Vorwort

Bei meinen Recherchen zur Forschungsarbeit an den Polarstationen habe ich herausgefunden, dass diese in der Wintersaison größtenteils ruht und die Stationen vor allem von Ingenieuren gewartet und überwacht werden.

Da eine Geschichte am Nordpol im Sommer aber irgendwie öde ist, habe ich mir die künstlerische Freiheit genommen, meine Wissenschaftler auch im Winter forschen zu lassen. Seht es mir nach. Viel Spaß!

Prolog

Die beste Ausrede aller Zeiten, wenn man keine Lust hat, auf die achtzigste Geburtstagsfeier von Tante Ingeborg zu gehen, ist folgende: »Tut mir leid, aber da bin ich gerade am Nordpol!«

Noch besser kommt diese Ausrede, wenn sie nicht einmal gelogen ist. Weshalb ich während des Kofferpackens leise »Jauchzet, frohlocket« vor mich hingesungen habe. Hach ja, der Nordpol. Ich freue mich schon.

Kapitel 1

Ich kehre immer wieder gern hierher zurück, so wie andere traditionell nach Malle fliegen oder Campingurlaub in Wanne-Eickel machen.

Schon große Teile meines Studiums habe ich im Universitätszentrum in Longyearbyen auf Spitzbergen – oder, wie es korrekter heißt: Svalbard – absolviert, und nun bereite ich mich auf meine dritte Überwinterung in einer deutsch-französischen Polarforschungsstation in Ny-Ålesund im Norden der Insel vor. Praktisch am Ende der Welt. Ich bin studierter Geologe und Polarforscher. Ganz in echt. Und ich weiß, dass das total wichtig klingt. Ich wühle im ewigen Eis und es macht mich glücklich. Wenn jemand meine Mutter – Gott hab sie selig - fragte, was ich beruflich so mache, dann antwortete sie meist: »Irgendwas mit Steinen.« Aber ich pflege immer zu sagen: »Ich bin einer von den Typen, die in Weltuntergangsfilmen die Lösung des Problems finden und vom Nerd zum Superhelden werden.«

Nun ja: Das mit den Steinen ist nicht komplett falsch. An Steinen ist nichts Verwerfliches. Menschen finde ich fürchterlich, aber Steine finde ich nett. Sie laden einen nicht zu Wohnungseinweihungspartys ein, auf denen man abgestandenen Nudelsalat essen muss, sie bombardieren einen nicht mit albernen Bildnachrichten bei WhatsApp, aber vor allem: Sie sprechen nur zu einem, wenn man sie explizit danach fragt. Also, im übertragenen Sinne. Wenn wirklich ein Stein anfangen würde, mit der Stimme von Pierce Brosnan zu mir zu sprechen, wäre das der Moment, in dem ich mich schleunigst in Behandlung begeben würde.

Aber zurück zum Nordpol. Was auch nicht ganz korrekt ist, denn der Nordpol ist ein geographischer Punkt, und zwischen diesem und der Forschungsstation liegen immer noch rund 1200 Kilometer. Was, gemessen an den Dimensionen der Erde, verdammt nahe ist. Aber Ny-Ålesund gehört zur Arktis. Während meine anderen Kollegen sich also lieber an Bord eines Expeditionsschiffs in Richtung Südsee begeben, lasse ich mich freiwillig für ein halbes Jahr am Ende der Welt in Eis und Schnee aussetzen. Nur ich, meine Messgeräte und zwei Kollegen, mit denen ich mich wenigstens einigermaßen auf einem Niveau unterhalten kann – anders als auf Tante Ingeborgs Geburtstag. Und ein paar ortsansässige Norweger, die allerdings so verschlossen und wortkarg sind, dass ich sie gedanklich bei den Steinen einsortiere.

»Gibt’s da oben überhaupt was zu vögeln?«, fragte neulich mein dümmlicher Cousin, den alle nur Bolle nennen und dessen richtiger Name mir peinlicherweise entfallen ist.

Ich setzte dann zu einem ausufernden Beitrag über Eissturmvögel an, der bereits nach drei Sätzen von schallendem Gelächter seitens Bolle unterbrochen wurde. Und da wundert sich noch jemand, dass ich die Gesellschaft von Permafrostböden vorziehe?

Ah, die heimelig beleuchtete Fassade meines Stammcafés in Longyearbyen! In meinen Mundwinkeln kräuselt sich jenes freudige Lächeln, das ich mir zu genau drei Anlässen erlaube: Erstens, wenn einer meiner Artikel in einer renommierten Fachzeitschrift erscheint. Zweitens, wenn ich wieder in die Arktis reisen darf, so wie jetzt. Und drittens, wenn ich zum Mr. Geoscience gewählt werde, was noch nicht passiert ist, aber ich arbeite daran. Gedanklich. Ich bin mit meinen achtunddreißig Jahren ja noch einigermaßen jung.

In diesem Café, in dem es den besten Blaubeerkuchen auf ganz Svalbard gibt (was zugegebenermaßen nicht schwer ist, denn es existiert ja praktisch keine Konkurrenz), trifft sich traditionell die Forschergruppe vor ihrer Abreise nach Ny-Ålesund. Das bedeutet, dass dort drinnen theoretisch zwei Leute auf mich warten müssten. Es sei denn, ich bin wie üblich der Erste.

Ich betrete das Café und werde von Wärme und dem süßen Geruch von Gebäck empfangen. Ich werde mir gleich eine große Tasse Kaffee und ein schönes Stück Blaubeerkuchen gönnen, während ich auf meine beiden Kollegen warte, mit denen ich gemeinsam in der Forschungsstation überwintere. Ich hoffe auf so angenehme Zeitgenossen wie beim letzten Mal: zwei äußerst wortkarge Kerle, ein Schweizer und ein Franzose. Keine privaten Gespräche. Guten Morgen, gute Nacht, ansonsten ein bisschen was über die Arbeit. Paradiesische Zustände. Nur Steine sind schöner.

Außer mir ist hier aber nur ein junges Ehepaar mit einem Kleinkind anwesend, sowie ein weiteres Paar, das an einem der Ecktische hockt und sich kichernd gegenseitig Handyfotos vorführt. Ich bin also tatsächlich wieder einmal der Erste. Auch gut. Dann kann ich meinen Nachmittagskaffee in Ruhe genießen. Ich gebe meine Bestellung auf und nehme an einem der freien Tische Platz. Mein Gepäck steht bereits in dem Hotel, in dem wir heute übernachten, bevor morgen die Reise per Kleinflugzeug nach Ny-Ålesund weitergeht.

Ah, schön. Entspannt lehne ich mich zurück und lasse meinen Blick durch das kleine Café schweifen, mit seinen hellen Wänden, den gemütlichen Sitzecken und der bunten Kuchentheke. Sogar Norwegerpullis kann man hier kaufen, für den Fall, dass man in der Arktis ganz unerwartet vom Winter überrascht wird.

Mein Blick bleibt allerdings an dem Handypärchen hängen. Die beiden sind vielleicht Anfang dreißig, er ein langer Lulatsch mit einer zu großen Mütze und einem der Norwegerpullis, die man hier kaufen kann. Ich glaube, da hängt noch das Preisschild dran. Sie wiederum ist ein brilletragendes, zierliches Mäuschen mit einem knödelartigen Dutt auf dem Kopf. Eines dieser typischen, jungen Großstadtpärchen eben, die unbedingt mal einen außergewöhnlichen Urlaub machen wollen, um vor ihren Hipster-Freunden damit zu prahlen. Ich verdrehe die Augen und seufze, und natürlich schaut der Kerl gerade in dem Moment zu mir herüber. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Drei Sekunden. Zu lange!

»Dr. Kluge?«, fragt er plötzlich. »Dr. Norbert S. Kluge?«

Ich erstarre in meiner Bewegung wie eine gelähmte Eidechse. Wurde ich gerade etwa erkannt? Bin ich über Nacht berühmt geworden, ohne es zu bemerken? Hat man mich in meiner Abwesenheit zum Mr. Geoscience gewählt? Ich sehe mich in Gedanken schon Autogramme auf entblößte Pobacken geben und für Selfies posieren, als der Kerl zu mir herüberkommt und sich an meinen Tisch setzt. Einfach so. Kackdreist. Ich habe meinen ersten Stalker!

»Warum kommen Sie denn nicht zu uns herüber?«, will er wissen.

»Warum sollte ich denn?«, gebe ich irritiert zurück.

»Na, wir wohnen ja jetzt ein halbes Jahr zusammen, da sollten wir uns doch kennenlernen, oder nicht?«

Hä? Wie vom Donner gerührt starre ich ihn an. Hier muss ein Missverständnis vorliegen, eindeutig. »Ich glaube, Sie irren sich«, erkläre ich mit einem verkrampften Lächeln.

»Nö«, versetzt der Kerl ungerührt. »Oder kommen Sie doch nicht mit zur Forschungsstation?« Er dreht sich um und winkt die Frau heran.

»Doch, doch, aber … Sie auch?« Meine Stimme klingt wie ein kaputter Keilriemen.

»Na klar!« Der Typ grinst wie ein Honigkuchenpferd und auch die junge Frau pflanzt sich an meinen Tisch.

»’Allo!«

Was passiert hier gerade? Wo sind meine geschätzten Kollegen? Lässt man mich etwa mit zwei Praktikanten überwintern?

»Dr. Hannes Winter mein Name«, stellt sich der Lulatsch vor und reicht mir seine langfingrige Hand. »Und das ist Dr. Justine Denaux. Wir kennen uns schon von den Vorbereitungsveranstaltungen in Bremerhaven und Frankreich, aber da waren Sie ja nicht dabei. Freut mich, Sie endlich kennenzulernen! Ach, eigentlich sollten wir uns duzen, oder? Ich meine, wir sind ja jetzt praktisch eine WG.«

»Ach ja, sind wir das?«, krächze ich und ergreife notgedrungen die Hand, während sich meine eigene wie halbgefrorener Wackelpudding anfühlt. »Die Vorbereitungsveranstaltungen brauchte ich nicht noch einmal mitmachen, weil ich hier schon mehrmals überwintert habe und mich auskenne.«

Kann ich noch umkehren? Behaupten, ich hätte zu Hause den Herd angelassen und wieder zurückfliegen? Mein Forschungsinstitut kann sich auf eine Gardinenpredigt erster Güte gefasst machen, mich hier mit diesen zwei Studenten in der Arktis aussetzen zu wollen! Das muss ich mir mit meiner langjährigen und umfangreichen Berufserfahrung nicht gefallen lassen! Verschnupft rücke ich meine Brille zurecht und verschränke demonstrativ die Arme, nachdem ich auch der jungen Dame die Hand geschüttelt habe.

»Und, in welchem Semester studieren Sie?«, erkundige ich mich und werde gedanklich eins mit meinem geliebten Permafrostboden.

»Semester?«, wiederholt der Lulatsch dümmlich. »Doktor Hannes Winter und Doktor Justine Denaux. Ich weiß ja nicht, wie das bei dir so war – verzeihung, bei Ihnen –, aber wir haben uns erst an unsere Doktorarbeit gesetzt, als wir mit unserem Studium fertig waren.«

Ach ja, richtig. Die Doktortitel. Die habe ich demonstrativ überhört. »Und in welchen Bereichen werden Sie forschen?«

»Meteorologie beziehungsweise Atmosphärenphysik«, erklärt Winter.

»Isch bin die Stationsingenieur«, antwortet Denaux auf Deutsch, aber mit einem holprigen, französischen Akzent.

Na, wenigstens funken die mir dann nicht in meine Arbeit. Vielleicht wird es mir ja doch gelingen, mich abzusondern.

»Ist das Blaubeerkuchen?« Winter schielt gierig auf meinen Teller.

»Ja.« Schützend ziehe ich meinen Kuchenteller zu mir, um ihn vor etwaigen Naschattacken zu bewahren.

»Geil! Blaubeerkuchen für alle!« Winter springt auf und eiert zur Theke. Und lässt sich zwei, drei, vier … fünf Stücke Kuchen geben.

Was zum Geier?

»Haben Sie seit einer Woche nichts gegessen?«, frage ich misstrauisch, als mein zukünftiger Kollege mit dem vollbeladenen Kuchenteller zum Tisch zurückkehrt.

»Doch, klar! Zwei sind für mich, zwei für Justine und noch eins für dich. Äh, Sie.« Er grinst wie ein Flegel und isst das Kuchenstück nicht wie ein zivilisierter Mensch mit der Gabel, sondern nimmt es in die Hand.

Ich werde ihn nicht darauf hinweisen, dass das unschöne Flecken auf dem Norwegerpulli geben kann. Ich werde ihn nicht … »Das kann unschöne Flecken auf dem Norwegerpulli geben.« Ach, verdammt. Warum kann ich nicht einmal meinen Mund halten?

»Die Waffmaffine wurde fon erfunden!«, versetzt Winter kauend und ein kleines Bröckchen Mürbeteig fällt aus seinem Mund.

Ich bekomme einen Schreianfall. Innerlich. Äußerlich sitze ich wie zu Eis erstarrt in diesem Café und warte darauf, dass irgendjemand mich aus diesem Albtraum wachrüttelt, vorzugsweise ein wortkarger Schweizer. Oder ein norwegischer Steinmensch. Aber nichts passiert. Stattdessen beobachte ich wie paralysiert, wie Dr. Hannes Winter seinen Blaubeerkuchen isst. Nein, frisst. Mit fliegenden Krümeln und deutlichen Spuren von Blaubeersaft um seinen Mund. Das Krümelmonster hat dagegen vollendete Tischmanieren.

»So!«, ruft Winter, leckt sich schmatzend die Finger ab und macht Anstalten, sie an seinem Pullover abzuwischen. Als ich schon aufspringen und die schmutzigen Griffel festhalten will, zeigt er damit auf mich und … lacht mich aus. »Reingefallen! Sie haben jetzt echt gedacht, ich wische mir die Hände am Pulli ab, was? Ha ha!«

Ich gebe ein Grummeln von mir und ein kleines Gewitterwölkchen bildet sich über meinem Kopf. Bin ich hier eigentlich bei Verstehen Sie Spaß und man will mich mit diesem Doktorendarsteller hinters Licht führen? Die Französin kichert und reicht Winter eine Serviette.

»Ich bin mal schnell für kleine Grönlandwale«, verkündet er und verschwindet.

Die Toilettentür fällt ins Schloss. Ich beuge mich verschwörerisch zu Fräulein Denaux vor. »Der ist nicht echt, oder?«

Verwirrt glotzt sie mich an. »Wie Sie meinen, nischt escht?«

»Der ist kein richtiger Doktor. Kein Forscher. Da erlaubt sich jemand einen Scherz mit mir.«

Sie runzelt ihre faltenlose Stirn und weicht ein wenig zurück. »Isch verstehe nischt, was Sie meinen.«

»Schon gut, schon gut.« Ich winke eilig ab. Wahrscheinlich gehört sie auch zu den Schauspielern und steckt mit dem heimlichen Kamerateam unter einer Decke.

Winter kehrt zurück. Ich hoffe, er hat sich die Hände gewaschen. »Ich glaube, wir müssen dann schon bald los, oder? Der Check-in in unserem Hotel schließt demnächst.« Er nimmt seinen Rucksack zur Hand. Ein unförmiges, grünliches Ding mit Augen ist daran befestigt.

»Was … ist das?«, frage ich zaghaft.

»Das? Oh, das ist mein Drache. Nur für den Fall, dass wir Weißen Wanderern begegnen.«

»Weiße Wanderer?«, fahre ich auf. »Sie wissen schon, dass wir zu einer renommierten Forschungsstation reisen und nicht ans Filmset von Game of Thrones

»Klar«, erwidert er und senkt verschwörerisch die Stimme. »Aber man weiß ja nie.«

»Und wie ’eißt deine süße Drachö?«, erkundigt sich Denaux.

»Manfred.«

Abrupt bleibe ich stehen. »Okay, es reicht!«, rufe ich. »Ihr könnt rauskommen. Ich hab’s gemerkt. Ha ha ha und so weiter.«

»Geht es Ihnen gut?« Winter hebt zaghaft eine Braue.

»Mir geht’s super!«, rufe ich verzweifelt. »Aber das versteckte Kamerateam kann jetzt rauskommen. Es ist nicht mehr lustig.«

»Hey …« Winter nähert sich einen Schritt und wirkt ernsthaft besorgt. »Hier gibt’s keine versteckte Kamera oder so. Also wenn Sie jetzt schon einen Arktis-Koller kriegen, fängt es ja gut an.«

»Ich habe keinen Koller!«, kreische ich und balle die Fäuste.

O Tante Ingeborg, ich muss dir Abbitte leisten. Denn ich fürchte, dein Geburtstag wäre die bessere Alternative gewesen.

Kapitel 2

Ich habe das Lied vom »Ententanz« im Kopf, als mir meine beiden seltsamen neuen Kollegen den Weg zur Forschungsstation hinterherwatscheln.

Im Flugzeug hat sich Winter leider noch einmal sein Frühstück durch den Kopf gehen lassen und ich wurde allen Ernstes dazu abkommandiert, die Tüte zu halten. Er faselte anschließend davon, dass unser Vertrauen nun gleich ein neues Level erreicht hätte; ich hingegen bin umso motivierter, ihm konsequent aus dem Weg zu gehen. Das schulde ich meiner geistigen Gesundheit!

Das blaugraue, typisch norwegische Häuschen kommt in Sicht. Auf den ersten Blick sieht es wie ein normales Wohnhaus aus, nicht wie eine Forschungsstation. Dahinter erhebt sich ein Panorama aus schneebedeckten Gipfeln wie zum Beispiel dem Zeppelinberg. Zu Hause! Wirklich, ich habe nirgendwo auf der Welt so sehr das Gefühl zu Hause zu sein, wie hier. Nur, dass ich mir hier blöderweise meine Gäste und Mitbewohner nicht aussuchen kann.

»Da Sie ja quasi hier wohnen, erwarte ich eine Führung durchs Haus!«, ruft Winter und schließt zu mir auf.

»Die macht der Dorfhausmeister Bjarne«, grummle ich in meinen nichtvorhandenen Bart. Hoffentlich weist Bjarne ihm die Besenkammer als Zimmer zu.

»Warum so mies gelaunt? Hier ist es doch wunderschön. Es scheint sogar die Sonne!«

»Warten Sie nur ab«, grolle ich. »In drei Wochen werden Sie sich gar nicht mehr daran erinnern, was Sonne ist. Jeder Tag wird hier eine halbe Stunde kürzer, bis es keinen Tag mehr gibt, nur noch eine lange, lange Nacht.« Abrupt bleibe ich stehen und drehe mich zu ihm um. »Bis Mitte Februar. Erst dann gibt es wieder den ersten Sonnenstrahl.« Ich versuche, so unheilvoll wie möglich zu klingen. Vielleicht bekommt er dann im wahrsten Sinne des Wortes kalte Füße und lässt sich gleich wieder mit dem jetzigen Sommerteam ausfliegen. Aber er zuckt nur mit den Schultern.

»Wozu gibt’s Lampen und Kerzen?«

Gargh! Diese Unbekümmertheit macht mich aggressiv. Der weiß doch gar nicht, worauf er sich hier einlässt. Der denkt, das wird ein lustiger Abenteuerurlaub. Er ist dieser Forschungsstation nicht würdig! So, jetzt habe ich es ausgesprochen. In meinen Gedanken. Aber ich schwöre, irgendwann sage ich es auch noch laut. Und dann ist hier Schluss mit lustig. Ha!

Wir betreten das Haus. Meine dicke Brille beschlägt sofort und lässt mich von einer Sekunde auf die andere vom Superhelden zum hilflosen Maulwurf werden. Blind torkele ich in den Flur und stolpere über den Fußabtreter. Jemand packt mich an der Kapuze und reißt mich zurück.

»Danke«, krächze ich halb stranguliert, während meine Sicht so langsam wieder klarer wird.

»Gern geschehen.«

Na klar. Ich hätte mir ja denken müssen, dass es Winter war und nicht die zarte Mademoiselle.

 

»Na hallo auch!«, begrüßt uns ein Mann mit schütterem Haar und freundlichem Lächeln. »Leute, unsere Ablösung ist hier!«

Womit habe ich das verdient? Warum wird mir meine einzige Lebensfreude derart verhagelt? Okay, vielleicht mache ich wirklich zu viel Drama. Die Französin erscheint eigentlich sogar ganz nett und ruhig, und das andere Team reist ja morgen ab. Aber dieser Hannes Winter! Wie ist der denn bitteschön zu einem Doktortitel gekommen? So ein flapsiger, unorganisierter Kerl kann doch niemals im Leben wissenschaftlich arbeiten. Pah! Ich glaube immer noch an einen Scherz. Und ich werde mich für heute nicht mehr aus meinem Zimmer herausbewegen. Außer, ich muss auf die Toilette.

»Was machen wir denn jetzt, Knut?«, frage ich meinen Eisbären aus Plüsch. Wir haben eine enge Beziehung, die hier nicht zur Diskussion steht. »Werfen wir den Kerl deinen Kollegen zum Fraß vor?«

Knut schaut mich an, als wollte er sagen: Krieg dich ein, du Dramaqueen.

Verräter. Aber vielleicht hat er recht. Wenn wir einmal in unsere Arbeit vertieft sind, begegnen wir uns gar nicht mehr so oft. Höchstens hin und wieder in der Küche oder wenn der eine das Badezimmer belegt und der andere mal muss. Nichts wird so heiß gegessen, wie man es kocht. Und vielleicht merkt Winter auch ganz schnell, dass das Leben hier ziemlich hart ist und kein Holiday on Ice für Spaßvögel.Vielleicht kann ich ja sogar ein bisschen nachhelfen …

Plötzlich klopft es an der Tür und ich schrecke mit einem mädchenhaften Kreischen hoch. Habe ich zu laut gedacht? Kommt Winter, um mich zu meucheln?

»Dokteur Klugö?«

Ah, es ist nur die Mademoiselle.

»Dokteur Klugö, sind Sie da?«

Nein, ich bin gerade in die nichtvorhandene Stadt Einkaufen gefahren. »Ja. Was gibt’s?«

»Wir treffen uns in fünf Minütön unten in der Küsche.«

»Warum?«

Ich bekomme keine Antwort. Offenbar hat sie sich schon davongemacht. Was wollen die von mir? Bilder wie aus einem Horrorfilm geistern durch meinen Kopf. Die beiden, wie sie mich in eine Ecke drängen, erstechen und in Salzlake einlegen, um Fleischvorräte für den Winter zu haben. Für den Winter. Im zweideutigen Sinne. Was soll ich tun, Knut?

Du hast eindeutig einen Koller, sagt der Blick meines Plüschtiers deutlich. Der Spaßvogel hat völlig recht.

Na schön, Norbert. Atmen. Beruhigen. Klar denken. Nicht in Panik verfallen. Ich stehe vom Bett auf, richte meinen Scheitel und verlasse mit gestrafften Schultern mein Zimmer. Von unten dringt Musik herauf. Fürchterliche Musik, denn alles, was nach Brahms und Beethoven kam, ist unhörbar. In der Küche erwartet mich eine unheilvolle Versammlung aus dem alten und dem neuen Team.

»Hey, Doktor Grummelgrunz ist hier!«, ruft Winter.

»Wie haben Sie mich gerade genannt?«

»Nichts für ungut.« Winter grinst und fuchtelt mit einer Küchenzange, in der ein labberiges Würstchen klemmt. Sein Haar ist immer noch von seiner Mütze plattgedrückt und ich habe das dringende Bedürfnis, meinen Kamm herauszuholen und ihm einen ordentlichen Scheitel zu ziehen. »Die Party kann beginnen.«

»Party?«, wiederhole ich entsetzt. »Welche Party?«

»Na unsere Übergabeparty. Wir waren in der Mensa und haben denen eine paar Fressalien abgeknöpft. Außerdem waren wir in dem kleinen Laden. Die haben dort sogar Plüsch-Eisbären. Ich hab mir einen gekauft und ihn Reinhold genannt.«

Reinhold. Na klar. Ein anständiger Eisbärenname wäre ja auch zu viel verlangt gewesen. »Kann mal jemand diesen ohrenbetäubenden Lärm ausmachen? Da läuft einem ja der Hirnschmalz aus den Ohren.«

»Was haben Sie gegen Helene?«, fragt Winter und dreht netterweise tatsächlich leiser. »Man kann ihre Lieder so toll für Naturwissenschaftler umdichten.«

»Für Naturwissenschaftler?«

»Ja. Artenlos durch die Nacht. Oder: Nur wer den Wal-Sinn liebt

»Oh, bitte!«

»Moment, einen hab ich noch, extra für Geologen: Erzbeben

Das ist so unfassbar schlecht, dass es fast schon wieder witzig ist, aber ich werde mich hüten, zu lachen. Dass die anderen leise vor sich hinkichern, ist schon schlimm genug.

»Humor ist, wenn man trotzdem lacht«, murmelt Winter und legt die frischgebrühten Würstchen auf einen großen Teller. »Übrigens, wir sollten uns mal einen Plan machen, wer wann kocht.«

»Kochen?« Ich schüttle fassungslos den Kopf. »Warum sollte jemand kochen? Es gibt hier eine hervorragende Auswahl an Dosensuppen, und in der Mensa, aus der sie die Würstchen geraubt haben, gibt es schließlich drei Mahlzeiten täglich. Und einen Supermarkt werden Sie hier vergeblich suchen.«

»Nur drei Mahlzeiten?« Winter verzieht das Gesicht. »Und was ist mit dem zweiten Frühstück, dem Elf-Uhr-Imbiss, dem Vier-Uhr-Tee und dem Nachtmahl?«

»Im Ernst?« Gott im Himmel, ist das ein zu groß geratener Hobbit?

»Nein, nur Spaß.« Winter verdreht die Augen. Warum tut er das? Sucht er sein Gehirn? »Aber ich werde hier ab und an trotzdem Experimente in der Küche machen«, ergänzt er. »Ich koche einfach gern.«

»Wir können dafür ja die Abwasch machen«, schlägt Denaux vor.

»Gut, gebongt.«