Michael Ende
Erzählung
Hommage à Jorge Luis Borges
Góngora schreibt in seinem Traktat Soledad del Minotauro: »Der unvergleichliche Edelstein, der inmitten einer Wüste liegt, die noch nie eines Menschen Fuß betreten hat und die nach Gottes Ratschluss nie ein solcher betreten wird, ist nicht wirklich. Denn Wirklichkeit kann es nur dort geben, wo wenigstens eines einzigen Menschen Bewusstsein eben diesen Begriff (concetto) gebildet hat. Tiere und Engel kennen weder Wirklichkeit noch Unwirklichkeit, da jene keine Begriffe haben und diese ihrem rein geistigen Wesen nach mit den vollkommenen Begriffen eins sind.«[1]
Wenn ich diesen Gedanken Góngoras richtig verstehe – dass nämlich zur Erfahrung der Wirklichkeit außer dem Nur-Faktischen auch ein erkennendes Bewusstsein gehört, das dieses Faktische erst realisiert, dann ist es wohl nicht allzu gewagt zu folgern, dass also die Beschaffenheit der jeweiligen Wirklichkeit von der Beschaffenheit des jeweiligen Bewusstseins abhängt. Da Letzteres jedoch, wie man weiß, keineswegs bei allen Menschen und in allen Völkern gleich ist, kann man mit Recht annehmen, dass es an verschiedenen Orten der Erde verschiedene Wirklichkeiten gibt, ja dass an ein und demselben Ort durchaus mehrere Wirklichkeiten vorhanden sein können.
Es wäre gewiss höchst verdienstvoll, wenn ein erleuchteter Geist sich einmal der Aufgabe unterziehen wollte, eine Geografie der Wirklichkeiten zu schreiben. Wie viele Missverständnisse könnte ein solches Werk doch aus der Welt schaffen! Vielleicht wird mein nachfolgender Bericht einem solchen zukünftigen Realitäts-Topografen von bescheidenem Nutzen sein. Allein diese Hoffnung ist es, die mir Mut zur Niederschrift gibt.
Wenn ich nun also meine Skrupel unterdrücke und mich an das Unterfangen mache, eine der Wirklichkeiten Roms zu beschreiben – eine einzige nur, nämlich den Korridor des Borromeo Colmi –, so muss ich vorausschicken, dass diese Stadt aus zahllosen autonomen Wirklichkeiten besteht. Niemand war bisher imstande, sie alle zu benennen oder gar zu ordnen. Wie in einem gigantischen Komposthaufen liegen sie über- oder untereinander, durchdringen sich gegenseitig, ohne doch ihre Eigengesetzlichkeit einzubüßen, bedrängen und bekämpfen einander und sind, obgleich aus ganz verschiedenen Zeiten, allesamt in höchstem Maße lebendig. In gewissem Sinne kann man sogar sagen, dass Zeit und Raum in jeder dieser unterschiedlichen Wirklichkeiten eine andere Funktion haben. Nicht selten tauschen sie geradezu ihre Rollen.
Ich gebe zu, dass es mir anfangs nicht geringe Schwierigkeiten bereitete, mich in diesem Labyrinth der Realitäten auch nur halbwegs sicher zu bewegen, ohne ständig von einer Art existenzieller Betäubung überwältigt zu werden. Meine Frau hatte da weniger Schwierigkeiten, zum einen vielleicht, weil Frauen sowieso stärker in ihrer eigenen Wirklichkeit ruhen, zum anderen wohl auch, weil sie als Schauspielerin von Berufs wegen daran gewöhnt ist, die Realitätsebenen zu wechseln.