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ISBN E-Book 9783749950829
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Für Christiane, auf deren Insel der Schnee bloß in den Höhenlagen fällt.
1987
Ulrike blieb stehen, stützte sich mit einer Hand an der kalten Wand ab und blickte aus dem halb beschlagenen Flurfenster. Es war kurz nach zehn an diesem Dezembermorgen. Ein eisiger Wind fegte durch die Münchener Leopoldstraße und wirbelte wild tanzende Schneeflocken durch die Luft. Das alles nahm Ulrike wahr, während sie die unterschiedlichsten Gefühle zu begreifen versuchte, die sie durchströmten.
Sie schloss die oberen Knöpfe ihrer Jacke und lief hastig die Treppe hinunter. Im Erdgeschoss drückte sie die schwere Holztür auf, dann hielt sie einen Moment atemlos inne.
Eine Windböe blies ihr ein paar Flocken ins Gesicht. Sie wischte mit einer Hand über ihre glühenden Wangen und zog ihren selbst gestrickten Wollschal weiter über das Kinn. Eine Frau kam mit ihrem Pudel vorbei. Ihre Schritte knirschten auf dem schneebedeckten Weg. Der Hund trug ein warmes Jäckchen, auf dem Fell seines Köpfchens lagen einige Schneeflocken, die fast wie Puderzucker wirkten. Sie hinterließen Fuß- und Pfötchenspuren auf der frischen Schneedecke.
Ulrike atmete tief ein.
Ein Auto fuhr im Schritttempo auf der Straße entlang, während gegenüber ein älterer Mann in einem grauen Kittel den Schnee mit einem Schieber vom Bürgersteig räumte. Auf seinem Kopf saß eine dunkelblaue Strickmütze, auf der sich ebenfalls eine zarte Schneeschicht gebildet hatte.
Eigentlich machte alles den Anschein eines ganz normalen Wintermorgens, doch für Ulrike war es der denkwürdigste Tag ihres Lebens.
Sie blinzelte zum Himmel hoch. Aus der grauen Wolkendecke fielen die Eiskristalle nun dicht an dicht. Fast malerisch wie aus einem Federkissen. Ulrike lächelte. Bald war Weihnachten, und das schönste Geschenk hatte sie einige Minuten zuvor bekommen.
»Servus. Dürfte ich mal?«
Ulrike zuckte zusammen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie die Frau, die vor ihr stand, erst jetzt bemerkte. Unter ihrem Mantel wölbte sich deutlich ihr Bauch.
»Selbstverständlich.« Ulrike machte einen Schritt zurück und hielt der Frau die schwere Eingangstür auf.
»Das ist sehr nett. Danke schön.« Sie lächelte Ulrike an.
»Keine Ursache«, erwiderte sie freundlich und zog ihren Schal etwas tiefer, sodass ihr Mund frei war. Mit Blick auf den Bauch der Frau fragte sie freundlich: »Wann ist es denn so weit?«
»In knapp drei Wochen, wenn alles klappt.« Sie streichelte mit einer Hand über die Wölbung unter ihrem Mantel.
»Wissen Sie schon, was es wird?«
Sie wiegte den Kopf hin und her. »Ein Christkindchen vielleicht. Aber auf jeden Fall eine Eule.«
»Eine Eule?«, wiederholte Ulrike verwundert.
»Mein Kind ist absolut nachtaktiv und schläft dafür am Tag«, erklärte die Frau und zwinkerte ihr amüsiert zu.
»Da kommt ja einiges auf Sie zu«, erwiderte Ulrike lächelnd.
»Das befürchte ich auch.«
»Alles Gute für Sie und das Baby. Und schöne Weihnachten!«
Nachdem Ulrike sich von der Frau verabschiedet hatte, lief sie durch den knöchelhohen Schnee den Bürgersteig entlang. Zum Glück trug sie warme Winterstiefel, die sie vorsorglich imprägniert hatte. Das ersparte ihr nicht nur nasse Füße, sondern sicherlich auch eine Erkältung. Trotzdem ging sie in ein nahe gelegenes Café, um sich aufzuwärmen.
Nachdem sie ihre Jacke ausgezogen und über einen Stuhl gelegt hatte, vertiefte Ulrike sich in die Speisekarte. Eigentlich war sie viel zu aufgeregt, um etwas herunterzubekommen. Doch sie hatte noch nicht gefrühstückt, und eine Tasse Kaffee konnte nicht schaden. Halt. Stopp. Keinen Kaffee. Lieber einen Kräutertee. Ohne Zucker. Sie musste nun vernünftig sein.
Schließlich bestellte sie bei einer jungen Frau ein kleines Frühstück mit Tee und einem Glas frisch gepressten Orangensaft. Dann lehnte sie sich zurück und beobachtete durch die großen Fensterscheiben das Schneetreiben und die vorbeieilenden Passanten auf der Leopoldstraße. Sie konnte es immer noch nicht fassen! Es war eine gute Idee gewesen herzukommen.
Sie brauchte etwas Zeit, um sich zu sammeln und alles zu durchdenken. Und vor allem benötigte sie einen guten Plan, damit alles möglichst perfekt ablief. Dann würde sie ins Auto steigen und zu ihm fahren.
Es erschien ihr noch immer so unwirklich. Sie hatte ja im Traum nicht damit gerechnet. Glücklicherweise war heute ihr freier Tag, und sie musste sich nicht beeilen. Sie wollte sich die Zeit nehmen, die nötig war. Schließlich hing davon ihre weitere Zukunft mit Benedikt ab – und die ihres gemeinsamen Kindes. Wie er wohl reagieren würde, wenn er es erfuhr? Dass er Kinder mochte, wusste sie.
Die Bedienung kam und brachte das Frühstück. Gedankenverloren schnitt Ulrike eine Semmel auf und dachte an den letzten Sommer zurück, an den Tag, an dem sie ihre Arbeit im Bayerischen Hof am Promenadenplatz angetreten hatte. Zu dem Zeitpunkt hätte sie nie gedacht, dass derart weitreichende Veränderungen sie erwarteten.
Das Grand Hotel in der nordwestlichen Altstadt von München war bekannt dafür, dass dort Prominente und sogar Staatsgäste ein und aus gingen. Als Ulrike sich jetzt erinnerte, musste sie den Kopf schütteln. Richtig nervös war sie an ihrem ersten Tag gewesen. Immer darauf bedacht, alles richtig zu machen. Die Arbeit war ihr wichtig gewesen, und irgendwie hatte sie es noch nicht ganz begriffen, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, in solch einem renommierten Haus eine Anstellung zu bekommen.
Davor hatte sie so lange von dem Leben in München geträumt. Deshalb hatte sie die einmalige Chance im Grand Hotel unter keinen Umständen vermasseln wollen.
Sie konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Das heißt, eigentlich hatte er sie zuerst entdeckt. Sie war viel zu sehr mit ihrer Arbeit am Frühstücksbüfett beschäftigt gewesen, als dass sie seine interessierten Blicke bemerkt hätte. Erst als er sie angesprochen und gefragt hatte, ob er noch einen Kaffee bekommen könne, hatte sie ihn wahrgenommen.
Beim Zubereiten des Getränks hatte sie sich überrascht gefragt, warum er ihr nicht gleich aufgefallen war. Attraktiv sah er in seinem hellen Anzug aus. Unter dem Sakko trug er ganz unkonventionell ein dunkelblaues T-Shirt und am Handgelenk eine goldene Uhr, die ziemlich teuer aussah. Seine klaren hellblauen Augen stachen förmlich hervor und harmonierten mit seinem gebräunten Teint. Er erinnerte sie optisch ein wenig an den Schauspieler Don Johnson, für den sie eine geheime Schwäche hegte.
Ulrike brachte ihm seinen Kaffee. »Bitte schön.«
»Danke sehr.«
»Haben Sie noch einen Wunsch?«, erkundigte sie sich höflich.
Als er die Augenbrauen hochzog, umspielte ein leichtes Lächeln seine Mundwinkel. »Oh ja.«
Ulrike sah ihn fragend an. »Was kann ich Ihnen noch Gutes tun?«
»Sie könnten mir verraten, wann Sie Feierabend haben.«
»Bitte?«, entgegnete sie nach einem Moment des Schweigens irritiert.
»Ich würde Sie gerne zum Essen einladen«, erwiderte er geradeheraus.
Einen Augenblick lang verschlug es Ulrike die Sprache. Sie war sich nicht sicher, was sie von der direkten Frage halten sollte. Durfte sie sich überhaupt mit ihm treffen? Immerhin war er ein Gast, und sie würde Gefahr laufen, ihren Ruf aufs Spiel zu setzen. »Ich weiß nicht …«, sagte sie unsicher.
Er sah sie einfach an und lächelte. »Im Adria in Schwabing gibt es leckere Pizza und Nudeln. Sie mögen doch italienisches Essen?«
Sie nickte. »Schon …«
»Wie wäre es dann mit heute Abend um acht?«, fragte er unbeirrt.
Lachend schüttelte sie den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine forsche Art hatte gleichzeitig etwas Charmantes. »Habe ich denn eine Wahl?«
Er zwinkerte ihr zu. »Nein.«
»Sie sind ziemlich hartnäckig«, stellte sie fest.
Er zuckte mit den Achseln. »Berufskrankheit.«
»Was machen Sie denn beruflich?«, rutschte es ihr heraus.
»Ich bin Rechtsanwalt.«
»Oh.« Das beeindruckte sie. Von einem Rechtsanwalt war sie noch nie zum Essen eingeladen worden.
Die Arme vor der Brust verschränkt, lehnte er sich nun zurück. »Ist das ein Ja?«
Sie nahm sich kurz Zeit zum Abwägen. Rechtsanwälte waren im Allgemeinen seriös, und der hier gefiel ihr dazu auch noch überaus gut. Sie würde sich bestimmt später in den Hintern beißen, wenn sie die Einladung ablehnte.
»Also gut«, stimmte sie dann zu und warf ihre Bedenken über Bord. »Um acht im Adria.«
Und so hatte ihre leidenschaftliche Romanze mit dem Anwalt Benedikt Obermair aus Inning am Ammersee begonnen. Ihre Wohnorte lagen rund vierzig Kilometer voneinander entfernt, doch durch ihre Berufe hatten sie beide wenig Zeit und trafen sich deshalb nicht so oft, wie sie es sich gewünscht hätten. Benedikt war häufig wegen Gerichtsprozessen überall in Deutschland unterwegs, während Ulrike nur selten ein freies Wochenende hatte. Außerdem hatte sie kein eigenes Auto und war darauf angewiesen, dass ihr jemand eins lieh. Mit Zügen fuhr sie nicht besonders gern. Und deshalb sahen sie und Benedikt sich vor allem dann, wenn er in München war. Das war die praktischste Lösung für beide.
Er konnte ihr immer vorab sagen, wann er wieder in der Stadt sein würde. Und so freute Ulrike sich nach jedem Abschied auf das nächste Treffen. Einmal hatte sie ihn in der Kanzlei angerufen, doch da war sie nur bis zu seiner Sekretärin gekommen, weil er in einem Klientengespräch gesteckt hatte. Danach hatte sie es nicht noch einmal probiert, weil es ihr nicht passend erschienen war. Seine private Telefonnummer hatte sie nicht.
»Ich bin am besten in der Kanzlei zu erreichen«, hatte er mal gesagt. »Zu Hause bin ich nur zum Schlafen.«
Ulrike trank den Rest ihres Orangensaftes, zahlte und verließ das Lokal. Sie ging zu dem alten Opel Ascona einer Freundin, den sie sich geliehen und in einem Parkhaus abgestellt hatte. Von dort aus fuhr sie in die Altstadt Münchens zum Postamt am Max-Joseph-Platz. Sie hatte zwar die Nummer von Benedikts Kanzlei, doch nicht die dazugehörige Adresse. In der Poststelle gab es etliche Telefonzellen, doch sie nahm zielstrebig Kurs auf den Raum, in dem sämtliche Telefonbücher und Gelbe Seiten von Deutschland in alphabetischer Reihenfolge hingen.
Es dauerte nicht lange, und sie hatte das richtige Branchenbuch gefunden. Unter den Einträgen der ortsansässigen Rechtsanwälte fand sie die Adresse von Benedikts Kanzlei. Vorfreudig notierte sie sich den Straßennamen und die Hausnummer. Ihr Plan stand fest: Sie würde jetzt zu Benedikt fahren, um ihm die freudige Nachricht persönlich zu überbringen. Es konnte unter keinen Umständen bis zu ihrem nächsten Treffen warten, wenngleich sie in zwei Tagen verabredet waren. Außerdem musste ihre Freundin den ganzen Tag arbeiten und hatte ihr den Wagen bis in die Abendstunden zur Verfügung gestellt. Das passte!
An der nächsten Tankstelle machte sie kurz halt. Leise vor sich hin pfeifend, füllte sie Sprit für zehn D-Mark nach und kaufte eine Straßenfaltkarte von der Region Ammersee. Anschließend fuhr sie gut gelaunt auf der A96 Richtung Inning.
Die Scheibenwischer leisteten Höchstarbeit. Zu Ulrikes Bedauern konnte sie durch den starken Schneefall nicht besonders schnell fahren. Wäre es nach ihr gegangen, wäre sie am liebsten zu Benedikt geflogen.
Aus dem Radio erklang Solang’ man Träume noch leben kann von der Münchener Freiheit. Das musste ein gutes Vorzeichen sein! Kein anderes Lied hätte in diesem Moment besser gepasst. Ulrike drehte die Lautstärke hoch und sang mit. Ihr Herz schien vor Glück fast zu zerspringen.
Sie konnte es kaum erwarten, Benedikt endlich um den Hals zu fallen und ihm von ihrem Baby zu erzählen. Was es wohl werden würde? Eine wunderschöne Tochter oder ein süßer Junge? Oder gar Zwillinge? Das hatte ihr die Frauenärztin nicht verraten können. Ulrike seufzte. Eigentlich war es völlig egal. Hauptsache, gesund und munter. Ach, sie würden ein wunderbares Leben zusammen haben und eine glückliche Familie werden. In Gedanken sah sie sich mit ihm und ihrem Baby schon in einem großen Haus direkt am See und mit einem großen Garten. Was für ein Glück sie doch hatte … Sie konnte es kaum fassen.
Obwohl die Ortschaft Inning nicht besonders groß war, musste sie eine Weile suchen, bis sie die richtige Adresse gefunden hatte. Sie parkte den Ascona auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Kanzlei und schaute zum Eingang hinüber. Sie zögerte.
Mit einem Mal erschien es ihr trotz der schönen Nachricht unangemessen, einfach in die Kanzlei reinzuspazieren und Benedikt von seiner Arbeit abzuhalten. Deswegen beschloss sie, besser im Auto zu warten, bis Benedikt aus der Kanzlei kommen würde. Es war Mittagszeit. Benedikt hatte ihr mal erzählt, dass er seine Pausen oft in einem Restaurant verbrachte und meistens neben dem Essen Akten las. Bestimmt machte er bald Mittagspause.
Sie rieb ihre Hände aneinander und behielt dabei den Eingang der Kanzlei fest im Blick. Da sie den Motor ausgeschaltet hatte, wich die Heizungswärme den kalten Temperaturen. Wenigstens hatte es aufgehört zu schneien, und die Wolkendecke war vereinzelt aufgebrochen, sodass ein paar Sonnenstrahlen den Tag erhellten.
Plötzlich nahm sie eine Bewegung wahr. Die Tür wurde geöffnet.
Ulrike reckte gespannt den Hals. Eine Frau mit einem Mädchen und einem Jungen an der Hand trat aus dem Haus. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss. Nachdem sie die Treppenstufen hinabgestiegen waren, blieben sie auf dem Bürgersteig stehen. Die Frau zog dem Mädchen Handschuhe an, während der Junge mit seinen Händen einen Schneeball formte. Wahrscheinlich war sie eine von Benedikts Klientinnen.
Ulrike wusste, dass er oft Scheidungsprozesse führte. Die arme Frau, dachte sie. Wie tapfer sie die Kinder anlächelte. Eine Trennung mit zwei Kindern musste schrecklich sein. Bestimmt hatte sie in Wirklichkeit großen Kummer, verbarg ihn aber, um das Mädchen und den Jungen zu schützen.
Die Tür öffnete sich abermals, und nun kam Benedikt aus dem Haus. Ulrike fasste an den Türinnengriff, wollte aber mit dem Aussteigen noch warten. Sicherlich würden Benedikt und die Frau noch ein paar Worte wechseln, bevor sie ihrer Wege gingen.
Sie beobachtete, wie Benedikt auf die Frau und die Kinder zuging. Er sprach mit ihr und nahm dann zu Ulrikes Überraschung das kleine Mädchen auf den Arm. Vielleicht waren es Verwandte von ihm? Sie meinte, er habe ihr mal von einem Bruder und einer Schwester erzählt. Ja, so musste es sein. Die Frau war bestimmt seine Schwester.
Benedikt lachte das Mädchen und den Jungen an. Er wird sicher ein wunderbarer Vater, dachte Ulrike.
Dann gab er der Frau einen zärtlichen Kuss auf die Lippen.
Ulrike zog die Hand vom Türgriff zurück und schlug sie sich vor den Mund. Wie erstarrt sah sie, wie Benedikt nach der Hand der Frau griff und sie mit den Kindern zu seinem Mercedes führte, der auf einem Parkplatz neben dem Haus abgestellt war. Zuerst stiegen die Kinder hinten ein, bald darauf fuhr der Mercedes mit Benedikt am Steuer und der Frau auf dem Beifahrersitz davon.
Sie konnte sich nicht rühren und keinen klaren Gedanken fassen. Ihre Augen waren immer noch auf den Punkt gerichtet, wo das Auto aus ihrem Sichtfeld verschwunden war.
Sie schluckte und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Ihre Hand tastete wieder nach dem Griff. Als sie die Autotür aufdrückte, schlug ihr klirrende Kälte entgegen. Die Temperaturen kamen ihr um einiges niedriger vor als in München.
Sie lehnte sich gegen den Opel und stützte eine Hand seitlich auf der Motorhaube ab, um Halt zu finden. Die frostigen Wintertemperaturen klärten zunehmend ihre Sinne. In ihrem Kopf ratterte es. Was hatte sie da gerade gesehen? Eine glückliche Familie mit zwei Kindern. So wie sie es sich in ihren Träumen mit ihm ausgemalt hatte. Doch es war seine Familie. Sie war bloß ein Abenteuer für ihn gewesen. Er hatte ihr verschwiegen, in Wirklichkeit verheiratet und Vater von zwei Kindern zu sein.
Die nüchterne Erkenntnis traf sie mit voller Wucht. Trotz der Kälte begann sie zu schwitzen. Was sollte nun aus ihr und dem Baby werden?
Isabel knotete das Band in ihrem Nacken zusammen und betrachtete sich im Spiegel. In dem kalten Licht der Neonröhre sah sie blass aus, ihr hellblondes Haar wirkte glanzlos und aschig. Sogar der Bikini erschien ihr wie ein Fremdkörper an ihr. Auf frisch gebräunter Haut sahen das kräftige Pink und das leuchtende Gelb bestimmt toll aus. Wer sich bloß die unvorteilhafte Beleuchtung in diesem Geschäft ausgedacht hatte? Ein Verkaufsargument lieferten die ungünstigen Lichtverhältnisse jedenfalls nicht. Aber unabhängig davon hatte sie eigentlich keinen Grund, sich zu beschweren. Für ihre vierunddreißig Jahre war sie verdammt gut in Schuss und konnte leicht mit jüngeren Frauen mithalten. Irgendwann hatte sie angefangen, wann immer es möglich war auf das Auto zu verzichten. Stattdessen war sie auf das Fahrrad umgestiegen. Hinzu kamen ausgiebige Spaziergänge mit ihrem Hund Mari und regelmäßiges Schwimmtraining. Das zahlte sich am Ende aus.
Sie schob den Vorhang beiseite, lugte aus der Umkleidekabine und hielt Ausschau nach Kati. Die Meinung ihrer Freundin war ihr wichtig, denn sie konnte sich darauf verlassen, dass Kati immer ehrlich zu ihr war und ihr nie aus falsch verstandener Freundschaft zum Kauf eines Bikinis raten würde, der in Wirklichkeit eine Katastrophe war. Da, sie entdeckte Kati in der Nähe des Schaufensters an einem Tisch, auf dem Fleecejacken übereinandergestapelt lagen. Kati hielt gerade eine Jacke mit ausgestreckten Armen vor sich und begutachtete sie. Als sie endlich in ihre Richtung schaute, winkte Isabel sie zu sich. »Komm rein!«
Kurz darauf zog sie Kati am Arm in die Kabine. »Und? Was meinst du?«
»Brrr.« Kati schüttelte sich und rieb sich mit beiden Händen die Oberarme. »Mir wird vom bloßen Ansehen schon ganz kalt.«
»Stell dir vor, die Sonne scheint, es sind achtundzwanzig Grad, und die Wellen rauschen sanft im Hintergrund«, forderte Isabel sie auf.
Ihre Freundin verzog den Mund. »So viel Fantasie habe ich nicht. Mitten im Dezember und mit Dauerschneefall … Da reicht meine Vorstellungskraft eher für einen heißen Glühwein.« Wie um das Gesagte zu unterstreichen, zog sie ihren Schal höher.
Isabel winkte ab. »Jetzt sag schon! Soll ich den nehmen? Oder nicht?«
Kati musterte sie noch einmal von oben bis unten und nickte dann. »Scheint zu passen.«
Isabel verdrehte die Augen. »Danke. Du bist wirklich eine große Hilfe.«
»Ach, der Bikini ist echt klasse. Ich würde ihn kaufen.« Kati lachte. »Im Sommer.«
Isabel blickte mit zufriedener Miene in den Spiegel. »Meinst du, er wird ihm gefallen?«
»Meinem Bruder?« Kati zuckte die Schultern. »Ich glaube, Jens gefällt alles, was du trägst. Wir machen uns über Klamotten immer viel zu viele Gedanken, aber seien wir ehrlich: Die meisten Männer sind da doch eher unkritisch. Meinem Bruder würde eine neue Frisur noch nicht einmal auffallen, das darf man nicht persönlich nehmen. Aber dafür hat er einfach keinen Blick.«
»Dafür hat er andere Talente«, verteidigte Isabel ihn. Sie dachte an Jens. Gerade jetzt rettete er vermutlich wieder einmal einem Menschen das Leben. Er liebte seine Arbeit als Notarzt, obwohl es bei seinen Einsätzen oft um Leben und Tod ging. Doch gerade dieser Umstand motivierte ihn. »Jedes Leben, das ich rette, wäre ohne mein Eingreifen vermutlich vorbei gewesen. Danach weiß ich immer, dass es sich lohnt, jeden Tag zum Dienst zu erscheinen. Auch wenn nicht jedes Mal am Ende ein Happy End steht. Aber die Menschen, bei denen es funktioniert, geben meiner Arbeit einen Sinn. Ich kann mir nicht vorstellen, was anderes zu tun«, hatte er ihr einmal erzählt.
Vor über einem halben Jahr hatte sie Jens durch seine Schwester kennengelernt. Und Kati davor im Hallenbad, wo sie beide regelmäßig ihre Bahnen gezogen hatten. Irgendwann waren sie ins Gespräch gekommen und hatten sich außerhalb der Badeanstalt verabredet. So war eins zum anderen gekommen.
»Wie dem auch sei. Es kann ja nicht jeder so ein Glück haben wie du und mein Bruder. Weihnachten auf Hawaii … wow! Ich werde lieber noch mal einen Blick auf die Fleecejacken werfen. Die Aussicht auf sanftes Wellenrauschen ist in Rosenheim eher gering. Und ich kann schon fast den Schneepflug hören …« Damit verließ sie die Umkleidekabine.
Seufzend zog Isabel ihr Handy aus der Umhängetasche. Sie warf sich in Pose und machte ein Foto für Jens von ihrem Spiegelbild.
Dann tippte sie eine Nachricht auf ihrem Handy.
Mein lieber Schatz,
während du halb Rosenheim rettest, habe ich wenigstens einen Bikini für unseren Urlaub gefunden. Ich freue mich schon so sehr auf Hawaii und kann es kaum erwarten, bis wir im Flieger sitzen.
Bis später und Kuss,
Isa
Zufrieden zog Isabel sich anschließend an und verließ die Kabine. Kati wartete bereits an der Kasse auf sie. In der rechten Hand hielt sie eine Papiertüte, auf der das Logo des Geschäfts prangte.
»Eine Fleecejacke?«, fragte Isabel und legte den Bikini auf die Theke des Kassenbereichs.
Kati nickte. »Zwei sogar. In Natur und Hellblau. Schön kuschelig und als Doppelpack im Sonderangebot. Da musste ich zuschlagen.«
»Hast du ein Glück.« Isabel bezahlte amüsiert.
Nachdem beide Frauen den Laden verlassen hatten, setzte Kati eine Wollmütze auf und vergrub die Hände tief in ihren Manteltaschen. »Hast du noch Zeit für eine Brotzeit im Gasthaus?«
»Hm.« Isabel blickte auf ihr Handy. »Okay, eine Brotzeit ist noch drin. Dann muss ich aber zurück zu Mari. Du weißt doch, sie ist nicht gern lange allein.« Sie hakte sich bei Kati ein, und schon liefen sie in die Richtung des Lokals.
»Kein Wunder. Du nimmst sie ja sogar mit zur Arbeit.«
»Mari ist ja auch meine unentbehrlichste Arbeitskollegin.«
»Das stimmt.« Kati lachte.
»Danke übrigens, dass du sie so lange nimmst, wenn Jens und ich im Urlaub sind.«
Sie hatten den kurzen Weg schon zurückgelegt, und Kati drückte die Tür zum Gasthaus auf. »Na klar. Sie ist wirklich ein besonders lieber Hund, und ich freue mich schon richtig darauf. Dann habe ich endlich Gesellschaft im Homeoffice. Ich glaube, ich habe noch nie einen so freundlichen Hund wie Mari gekannt.«
Sie steuerten auf einen Tisch in Fensternähe zu und setzten sich.
»Ein bisschen Muffensausen habe ich ehrlich gesagt schon.« Isabel verzog den Mund, als sie ihre Jacke über den Stuhl hängte.
»Ach, mache dir keine Sorgen«, winkte Kati ab und griff nach der Speisekarte. »Ich werde Mari nach Strich und Faden verwöhnen.«
»Nicht deswegen.« Isabel warf ebenfalls einen Blick in die Karte.
Kati sah sie prüfend an. »Sondern?«
»Na ja.« Sie zog die Schultern hoch. »Mari und ich waren noch nie getrennt, seit sie als Baby zu mir gekommen ist. Ich habe sie immer überall mit hingenommen. Es ist das erste Mal, dass sie woanders schläft. Dann auch noch so lange! Und Hawaii ist ja auch nicht gerade um die Ecke.«
Kati lachte. »Mütter und ihre Kinder.«
»Kein Witz! Es fühlt sich tatsächlich ein bisschen so an.«
»Ach, Isa.« Sie legte eine Hand auf ihre und zwinkerte ihr zu. »Ihr könnt ja jeden Tag telefonieren, wenn du auf Hawaii bist.«
»Ich hatte eigentlich eher an Skype oder ein Zoom-Meeting gedacht, damit Mari mich auch sehen kann«, antwortete Isabel ernsthaft.
»Von mir aus auch das. Aber mache dir bitte keine unnötigen Sorgen. Dein Hund ist bei mir in den besten Händen, und es wird ihm an nichts fehlen.«
»Das weiß ich doch.«
Als sich ein Kellner ihrem Tisch näherte, winkten sie ihn heran und bestellten. Kati hatte sich für ein LKW (Leberkäse mit Kartoffelsalat, warm) und eine Spezi entschieden. Für Isabel sollte es ein Bayerischer Wurstsalat und ein Wasser sein.
»Bist du eigentlich schon aufgeregt wegen deiner neuen Stelle?«, erkundigte Kati sich.
»Und wie! Es ist vielleicht alles ein bisschen viel. Hawaii ist ja das eine. Das andere ist: Ich kann es noch gar nicht glauben, dass ich die Leitung der ergotherapeutischen Abteilung im Gesundheitszentrum übernehme. Das ist für mich ein wichtiger Schritt nach vorn.«
»Ich finde, dass das Gesundheitszentrum mit dir einen guten Fang gemacht hat. Ich kenne niemanden in und im Umkreis von Rosenheim, der eine Hundetherapie anbietet. Das ist dein Alleinstellungsmerkmal.«
»Das stimmt schon. Aber die meiste Zeit werde ich wohl eher mit organisatorischer Arbeit, das heißt Bürotätigkeiten, zu tun haben. Die Therapiestunden mit Mari werden vermutlich eher am Rande stattfinden. Wenn überhaupt …« Sie senkte den Blick.
»Ach, das wäre aber schade, wenn das deswegen flachfallen würde. Es hat dir doch immer so viel Spaß gemacht!«
»Stimmt schon. Doch man kann nicht alles haben im Leben, oder?« Insgeheim bedauerte Isabel die Aussicht darauf sehr, ihre Hundetherapie, die sie mit vollem Herzblut ausübte, nicht mehr als Schwerpunkttätigkeit ausführen zu können. Mehr, als sie zugab. »Das Angebot konnte ich einfach nicht ablehnen. Hauptsache, ich kann Mari mit zur Arbeit nehmen.« Sie holte das Handy aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch.
»Sag mal, wartest du auf einen Anruf?«, wollte Kati wissen.
Isabel zuckte die Schulter. »Vielleicht meldet sich Jens.«
Die Kellnerin brachte ihre Brotzeit.
»Wohl bekomm’s.« Kati prostete Isabel mit ihrer Spezi zu.
Isabel erhob ihr Glas. »Guten Appetit.«
Kati probierte ihren Leberkäse. »Lecker!«
Noch einmal schaute sie auf ihr Handy. »Weißt du eigentlich, dass dein Bruder der erste Mann ist, mit dem ich mir eine gemeinsame Wohnung, Hochzeit und Familie vorstellen kann?«
»Das klingt gut und irgendwie auch ernst. Ich hätte dich gern als Schwägerin.« Katis Augen glänzten.
»Wie gut, dass wir uns damals kennengelernt haben. So habe ich eine beste Freundin und meinen Traummann gefunden.« Isabel stocherte nachdenklich mit der Gabel in ihrem Wurstsalat herum. »Weißt du eigentlich, dass Jens mich nach dem Urlaub mit zu euren Eltern nehmen will?«
»Nach Starnberg? Das klingt wirklich ernst!«
Isabel nickte und seufzte. »Ich bin wirklich glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben. Alles läuft wie am Schnürchen. Fast ein wenig beängstigend.«
»Also, wenn du auf Hawaii einen hübschen Surfer kennenlernen solltest, dann gib ihm meine Nummer. Ich tausche gerne den bayerischen Winter gegen Dauersommer mit Blumenkränzen und Aloha ein.«
»Ich werde dran denken«, versprach Isabel und nahm eine Gabel von dem Wurstsalat. Das Display des Handys blieb immer noch unbeleuchtet. »Ich weiß gar nicht, wie lange Jens heute Dienst hat«, sagte sie mehr zu sich selbst.
»Heute Dienst?« Kati runzelte die Stirn. »Soweit ich weiß, hat er heute frei.«
»Nein, da vertust du dich.«
Kati schüttelte den Kopf. »Er war vorhin noch bei mir, um mir was am PC zu zeigen. Etwa eine Viertelstunde bevor wir uns zum Shoppen getroffen haben.«
»Wirklich?«, fragte sie erstaunt. »Das ist aber sehr merkwürdig. Mir hat er gestern noch gesagt, dass er heute Notdienst hat.«
»Vielleicht hat sich unverhofft was beim Dienstplan geändert«, überlegte Kati. »Er ist ganz spontan bei mir vorbeigekommen.«
»Das hätte er mir doch gesagt … Wirklich extrem seltsam das Ganze.«
»Er wollte bestimmt nicht unsere Verabredung durchkreuzen und hat deswegen nichts gesagt.«
»Das könnte natürlich sein.« Isabel checkte ihr Handy erneut nach neuen Nachrichten, auch wenn ihr diese durch einen Signalton angezeigt worden wären. »Aber wieso liest und beantwortet er meine Nachricht dann nicht, wenn er frei hat?«
Kati verzog den Mund. »Er liegt bestimmt nicht faul auf dem Sofa herum. Ich tippe darauf, dass er zum Sport ins Fitnessstudio gefahren ist und sein Handy im Spind eingeschlossen hat«, mutmaßte sie. »Du kennst doch meinen Bruder. Er muss immer in Bewegung sein, und das Krafttraining braucht er als Ausgleich zum Job.«
Sie lächelte. »Du hast wahrscheinlich recht. Bestimmt arbeitet er hart an seinem Strandbody. In zwei Wochen genießen wir ja schon Cocktails auf Hawaii.«
Isabel schloss im Hausflur ihren Briefkasten auf und entnahm ihm drei Umschläge und einen Werbekatalog für Tierbedarf. Mit einem zweiten Schlüssel öffnete sie den Postkasten über ihrem. Er gehörte Frau Osterfeld, ihrer Nachbarin.
Beide hatten in dem Altbau Dachwohnungen gemietet. Isabels Wohnung war sogar eine Maisonette. Irgendwann hatte Frau Osterfeld sie gefragt, ob es ihr etwas ausmachen würde, ihre Post mit hochzubringen, wenn sie ohnehin vor den Briefkästen stand. »Sie können die Briefe einfach auf meiner Fußmatte ablegen. An manchen Tagen fehlt mir einfach die Kraft, um die vielen Treppen zu steigen. Da streiken meine Beine«, hatte die alten Dame erklärt.
Für Isabel war es eine Ehrensache gewesen, ihrer Nachbarin diesen Gefallen zu tun. Seitdem sie in dem Haus wohnte, hatte sie auch das wöchentliche Flurputzen für sie beide übernommen. Frau Osterfeld sollte sich in ihrem Alter ausruhen und nicht ihre Kraft fürs Treppenschrubben vergeuden, fand sie. Es reichte schon, dass sie ihre Einkäufe bis in den vierten Stock tragen und ihren Haushalt allein machen musste. Das war in ihrem hohen Alter bestimmt nicht einfach.
Isabel stieg die Treppe zu ihrer Wohnung hoch und legte zwei Briefe und das Gemeindeblatt der evangelischen Kirche auf der Fußmatte ihrer Nachbarin ab. Dann ging sie drei Schritte und schloss ihre Wohnungstür auf.
Mari erwartete sie bereits schwanzwedelnd und begrüßte sie derart stürmisch, als hätten sie sich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.
»Ja, du bist ja die Beste!« Lachend kraulte sie die Leonbergerhündin hinter den Ohren. »War dir langweilig?«
Daraufhin präsentierte Mari ihren Bauch, damit Isabel dort weiterkraulen konnte.
Nach einem Augenblick erhob Isabel sich lächelnd. »Ich weiß da was Besseres.«
Sie ging in die Küche, und Mari folgte ihr. Nachdem Isabel die Tüte mit dem Bikini auf der Arbeitsfläche abgestellt und ihre Tasche sowie die Post danebengelegt hatte, griff sie schnell in eine Box und holte ein paar Leckerlis hervor.
Wie erwartet stürzte Mari sich voller Begeisterung auf den Snack. Während ihr Hund schmatzte, schaute Isabel abermals auf ihr Handy. Noch immer nichts von Jens. Er hatte ihre Nachricht noch nicht einmal gelesen.
Vermutlich nutzt er die Gelegenheit für ein extralanges Training, dachte Isabel und rang ihre Enttäuschung nieder. Vielleicht war er auch schon fertig und saß noch auf einen Eiweißshake mit einem Kumpel an der Theke. Sie wollte es ihm gönnen, schließlich würde er auf Hawaii keine Gelegenheit haben, seine Freunde zu treffen.
Isabel schaute zu Mari, die vor ihr saß und sie erwartungsvoll anblickte. »Dann gehen wir beide jetzt eine Runde durch den Wald. Was meinst du?«
Der Keferwald lag nicht weit von ihrer Wohnung entfernt. Sie liebte die Spaziergänge mit Mari in dem beschaulichen kleinen Stadtwäldchen. Im Frühjahr und im Sommer waren neben anderen Hundebesitzern und Spaziergängern auch viele Jogger und Radfahrer hier unterwegs. Nun war es in dem verschneiten Waldstück ganz ruhig und menschenleer. Gelegentlich rieselte Schnee von den Ästen der Tannen auf den Boden, oder es knackte im Unterholz. Ansonsten war es bis auf das Geräusch ihres Atems und dem des herumtollenden Hundes ruhig.
Mari liebte Schnee und ließ es sich nicht nehmen, sich darin ausgiebig zu wälzen. Isabel formte einen Schneeball und warf ihn weit von sich. Übermütig bellend preschte Mari hinterher.
Es machte sie einfach glücklich, wenn ihre Hündin solch einen Spaß hatte. Tief atmete sie die Winterluft ein und genoss den Moment.
Fast kam es Isabel unwirklich vor, als sich plötzlich ihr Handy bemerkbar machte und der Klingelton die Stille des Waldes zerriss. Sie holte das Telefon aus ihrer Tasche hervor und lächelte, als sie sah, wer sie sprechen wollte. »Hallo, Jens!«
»Servus, Isabel«, erwiderte er mit tiefer Stimme. »Wo steckst du denn?«
Sie lachte. »Also, das könnte ich auch dich fragen. Ich dachte, du hättest heute Dienst. Aber Kati meinte, du warst bei ihr.«
»Das stimmt. Danach bin ich ins Fitnessstudio gefahren. Ich habe mich in der Woche vertan. Nächsten Samstag habe ich Dienst.«
Amüsiert schüttelte sie den Kopf. »So was in der Art haben wir uns schon gedacht. Hast du das Foto gesehen, das ich dir geschickt habe?«
»Ja«, antwortete er zerstreut, aber sie wollte nicht nachfragen.
»Den Bikini habe ich extra für Hawaii gekauft. Wie findest du ihn?«
»Du kannst eh alles tragen«, sagte er ausweichend.
»Na, das hört sich aber nicht sehr begeistert an.«
»Wo bist du eigentlich?«, überging er ihre Bemerkung.
»Im Wäldchen. Mit Mari.«
»Wo denn genau?«
»In der Nähe der Schranke. Aber wieso willst du das wissen?«
»Ich stehe vor deiner Haustür.« Er machte eine kurze Pause und atmete hörbar ein: »Ich laufe dir entgegen. Warte an der Schranke auf mich, ja?«
»Okay«, stimmte Isabel zu, doch er hatte bereits aufgelegt.
Wenige Minuten darauf stand sie schon an der Schranke und vertrieb sich die Zeit mit Mari beim Stöckchen- und Schneeballwerfen. Es dauerte nicht lange, dann erschien Jens. Isabel fiel sofort sein angespannter Gesichtsausdruck auf. Er wirkte, als käme er geradewegs von einer besonders anstrengenden Schicht.
Mari sprang an ihm hoch und begrüßte ihn überschwänglich. Erleichtert stellte Isabel fest, dass er lächelte, während er Mari streichelte.
»Hallo, Jens.« Sie ging auf ihn zu und wollte ihn in den Arm nehmen, doch in dem Moment beugte er sich wieder zu der Leonbergerhündin runter.
»Hi, Isabel«, sagte er bloß, ohne sie dabei anzusehen, und warf für Mari einen Ast.
Seltsam, sonst war Jens viel verbindlicher. Er war ihrer Umarmung noch nie ausgewichen. Als er sich wieder aufgerichtet hatte, sah Isabel ihn aufmerksam an. »Ist irgendwas?«, fragte sie ohne Umschweife.
Jens presste die Lippen aufeinander, versenkte die Hände in den Taschen seiner Winterjacke und wich ihrem Blick wieder aus. Er nickte schuldbewusst. »Ich muss dir was sagen.«
Isabel legte den Kopf schräg und schaute ihn forschend an. Urplötzlich hatte sie eine Ahnung, warum er auf ihren neuen Bikini so zögerlich reagiert hatte. »Oh, nein!«, rief sie. »Sag jetzt bitte nicht, dass der Urlaub ins Wasser fällt, weil ihr beim Notdienst Personalmangel habt!«
»So ungefähr«, bestätigte er ihre Vermutung.
»Das darf doch nicht wahr sein! Ich habe mich so auf den Urlaub gefreut.« Isabel fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Kann denn kein anderer für dich einspringen? Du bist doch nicht der einzige Notarzt in ganz Rosenheim.«
Jens hob die Hände und wirkte jetzt sehr schuldbewusst. »Ganz so ist es nicht. Ich werde in den Urlaub fliegen. Aber nicht mit dir.«
Isabel verstand die Welt nicht mehr. »Was soll das heißen?«, fragte sie irritiert.
»Es sind da in letzter Zeit Dinge passiert, mit denen ich nicht gerechnet habe«, begann er seine Erklärung.
»Was denn für Dinge?« Isabel spürte, wie langsam Panik in ihr hochstieg. Sie konnte förmlich fühlen, wie sich die Luft um sie herum für einen bevorstehenden Knall zusammenzog. Als sie weitersprach, erkannte sie die eigene Stimme kaum wieder. »Ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
»Wir haben uns in letzter Zeit sehr wenig gesehen. Ich musste oft arbeiten, wenn du freihattest und umgekehrt. Irgendwie haben sich daraus neue Umstände entwickelt, die sich dann verselbstständigt haben …«
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte sie nun mit leicht wütendem Unterton.
Jens senkte abermals den Blick. »Ich habe jemanden kennengelernt.«
Isabel fühlte sich, als würde ihr der Boden unter den Füßen fortgerissen. Ihr wurde kalt.
»Er hat einfach so, ganz aus heiterem Himmel, mit mir Schluss gemacht!« Isabel schnäuzte sich geräuschvoll in ein Taschentuch und warf es in den Abfalleimer, der auf dem Boden vor dem Sofa stand und in dem sich bereits die anderen benutzten Tücher aus der Packung türmten. Mari lag neben ihr und drückte ihre feuchte Nase tröstend an ihre Hand. Traurig tätschelte sie den Kopf der Hündin, die sie aus treuen Augen anblickte, und sagte ins Telefon: »Ich kann es immer noch nicht glauben. Dabei ist nie ein böses Wort zwischen uns gefallen.«
Sie hob den Telefonhörer an das andere Ohr und zog die Beine dicht an den Oberkörper heran. »Und er hat dir wirklich nichts davon gesagt, Kati?«
»Kein Sterbenswörtchen! Das schwöre ich!«
»Keinerlei Andeutung?«
»Nein. Ich bin genauso überrumpelt von der Nachricht wie du«, erklärte Kati fassungslos und betroffen.
»Wenn ich bloß wüsste, wer diese andere Frau ist, von der er gesprochen hat … Und vor allem, wo und wann er sie kennengelernt hat … Ich verstehe überhaupt nicht, wie mir das alles entgehen konnte, aber ich habe wirklich nichts gemerkt, Kati.«
»Das kann ich bestimmt rauskriegen. Vielleicht ist es ja eine neue Kollegin? Ich werde dir alles erzählen, sobald ich mehr weiß«, versprach ihre Freundin.
»Meinst du, dadurch hätte er automatisch mehr Zeit mit ihr verbracht als mit mir?«
Kati seufzte schwer. »Ist nur so ein Gedanke. Könnte aber sein. Du weißt ja, wie lang seine Schichten sein können.«
Isabel schwieg kurz. »Ja, das klingt logisch. Vermutlich ist es so …« Als ihr wieder die Tränen in die Augen stiegen, nahm sie sich schnell ein weiteres Taschentuch und putzte sich die Nase. »Aber was soll ich bloß tun, wenn es wirklich so ist? Gegen eine Ärztin habe ich doch überhaupt keine Chance.«
»Ach, so was will ich gar nicht hören! Außerdem wissen wir noch nichts über die andere. Das sind ja bisher alles reine Spekulationen.«
»Ich fühle mich gerade wie ein kaputtes Telefon, das in den Müll wandert und durch ein neues ersetzt wird.« Isabel streckte ihre Beine wieder aus und beobachtete seufzend, wie Mari ihr Köpfchen auf ihre Oberschenkel legte und sie aus großen Augen ansah.
»Ich würde mich an deiner Stelle genauso fühlen. Pass mal auf, ich werde jetzt versuchen, Jens zu erreichen, um mit ihm zu reden. Danach melde ich mich wieder bei dir. Okay?«
»Okay. Danke, Kati … Ich weiß gar nicht, was ich ohne dich tun würde.«
»Dafür sind beste Freundinnen doch da.«
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, legte sie den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Sie konnte es immer noch nicht fassen, was passiert war. Das Ende ihrer Beziehung mit Jens war ohne jegliche Vorwarnung und mit der Wucht eines Wasserfalls auf sie eingestürzt. Ob es besser gewesen wäre, wenn sie sich nie auf ihn eingelassen hätte?
Für Jens hatte sie all ihre Prinzipien über Bord geworden und ihr Herz geöffnet. Sogar ihren sehnlichen Wunsch nach einer Familie hatte sie zugelassen, die sie als Kind so schmerzlich vermisst hatte. Ihre Mutter hatte sie nach der Geburt in die Obhut eines Kinderheims gegeben und war damals einfach verschwunden, ohne ihren vollen Namen zu hinterlassen. Bis heute kannte Isabel bloß den Nachnamen ihrer leiblichen Mutter: Poertgen.
Sie wusste nicht, wer ihre Eltern waren. Sie besaß bloß die Hälfte eines alten Fotos, auf dem ihre Mutter abgebildet war, und die Notiz auf einem Zettel, auf dem ihre Mutter den Wunsch geäußert hatte, dass sie Isabel heißen sollte. Das hatten ihr die Erzieher des Kinderheims gegeben.
Langsam stand sie auf, holte das Portemonnaie aus ihrer Tasche und zog die Fotohälfte heraus. Wenn ihre Mutter Teil ihres Lebens gewesen wäre, hätte sie sie jetzt bestimmt getröstet. Dann wäre alles anders gewesen …
Auf dem Schnappschuss saß ihre Mutter auf einer Parkbank und lachte in die Kamera. Sie trug einen farbenfrohen Sommeroverall, und in ihrem Haar steckte eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern. Isabel schätzte die Frau auf dem Foto auf Mitte zwanzig. Sie sah nett aus und war ihr trotz allem nicht fremd. Sicher lag es daran, dass sie dieses Bild in ihrem Leben so oft betrachtet und nach Ähnlichkeiten zwischen ihr und ihrer Mutter gesucht hatte. Es stellte sich jedes Mal eine gewisse Vertrautheit ein, wenn sie das Bild anschaute. Das blonde Haar und die kleine Stupsnase hatte sie definitiv von ihrer Mutter geerbt.