschriftlich eng beschriebenen Seiten schilderte er am 11. Oktober die Geschehnisse rund um Gustls Tod. »Er fand auf deutscher Erde ein Flammengrab.« Der Gefallene habe »treu seinem Fahneneid für Führer, Volk und Vaterland das höchste Mannesopfer gebracht«, »zur Sicherung unseres heiligsten Gutes, der Freiheit unserer Heimat und unseres geliebten Volkes«. Sogar eine Skizze hatte der Oberleutnant zur Lage des Todesgeschehens bei Litzingen in Lothringen übersandt. Für uns als Hinterbliebene konnte dieser Brief kaum Trost sein.
Die Feldpostbriefe meines Bruders fand ich, als ich nach dem Tod meiner Mutter einen kleinen Koffer mit ihren wichtigsten Habseligkeiten öffnete. Und sie ließen mich verstehen, was ich schon immer gefühlt hatte: Mit Gustls Tod war die Welt plötzlich eine andere geworden. Die Eltern hatten sich verändert, waren traurig, bitter, verzweifelt. Lachen und Fröhlichkeit waren verschwunden. Als meine Schwester ein Jahr später heiratete und fortzog, war ich allein mit den um ihre Hoffnungen betrogenen Eltern.
Nachdem die Nachricht vom Tod meines Bruders in Oberrohr eingegangen war, wurde auf dem Friedhof unserer Gemeinde auch für August Waigel ein einfaches Birkenkreuz errichtet. Nach jedem Gottesdienst beteten wir vor diesem Kreuz. Am Volkstrauertag wurden die Namen der gefallenen Soldaten in der Kirche genannt, und bei der Erwähnung meines Bruders spürte ich jedes Mal einen Stich in der Brust.
Von Gustls wirklichem Grab sollte ich erst Jahrzehnte später erfahren. Es befindet sich auf dem deutschen Soldatenfriedhof Niederbronn im Elsass. Richard Wagner, dem damaligen Vizepräsidenten des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge, hatte ich Anfang der Neunzigerjahre vom Schicksal meines Bruders erzählt. Ohne mein Zutun stellte er Nachforschungen an. Er teilte mir 1993 mit, es sei endlich die Kennzeichnung des Grabs erfolgt. Nach der Umbettung aus dem Gemeindefriedhof von Lezey im Département Moselle sei er nun auf dem deutschen Soldatenfriedhof Niederbronn/Frankreich im Block 25, Reihe 9, Grab 178 begraben.
Von zwei ursprünglich in Lezey bestatteten und durch den Volksbund am 8. November 1961 auf den Soldatenfriedhof Niederbronn umgebetteten deutschen Toten gab es für einen die Feststellung: »Alter zum Zeitpunkt des Todes 17 bis 20 Jahre, Skelettreste stark verkohlt. In Anbetracht des Todes und des Erstbestattungsortes, der Altersfeststellung und der Übereinstimmung der Todesmeldung (›Volltreffer verbrannt‹) ist dieser am 8. November 1961 aus dem Gemeindefriedhof in Lezey umgebettete Tote zweifelsfrei der gesuchte Bruder von Dr. Waigel.« Diese Feststellung sei nicht eher gelungen, weil als Todesort Litzingen registriert war und eine Zuordnung dieses Orts zur Gemeinde Lezey weder der deutschen Dienststelle noch dem Volksbund möglich gewesen sei. Die Nachricht traf mich wie ein Blitzschlag. Ich war zutiefst erschüttert. So schnell wie möglich wollte ich nach Niederbronn, um am Grab meines Bruders seiner zu gedenken.
Am 28. Oktober 1993 flog ich von Bonn nach Straßburg und nahm an der Grundsteinlegung einer Jugendbegegnungsstätte in Niederbronn teil. Es war ein emotionaler Moment, als mich der Verwalter des Friedhofs und der künftige Leiter der Jugendbegegnungsstätte an den vielen Ruhestätten vorbei zum Grab meines Bruders führten. Dabei traf ich auch auf den französischen Minister für Veteranenangelegenheiten, Philippe Mestre.
Am 15. Oktober 1994, einen Tag vor der Bundestagswahl, fand dann die Einweihung dieser Jugendbegegnungsstätte in Niederbronn statt. Drei Omnibusse aus meiner näheren Heimat hatten sich schon sehr früh auf die Fahrt dorthin gemacht. Freunde, Weggefährten und Menschen, die am Schicksal der Gefallenen Anteil nahmen, wollten diesen Friedhof und die Gräber besuchen, in denen viele Soldaten aus meiner schwäbischen Heimat ruhen. Wieder war der französische Minister für Veteranen Mestre nach Niederbronn gekommen und hielt eine einfühlsame Rede über die 15 000 hier begrabenen Soldaten. Seine Worte drückten Anteilnahme aus. Ich dankte ihm für die französische Großzügigkeit, an diesem schön gelegenen Ort den deutschen Soldaten eine würdige letzte Ruhestätte zu verschaffen. Als dann die französische Nationalhymne, die deutsche Nationalhymne und die Melodie »Vom guten Kameraden« ertönten, waren alle Teilnehmer erschüttert. Eine Klassenkameradin meines Bruders, Anneliese Kerler, Senatorin im Bayerischen Senat und eine liebenswerte Freundin, sprach an Gustls Grab Abschiedsworte für die Freunde und Gefährten aus Ursberg und seiner alten schwäbischen Heimat.
Der Leiter dieser Jugendbegegnungsstätte, Bernard Klein, führt bis heute junge Menschen über den Friedhof und erzählt ihnen vom Schicksal einiger junger Männer, die hier beerdigt sind. Bisweilen geleitet er die Jugendlichen auch ans Grab meines Bruders, auf dem oft einige Münzen liegen. Er erklärt ihnen, dass hier August Waigel liege, der Bruder von Theo Waigel. Vielleicht wüssten sie, dass dieser mit der Einführung des Euro, der gemeinsamen europäischen Währung, zu tun gehabt habe. Anschließend bittet er die jungen Menschen, ihm eine Münze zu zeigen. Und wenn sie ihre verschiedenen Münzen hervorholen, erklärt er ihnen: »Schaut euch beide Seiten an. Eine Seite ist national gestaltet und die andere europäisch. Als diese 15 000 hier sterben mussten, waren beide Seiten nur national. Heute zeigt jede Münze zwei Traditionen. Und so ist die gemeinsame Währung auch zu einem Friedensprojekt geworden.«
Unsere Familiengeschichte zeigt im Kleinen eine europäische Entwicklung, wie man sie noch vor hundert Jahren nicht für möglich gehalten hätte. Und diese Geschichte spiegelt sich nicht nur in den Münzen: Vor über 40 Jahren habe ich unseren Bauernhof in Oberrohr umgebaut. Als ich auf dem Speicher Bretter entfernte, kam das Bajonett meines Vaters aus dem Ersten Weltkrieg zum Vorschein. Als schauriges Kriegsinstrument gemahnt es an den Beginn eines dramatischen Jahrhunderts, dessen erste Hälfte das schlimmste Deutschland hervorgebracht hat und dessen letztes Jahrzehnt als eines der besten für Deutschland und Europa gelten kann. Das wiederentdeckte Bajonett ebenso wie der Füllfederhalter, mit dem ich den Vertrag von Maastricht am 7. Februar 1992 unterschrieb, symbolisieren für mich den überaus glücklichen Verlauf, den die Geschichte unseres Landes in dieser Zeit genommen hat.
Doch auf den Krieg folgte auch im schwäbischen Oberrohr eine schwere Zeit. Nach dem schrecklichen Schicksalsschlag suchte ich Trost bei Verwandten, Nachbarn und Freunden. Halt fand ich auch bei Heimatvertriebenen, die 1946 in unser Haus kamen. Adolf und Angelika Diwisch waren ein Oberlehrerehepaar aus dem Sudetenland. Wir konnten ihnen in unserem geräumigen Bauernhof zwei kleine Zimmer zur Verfügung stellen, die früher als Austrag gedient hatten. Die beiden besaßen nur wenig, doch eines hatten sie aus ihrer Heimat mitgebracht: Grimms Märchen. Immer wieder lasen sie mir daraus vor und schenkten mir das Buch bei ihrem Abschied 1950. Ich hüte es bis heute als kostbaren Besitz in meiner Bibliothek. Wenige Monate nachdem sie bei uns angekommen waren, konnten sie ihren Sohn Rudi, der als Soldat an der Front gewesen war, in die Arme schließen. Rudi wurde mir zu einem brüderlichen Freund. Auf eine gewisse Weise habe ich in ihm meinen toten Bruder wiedergefunden.
Unterdessen war ich in die Volksschule Ursberg gekommen. Dieses Ursberg, seine große Vergangenheit und seine großartige Gegenwart, sind mir zur innigen Heimat geworden. Über 900 Jahre geht die Geschichte des Ortes zurück. Schon 1119 entstand ein Augustinerchorherrenstift. Ende des 19. Jahrhunderts begründete der Priester Dominikus Ringeisen in der Gemeinde ein großes Behindertenwerk im alten Klostergebäude, da er die Not und das Leid der Behinderten in den Dörfern nicht mehr ertragen konnte. Joseph Bernhart, ebenso ein Ursberger, wurde zu einem der bedeutendsten Theologen und Philosophen des 20. Jahrhunderts. Von all meinen Ehrungen und Auszeichnungen sind mir denn auch die Ehrenbürgerwürde der Gemeinde Ursberg und die Auszeichnung als Ehrenspielführer der Fußballmannschaft des Dominikus-Ringeisen-Werks die wichtigsten und schönsten.
An meinen ersten Schultag im Jahr 1945 habe ich allerdings keine Erinnerung. Doch von nun an trat ich, mit der Bubenkleidung meines Bruders ausgestattet und dem Ranzen, der noch aus Gustls Schulzeit stammte, auf dem Rücken, täglich den Weg von Oberrohr nach Ursberg an. Es war eine dunkle, traurige Zeit so kurz nach dem Kriegsende. Ich war wohl ein eifriger Schüler, gehörte aber nicht gerade zu den braven Buben, und so waren »Tatzen« nicht ungewöhnlich.
Adolf Diwisch unterrichtete mich in dieser Zeit auch im Geigenspiel. Ich muss allerdings gestehen, dass mir der Umgang mit dem Fußball wesentlich lieber war als mit der Violine. Mit der etwas fadenscheinigen Ausrede, ich müsse nun mehr für die Schule tun, beendete ich meinen Geigenunterricht schon nach wenigen Jahren. Obwohl mein Vater das Fußballspiel verachtete und mir wütend nachschaute, wenn ich am frühen Abend mit Freunden auf den kleinen Fußballplatz in Oberrohr entschwand, lag zu meiner großen Überraschung 1949 ein Fußball unter dem Weihnachtsbaum. Für einige Zeit war dieser Ball der einzig brauchbare in Oberrohr. Das verschaffte mir eine starke Stellung in unserem Dorf.
Nicht zuletzt Familie Diwisch verdanke ich es, dass mich mein Vater 1950 auf die damalige Oberschule nach Krumbach schickte. Meine Mutter war skeptisch, die Lehrer an der Volksschule in Ursberg hielten strikt dagegen, und der zuständige Pfarrer Superior Prim warnte vor den bedenklichen Folgen der täglichen Omnibusfahrt, die durchaus eine sittliche Gefahr für einen noch nicht gefestigten Menschen bedeuten konnte. Hingegen argumentierte der ehemalige Oberlehrer Diwisch, dass Bildung und Ausbildung das Einzige seien, was einem kein Machthaber wegnehmen könne – wie dankbar bin ich ihm noch heute für diese klaren Worte.
Die Oberschule in Krumbach eröffnete mir eine neue Welt. Der Weg dahin war allerdings auch manchmal steinig: In der ersten Stunde wurden alle gefragt, wo sie bisher zur Schule gegangen seien. Als ich antwortete »in Ursberg«, gab es spöttisches Gelächter. Ursberg war als Ort für Menschen mit Behinderung noch mit vielen Vorurteilen belastet. Damals habe ich mich geschämt und geärgert. Heute lacht – auch dank meines Engagements – niemand mehr, wenn ich sage, ich komme aus Ursberg.
In 13 Jahren Schulzeit in Ursberg und Krumbach aber wurde nicht ein einziges Mal der schmerzlichen Tatsache gedacht, dass 379 behinderte Menschen im Rahmen der T4-Aktion, der systematischen Ermordung von mehr als 70 000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen von 1940 bis 1945, von Ursberg weg- und umgebracht wurden. Es wurde geschwiegen, wie überall in Deutschland. Die Adenauer-Ära war eben nicht nur die Zeit des Wiederaufbaus, sondern auch eine der Heuchelei. Viele Lehrer waren noch durch den Nationalsozialismus belastet. Von den Priestern hingegen hätte ich mir ein Wort erwartet. Man wusste Bescheid, aber verdrängte das Geschehene. Selbst die Opfer haben geschwiegen: Menschen wie die Ursberger Familie Dr. Otto, die den Schriftsteller Albrecht Haushofer ein knappes halbes Jahr bei sich versteckt hatten, um ihn vor der Verfolgung durch die Gestapo zu retten, und dafür ins KZ geworfen wurden, sprachen nicht darüber.
Erst nach und nach verstand ich es, auf der Oberschule zu lernen. Für meine Eltern war es selbstverständlich, dass ich nachmittags und auch abends in der Landwirtschaft mithalf. So fiel die Vorbereitung auf die Schule bisweilen unzureichend aus. Die Noten waren dessen ungeachtet gut. Mein Lieblingsfach war Deutsch. Ich werde nie vergessen, wie uns eine Klassenfahrt nach München führte und wir eine Kortner-Inszenierung von Shakespeares Heinrich IV. mit Friedrich Domin, Gerd Brüdern und Klaus Kinski erleben durften. Noch heute denke ich an diesen Tag, wann immer ich das Residenztheater in München besuche.
Auch außerhalb der Schule fand ich meinen Weg – wenn auch mit einigen Umwegen. Denn aufmüpfig, wie ich war, hatte ich mich als Ministrant mit Kaplan und Mesner gleichermaßen überworfen. So musste ich mich schon recht früh vom Messdienst verabschieden und verlor damit auch einen Zugang zu dieser Gemeinschaft. Es war Superior Franz Xaver Prim, der mich aus meiner Isolation herausholte. 1953/54 baute er ein Jugendheim, das für mich Refugium und Stätte der Begegnung wurde. Schon mit 15 Jahren war ich für eine Jugendgruppe verantwortlich. Hier fand ich meine besten und treuesten Freunde, die mir auch heute noch Weggefährten und Begleiter sind. Wöchentliche Gruppenstunden vertieften Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit, Theaterspiel und Faschingsveranstaltungen spornten uns an, Jugendgottesdienste gaben uns ein neues Gefühl von Religiosität, und die jährlichen Ausflüge in die Berge oder in den Schwarzwald klangen noch Wochen und Monate nach.
In etwas peinlicher Erinnerung ist mir mein Abituraufsatz am Ende meiner Schullaufbahn 1959 geblieben. Das Thema lautete: »An dem Prinzip des Parlamentarismus lässt sich festhalten: dass man nicht etwas ist, weil man gewählt wird, sondern dass man gewählt wird, weil man etwas ist.« Fälschlicherweise habe ich den ersten Halbsatz beschrieben, anstatt die Aussage nach dem Doppelpunkt zu behandeln. Ich bekam nur ein »Befriedigend« – doch hoffe ich, in meinem politischen Leben diese Aufgabe besser gelebt und realisiert zu haben als im Abitur.
Für meine Abiturrede hatte mir mein Klassenlehrer Willi Reinus ein Büchlein des Nazigegners Ernst Wiechert mit vier Reden an die deutsche Jugend geschenkt. In einer dieser Reden aus dem Jahr 1935 heißt es: »Ich hoffe, euch etwas genommen zu haben, nämlich die Angst.« Dieses Wort hat mich lebenslang beflügelt. Aufgabe der Pädagogik, der Religion, der Philosophie und auch der Politik ist es, Angst zu nehmen und Zuversicht zu schaffen. Und noch etwas brachte mir Ernst Wiechert bei: »Das Stille zu bewahren, das Müde zu erneuern, das Große zu verehren, das Leidende zu lieben.«
Das Abitur läutete einen neuen Lebensabschnitt ein. Bis dahin waren das Dorf Oberrohr, Ursberg mit Klosterkirche und Schule, das Mindeltal mit dem nahe gelegenen Thannhausen und die Kreisstadt Krumbach als kleine Metropole mein Lebensmittelpunkt gewesen. Am 1. November 1959, an Allerheiligen, nahm ich erstmals für längere Zeit Abschied von meinen Eltern und meiner Heimat. Ich hatte einige Zeit geschwankt, welchen Weg ich einschlagen wollte: Landwirt, Tierarzt oder Jurist? Ganz meiner Neigung nachgebend, hätte ich wohl Germanistik studiert und wäre Lehrer geworden. Doch bei aller Liebe zu jungen Menschen wäre es vielleicht nicht der richtige Weg gewesen.
Die Universität in München, wo ich mich für Rechtswissenschaft eingeschrieben hatte, war mir ein fremder, überfüllter Ort – München eine Großstadt, in der ich mich nicht recht wohlfühlte. Ich hatte Unterkunft bei Verwandten gefunden. Die familiäre Bindung half mir wenigstens über das Heimweh in den ersten zwei Semestern hinweg. Zuflucht fand ich auch manches Mal am Grab von Pater Rupert Mayer in der Bürgersaalkirche, dem Mann, der Militärseelsorger meines Vaters im Ersten Weltkrieg gewesen war. Er hatte 1937 in der Ursberger Kirche eine mutige Predigt gehalten, die Gegenstand einer Anklage gegen ihn vor dem Sondergericht wurde.
Zerstreuung und Abwechslung suchte ich im Theater. Neben den Lehrveranstaltungen meines Fachs belegte ich zusätzlich philosophische, historische und volkswirtschaftliche Vorlesungen. Zugleich trieb mich die Sorge um, dass durch meine Aktivitäten in der Jungen Union, der ich mich 1957 angeschlossen hatte, mein juristisches Studium zu kurz kommen könnte. Ich wollte so früh wie möglich fertig werden, um meinen Eltern nicht länger finanziell zur Last zu fallen. Daher wechselte ich an die Universität Würzburg, um mich intensiver der Vorbereitung auf das erste juristische Staatsexamen widmen zu können. Für meinen späteren Beruf als Jurist schien es mir von Vorteil, zu promovieren. An einer kleineren Universität war das leichter als an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Zudem studierte in Würzburg mein alter Freund Werner Möstl aus Günzburg, der wie ich Schulsprecher gewesen war. Mit ihm verbrachte ich so manche Stunde im Bürgerspital und im Juliusspital und lernte den fränkischen Wein schätzen und lieben.
Nachdem ich mein erstes juristisches Staatsexamen erfolgreich abgeschlossen hatte, trat ich meinen Dienst als Rechtsreferendar am Amtsgericht in Krumbach an. Neben den beruflichen und politischen Aktivitäten versuchte ich, meine Doktorarbeit fertigzustellen, die sich mit der verfassungsmäßigen Ordnung der deutschen und der bayerischen Landwirtschaft beschäftigte. Mein fürsorglicher Doktorvater hatte mir den Rat gegeben, mit dem damaligen bayerischen Staatsminister für Landwirtschaft und Forsten, Alois Hundhammer, ein Gespräch über landwirtschaftspolitische und verfassungsrechtliche Grundsatzfragen zu führen. Nach einigen Zu- und kurzfristigen Absagen wurde mir sein Referent als Ersatzgesprächspartner vorgestellt. Auf meine Frage, ob er mir Material zu meinem Promotionsthema »Die verfassungsmäßige Ordnung der bayerischen Landwirtschaft« zur Verfügung stellen könne, antwortete er nur bedeutungsschwer: »Mei, dös mit der Verfassung hama mia mehr im Unterbewusstsein.«
Doch allmählich neigte sich die unbeschwerte Zeit als Rechtsreferendar ihrem Ende entgegen. Die endgültige Entscheidung über meine berufliche Zukunft rückte näher. Ich wollte rechtzeitig meine Promotion zu Ende führen und musste mich intensiv auf die zweite juristische Staatsprüfung konzentrieren.
In einer Klausur wurde ein Zitat von Carlo Schmid behandelt: »Jede Nation braucht, um bestehen zu können, eine junge Elite, die sich ihr tätig und leidend verbunden weiß.« Mit diesem Satz gehe ich bis heute um. Ich legte all meine juristische und politische Überzeugung in die Ausarbeitung und wurde mit »sehr gut« benotet. Also trat ich nach erfolgreich bestandenem zweiten juristischen Staatsexamen bei der Staatsanwaltschaft München I als Gerichtsassessor in den Dienst der bayerischen Justiz. Mehr als ein Jahr verrichtete ich dort meine Arbeit und lernte eine Kameradschaft kennen, wie ich sie selten in meinem späteren Leben erfahren sollte. Noch heute verbindet mich mit einigen meiner damaligen Kollegen eine Freundschaft.
Die Weichen waren gestellt – nicht nur beruflich, sondern auch privat: Ende 1966 hatte ich meine Verlobte Karin Hönig, die in Würzburg Volkswirtschaft studierte, geheiratet. Gleich darauf hatte ich eine Tutorenstelle im Pater-Rupert-Mayer-Studentenheim in Schwabing angetreten. Über 100 Studenten aus aller Welt waren hier versammelt. Die Revolte der Jugend und der Geist des Aufruhrs waren überall zu spüren. Wenn ich aus dieser unruhigen Zeit etwas für später mitgenommen habe, dann die Bereitschaft, andere vorbehaltlos anzuhören, sachlich zu argumentieren, Neues aufzunehmen.
1968 wohnte ich der Karfreitagsliturgie in der Sankt-Ursula-Kirche bei. Während Pfarrer Lippold liturgische Gebete sprach, stürmten mehrere Studenten in die Kirche und forderten den Geistlichen auf, nicht über Jesus Christus, sondern über Rudi Dutschke zu reden, auf den in Berlin ein Attentat verübt worden war. Ich war empört und drängte einen der Störer mit sanfter Gewalt aus der Kirche. Doch als wir an der Kirchentür angelangt waren, hörte ich den Pfarrer sagen: »Hier darf niemand aus der Kirche gewiesen werden.« Mir blieb nichts anderes übrig, als den Dutschke-Anhänger aus meiner körperlichen Umarmung zu entlassen und wieder in meine Bank zurückzukehren. Sollte so etwas in der Kirche noch einmal passieren, schwor ich mir, würde ich mich nicht mehr tätig einmischen.
Zum Leitungsgremium des Studentenheims gehörte damals, als Vertreter der Universität, auch Paul Konrad Kurz. Kurz war ein anerkannter Literaturkritiker. Er brachte mich dazu, mich mit Günter Grass, Heinrich Böll und anderen, damals noch umstrittenen Literaten zu befassen. Das hat mir später den Mut gegeben, auf Martin Walser, Franz Xaver Kroetz und Bruno Jonas zuzugehen. Kurz war es auch, der mir den Tipp gab, den Prosaband Die wunderbaren Jahre von Reiner Kunze zu lesen – der Auftakt zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Werk des später aus der DDR ausgesiedelten Schriftstellers und Lyrikers. Aus der Lektüre erwuchs eine lebenslange Freundschaft, die in herzlicher Weise auch Kunzes Frau Elisabeth einbezog.
In der Rückschau ist es mir fast unbegreiflich, wie es gelingen konnte, all die Herausforderungen jener Jahre unter einen Hut zu bringen. Aber es glückte, und mir wurde immer mehr klar, dass auch Politik ein fester Bestandteil meines Lebens sein würde.