cover

 

REBECCA MALY

 

 

Ein Haus am
Kahu River

 

Roman

Illustration

 

 

 

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Inhaltsverzeichnis

Buch und Autorin
Copyright
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
KAPITEL 14
KAPITEL 15
KAPITEL 16
KAPITEL 17
KAPITEL 18
KAPITEL 19
KAPITEL 20
KAPITEL 21
EPILOG

EPILOG

Zwei Wochen später fand das Fest statt, und Adalie würde es den Rest ihres Lebens nicht vergessen. Es war rundum gelungen. Es begann am Morgen mit Maryanns Taufe und setzte sich am Mittag mit der Hochzeit von Giles und Lorangi fort.

Selbst das oft so unbeständige Wetter der Westküste spielte mit.

Adalie stand auf der Veranda und sah von dort auf die Festgesellschaft hinab. Lange Tische reihten sich auf der Wiese. Kinder tollten im hohen Gras umher und ließen sich von Adalies Hund wie eine Herde Schafe zusammentreiben. Dort saßen ihre Schwiegereltern. Johanna hielt Maryann auf dem Schoß und spielte mit ihr. Das weiße Kleid der Kleinen leuchtete gleißend hell in der Sonne. Liam unterhielt sich angeregt mit seinem Jugendfreund Tamati. Giles brachte zum wiederholten Mal einen Trinkspruch aus, den seine neue Familie jubelnd beantwortete.

Als Duncan neben sie auf die Veranda trat, fühlte sie inneren Frieden einkehren. Er stellte eine Karaffe ab, die er im Haus aufgefüllt hatte, und legte Adalie den Arm um die Mitte. Schweigend sahen sie auf ihr kleines Tal hinab. Ihr Traum von Kahu River war wahr geworden.

KAPITEL 1

Neuseeland, Südinsel, Hafen von Timaru,
Oktober 1869

Der Westwind fegte durch den Strandhafer und riss an Adalies Röcken. Sie waren fadenscheinig und häufiger geflickt worden, als sie zählen konnte. Der Mond tauchte die Küste in fahlblaues Licht, passend zur Kälte, die Adalie in jeder Faser ihres Körpers spürte.

Es war nicht die Temperatur, die sie frösteln ließ, sondern das Eis, das ihre Knochen und ihr Herz zu erfüllen schien, seit sie die kleine Farm ihrer Eltern heimlich verlassen hatte. An die Schmerzen bei jedem Schritt und jeder Bewegung hatte sie sich mittlerweile gewöhnt und nahm sie hin.

Das Tuch, in dem ihre wenigen Habseligkeiten eingewickelt waren, wog nicht schwer. Sie hatte es sich über die Schulter geschlungen und empfand den sachten Druck als tröstliche Ermunterung, die sie beständig vorwärtsschob. Nun war sie allein, ganz auf sich gestellt.

Zwei Monate zuvor war schon einmal ein Ó Gradaigh diesen Weg gegangen, um der Hölle auf der elterlichen Farm zu entfliehen. Wenn Adalie an ihren Bruder Patrick dachte, der nun als Seemann die Welt bereiste, kamen ihr die Tränen. Sie verbot sich zu weinen, immerhin war Patrick in eine bessere Zukunft aufgebrochen. Sie sollte sich für ihn freuen, statt ihm nachzutrauern, alles andere war selbstsüchtig. Tief atmete sie die würzige Meeresluft ein, die nach Salz und Freiheit schmeckte, und fühlte sich sofort unbeschwerter.

Sie erinnerte sich an jedes Detail von Patricks Aufbruch vor acht Wochen. Adalie war die Einzige gewesen, die ihn zum Hafen begleitet hatte, während die Mutter geweint und der Vater seine Wut an einem Hackklotz ausgelassen hatte. Ihre Schwestern hatten gar nicht gewusst, dass Patrick gehen würde.

Auf dem ganzen Weg hatte sie sich fest bei ihrem Bruder untergehakt, als könnte sie auf diese Art verhindern, dass er sie tatsächlich verließ. »Kann ich dich denn wirklich nicht umstimmen?«, flehte sie ihn an.

»Nein, es tut mir leid.« Sein Blick ging hinaus auf das stürmische Meer. Beinahe entrückt wirkte er, als müsste sein Körper nur noch folgen, wohin sein Geist längst gegangen war.

»Ich wünschte, du könntest mich mitnehmen. Wir haben doch immer davon geträumt, gemeinsam wegzugehen, Patrick. Erinnerst du dich denn nicht mehr? Die ganzen dreizehn Jahre, seitdem wir in diesem Land sind! Gemeinsam!«

»Adalie, nicht. Du weißt, es war nicht ernst gemeint, nur Kinderträume.«

»Das sagst du mir jetzt? Diese Träume waren das Einzige, was mir die Kraft gegeben hat, nicht aufzugeben. Nimm mich mit! Was soll denn sonst aus mir werden?«

Patrick trat kraftvoll gegen einen Haufen Treibgut, sodass Tang und kleine Stöcke in alle Richtungen flogen. Seine Wut war von stiller Natur, wie immer. Alle Kinder von Manus Ó Gradaigh hatten gelernt, ihre Gefühle zu verbergen, damit der Vater sie nicht bemerkte und einen Grund bekam, unzufrieden mit ihnen zu sein. Unzufriedenheit bedeutete Zorn, und Zorn führte auf sicherem Weg zu einer Tracht Prügel.

»Wie stellst du dir das denn vor, Schwesterchen? Du bist eine Frau. Es gibt keine Seefrauen, nur Seemänner. Du kannst nicht mit. Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen zur See fahren …«

»Das ist so unfair! Dann suchen wir uns eben irgendwo eine kleine Hütte, und du wirst Fischer, dann bist du auch auf dem Meer, und ich kann dir sogar helfen, deinen Fang zu verkaufen. Irgendwann reicht das Geld dann sicher für ein paar Schafe. Ich hüte sie an der Küste und kann von dort aus dein Boot sehen. Wir müssten uns niemals trennen. Wir …«

Patrick blieb stehen, ließ sein Gepäck auf den Boden fallen und fasste sie an den Schultern. »Adalie, nein. Du kommst nicht mit, ich kann das nicht verantworten. Bitte bleib hier. Das Leben geht auch ohne mich weiter. Du schaffst das. Von uns Kindern warst du immer die Stärkste. Ich weiß, es ist feige von mir, einfach abzuhauen, aber ich bin kein Bauer, Schwester. Seit wir vor dreizehn Jahren aus Irland hergekommen sind, träume ich davon, zur See zu fahren. Weißt du noch, wie schön die Überfahrt war?«

Adalie nickte. Ja, das wusste sie. Wie hätte sie die beinahe sorglosen Wochen auf der Strathallan je vergessen können? Für ihre Eltern war es eine Zeit des Wartens gewesen. Es hatte fast nichts zu tun gegeben, und zum allerersten Mal hatten Adalie und Patrick spielen und träumen können. An Deck des großen Seglers hatten sie ganze Tage damit verbracht, zu den Wolken hinaufzusehen und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen.

»Du musst ja nicht mehr lange aushalten, Adalie. Ein, zwei Jahre noch, dann wirst du heiraten und bist endgültig von der Farm weg.«

Adalie funkelte Patrick wütend an. »Damit ich mich von einem anderen Mann verprügeln lassen kann wie Mary und Beth?«

Patrick griff nach ihrem langen Zopf, der schwarz wie die Nacht war, und ließ ihn durch die Hand gleiten. Er wusste nicht, was er antworten sollte, denn ihre Worte entsprachen der Wahrheit. Sie zog ihm den Zopf aus den Fingern.

»Das machst du immer, wenn du weißt, dass ich recht habe, und du nicht weißt, was du sagen sollst.«

»Erwischt«, erwiderte er mit einem kläglichen Lächeln. »Sicher bekommst du einen besseren Kerl als Beth und Mary. Du hast es verdient.«

»Niemand kümmert, was wer verdient hat, Patrick, das weißt du nur zu genau. Ich werde nicht heiraten, niemals, lieber laufe ich weg und schlage mich alleine durch.«

»Adalie, die eiserne Jungfer.«

»Das ist nicht lustig, Patrick.«

Er schluckte. Adalie sah seinen spitzen Adamsapfel auf und ab hüpfen, während er nach den richtigen Worten suchte. Der Wind zerrte an seinem roten Haar, das unter seiner Filzmütze hervorlugte, als wollte er ihn zum Weitergehen drängen. Patrick räusperte sich und sah zu Boden. »Es geht nicht anders, es tut mir leid. Ich muss gehen. Wenn … wenn ich noch länger mit Vater unter einem Dach lebe, versündige ich mich irgendwann.«

Adalie nickte. Schon beim letzten Mal, als Manus Ó Gradaigh seine Frau geschlagen hatte, fehlte nicht viel, und Patrick hätte die Hand gegen seinen Vater erhoben.

Wann immer er konnte, war er da gewesen, um auch Adalie beizustehen. Nun war es damit vorbei. Und doch verstand sie Patrick aus tiefstem Herzen. An seiner Stelle würde sie nicht anders handeln. Aber sie war nicht an seiner Stelle, sondern eine Frau. Als Mann besaß ihr Bruder das Glück, eine Wahl zu haben. Wenn er auf das magere Erbe verzichtete, das Hof und Land darstellten, war er frei zu gehen. Und genau das tat er jetzt.

Einer Frau blieb hingegen nur ein Weg: die Ehe. Beth und Mary, Adalies ältere Schwestern, waren bereits verheiratet. Doch sie waren vom Regen in die Traufe gekommen. Statt von ihrem Vater bezogen sie die Prügel nun von ihren Ehemännern. Beth bekam ein ungewolltes Kind nach dem anderen, und die Bälger sogen ihr das Leben und das letzte bisschen Kraft aus dem Leib.

Nein, das wollte Adalie nicht.

Ihr Vater zögerte, sie zu verheiraten, und darüber war sie froh. Wenngleich er es vor allem deshalb nicht tat, weil ihnen sonst eine wichtige Arbeitskraft verloren ging.

Es gab nur ihn, Mutter, Adalie und ihren Bruder Sammy, der für seine neun Jahre viel zu klein war und ständig kränkelte. Nur deshalb war sie mit neunzehn Jahren noch immer daheim gewesen.

Nun würden sie sehen müssen, wie sie klarkamen. Manus war selber schuld daran, dass seine Tochter heimlich von der Farm floh; um ihre Mutter Lorna und den kleinen Sammy tat es ihr leid. Nun würden die Launen ihres Vaters nur noch auf zwei Menschen treffen. Sammy hatte allerdings wenig zu befürchten, denn seine zarte Gestalt und die ständigen Krankheiten machten ihn auf gewisse Weise unsichtbar für Manus’ Zorn.

»Es tut mir leid, Patrick, du hast dich in mir getäuscht. Ich bin nicht stark. Ich ertrage es nicht länger«, sagte Adalie leise, während sie ihren Schritt beschleunigte.

Sie war barfuß, und der feuchte Sand wisperte unter ihren Tritten. War dort jemand? Sie wandte sich um und musterte den weiten Strand, der im dämmerigen Zwielicht so friedlich dalag. Die Wellen rollten unbeirrt an den Strand und trugen kleine Muscheln und Tang heran. Adalie war ganz allein, trotzdem rannte sie nun. Plötzlich hatte sie Angst, ihr Vater Manus könnte zu früh wach werden, ihr Verschwinden bemerken und sie auf den letzten Metern einholen.

Dann prügelt er mich tot, dachte sie bang.

Obwohl der Untergrund weich war, spürte sie die Erschütterung ihrer Schritte im ganzen Körper. Adalie konnte nur ahnen, wo sie überall Blessuren davongetragen hatte. Ihr Kopf tat am meisten weh. Hoffentlich riss die Platzwunde, die die halbe Nacht geblutet hatte, nicht wieder auf.

Endlich hob sich die Kontur von Timaru aus dem Nachtblau empor, und Adalie hörte auf zu rennen, um nicht unnötig aufzufallen. Die kleine Hafenstadt nördlich der Farm war die einzige Siedlung weit und breit. Wenn Adalies Familie etwas brauchte, was sie nicht selber herstellen konnte, musste sie es hier im Ort kaufen.

Adalie war die Strecke schon oft gegangen, um Besorgungen zu machen oder im Herbst die schlachtreifen Hammel zum Markt zu treiben. Timaru war ein Tor in eine andere Welt, in der es mehr gab als Felder und Schafe und wütende Väter. Je näher sie dem Ort kam, desto leichter wurde es ihr ums Herz.

Seit ihrem Aufbruch war nur die Natur ihr Begleiter gewesen. Das änderte sich nun.

Möwen stiegen schreiend in die Luft, wenn Adalie sie von ihren Schlafplätzen aufschreckte, und segelten im Morgengrauen davon.

Nun war es nicht mehr weit, und ihr Herz klopfte immer schneller. In der Nähe des Ortes lagen kleine Boote am Strand. Aufgespannte Netze bildeten endlose Reihen wie Zäune aus Spinnenseide. Es gab Unterstände und kleine Schuppen, alte, zerbrochene Fässer trieben in der Dünung oder lagen halb versunken im Sand.

Sobald die ersten Häuser auftauchten, ging Adalie langsamer. Es roch nach Holz und Torffeuern und vielen Menschen.

Die meisten Gebäude an der breiten Hauptstraße waren aus Holz. Feste Blockhäuser aus den Gründungsjahren standen gleichberechtigt neben zweistöckigen Bretterbauten und einigen wenigen Steinhäusern, die sich jene errichtet hatten, die zu Wohlstand gekommen waren.

Ein Rudel halbwilder Hunde nahm Reißaus, sobald es Adalie sah. Die überquerte die breite Straße und war froh, dass der gröbste Schlamm in den Fahrrinnen getrocknet war. Im Winter und die meiste Zeit des Frühjahrs versanken Menschen, Kutschen und Vieh beinahe knietief darin.

Nur wenige Leute waren um diese Uhrzeit unterwegs. Bis auf einen einzelnen Reiter bemerkte Adalie auf ihrem Weg niemanden. Erst im Hafen war mehr Leben an den Lagerhäusern und Landungsstegen.

Adalie wurde immer aufgeregter. Sie hatte es bis hierher geschafft, und jetzt war all ihr Mut und ihre gesamte Geschicklichkeit gefragt. Wollte sie es wirklich tun und alleine ihr Glück versuchen wie ihr Bruder?

Der Anblick der abgetakelten Masten, die träge schwankten, machte ihr das Herz schwer und weckte zugleich eine lang unterdrückte Sehnsucht. Eine Windbö gab ihr einen freundlichen Schubs, und sie ging zögernd weiter. Vier Männer standen an einem umgedrehten Fass und spielten Karten. Einer sah ärmlicher aus als der andere. Sie hatten sich die Kappen in den Nacken geschoben und trugen Jacken aus Walkstoff, deren Kragen gegen die Morgenkälte hochgeschlagen waren. Der älteste von ihnen rauchte Pfeife, und er war es auch, der sie zuerst entdeckte und unter buschigen grauen Brauen hervor musterte.

Die vier waren Tagelöhner, die darauf hofften, auf einem der Schiffe Arbeit zu finden. Ihrem Aussehen nach standen die Chancen darauf nicht allzu gut, und der Lohn war mager.

Adalie nahm ihren ganzen Mut zusammen, trat zu ihnen und hoffte nur, dass sie freundlicher waren, als der erste Eindruck vermittelte.

»Guten Morgen, meine Herren.«

»Morgen«, brummte einer, ein anderer tippte sich an die Mütze. Nur der Alte, der sie zuerst bemerkt hatte, lächelte freundlich. Zahllose Falten durchzogen das wettergegerbte Gesicht. »Der Morgen kann nur gut werden, wenn er uns so ein hübsches Mädchen schickt.«

»Ich … ich hoffe, Sie können mir eine Auskunft geben«, bat Adalie unsicher.

»Wenn ich kann, gerne.«

»Ron, du alter Schwerenöter, du bist dran!« Sein Kumpel stieß ihn gegen die Schulter.

»Einen Moment, Miss.«

Adalie wartete, bis er seine Karten aufgenommen und eine abgelegt hatte. Sie wunderte sich, wie die Männer im Zwielicht überhaupt etwas erkennen konnten.

»Also, was möchten Sie wissen?«

»Ich suche ein Schiff, das nach Christchurch fährt. Am besten heute noch.«

Der Alte rieb sich den struppigen Bart, bis die Haare in alle Richtungen standen. »Christchurch, hm. Das Postschiff war gestern hier, vielleicht ein Frachter?« Er sah die anderen Männer fragend an.

»Die Elizabeth, die liegt gleich da vorne.« Der Mann wies den Pier entlang, der sich im nebeligen Grau verlor.

»Elizabeth?«, fragte Adalie aufgeregt. »Und sie geht noch heute?«

Der Mann nickte. »Ich hoffe, du hast für die Passage ordentlich gespart, Kleine. Der alte Burke ist ein gieriger Teufel.«

Adalie lächelte in die Runde. »Danke, vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen. Ich wünsche noch einen guten Tag.« Eilig raffte sie die Röcke und ging in die ihr gewiesene Richtung. Die Holzplanken fühlten sich unter ihren bloßen Füßen glitschig an, und die Feuchtigkeit schimmerte auf den Bohlen. Sie musste sich beeilen. Und wenn sie schon geglaubt hatte, das Gespräch mit den Hafenarbeitern würde sie aufregen, so hämmerte ihr Herz nun so laut in den Ohren wie die Trommeln einer angreifenden Armee.

Sie schwitzte trotz der morgendlichen Kälte und fror zugleich – so etwas brachte nur Krankheit oder große Aufregung zustande.

Geduckt ging sie am Kai entlang. Am liebsten wäre sie gerannt, doch das war zu auffällig, also zwang sie sich zu einem langsameren Tempo und sah sich suchend um.

Die Ruhe war trügerisch. Leise schlugen die Wellen gegen die Mauern, und die Schiffe wogten hin und her wie geheimnisvolle schlafende Kreaturen. Auf einem kleinen Fischerboot hielt ein Hund Wache und starrte sie mit zurückgezogenen Lefzen an, ohne einen Laut von sich zu geben.

Adalie konnte nur hoffen, dass das Schicksal es gut mit ihr meinte und auf der Elizabeth kein tierischer Wächter auf sie wartete. Hinter einigen Fässern, aus denen es scharf nach Trockenfisch stank, ging sie in Deckung und versuchte im zunehmenden Licht der heraufziehenden Morgendämmerung, die Namen der Schiffe zu entziffern.

Sie machte sich keine Mühe mit den kurzen Namen und konzentrierte sich auf die langen. Wie ein E aussah, wusste sie. Doch soweit sie erkennen konnte, lag hier kein Schiff, dessen Name mit diesem Buchstaben begann. Sie verließ ihr Versteck, tat so, als würde sie um diese ungewöhnliche Uhrzeit spazieren gehen, und suchte einen anderen Kai auf. Auch hier nichts. Mit wachsender Panik beschleunigte sie ihre Schritte.

Schon erwachte der Hafen zum Leben, und die Fischer ruderten in Booten hinaus, um den Fang der Nacht aus den Stellnetzen zu holen. Über ihnen kreisten die ewig hungrigen Möwen.

An den Lagerhäusern wurden die Tore geöffnet, Arbeiter fanden sich ein und hielten vor Beginn ihrer Schicht noch einen Schwatz.

Adalie huschte an einem Fischer vorbei, der ein Netz über der Schulter trug, und erwiderte seinen Gruß mit gehetztem Blick, dann fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie hatte die Elizabeth gefunden. Am Rumpf war deutlich ein verschnörkeltes E zu erkennen, gefolgt von einer langen Reihe von Buchstaben. Der Bug des Zweimasters besaß die Farbe von Ochsenblut. Das musste die Elizabeth sein! Wie viele Schiffe, deren Namen mit einem E begannen, sollte es sonst noch in einem derart kleinen Hafen wie dem von Timaru geben?

Adalie war schrecklich erleichtert, dabei kam jetzt erst der wirklich schwierige Teil ihres Vorhabens.

Sie musste ihre Nervosität bekämpfen und sich genug Zeit nehmen, um sicherzugehen. War der Kapitän irgendwo? Oder hatte er womöglich einen Schiffsjungen zurückgelassen, der an Bord schlief? Einen Hund?

Sie wollte nichts dem Zufall überlassen. Mit pochendem Herzen schlenderte sie den Pier entlang. Bis auf einen Austernfischer, der sich seelenruhig sein schwarzes Gefieder putzte, blieb alles verlassen. Jetzt musste sie schnell handeln, solange es noch dunkel genug war.

Eine heraufziehende Nebelbank erschien ihr wie ein Geschenk des Schicksals. Als die feuchte Luft nach und nach Seile, Takelage und ganze Schiffe umschloss, war es so weit.

Adalie sah sich ein letztes Mal um, dann schwang sie ihr Bein über die hölzerne Reling und zog sich auf die andere Seite. Einen schrecklichen Moment lang glaubte sie, den Halt zu verlieren und in den Spalt zwischen Rumpf und Kaimauer zu stürzen, dann war es geschafft, und sie plumpste ungelenk auf das Deck.

Die abgenutzten Bohlen rochen intensiv nach Wachs und Kalfater.

Adalie presste ihr Gesicht auf das nebelfeuchte Holz und harrte kurz aus. Wenn jemand an Bord war, musste er das Poltern gehört haben, mit dem sie auf Deck gefallen war. Da! Eine Bewegung! Sollten sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten?

Adalie unterdrückte einen Schrei, als die Schiffskatze plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte und diabolisch fauchte.

Es war eine gewöhnliche grau gestreifte Katze mit einem weißen Fleck auf der Brust und einem vernarbten Gesicht. Die Spitze des rechten Ohrs fehlte. Alles an dem kleinen Tier sagte, dass mit ihm nicht zu scherzen war.

Zum Glück bin ich keine Katze, dachte Adalie und rappelte sich vorsichtig auf.

Ihr tierisches Gegenüber versperrte ihr mit wedelndem Schwanz den Weg. Doch als sie keine Anstalten machte zurückzuweichen, trollte der Kater sich und begann sein Fell zu putzen, als hätte sich der geheime Passagier plötzlich in Luft aufgelöst.

Jetzt musste Adalie rasch ein geeignetes Versteck finden. An Deck stand nur wenig herum. Bis auf ordentlich zusammengerollte Seile, einige Kisten und Fässer, die vermutlich Trinkwasser enthielten, war es leer. Nicht genug Platz, um sich für ein bis zwei Tage zu verbergen. Geduckt schlich sie weiter und entschied sich schließlich für das kleinere der beiden Beiboote.

Ihre Hände zitterten, während sie die Verschnürung des Wachstuchs löste, mit dem es abgedeckt war. Sie schickte ein kurzes Stoßgebet zum Himmel, schob ihr Bündel ins Boot und stieg dann hinterher. Von innen verschloss sie die Plane wieder und ließ nur ein kleines Stück frei.

Die Ruder drückten ihr in den Rücken. Noch war niemand an Bord, noch hatte sie Zeit, es sich so bequem wie möglich zu machen.

Während sie ihr Gepäck hin und her bugsierte und sich schließlich der Länge nach ausstreckte, fiel die Angst von ihr ab. Sie hatte es geschafft! Sie hatte es tatsächlich an Bord geschafft!

Bald würde sie in Christchurch sein und ihr neues Leben beginnen, fern von ihrem prügelnden Vater und dem bitterarmen Leben auf der Farm. Christchurch lag eine, bei wenig Wind zwei Tagesreisen entfernt die Küste hinauf an der Ostseite der Südinsel. Adalie wusste nicht viel über die Stadt in der Pegasus Bay. Sie war die größte in der Region Canterbury, und die Menschen galten als vergleichsweise wohlhabend. Angeblich lebten so viele Engländer dort, dass man kaum merkte, in Neuseeland zu sein. Das erzählten sich zumindest die Leute. Adalie erinnerte sich nur noch an den Hafen. Dort war ihr Schiff eingelaufen, die Strathallan, mit der sie vor dreizehn Jahren aus Europa gekommen waren. In ihren Erinnerungen mischte sich die Aufregung eines Kindes mit ihren jetzigen Sehnsüchten.

Patrick hatte sie damals die ganze Zeit über an der Hand gehalten und ihr gut zugeredet, während ihr Vater die Formalien geklärt und versucht hatte, einen Pferdewagen für ihre Weiterfahrt zu bekommen.

Diesmal war Adalie auf sich allein gestellt, und Patrick fehlte ihr schon jetzt. Aber sie würde es auch so schaffen. Auch wenn sie seitdem nicht mehr in Christchurch gewesen war, konnte sie sich durchschlagen, davon war sie überzeugt. Für eine junge, anständige Frau gab es dort sicherlich Arbeit, und Christchurch war groß genug, dass sie so leicht niemand finden würde. Adalie klammerte sich an diese Hoffnung. Sie konnte gut mit Kindern umgehen, denn schon früh war von ihr erwartet worden, allein ihren kleinen Bruder Sammy zu versorgen. Hausarbeiten konnte sie auch verrichten, wenngleich sie noch kein Heim vornehmer Leute von innen gesehen hatte. Im schlimmsten Fall würde sie auf den umliegenden Farmen nach Arbeit fragen, das war immer noch besser als ihr bisheriges Leben.

Adalie legte sich auf den Rücken und schob ein Wolltuch unter ihren Kopf. Sie schloss die Augen und spürte dem Schmerz nach, der nun wieder stärker wurde, da ihre Aufregung sich legte. In ihrer Leiste war es am schlimmsten, dort stach es, als stecke ein Messer in ihrem Fleisch. Sie tastete darüber, versuchte festzustellen, was Manus’ Tritte angerichtet hatten, und konnte gerade noch einen Schrei unterdrücken, als sie die falsche Stelle berührte. Ihr Gesicht musste ebenfalls einiges abbekommen haben. Es fühlte sich geschwollen an, die Haut über der Wange roh, als hätte sie sich verbrüht. In ihrem Haar war Blut, trocken, krümelig. Sie wagte nicht, es zu lösen, um keinen Schorf aufzureißen.

»Nie wieder! Nie, nie wieder«, sagte sie leise, aber dennoch wütend. Die Tränen kamen wie von allein, und diesmal kämpfte sie nicht dagegen an.

Wie schnell doch alles gegangen war. Vor zwei Tagen hatte sie noch nicht einmal geahnt, dass sie ihrem bisherigen Dasein entfliehen würde. Ein neues Leben in einer fremden Stadt zu beginnen, war seit Patricks Weggang nichts weiter als ein Traum gewesen. Eine Fantasie, in die sie sich geflüchtet hatte, wenn es daheim allzu unerträglich wurde.

Illustration

Amokura Hills – Einen Tag zuvor

 

Sie hätte längst zu Hause sein sollen. Adalie sah auf. Bis zur Abenddämmerung war es nicht mehr lang. Selbst durch den Regen, der in zähen Schleiern über das Land trieb und alle Konturen verschluckte, war sie spürbar.

Der ohnehin schon graue Tag wurde dunkler, und sie hatte das verlorene Mutterschaf noch immer nicht gefunden.

Die Schuld drückte sie nieder wie die schweren Wolken, die sich über die Hügel der Westküste schoben.

Alles war nass. Der Stoff ihrer Röcke klebte an den Beinen und erschwerte ihre Bewegungen. Jeder Schritt war bleiern, und sie fühlte sich von der stundenlangen Suche ausgelaugt. Die restlichen Schafe der kleinen Herde waren längst im Pferch. Dort hatte sie auch bemerkt, dass eines der besten Tiere fehlte. Das Schaf stand kurz davor zu lammen, und ihr Vater erhoffte sich eine gute Zwillingsgeburt. Er hatte das Tier im Sommer zur Verbesserung seiner Zucht auf Pump gekauft.

Sie musste es finden, am besten bevor Vater bemerkte, dass es fehlte. Wenn es sein musste, würde sie die ganze Nacht hier draußen zubringen.

»Spot! Spot, hier entlang«, rief sie dem Hütehund zu, der ziellos im Zickzack durch die raue Vegetation lief. Er folgte ihrer Handbewegung und änderte die Richtung. Seit drei Jahren gehörte der Hund nun zur Farm, und sie liebte ihn wie kein anderes Tier. Spot und Adalie arbeiteten perfekt zusammen, beinah als wären sie zwei Körper mit einer einzigen Seele. Spot lief tief geduckt, sah kurz zu seiner Herrin und senkte die Schnauze dann wieder zu Boden. Er schien zu wissen, worauf es ankam, oder nicht? Langsam kamen Adalie Zweifel, ob sie überhaupt die richtige Richtung eingeschlagen hatten.

Sie befanden sich mittlerweile im äußersten Süden des Weidegebietes, und Adalie glaubte die Brandung bereits hören zu können. Das verschollene Tier war nie im Leben so weit gelaufen, oder doch?

»Verdammt«, fluchte sie, als sich ihr Kleid in den abgestorbenen Ästen eines Busches verfing und einriss. Sie zerrte das Stoffstück frei und kämpfte sich weiter einen schmalen Pfad entlang, der durch ein Dickicht von Farn und jungen Südbuchen führte. Ein Tropfenschauer nach dem anderen ergoss sich auf Adalie, aber sie gab sich keine Mühe, den nassen Zweigen auszuweichen. Es machte keinen Unterschied, nasser konnte sie nicht mehr werden. Im Gehen zog sie ihren Zopf nach vorn, der ihr bis zur Hüfte reichte, und wrang Wasser aus den schwarzen Flechten.

»Sie sieht aus wie eine Krähe«, sagte ihr Vater immer, denn außer ihr hatten alle in der Familie rotes oder blondes Haar. Adalie kam nach ihrer Großmutter, und nicht nur deren Haar, sondern auch ihre blasse Haut ohne eine einzige Sommersprosse waren ihr Erbe. Selbst die grauen Augen stammten von Lornas Mutter.

Ein Vogelschrei ließ sie aufhorchen. Es war der unverwechselbare Ruf eines Kea.

Sofort schoss ihr die Angst in die Knochen. Den listigen Tieren war alles zuzutrauen. Es waren gefiederte Ausgeburten der Hölle, die stahlen, plünderten und mordeten. Diese Papageien waren der Albtraum eines jeden Schäfers. Sie waren zwar nicht groß genug, um ein Schaf zu töten, das hielt sie aber in mageren Zeiten nicht davon ab, sich sogar an ausgewachsenen Tieren zu vergreifen. Dann rissen sie ihnen die Haut über den Nieren auf, um an das Fett zu gelangen, und die hilflosen Schafe krepierten elendig an den Folgen.

Adalie brauchte nicht lange, bis sie einen Kea entdeckte. Der grün gefiederte Vogel kreiste nicht weit von ihr, und gerade kam ein zweiter angeflogen. Weitere Keas hockten auf Sträuchern und Gesteinsbrocken, die aus dem Grasland aufragten.

Adalies Hoffnung schwand.

Vielleicht haben sie nur die Nachgeburt gefunden oder schlimmstenfalls das Lamm, redete sie sich ein. Als sie losrannte, stürmte Spot bellend an ihr vorbei. Plötzlich grub er alle vier Pfoten in den Boden, schlitterte ein Stück, schaffte es nicht mehr anzuhalten und war im nächsten Augenblick wie vom Erdboden verschluckt.

Adalie lief sofort langsamer. »Spot? Spot!«

Der Wind trug ein Winseln zu ihr.

Die Keas flogen krächzend auf. Adalie kniff die Augen gegen den Regen zusammen, und dann tat sich der Boden mit einem Mal unter ihnen auf. Die Regenfluten hatten den weichen Grund einfach weggerissen. Es musste schon vor einer Weile passiert sein, aber keiner hatte es bislang bemerkt. Schlamm und Geröll bildeten einen rutschigen Hang, der zu einem angeschwollenen Bachlauf führte. Zehn Meter tiefer stand Spot und kläffte.

Wie sollte sie da nur hinunterkommen? Tiefe Fließrinnen hatten den Hang in ein matschiges Labyrinth verwandelt. Selbst die widerstandsfähigsten Pflanzen fanden kaum noch Halt. Baumfarne und Büsche waren mit hinabgespült worden und lagen nun verschüttet unter Erde und Steinen. Wenn sie den Hund erreichen wollte, hatte Adalie keine Wahl. Sie musste es schaffen! Adalie biss die Zähne zusammen, raffte ihren Rock und knotete den nassen, schlammverschmierten Saum zusammen. Der Wind peitschte den Regen nun direkt gegen ihre bloßen Beine, und er war so eisig, dass ihre Haut schmerzte.

»Spot, ich bin gleich da«, rief sie dem winselnden Hund zu, fasste mit beiden Händen in Grasbüschel und tastete mit dem Fuß nach Halt. Sie glitt mit den Zehen durch Schlamm, rutschte, konnte einen Sturz nicht mehr verhindern und schlug mit dem Knie gegen etwas Hartes.

Den Fluch, der ihr auf den Lippen lag, unterdrückend tastete sie die Stelle ab, wo sie so unsanft aufgekommen war, und fühlte die Borke einer Wurzel. Adalie nahm die Chance wahr, hielt sich daran fest und rutschte kontrolliert ein, zwei Schritte tiefer. Schon etwas besser. Große, rund geschliffene Felsbrocken ragten aus dem Matsch. Adalie prüfte jeden genau, bevor sie es wagte, sich daraufzustellen. Zwei Brocken lösten sich, rissen andere mit und polterten hinab. Spot, der seine Herrin ungeduldig erwartete, wich im letzten Moment aus.

Nach einer schier endlosen Kletterei kam Adalie schließlich völlig verdreckt und mit einigen Schürfwunden am Fuß des Hangs an. Der Hund begrüßte sie winselnd und unverletzt und sprang um sie herum. Adalie kniete sich hin, nahm ihn in den Arm und ließ zu, dass er ihr einige Male über das Gesicht leckte. Sein schwarz-weißes Fell war nunmehr braun und genauso dreckig wie sie selbst. Er schüttelte sich und sah sich um, als hätte er etwas gehört.

»Der Herr steh uns bei«, flüsterte Adalie, als sie blutbesudeltes Farnkraut entdeckte. Sie ging den Spuren mit weichen Knien nach.

Dort lag es. Vaters kostbares Zuchtschaf. Die Keas hatten seine Wolle bereits zerrupft. Die Haare bildeten klebrige weiße Nester auf Ästen und Farnwedeln. Dem Tier war nicht mehr zu helfen. Sein Leib war noch immer geschwollen, das Lamm verloren. Adalie untersuchte das Schaf. Der Kopf war angefressen, das Lamm, das nur halb zur Welt gekommen war, ebenfalls.

»Von wegen, sie gebären leicht«, klagte Adalie und dachte an die Versprechungen des Viehhändlers.

Sie wollte nicht darüber nachdenken, wie das Tier den Hang hinuntergestürzt war und sich so stark verletzt hatte, dass es bei der Geburt verendet war. Es war ihre Schuld, denn sie hatte nicht genug achtgegeben.

»Es hilft nichts, Spot. Bringen wir sie heim.«

Adalie löste den Strick, den sie anstelle eines Gürtels benutzte, um ihr Kleid zusammenzuhalten, und band dem toten Schaf damit die Beine aneinander. Dann musste sie das Lamm entfernen. Sie hatte Schafen schon oft bei der Geburt geholfen, doch dieser Anblick setzte ihr zu. Das kleine tote Tier war schon kalt, und die Keas hatten den Kadaver bereits angefressen. Adalie fasste die schmalen Hufe mit einer Hand, drückte auf den Leib des Mutterschafs, und der Rest des Körpers rutschte ohne großen Widerstand heraus. Die Nabelschnur riss und hinterließ eine dünne Blutspur im Matsch.

Genau in diesem Moment begann Spot abermals zu kläffen. Erst glaubte sie, dass er die Keas vertreiben wollte, die Adalie nicht aus den Augen ließen, doch dann sah sie es: ein winziges gesprenkeltes Gesicht, das zwischen Farnblättern hervorlugte.

Ein Lamm! Und es lebte. Das Tierchen zitterte auf seinen dünnen Beinen. Wie sehr musste es bei diesem Wetter frieren. Der Anblick versetzte Adalie einen Stich.

»Gütiger Gott, du armes Wesen!«

Sie sprang auf. Ihre schnelle Bewegung jagte dem Lamm Angst ein. Es versuchte wegzulaufen, verhedderte sich im Farn und fiel hin. Sie hob es auf, und während Spot mit seiner breiten Zunge über den kleinen Kopf leckte, untersuchte sie es auf Verletzungen.

»Du hast Glück gehabt, kleiner Kerl«, sagte Adalie erleichtert. »Die Keas haben dich nicht entdeckt. Du warst schlau und hast dich versteckt.«

Sie entfernte die Reste der Fruchtblase, die noch an ihm klebten, und nahm es in den Arm. Die ganze Zeit über blökte es kläglich.

Adalie wusste sich nicht anders zu helfen und rieb das kleine Tier ab, bis es lebhafter wurde, dann schob sie ihm die Zitze des toten Muttertiers ins Maul. Das Lamm trank nicht und drehte den Kopf weg. Adalie versuchte es noch einmal, wieder ohne Erfolg.

»Nein, nein, tu das nicht. Du musst, hörst du? Sonst überlebst du den Rückweg nicht.«

Wahrscheinlich war die Zitze schon zu kalt. Adalie wärmte sie in der Hand und bemühte sich gleichzeitig, nicht darüber nachzudenken, was sie da tat. Nach einer Weile versuchte sie es noch mal, und endlich, nach einigem Zögern, begann das Lamm zu saugen.

Adalie seufzte erleichtert. »Ja, so ist es richtig. Wenigstens du musst doch überleben. Trink, trink so viel du kannst, der Weg ist weit.«

Spot leckte das Lamm trocken. Schließlich schulterte Adalie das tote Mutterschaf und schob sich das zitternde Lamm unter die Kleidung. Allein der Gedanke an den Rückweg ließ sie schier verzweifeln. Es wurde Nacht, und ihre Last wog unendlich schwer. Wenigstens den Hang musste sie nicht wieder hinauf. Landeinwärts flachte die Böschung ab und verbreiterte sich zu einem Tal. Hier kannte Adalie sich wieder besser aus, aber leicht würde es trotzdem nicht werden.

Adalie brauchte all ihre Kraft, um sich zurück nach Hause zu kämpfen. Sie wusste nicht, wie oft sie auf dem Weg ausrutschte, wie oft sie unter ihrer Last strauchelte und fiel. Ohne Spot hätte sie den Heimweg sicher nicht mehr gefunden. Es war so dunkel, dass sie kaum den Boden vor sich erkennen konnte. Der Hund erschnüffelte die richtige Richtung und blieb immer wieder stehen, um geduldig auf seine Herrin zu warten. Trotzdem dauerte es Stunden.

Als sie schließlich das Licht sah, das aus dem Fenster der kleinen Farm nach draußen fiel, war sie so erschöpft, dass sie keines klaren Gedankens mehr fähig war.

Selbst die Angst, die sie zu Anfang noch empfunden hatte, war einer betäubenden Leere gewichen. Ihr Inneres fühlte sich an wie vollgestopft mit dicker Wolle, während jeder einzelne Muskel schmerzte, als würde er gleich reißen.

Das Einzige, was noch zählte und sie vorwärtstrieb, war das winzige Lamm, das sicher und geborgen an ihrer Brust schlief.

Spot, der die meiste Zeit langsam vor ihr her getrottet war, lief nun bellend voraus und begrüßte Finn, den Hofhund.

Die letzten Meter waren fast zu viel. Adalie schleppte sich den matschigen Pfad am Viehpferch entlang, vorbei an den Schafen und der kleinen Scheune. Das Haupthaus, in dem sich die gesamte Familie drängte, war winzig. Die Wände bestanden aus krummen Stämmen, die nicht mehr zum Verkauf getaugt hatten. Jeden Herbst verbrachten Adalie und ihre Mutter Tage damit, die zugigen Ritzen mit Moos und Erde abzudichten, und doch froren sie den gesamten Winter hindurch. Auch das Dach, gedeckt mit dünnen Holzschindeln, wurde oft undicht. Im Obergeschoss war es unter den schrägen Wänden trotzdem angenehmer, denn dort staute sich die Wärme des Ofens. Ihre Eltern und ihr kleiner Bruder Sammy schliefen dort, während Adalie und früher auch die älteren Geschwister nachts in der winzigen Stube blieben, dem einzigen Raum, aus dem das untere Geschoss bestand. Seit Patrick vor zwei Monaten verschwunden war, waren sie nur noch zu viert. Wie sehr hätte sie seine Unterstützung in diesem Moment gebraucht! Alleine seine Gegenwart würde ihren Vater zur Mäßigung anhalten.

Aber Patrick war fort, hatte sie im Stich gelassen. Sie musste sich ihrem Vater alleine stellen. Es gab keine andere Möglichkeit, denn das Lamm musste dringend versorgt werden. Das kleine Tier regte sich an ihrer Brust, so winzig, zerbrechlich und warm.

»Gleich sind wir da, dann hast du es geschafft«, versprach sie.

In der regnerischen Nacht war das Gebäude kaum zu erkennen, doch sie spürte, dass sie längst entdeckt worden war, und sah eine Bewegung am Fenster.

»Adalie!« Der Schrei ihres Vaters ließ sie zusammenzucken.

»Manus, um Gottes willen, tu dem Kind nichts«, hörte sie drinnen ihre Mutter rufen, als auch schon die Tür des Wohnhauses aufflog und scheppernd gegen die Außenwand krachte.

Ihr Vater war ein Bär von einem Mann, nicht allzu groß, dafür breit in den Schultern und um die Leibesmitte. Adalie hatte ihn mühelos Stämme und massige Holzbalken heben sehen. Das rote Haar auf seinem Kopf wurde dünn, doch sein üppiger Vollbart spross wie eh und je, wenngleich er von immer mehr Grau durchzogen wurde. Die Art, wie er nun breitbeinig in der Tür stand, konnte nur eins bedeuten: Er hatte getrunken und war wütend. Adalies schlimmste Befürchtungen wurden damit wahr.

»Vater, das Schaf ist einen Abhang hinuntergefallen, und ich habe …« Sie hatte gerade genug Zeit, um den Schafskadaver auf den Boden fallen zu lassen, als auch schon die erste Ohrfeige auf ihrer Wange brannte.

»Und warum hast du nicht achtgegeben, du dummes Stück?«

Er bückte sich, fasste dem Schaf in die Wolle und erkannte sofort, dass es sich um eines der neu angeschafften Zuchttiere handelte.

»Es tut mir leid.«

»Es tut dir leid? Es tut dir leid?«, brüllte er, funkelte sie aus seinen kleinen Wieselaugen an und schlug wieder nach ihr. Adalie duckte sich unter dem Schlag hinweg. Sie wusste, das machte ihn noch wütender, aber sie konnte nicht mehr klar denken. Es war die blanke Angst, die sie trieb. Als er sie grob am Arm fasste, damit sie ihm nicht wieder auswich, schrie Adalie auf.

Spot ergriff kläffend Partei. Er hing ebenso an Adalie wie sie an ihm.

Manus Ó Gradaigh trat nach dem Tier, doch es war geschickter darin, auszuweichen, als seine Herrin.

»Vater, Vater nicht! Ich habe ein Lamm«, schrie sie.

Er hielt kurz inne, ohne sie loszulassen. »Wo?«

Adalie zog ihren völlig durchnässten Umhang auseinander, und das kleine Tier hob bibbernd das Köpfchen. Einen Moment lang glaubte sie, das Lamm könnte sie vor Schlimmerem bewahren. »Ich hab es den ganzen Weg gewärmt.«

Ihr Vater spuckte wütend auf den Boden, fasste es an den Vorderläufen und zog es aus Adalies Kleidung.

»Nicht, nicht, was machst du denn da?«

Er hielt das jämmerlich schreiende Tier am ausgestreckten Arm von sich. »Lorna, unnützes Weib, steh nicht nur rum und glotz wie eine Kuh! Komm her!«

Adalies Mutter eilte in den Hof und nahm das Lamm ungleich behutsamer entgegen. Tränen liefen über ihre Wangen, als sie dem verzweifelten Blick ihrer Tochter begegnete. Adalie wusste, dass sie von ihr keine Hilfe erwarten konnte. Ihre Mutter drückte das kleine Tier hilflos an sich, wandte sich ab und ging zurück ins Haus.

In dem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen, und der Regen prasselte auf sie nieder, als hätte Gott beschlossen, die Menschheit abermals mit einer Sintflut zu strafen.

Manus fasste seine Tochter kurzerhand am Zopf und zerrte sie zum Haus. Adalie wehrte sich nicht. Sie hatte keine Chance.

Ihr Blick fiel auf den Schafskadaver, der im Schlamm des Innenhofs lag. Die leer gepickten Augenhöhlen starrten dämonisch zurück.

Adalie stolperte die Schwelle hinauf, stieß gegen ihren Vater, wurde von ihm weitergeschubst und fiel in den einzigen Raum des kleinen Farmhauses.

Ihr Kopf schlug hart auf dem Boden auf. Sie rollte sich zusammen und hob schützend die Hände über den Kopf. Viel ausrichten konnte sie damit nicht, denn Manus fand immer eine ungeschützte Stelle. Ein Tritt traf ihren Arm, der nächste den Bauch. Übelkeit und Schmerz rissen sie davon. Sie krümmte sich keuchend, und schon zwang ein Tritt in den Rücken ihren Körper wieder in die andere Richtung.

»Vater, hör auf«, wimmerte sie, aber Manus Ó Gradaigh war längst nicht mit ihr fertig.

Keuchend stand er neben ihr, starrte auf seine Tochter hinab, bis sie hoffnungsvoll zu ihm aufsah, dann kam der nächste Tritt. Er traf sie unerwartet, ließ die Rippen gefährlich knirschen und trieb ihr die Luft aus der Lunge. Alles wurde schwarz, aber eine erlösende Ohnmacht war ihr nicht vergönnt. Schmerzen durchzuckten Adalies Körper wie brennende Lichtblitze, und schon bald hatte sie einfach keine Kraft mehr, sich zu schützen. Eine Fußspitze bohrte sich in ihre Leiste, und sie zuckte zurück.

»Manus, nein, du bringst sie noch um«, schrie Adalies Mutter.

Schemenhaft nahm sie wahr, wie ihr Vater Lorna zur Seite stieß. »Halt den Mund, oder du bist als Nächste dran!«

»Sie ist dein eigen Fleisch und Blut, versündige dich nicht vor Gott!«

Adalie nutzte die kurze Pause, um zu atmen. Sie hätte nie geglaubt, dass Atmen so anstrengend sein und so wehtun konnte. Jeder Zug ließ sie wieder etwas klarer sehen. Ihre Mutter wurde zur Seite gestoßen und fiel hin. Sie blieb entmutigt liegen und sah flehend zu ihrem Mann auf. Lornas Widerstand war bereits gebrochen, und Manus wandte sich erneut Adalie zu. Als hätte er es nicht mit seiner Tochter, sondern mit einem Gegner in einem brutalen Boxkampf zu tun, trat ihr Manus mit voller Wucht in den nun ungeschützten Bauch.

Der Schmerz war schlimmer als alles zuvor und raste wie eine Welle durch ihren Körper. Sie übergab sich, spie sauren Speichel auf den Boden. Die Schreie ihrer Mutter, ihr Flehen, es endlich gut sein zu lassen, drangen kaum noch zu Adalie durch. Der Schmerz hatte einen dicken Kokon um sie gesponnen, in dem nur noch Qual existierte.

Ihr Geist driftete davon und suchte Zuflucht an einem Ort, an den Manus ihr nicht folgen konnte. Ihr Traum hieß sie mit offenen Armen willkommen. Plötzlich fand sie sich auf einer Wiese wieder, saftig und grün, wie es sie in Amokura Hills nirgendwo gab. Schafe grasten dort, allesamt gesunde, zufriedene Tiere, und in dieser Fantasiewelt gehörten sie ihr. Dann zerschnitten Schmerzen das Bild, und sie wurde aus ihrem Traum herausgerissen.

Manus fasste ihr ins Haar und zerrte ihren Kopf hoch, damit sie ihn ansah. Er war ein Schatten mit stinkendem Schnapsatem. »Na, tust du dir jetzt leid? Hättest besser aufpassen sollen, du dummes Weib. Womit habe ich nur so eine nutzlose Brut verdient? Du bist schuld, wenn ich ruiniert bin, du und deine schwachsinnige Mutter. Ich hätte allein herkommen sollen, allein. Ihr wärt in Irland verreckt ohne mich.«

Feine Speicheltropfen sprühten auf ihr Gesicht, während er sie mit Beleidigungen überschüttete.

Worte verstand sie längst nicht mehr. Es war auch nicht wichtig, denn der Inhalt seiner Tiraden war immer gleich:

Er hasste sich selbst, hasste die Welt und sein Schicksal.

Seit er seinen Fuß auf Neuseelands Boden gesetzt hatte, war nichts, was er getan hatte, mit Erfolg belohnt worden. Das Land war weit schlechter als angepriesen, es gab mehr Steine und Sumpf als guten Boden.

Weder der Getreideanbau noch die Schafzucht wollten gelingen. Manus Ó Gradaigh war ein Mann mit mehr Wünschen als Tatendrang. Er fing jede neue Aufgabe mit Elan an, besaß aber nicht die Geduld, sie bis zum Ende durchzuziehen. Er bereitete ein Feld mühevoll vor und säte dann zu spät ein, er kaufte die besten Zuchtschafe und bekam dann den Stall nicht fertig, bevor sie lammten. Patrick hatte einst gesagt, er sei zu feige, sich seine eigenen Fehler einzugestehen. Deshalb hasste er alles und gab jedem anderen die Schuld an seinem Elend, weil er nicht einsehen wollte, dass er selbst der Schuldige war.

Seine Unzulänglichkeit ertränkte er in Alkohol und wurde damit seiner eigenen Familie zum Fluch.

Manus stieß Adalies Kopf mit aller Kraft auf den Boden. Der Schlag raubte ihr einen Moment lang die Sinne und ließ dumpfe Pein zurück. Dann war es plötzlich still um sie.

»Er ist weg.« Ihre Mutter weinte. »Endlich, endlich. Ich dachte, er hört nie auf. Jetzt wird alles wieder gut.«

Nein, nichts wurde wieder gut, nie wieder. Adalie spürte Lornas schwielige Hand auf der Stirn, die Tränen, die auf ihr Gesicht tropften. Draußen schlug ihr Vater weiter um sich. Es klang, als donnerten seine Fäuste gegen die Scheunenwand, dann jaulte plötzlich der Hund auf.

»Nein, nein, nicht Spot«, würgte Adalie hervor.

»Du kannst deinem Hund nicht helfen, Kind. Sei froh, dass er etwas gefunden hat, woran er seinen Zorn auslassen kann.«

Das jämmerliche Winseln zerriss Adalie das Herz. Sie wollte dazwischengehen, doch als sie sich aufrichtete, wurde ihr schwindelig, und alles drehte sich. Adalie kämpfte gegen die Ohnmacht, doch diese trug den Sieg davon. Diesmal landete sie nicht in ihrer Traumwelt mit der grünen Weide, sondern sie schien rückwärts durch den Boden zu sinken, immer tiefer, bis die Dunkelheit sie gänzlich umschloss.

Illustration