Enorme Opfer

Marion Kummerow

Übersetzt von Annette Spratte

Inhalt

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Kapitel 13

Kapitel 14

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Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

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Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

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Kapitel 1

Stan

Irgendwo in Polen, November 1944

Stanislaw Zdanek, genannt Stan, und sein Freund Bartosz traten mit ihren Waffen im Anschlag in das zerstörte Gebäude. Adrenalin raste durch Stans Adern und sein Herz hämmerte wild gegen seinen Brustkorb. Es fühlte sich gut an, endlich zu kämpfen und die Deutschen nicht nur zu sabotieren, die Polen seit sechs Jahren mit eiserner Hand regierten. Nach Jahren des Versteckens hatte sich die polnische Heimatarmee dem offenen Kampf gegen die Nazis angeschlossen.

Nach einer verheerenden Niederlage beim Warschauer Aufstand hatte die Heimatarmee einige Zeit gebraucht, um sich neu zu formieren und die Moral wiederaufzubauen. Doch jetzt waren sie zurück, um ihr Land zu befreien und den Tod Hunderttausender in der ehemaligen Hauptstadt zu rächen – Warschau war dem Erdboden gleichgemacht worden. Wenn Stan den Gerüchten Glauben schenken konnte, stand in der Stadt, in der zuvor annähernd eine Million Menschen gelebt hatten, kein Stein mehr auf dem anderen.

„Gesichert!“, rief Stan und winkte seinen Kameraden.

Sie traten aus der Deckung und durchsuchten die Ruine nach deutschen Soldaten. Diese waren jedoch schon lange verschwunden, hatten die Beine in die Hand genommen angesichts des Anmarsches der übermächtigen Roten Armee weiter südlich.

Langsam krochen Zivilisten aus ihren beschädigten Häusern, die Gesichter dreckverschmiert, aber erleichtert. Selbst nachdem Stan die Befreiung Dutzender polnischer Dörfer miterlebt hatte, bildete sich ein Kloß in seinem Hals. Das ist es. Wir sind wieder frei. Die Nazischweine sind erledigt. Natürlich würde er vor seinen Kameraden niemals Schwäche zeigen, also schluckte er die Gefühle herunter, die ihn zu überwältigen drohten.

Eine hübsche junge Frau, unterernährt wie fast jeder im kriegsgebeutelten Europa, trat auf die Gruppe Soldaten zu und drückte Stan einen Kuss auf die bärtige Wange.

„Vielen Dank, dass ihr uns befreit habt“, sagte sie freudestrahlend.

Seine Kameraden jubelten und verlangten ebenfalls Küsse, bis ihr befehlshabender Offizier dem Spektakel ein Ende setzte. Sie ließen einige Posten zurück, um das Dorf zu bewachen, und zogen sich dann in ein leer stehendes Schulgebäude zurück, um etwas zu essen und dringend benötigten Schlaf nachzuholen.

„Du solltest dich besser rasieren oder du wirst nie wieder einen Kuss bekommen“, stichelte ein Kamerad.

„Ja, hast du gesehen, wie angewidert sie geguckt hat?“, stimmte ein anderer ein.

Stan sah sich um und rieb eine Hand über sein stoppeliges Kinn. Er war nicht der einzige schlecht rasierte Mann mit Dreckschlieren im Gesicht. Aber Freiheit schien auf der Prioritätenliste um einiges höher zu stehen als Sauberkeit – und die Kämpfer der Heimatarmee hatten bei den hiesigen Frauen eindeutig Heldenstatus.

Er ließ seinen Kiefer ein paar Mal knacken und fuhr mit der Hand durch seine kurzen, blonden Haare. „Ihr seid ja nur neidisch auf mein gutes Aussehen“, warf er den Übeltätern mit einem Grinsen entgegen.

Alle lachten und schlangen weiter das Essen herunter, das die Dorfbewohner ihnen großzügig zur Verfügung gestellt hatten. Stan wischte sich den Mund ab, stöhnte laut und ließ sich auf den blanken Boden fallen. Schon seit Monaten machte er sich nicht mehr die Mühe, seine Stiefel auszuziehen, und er schlief bereits, bevor sein Kopf den Rucksack berührte, der ihm als Kopfkissen diente.

Alarmierte Schreie rissen ihn aus dem Schlaf und er packte das Gewehr, das neben ihm stand, ehe er mit noch geschlossenen Augen auf die Füße sprang.

„Die Rote Armee kommt!“, brüllte jemand und ein Seufzer der Erleichterung ging durch den Raum. Die Rote Armee war auf ihrer Seite und sie hatten von den Russen nichts zu befürchten. Nach einer kurzen Begrüßung trat der russische Befehlshaber auf Stans Vorgesetzten zu. Stan war zu weit weg um die gewechselten Worte zu verstehen, aber der Ausdruck auf dem Gesicht seines Vorgesetzten verhieß nichts Gutes.

„Was glaubst du, was die wollen?“, fragte er Bartosz, der neben ihm stand.

„Vermutlich irgendein Zank darum, wer die Befreiung für sich in Anspruch nimmt“, antwortete er desinteressiert.

„Alle mal herhören“, rief der russische Offizier und wartete, bis der Lärm im Raum abgeklungen war. „Wir bieten jedem hier die Möglichkeit, sich der großartigen sowjetischen Armee anzuschließen.“

Ein Raunen ging durch die Reihen derer, die Russisch verstanden. Stan selbst war in der Nähe von Lodz aufgewachsen war, wo viele Deutsche lebten, und sprach deshalb fließend Deutsch und Russisch, zusätzlich zu seiner Muttersprache Polnisch sowie ein paar Brocken Englisch, die er in der Schule gelernt hatte.


„Ich will auf ewig in der Hölle schmoren, wenn ich mich der Roten Armee anschließe“, murmelte Stan, während ein russischer Soldat die Worte des Offiziers für die Gruppe übersetzte und dann hinzufügte: „Diejenigen, die unser großzügiges Angebot nicht annehmen, müssen ihre Waffen niederlegen und sind hiermit verhaftet.“

Bevor die Männer protestieren konnten, sagte Stans Vorgesetzter: „So, wie ich das sehe, haben wir keine Wahl. Tut das, was für Polen das Beste ist. In einem sibirischen Gulag nützt ihr unserem Land nichts.“

„Also, wer stellt sich mit uns gegen die Faschisten?“, fragte der russische Offizier.

Stan hatte Mühe, sein Temperament zu zügeln, und stöhnte leise vor sich hin. „Natürlich bin ich gegen die Nazis, aber das macht mich nicht zu eurem Freund, ihr verdammten Dreckskerle.“

„Geht mir genauso“, flüsterte Bartosz.

Ein Blick in die Gesichter seiner Kameraden verriet Stan, dass keiner von ihnen das großzügige Angebot der Russen mochte. Doch trotz der Vorbehalte trat ein Soldat nach dem anderen vor, um seinen Namen in die Rekrutierungsliste für die Rote Armee einzutragen.

Mehr als einer der Männer musste einen Kloß im Hals herunterschlucken, eher er seinen Namen nannte und die rot-weiße Armbinde abgab, die ihn als Mitglied der Heimatarmee identifizierte.

Stan ballte die Fäuste und biss die Zähne zusammen, bereit, den russischen Offizier anzugreifen und mindestens noch zwei oder drei der verhassten Dreckskerle in den Tod zu schicken, bevor er selbst dran glauben musste. Bartosz kannte seinen Freund lange genug, um zu wissen, wie aufbrausend Stans Temperament war. Er legte ihm die Hand auf den Arm und flüsterte: „Nicht.“

„Tolle Wahl“, knurrte Stan durch die zusammengepressten Zähne.

„Du hast ja recht, Mann. Aber ich für meinen Teil will leben und weiterkämpfen. Bist du dabei?“

„Ich mache das nur, weil die Schweine mich zwingen, aber du kannst drauf wetten, dass ich denen bei der erstbesten Gelegenheit die Kehle aufschlitze.“ Im nächsten Moment spürte Stan eine Hand im Rücken, die ihn nach vorn schob.

„Wir wollen uns freiwillig melden“, verkündete Bartosz und setzte ihre beiden Namen auf die Liste.

Stan blickte seinen Freund finster an, musste aber widerwillig zugeben, dass es um Längen besser war, in der Roten Armee zu dienen, als in einem sibirischen Gulag zu landen. Technisch gesehen waren sie Verbündete, es war also nicht so, als würde er zum Feind überlaufen. Wohl oder übel würde er zunächst unter sowjetischer Flagge kämpfen, aber bei der erstbesten Gelegenheit würde er auf dem Absatz kehrtmachen und das Weite suchen.

Kapitel 2

Peter

Fallingbostel, Deutschland

Peter Wolf, besser bekannt als Piotr Zdanek, saß an einem wackeligen Tisch, der mit Listen bedeckt war.

„Name?“, fragte er auf Russisch.

Die Schultern des Mannes sackten herab. „Dmitri Bylikov.“

„Nationalität?”

„Russe.”

Peter machte einen Haken im entsprechenden Kästchen. „Rang?“

„Gefreiter.“

Peter nickte, kritzelte die Informationen auf die Liste und schrieb eine Nummer daneben. „Russenlager. Geh an den nächsten Tisch. Dort bekommst du eine Decke und Essgeschirr.“ Er reichte dem Neuankömmling ein Stück Stoff mit den Buchstaben „KG“ für Kriegsgefangener. „Mach das auf dem Rücken deiner Jacke fest.“

Der russische Gefangene hob kaum den Kopf, als er den Stofffetzen nahm und damit an den nächsten Tisch schlurfte.

Peter war nach der Kapitulation der polnischen Heimatarmee beim Warschauer Aufstand in Gefangenschaft geraten und befand sich schon seit mehreren Wochen im Kriegsgefangenenlager in Fallingbostel. Aufgrund seiner fließenden Sprachkenntnisse in Polnisch, Deutsch, Englisch und Russisch hatten die Deutschen ihm die Aufgabe übertragen, die Neuankömmlinge zu registrieren, obwohl er als Offizier laut Genfer Konvention nicht arbeiten musste. Allerdings gaben die Nazis nicht viel auf internationale Abkommen.

Außerdem zog er es vor, an seinem Tisch zu sitzen und Neuankömmlinge zu registrieren, anstatt den ganzen Tag vor den Baracken herumzulungern und nichts zu tun, als in den Himmel zu starren und sich Sorgen zu machen.

Sein Posten hatte auch kleine Vorteile wie zusätzliche Essensrationen, wofür er extrem dankbar war. Selbst mit den geringfügig größeren Rationen nagte der Hunger Tag und Nacht an seinen Eingeweiden und er wollte sich gar nicht vorstellen, was die anderen Gefangenen aushalten mussten – geschweige denn die armen russischen und italienischen Teufel, die schlimmer behandelt wurden als Tiere.

Was Gefangenenlager anging, war Fallingbostel oder Stalag XI B (357) sicherlich kein Zuckerschlecken, aber während seiner Zeit als Chauffeur für Professor Scherer in Berlin, ein Wissenschaftler, der in den höchsten Nazikreisen verkehrte, hatte er Schlimmeres gesehen. Obwohl die meisten der annähernd hunderttausend gefangen genommenen Soldaten aus etwa einem Dutzend Nationen in einem der Arbeitskommandos Knochenarbeit leisten mussten, bekamen sie wenigstens zu essen.

Wie in jedem Lager waren die Gefangenen in Fallingbostel nach Nationalitäten getrennt und diejenigen, die nach Hitlers Rassenideologie überlegen waren – Westeuropäer mit arischer Abstammung – hatten bedeutend bessere Aussichten, diese Qual zu überleben als die der minderwertigen slawischen Rassen.

Wenigstens hatten die Deutschen Wort gehalten und die Gefangenen der Heimatarmee als Kriegsgefangene und nicht als Partisanen eingestuft.

„Vortreten“, rief er dem Nächsten in der Reihe zu. Der Mann versuchte, aufrecht zu stehen, und ein ausdrucksloses Gesicht aufzusetzen, versagte aber kläglich und humpelte mit einer schmerzverzerrten Grimasse die paar Schritte zu Peters Tisch.

„Name?“ Der Gefangene zeigte keinerlei Überraschung, dass Peter Russisch sprach.

„Vasily Bulychev.“

„Nationalität?“

„Russe.“

„Rang?“

„Gefreiter.“

Aus Gewohnheit schrieb Peter Russenlager und die Gefangenennummer neben den Namen des Mannes auf die Liste. In der letzten Woche war beinahe jeder Neuankömmling Russe, mal abgesehen von dem einen oder anderen abgeschossenen Engländer. Doch dann sah er auf und fragte: „Was ist mit deinem Bein?“

„Schusswunde am Oberschenkel.“

Peter winkte einen der Sanitäter heran. „Dieser Mann“, sagte er und warf einen Blick auf die Liste, „Vasily Bulychev, hat eine Schusswunde.“

Der Sanitäter, selbst ein Gefangener, nickte und hockte sich hin. Er schob die zerfetzte Uniformhose beiseite und schnappte hörbar nach Luft. „Der muss ins Lazarett.“

„Bring ihn hin“, sagte Peter und strich Russenlager auf der Liste durch. Stattdessen schrieb er Lazarett daneben und holte tief Luft, ehe er den nächsten Gefangenen herbeirief und die Prozedur von vorn begann.

Peter war nicht gerade angetan von der Rolle, die er spielte, aber unter den gegebenen Umständen war es das Beste, was er tun konnte, um seine Kameraden am Leben zu halten. Der Lagerkommandant hatte herausgefunden, dass Peters Einfluss auf die anderen Gefangenen allen Beteiligten das Leben leichter machte, und gewährte ihm deshalb oft eine Bitte um bessere Behandlung im Austausch für gutes Benehmen.

Trotzdem wachte Peter jeden Morgen mit der Hoffnung auf, dass heute der Tag seiner Befreiung sein würde. Dann könnte er seine deutsche Frau Anna wiedersehen und, wenn Gott gnädig war, würde er vielleicht sogar mit seiner polnischen Familie vereint werden. Mit seinem Sohn Janusz, seinem Bruder Stan und seiner Schwester Katrina.

Obwohl der Krieg dem Ende entgegenging und die Alliierten den Sieg so gut wie in der Tasche hatten, kämpften die Nazis starrköpfig weiter und mobilisierten die letzten Reserven für eine verrückte Anstrengung, die sie Volkssturm nannten.

Peter verzog das Gesicht. Wie sollten Jungen zwischen vierzehn und sechszehn Jahren sowie alte Männer über fünfzig die Wende herbeiführen und den Krieg doch noch gewinnen? Die meisten gewöhnlichen Deutschen hatten die Hoffnung schon längst aufgegeben, doch der Wahnsinnige, der ihn angezettelt hatte, schrie weiter seine Durchhalteparolen vom Endsieg. Hitler war ein Meister der Manipulation, dem die Deutschen dummerweise viel zu lange geglaubt hatten.

Kapitel 3

Anna

Berlin

Stoßweise atmend kroch Anna Klausen aus dem Bunker und versuchte, den Schaden abzuschätzen, den der letzte Luftangriff in diesem Stadtteil angerichtet hatte. Obwohl sie schon zweiundzwanzig Jahre alt war, konnte sie sich kaum mehr an eine Zeit vor den Nazis erinnern.

Bitte Gott, lass diesen furchtbaren Krieg enden, ehe es zu spät ist.

Sie schob ihre glatten blonden Haare hinter die Ohren und sah sich um. Mehrere der Wohnheime auf dem Gelände der Charité, wo sie als Krankenschwester arbeitete, lagen in Trümmern. Ziegelsteine waren kreuz und quer verstreut und Rauch stieg noch immer aus dem Inneren der Ruinen auf.

Anna schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihre Augen stiegen, während sie langsam auf den Rest des Gebäudes zuging, das bis vor wenigen Stunden ihr Zuhause gewesen war.

„Es ist nur noch Schutt“, murmelte Janusz an ihrer Seite.

„Da hast du recht.“ Sie wuschelte durch die dunklen, staubigen Haare des Jungen und lächelte ihn aufmunternd an. Vor weniger als einem Monat wurde sie plötzlich in die Mutterrolle geworfen, als ihre Schwester Lotte mit Peters totgeglaubtem Sohn in Berlin angekommen war. Stiefmutter und alleinige Versorgerin eines Zwölfjährigen zu sein, den sie nie zuvor getroffen hatte, war herausfordernd, selbst bei einem so braven Kind wie Jan.

Er grinste sie aus seinen eisblauen Augen ebenfalls an und sandte damit einen Stich in ihr Herz. Seine Augen erinnerten sie jedes Mal an seinen Vater Peter, der beim Warschauer Aufstand aufseiten der Polen gekämpft hatte und nach dessen Niederschlagung in Kriegsgefangenschaft geraten war. Es war ein desaströses Unterfangen gewesen, bei dem Hunderttausende umgekommen waren – Zivilisten und Soldaten gleichermaßen.

Abgesehen von Peters Augen hatte Jan die dunklen Haare und hohen Wangenknochen seiner jüdischen Mutter Ludmila geerbt, Peters erster Frau.

Noch ein Stich erinnerte Anna daran, dass Ludmila im Ghetto von Litzmannstadt gestorben war. Jan hatte auf wundersame Weise überlebt, dank Ludmilas mutiger Schwester Agnieska und einem mysteriösen deutschen Soldaten namens Richard.

Richard

Anna hatte von ihrem gleichnamigen Bruder seit mehreren Monaten nichts gehört, was dazu führte, dass sie sich oft die furchtbarsten Szenarien ausmalte. Er könnte verletzt sein oder noch Schlimmeres. Ein gequältes Seufzen drang aus ihrer Brust, was Jan dazu veranlasste, den Kopf nach ihr zu drehen und seine kleine Hand in ihre zu schieben.

Anna schob ihre deprimierenden Gedanken beiseite und wandte sich der ebenso deprimierenden Aufgabe zu, die vor ihr lag. „Lass mal sehen, ob wir ein paar von unseren Sachen retten können, und dann gehen wir zu meiner Mutter.“

Jan nickte. In seinen Augen spiegelte sich eine Reife, die weit über sein Alter hinaus ging. „Ich wünschte, dieser Krieg würde aufhören …“

Anna legte besorgt einen Finger auf die Lippen. Der Freund ihrer Schwester Lotte, ein Leutnant der Wehrmacht namens Johann Hauser, hatte Janusz falsche Papiere besorgt und ihn in den arischen Jungen Jan Wagner verwandelt. Trotzdem lebte sie in der ständigen Angst, dass jemand seine wahre Identität herausfinden könnte.

Ein halbjüdischer Pole in Berlin hatte so gut wie keine Überlebenschance. Und ihre als Verbrecherin, die einen Volksfeind beherbergte, waren auch nicht viel besser. Sie verzog das Gesicht. Wie konnte ein gut erzogener, freundlicher Junge wie Jan ein Volksfeind sein?

Jan nickte seine Zustimmung zu ihrer unausgesprochenen Aufforderung, schob die Schultern zurück und ging mit ihr in Richtung der qualmenden Ruinen ihres Zuhauses. Nachdem er sich monatelang in Litzmannstadt im Ghetto versteckt halten musste, war ihm das Kopfeinziehen und Mundhalten in Fleisch und Blut übergegangen. Anna seufzte noch einmal. Was für eine Art war das, ein Kind großzuziehen?

Immer mehr Menschen krochen aus dem öffentlichen Bunker auf dem Gelände der Charité und eilten zu den Überresten der Gebäude. Sie ignorierten den aufsteigenden Qualm und die brennenden Brocken, die überall verstreut lagen. Gott sei Dank war der Krankenhaustrakt kaum beschädigt worden, denn nach diesem Luftangriff war wieder mit einer Welle neuer Patienten zu rechnen. Aber erst musste Anna den Jungen bei ihrer Mutter in Sicherheit bringen.

Als sie bei der Ruine ihres Wohnheims ankamen, entdeckte sie mehrere Kleidungsstücke, die, obwohl mit Trümmern und Staub bedeckt, unbeschädigt zu sein schienen und nur gut gewaschen werden mussten. Vorsichtig stopfte sie sie in eine Tasche, die sie ebenfalls aus dem Geröll gezogen hatte. Sie wies Jan an, es mit den Sachen, die er fand, ebenso zu machen.

Eine Stunde später hatten sie die wenigen Habseligkeiten in der Tasche verstaut und traten den langen Fußmarsch zu der Wohnung an, in der ihre Mutter und ihre Schwester Ursula mit ihrer kleinen Tochter Eveline lebten.

Als sie dort ankamen, klopften sie an die Tür, da die elektrische Klingel schon seit Langem nicht mehr funktionierte. Die Stromversorgung war in letzter Zeit sehr unzuverlässig – sie kam und ging.

Noch so eine Mühsal des Krieges. Wieder einmal verfluchte Anna den Wahnsinnigen, der für all diese Schrecken verantwortlich war. Wenn die Menschen in Deutschland das nur vorher gewusst hätten … obwohl sie wenig Hoffnung hegte, dass die meisten Leute sich gegen eine solche Ungerechtigkeit erhoben hätten. Sie glichen Schafen, die hinter ihrem charismatischen Hirten herliefen und sich vor den knurrenden Schäferhunden fürchteten, wenn sie sich einmal aus der Mitte der Herde an den Rand verirrten.

„Anna, Jan. Was für eine Überraschung!“, begrüßte Ursula sie, als sie die Tür öffnete, aber beim zweiten Blick auf ihr zerlumptes Erscheinungsbild wich die Freude aus ihrem Gesicht. „Was ist passiert?“

„Das Übliche. Der schreckliche Engländer hat seine Geschenke über der Stadt verstreut.“

„Kommt rein.“ Ursula kniff die Lippen zusammen. Seit sie sich in einen der verhassten englischen Bomberpiloten verliebt hatte, irritierte sie das Thema.

„Unser ganzer Wohnheimkomplex ist zerstört und wir brauchen eine andere Bleibe“, sagte Anna.

Ursula sah die Tasche an, die Anna in der Hand trug, und sagte: „Sieht so aus, als würde es hier wieder voll werden. Ist das alles, was ihr habt?“

„Das und die Sachen, die wir schon hier deponiert haben.“ Die meisten Berliner hatten für Notfälle wie diesen Koffer mit dem Notwendigsten bei Freunden oder Verwandten in verschiedenen Stadtteilen untergebracht. Aber Anna hätte nie gedacht, dass sie mal auf einen ihrer Notfallkoffer angewiesen wäre. Sie unterdrückte einen schweren Seufzer, als sie an all die Dinge dachte, die sie an die Bomben verloren hatte. Nicht, dass sie große materielle Werte besaß, aber der emotionale Verlust lastete mit einem Mal schwer auf ihrer Seele.

Ursula verstand Annas Niedergeschlagenheit, ohne dass diese auch nur ein Wort sagen musste. „Trotz allem, Mutter wird sich freuen, dich und Jan hier zu haben, und sich um euch kümmern.“

Anna stöhnte. Das war einer der Gründe, warum sie die elterliche Wohnung verlassen hatte, um im Schwesternwohnheim zu leben. Das und der gefährliche Arbeitsweg.

„Jan, warum bringst du deine Sachen nicht ins Kinderzimmer und gehst dich waschen? Du siehst aus wie Max und Moritz, nachdem sie in das Mehlfass gefallen sind.“ Ursula lachte beim Anblick von Jans empörtem Gesicht, der versuchte, sich den Staub abzuklopfen. Anna stimmte in das Gelächter mit ein und fragte sich, wie sie noch immer wie ein albernes Mädchen kichern konnte, nach allem, was gerade passiert war.

Nachdem sie sich ein Glas Wasser eingegossen hatte, ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen. Das alberne Gekicher half dabei, mit diesem Schrecken klarzukommen. Jammern hingegen brachte nichts. Sie konnte schließlich nicht tagein, tagaus mit schmal zusammengepressten Lippen durchs Leben gehen. Das würde bedeuten, dass sie aufgab und der Dunkelheit den Sieg zugestand. Nein, solange es noch einen Hoffnungsschimmer gab, würde sie wie das albernste junge Mädel kichern.

Ursula gesellte sich zu ihr an den Küchentisch, während Jan ins Badezimmer eilte, um ein Brausebad zu nehmen. „Sei froh, dass ihr noch am Leben seid. Du hast seine Papiere gerettet, oder?“

„Natürlich. Glaubst du, ich bin blöd?“, fauchte Anna, bereute aber ihre unbeherrschte Reaktion im gleichen Moment. „Tut mir leid. Es war ein harter Tag. Er trägt seine Papiere Tag und Nacht bei sich. Ohne die wäre er schon lange tot.“

Anna nippte an ihrem Wasser und lehnte sich zurück, während sie ihre Schwester ansah. „Ich muss einen Weg finden, wie ich ihm schreiben kann“, murmelte sie.

Ursula griff über den Tisch nach Annas Hand. „Du weißt, dass das unmöglich ist. Peter ist Kriegsgefangener. Es ist verboten, mit denen Kontakt aufzunehmen. Wenn jemand herausfindet …“

Anna wusste das alles. Ihr Mann war ein Gefangener, ein Feind, ein Pole, ein Untermensch. Der Versuch, ihn zu kontaktieren, konnte für sie beide das Todesurteil bedeuten.

„Es muss aber einen Weg geben“, beharrte sie.

„Ich wünschte, es gäbe einen, aber es ist zu gefährlich. Im Moment musst du dich auf Jan konzentrieren. Du bist die einzige Familie, die er noch hat.“

„Ich bin nicht einmal seine echte Familie. Außerdem hat er dich und Mutter“, sagte Anna. Ihre Mutter war mit Peter, einem Mann, der unter falschem Namen lebte, als Schwiegersohn nie ganz einverstanden gewesen, aber ihren Enkelsohn hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Jan und seine Großmutter himmelten sich gegenseitig an.

„Und wir werden uns um ihn kümmern, falls … du weißt schon … aber es ist besser, vorsichtig zu sein.“ Ein quiekendes Geräusch unterbrach sie und Ursula stand vom Tisch auf. „Ich muss nach Evi schauen.“

Anna nickte und lauschte den Geräuschen, wie Jan aus dem Bad kam und in der kleinen Wohnung herumwuselte. Er packte die wenigen Dinge aus, die sie aus den Trümmern ihrer vorigen Wohnung hatten retten können. Das sollte sie eigentlich auch tun, doch im Moment konnte sie an nichts anderes als ihr Bedürfnis denken, Peter zu kontaktieren und ihn wissen zu lassen, dass sie und Jan in Sicherheit waren.

Als Ursula mit der kleinen Eveline im Arm zurückkam, sagte Anna: „Ich gehe zum Roten Kreuz.“

„Du willst … was?“ Die Erkenntnis traf Ursula wie ein Schlag und sie riss die Augen weit auf. „Das wird nie funktionieren.“

„Natürlich wird es das. Sie lassen Mitglieder des Roten Kreuzes in die Lager, um nach den Kriegsgefangenen zu sehen.“

Ursula reichte den Säugling an Anna weiter und erhitzte Milch auf dem Herd. „Das internationale Rote Kreuz. Und es gibt keine Garantie, dass du ausgerechnet sein Kriegsgefangenenlager besuchen darfst. Abgesehen davon, mit welcher Begründung willst du deine Arbeit als Krankenschwester kündigen und beim Roten Kreuz anfangen?“

„Ich brauche keine.“ Anna küsste Evis kleine Stirn und legte den fünf Monate alten Säugling an ihre Schulter.

„Brauchst du wohl“, beharrte Ursula. „Und in der Sekunde, wenn du fragst, ob du ein bestimmtes Kriegsgefangenenlager besuchen darfst, wird jemand misstrauisch.“

Anna seufzte und musste die Wahrheit in den Worten ihrer Schwester erst einmal verdauen. „Ich werde einen Weg finden. Ich weiß noch nicht wie, aber es gibt immer einen Weg.“

Ursula füllte das Fläschchen, prüfte die Temperatur an ihrem Handgelenk und reichte es an Anna weiter. „Ich sehe das anders, aber so, wie ich dich kenne, wirst du einen Weg finden, falls es einen gibt.“

Anna legte sich das Kind im Arm zurecht und steckte ihm das Fläschchen in den Mund. „Tante Anna wird ihn finden, zerbrich dir nur nicht deinen hübschen kleinen Kopf darüber, Evilein. Ich kann es kaum erwarten, dass du deinen Onkel Peter kennenlernst. Er wird sich in dich verlieben, wie alle anderen auch.“

Sie schloss für einen Moment die Augen, fest entschlossen, alles Menschenmögliche zu tun, um Peter zu kontaktieren. Das war das Mindeste, was sie tun musste. Er war nicht nur ihr Ehemann, sondern auch ihr bester Freund. Und wenn sie schon dabei war, würde sie auch einen Weg finden, ihn da raus zu holen. Dann musste er nur seine falsche deutsche Identität als Peter Wolf, Professor Scherers Fahrer, wieder annehmen, und alles war in Ordnung.