Stoßweise atmend kroch Anna Klausen aus dem Bunker und versuchte, den Schaden abzuschätzen, den der letzte Luftangriff in diesem Stadtteil angerichtet hatte. Obwohl sie schon zweiundzwanzig Jahre alt war, konnte sie sich kaum mehr an eine Zeit vor den Nazis erinnern.
Bitte Gott, lass diesen furchtbaren Krieg enden, ehe es zu spät ist.
Sie schob ihre glatten blonden Haare hinter die Ohren und sah sich um. Mehrere der Wohnheime auf dem Gelände der Charité, wo sie als Krankenschwester arbeitete, lagen in Trümmern. Ziegelsteine waren kreuz und quer verstreut und Rauch stieg noch immer aus dem Inneren der Ruinen auf.
Anna schüttelte den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an, die in ihre Augen stiegen, während sie langsam auf den Rest des Gebäudes zuging, das bis vor wenigen Stunden ihr Zuhause gewesen war.
„Es ist nur noch Schutt“, murmelte Janusz an ihrer Seite.
„Da hast du recht.“ Sie wuschelte durch die dunklen, staubigen Haare des Jungen und lächelte ihn aufmunternd an. Vor weniger als einem Monat wurde sie plötzlich in die Mutterrolle geworfen, als ihre Schwester Lotte mit Peters totgeglaubtem Sohn in Berlin angekommen war. Stiefmutter und alleinige Versorgerin eines Zwölfjährigen zu sein, den sie nie zuvor getroffen hatte, war herausfordernd, selbst bei einem so braven Kind wie Jan.
Er grinste sie aus seinen eisblauen Augen ebenfalls an und sandte damit einen Stich in ihr Herz. Seine Augen erinnerten sie jedes Mal an seinen Vater Peter, der beim Warschauer Aufstand aufseiten der Polen gekämpft hatte und nach dessen Niederschlagung in Kriegsgefangenschaft geraten war. Es war ein desaströses Unterfangen gewesen, bei dem Hunderttausende umgekommen waren – Zivilisten und Soldaten gleichermaßen.
Abgesehen von Peters Augen hatte Jan die dunklen Haare und hohen Wangenknochen seiner jüdischen Mutter Ludmila geerbt, Peters erster Frau.
Noch ein Stich erinnerte Anna daran, dass Ludmila im Ghetto von Litzmannstadt gestorben war. Jan hatte auf wundersame Weise überlebt, dank Ludmilas mutiger Schwester Agnieska und einem mysteriösen deutschen Soldaten namens Richard.
Richard …
Anna hatte von ihrem gleichnamigen Bruder seit mehreren Monaten nichts gehört, was dazu führte, dass sie sich oft die furchtbarsten Szenarien ausmalte. Er könnte verletzt sein oder noch Schlimmeres. Ein gequältes Seufzen drang aus ihrer Brust, was Jan dazu veranlasste, den Kopf nach ihr zu drehen und seine kleine Hand in ihre zu schieben.
Anna schob ihre deprimierenden Gedanken beiseite und wandte sich der ebenso deprimierenden Aufgabe zu, die vor ihr lag. „Lass mal sehen, ob wir ein paar von unseren Sachen retten können, und dann gehen wir zu meiner Mutter.“
Jan nickte. In seinen Augen spiegelte sich eine Reife, die weit über sein Alter hinaus ging. „Ich wünschte, dieser Krieg würde aufhören …“
Anna legte besorgt einen Finger auf die Lippen. Der Freund ihrer Schwester Lotte, ein Leutnant der Wehrmacht namens Johann Hauser, hatte Janusz falsche Papiere besorgt und ihn in den arischen Jungen Jan Wagner verwandelt. Trotzdem lebte sie in der ständigen Angst, dass jemand seine wahre Identität herausfinden könnte.
Ein halbjüdischer Pole in Berlin hatte so gut wie keine Überlebenschance. Und ihre als Verbrecherin, die einen Volksfeind beherbergte, waren auch nicht viel besser. Sie verzog das Gesicht. Wie konnte ein gut erzogener, freundlicher Junge wie Jan ein Volksfeind sein?
Jan nickte seine Zustimmung zu ihrer unausgesprochenen Aufforderung, schob die Schultern zurück und ging mit ihr in Richtung der qualmenden Ruinen ihres Zuhauses. Nachdem er sich monatelang in Litzmannstadt im Ghetto versteckt halten musste, war ihm das Kopfeinziehen und Mundhalten in Fleisch und Blut übergegangen. Anna seufzte noch einmal. Was für eine Art war das, ein Kind großzuziehen?
Immer mehr Menschen krochen aus dem öffentlichen Bunker auf dem Gelände der Charité und eilten zu den Überresten der Gebäude. Sie ignorierten den aufsteigenden Qualm und die brennenden Brocken, die überall verstreut lagen. Gott sei Dank war der Krankenhaustrakt kaum beschädigt worden, denn nach diesem Luftangriff war wieder mit einer Welle neuer Patienten zu rechnen. Aber erst musste Anna den Jungen bei ihrer Mutter in Sicherheit bringen.
Als sie bei der Ruine ihres Wohnheims ankamen, entdeckte sie mehrere Kleidungsstücke, die, obwohl mit Trümmern und Staub bedeckt, unbeschädigt zu sein schienen und nur gut gewaschen werden mussten. Vorsichtig stopfte sie sie in eine Tasche, die sie ebenfalls aus dem Geröll gezogen hatte. Sie wies Jan an, es mit den Sachen, die er fand, ebenso zu machen.
Eine Stunde später hatten sie die wenigen Habseligkeiten in der Tasche verstaut und traten den langen Fußmarsch zu der Wohnung an, in der ihre Mutter und ihre Schwester Ursula mit ihrer kleinen Tochter Eveline lebten.
Als sie dort ankamen, klopften sie an die Tür, da die elektrische Klingel schon seit Langem nicht mehr funktionierte. Die Stromversorgung war in letzter Zeit sehr unzuverlässig – sie kam und ging.
Noch so eine Mühsal des Krieges. Wieder einmal verfluchte Anna den Wahnsinnigen, der für all diese Schrecken verantwortlich war. Wenn die Menschen in Deutschland das nur vorher gewusst hätten … obwohl sie wenig Hoffnung hegte, dass die meisten Leute sich gegen eine solche Ungerechtigkeit erhoben hätten. Sie glichen Schafen, die hinter ihrem charismatischen Hirten herliefen und sich vor den knurrenden Schäferhunden fürchteten, wenn sie sich einmal aus der Mitte der Herde an den Rand verirrten.
„Anna, Jan. Was für eine Überraschung!“, begrüßte Ursula sie, als sie die Tür öffnete, aber beim zweiten Blick auf ihr zerlumptes Erscheinungsbild wich die Freude aus ihrem Gesicht. „Was ist passiert?“
„Das Übliche. Der schreckliche Engländer hat seine Geschenke über der Stadt verstreut.“
„Kommt rein.“ Ursula kniff die Lippen zusammen. Seit sie sich in einen der verhassten englischen Bomberpiloten verliebt hatte, irritierte sie das Thema.
„Unser ganzer Wohnheimkomplex ist zerstört und wir brauchen eine andere Bleibe“, sagte Anna.
Ursula sah die Tasche an, die Anna in der Hand trug, und sagte: „Sieht so aus, als würde es hier wieder voll werden. Ist das alles, was ihr habt?“
„Das und die Sachen, die wir schon hier deponiert haben.“ Die meisten Berliner hatten für Notfälle wie diesen Koffer mit dem Notwendigsten bei Freunden oder Verwandten in verschiedenen Stadtteilen untergebracht. Aber Anna hätte nie gedacht, dass sie mal auf einen ihrer Notfallkoffer angewiesen wäre. Sie unterdrückte einen schweren Seufzer, als sie an all die Dinge dachte, die sie an die Bomben verloren hatte. Nicht, dass sie große materielle Werte besaß, aber der emotionale Verlust lastete mit einem Mal schwer auf ihrer Seele.
Ursula verstand Annas Niedergeschlagenheit, ohne dass diese auch nur ein Wort sagen musste. „Trotz allem, Mutter wird sich freuen, dich und Jan hier zu haben, und sich um euch kümmern.“
Anna stöhnte. Das war einer der Gründe, warum sie die elterliche Wohnung verlassen hatte, um im Schwesternwohnheim zu leben. Das und der gefährliche Arbeitsweg.
„Jan, warum bringst du deine Sachen nicht ins Kinderzimmer und gehst dich waschen? Du siehst aus wie Max und Moritz, nachdem sie in das Mehlfass gefallen sind.“ Ursula lachte beim Anblick von Jans empörtem Gesicht, der versuchte, sich den Staub abzuklopfen. Anna stimmte in das Gelächter mit ein und fragte sich, wie sie noch immer wie ein albernes Mädchen kichern konnte, nach allem, was gerade passiert war.
Nachdem sie sich ein Glas Wasser eingegossen hatte, ließ sie sich auf einen Küchenstuhl fallen. Das alberne Gekicher half dabei, mit diesem Schrecken klarzukommen. Jammern hingegen brachte nichts. Sie konnte schließlich nicht tagein, tagaus mit schmal zusammengepressten Lippen durchs Leben gehen. Das würde bedeuten, dass sie aufgab und der Dunkelheit den Sieg zugestand. Nein, solange es noch einen Hoffnungsschimmer gab, würde sie wie das albernste junge Mädel kichern.
Ursula gesellte sich zu ihr an den Küchentisch, während Jan ins Badezimmer eilte, um ein Brausebad zu nehmen. „Sei froh, dass ihr noch am Leben seid. Du hast seine Papiere gerettet, oder?“
„Natürlich. Glaubst du, ich bin blöd?“, fauchte Anna, bereute aber ihre unbeherrschte Reaktion im gleichen Moment. „Tut mir leid. Es war ein harter Tag. Er trägt seine Papiere Tag und Nacht bei sich. Ohne die wäre er schon lange tot.“
Anna nippte an ihrem Wasser und lehnte sich zurück, während sie ihre Schwester ansah. „Ich muss einen Weg finden, wie ich ihm schreiben kann“, murmelte sie.
Ursula griff über den Tisch nach Annas Hand. „Du weißt, dass das unmöglich ist. Peter ist Kriegsgefangener. Es ist verboten, mit denen Kontakt aufzunehmen. Wenn jemand herausfindet …“
Anna wusste das alles. Ihr Mann war ein Gefangener, ein Feind, ein Pole, ein Untermensch. Der Versuch, ihn zu kontaktieren, konnte für sie beide das Todesurteil bedeuten.
„Es muss aber einen Weg geben“, beharrte sie.
„Ich wünschte, es gäbe einen, aber es ist zu gefährlich. Im Moment musst du dich auf Jan konzentrieren. Du bist die einzige Familie, die er noch hat.“
„Ich bin nicht einmal seine echte Familie. Außerdem hat er dich und Mutter“, sagte Anna. Ihre Mutter war mit Peter, einem Mann, der unter falschem Namen lebte, als Schwiegersohn nie ganz einverstanden gewesen, aber ihren Enkelsohn hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Jan und seine Großmutter himmelten sich gegenseitig an.
„Und wir werden uns um ihn kümmern, falls … du weißt schon … aber es ist besser, vorsichtig zu sein.“ Ein quiekendes Geräusch unterbrach sie und Ursula stand vom Tisch auf. „Ich muss nach Evi schauen.“
Anna nickte und lauschte den Geräuschen, wie Jan aus dem Bad kam und in der kleinen Wohnung herumwuselte. Er packte die wenigen Dinge aus, die sie aus den Trümmern ihrer vorigen Wohnung hatten retten können. Das sollte sie eigentlich auch tun, doch im Moment konnte sie an nichts anderes als ihr Bedürfnis denken, Peter zu kontaktieren und ihn wissen zu lassen, dass sie und Jan in Sicherheit waren.
Als Ursula mit der kleinen Eveline im Arm zurückkam, sagte Anna: „Ich gehe zum Roten Kreuz.“
„Du willst … was?“ Die Erkenntnis traf Ursula wie ein Schlag und sie riss die Augen weit auf. „Das wird nie funktionieren.“
„Natürlich wird es das. Sie lassen Mitglieder des Roten Kreuzes in die Lager, um nach den Kriegsgefangenen zu sehen.“
Ursula reichte den Säugling an Anna weiter und erhitzte Milch auf dem Herd. „Das internationale Rote Kreuz. Und es gibt keine Garantie, dass du ausgerechnet sein Kriegsgefangenenlager besuchen darfst. Abgesehen davon, mit welcher Begründung willst du deine Arbeit als Krankenschwester kündigen und beim Roten Kreuz anfangen?“
„Ich brauche keine.“ Anna küsste Evis kleine Stirn und legte den fünf Monate alten Säugling an ihre Schulter.
„Brauchst du wohl“, beharrte Ursula. „Und in der Sekunde, wenn du fragst, ob du ein bestimmtes Kriegsgefangenenlager besuchen darfst, wird jemand misstrauisch.“
Anna seufzte und musste die Wahrheit in den Worten ihrer Schwester erst einmal verdauen. „Ich werde einen Weg finden. Ich weiß noch nicht wie, aber es gibt immer einen Weg.“
Ursula füllte das Fläschchen, prüfte die Temperatur an ihrem Handgelenk und reichte es an Anna weiter. „Ich sehe das anders, aber so, wie ich dich kenne, wirst du einen Weg finden, falls es einen gibt.“
Anna legte sich das Kind im Arm zurecht und steckte ihm das Fläschchen in den Mund. „Tante Anna wird ihn finden, zerbrich dir nur nicht deinen hübschen kleinen Kopf darüber, Evilein. Ich kann es kaum erwarten, dass du deinen Onkel Peter kennenlernst. Er wird sich in dich verlieben, wie alle anderen auch.“
Sie schloss für einen Moment die Augen, fest entschlossen, alles Menschenmögliche zu tun, um Peter zu kontaktieren. Das war das Mindeste, was sie tun musste. Er war nicht nur ihr Ehemann, sondern auch ihr bester Freund. Und wenn sie schon dabei war, würde sie auch einen Weg finden, ihn da raus zu holen. Dann musste er nur seine falsche deutsche Identität als Peter Wolf, Professor Scherers Fahrer, wieder annehmen, und alles war in Ordnung.