Lesen was ich will!
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© ivi , ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
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1
Der Phönix beobachtet dich.
Er weiß alles.
2
Maschinen bringen Tod und Leid.
Niemals darfst du sie bauen.
3
Dunkelheit ist dein Feind.
Niemals darfst du dein Dorf bei Nacht verlassen.
Das Gesetz des Phönix hatte keine Bedeutung mehr.
Nicht dass es nicht mehr gegolten hätte – in unserer alten Heimat, dem Dorf Moonvale, in dem wir lebten, bis wir es verlassen und in die Wildnis des Waldes fliehen mussten, hatte es nach wie vor Bestand. Vermutlich lebte man dort noch immer danach, doch für uns hatte die Welt sich verändert. Wir wussten, was sich jenseits der Palisaden befand, mit denen das Dorf sich zu schützen suchte, jenseits des dunklen Waldes und jenseits der Angst.
Wir hatten die Wahrheit erfahren.
Wir wussten, was es mit den Schnittern und mit jenen auf sich hatte, denen sie dienten, wussten, dass alles, was man uns unser ganzes Leben lang erzählt hatte, nur eine Lüge gewesen war, ein Vorwand, der uns davon abhielt, das wahre Wesen der Welt zu erkennen. Und nicht nur die Welt, in der wir lebten, war eine Lüge gewesen – auch der Phönix war nicht das, wofür wir ihn gehalten hatten, kein übernatürliches Wesen, das uns beschützte und bewahrte, so wie es uns stets versichert worden war. Das uns aus dem Dunkel ins Licht geführt hatte und dafür sorgte, dass das Leben in Harmonie und Gleichgewicht blieb, solange wir nur die Regeln und Gesetze befolgten, die uns von unseren Eltern und deren Eltern überliefert worden waren … denn ohne es zu wissen, hatten auch sie uns betrogen.
Unserer Welt und unseres Glaubens beraubt, blickten wir in einen Abgrund. Und da wir nichts mehr zu verlieren hatten, fanden wir den Mut zum Widerstand …
Caleb Sully
Schreiber, Rebellenzelle CNT-4
Sterne.
Callista Brooke liebte sie noch immer.
Auch wenn sie sie inzwischen mit anderen Augen sah.
Früher hatte sie sich stets gefragt, woraus die kleinen Lichter gemacht sein mochten, die das Himmelszelt erhellten – waren es Kerzen oder kleine Laternen? Oder womöglich nur Nadelstiche in einem Mantel, den die Nacht über die Welt breitete, um das Licht des Tages fernzuhalten?
Heute wusste Callista es besser.
Sie hatte gelernt, dass jedes dieser Lichter dort oben eine Sonne war, nicht weniger hell und strahlend als jene, die tagsüber am Himmel stand; dass um jede dieser Sonnen Welten kreisten, Monde und Planeten in einem Universum, das größer war, als sie oder jeder andere begreifen konnte; und dass die Erde, der Himmelskörper, auf dem sie lebten, lediglich ein Staubkorn in diesem unfassbar weiten Kosmos war.
Gleichsam über Nacht war Callistas Welt größer geworden.
Erst ein halbes Jahr war es her, da hatte sie noch geglaubt, dass das Dorf Moonvale und der große Wald ringsum die Grenzen ihrer Welt seien; dass es außer dem Wald und seinen Bewohnern nichts weiter gebe und dass jenseits der schützenden Palisaden des Dorfes nichts als ein grausamer Tod zu finden sei – eine Lüge, wie sie hatte herausfinden müssen.
Eine von vielen Lügen.
Nahezu alles, was Callista geglaubt und was ihr von frühester Kindheit an erzählt worden war, hatte sich als Lüge erwiesen. Als große Täuschung, aufrechterhalten von jenen, die in Wahrheit die Welt beherrschten: den Maschinen.
Und obwohl Callista ihr Leben lang geahnt hatte, dass mehr hinter alldem steckte, dass die Sterne mehr waren als winzige Lichter und dass die Welt jenseits des Waldes nicht endete, hatte die Wahrheit sie dennoch tief erschüttert. Die Erkenntnis, dass sie in einer Welt lebte, die von Krieg gezeichnet war – einem verheerenden Krieg der Maschinen gegen die Menschen, den die Menschen am Ende verloren hatten. Dass es außerhalb der Wälder noch immer Überreste ihrer Städte gab, die Ruinen einstmals mächtiger Metropolen, in denen geisterhafte Schatten hausten. Und schließlich die Erkenntnis, dass der Phönix, an den alle Menschen in Callistas Dorf geglaubt hatten, nicht existierte. Die alten Schriften mochten zwar recht haben, wenn sie behaupteten, dass es der Phönix gewesen war, der der Menschheit den Weg aus der Asche der Vernichtung gewiesen und ihr einen Neuanfang ermöglicht hatte. Was sie jedoch verschwiegen, war die Tatsache, dass der Phönix diese Vernichtung erst heraufbeschworen hatte. Und dass er selbst eine Maschine war – die größte und mächtigste Maschine, die jemals von Menschen gebaut worden war …
All diese Erkenntnisse, all dieses neue Wissen war dazu angetan, Callistas Verstand in seinen Grundfesten zu erschüttern. Doch es gab zwei starke Motive, die sie antrieben, die ihr den Weg wiesen wie ein Licht in dunkler Nebelnacht. Zum einen war es die Liebe zu ihrem jüngeren Bruder Jona und die Verantwortung, die sie für ihn trug, seit ihre Eltern nicht mehr lebten. Und zum anderen ihr Durst nach Rache …
Die Maschinen hatten ihr alles genommen. Nicht nur ihre Heimat und das Bild, das sie sich von ihrer Welt gemacht hatte. Sondern auch ihren Vater und ihre Mutter.
Und Lukan …
An ihn zu denken, war noch immer schmerzhaft. Callista fühlte dann einen Stich im Herzen und eine fürchterliche Leere, ein grenzenloses Bedauern.
Lukan war immer für sie da gewesen, zuerst in Moonvale und später bei ihrer Flucht durch den Wald. Gemeinsam hatten sie die Wahrheit über diese Welt erfahren, hatten Gefahren getrotzt und dem Tod mehrfach ins Auge geblickt, und sie hatten sich geliebt. An vielem, das in ihrem früheren Leben geschehen war, hatte Callista später gezweifelt, nicht aber an ihrer Liebe zu Lukan. Sie war aufrichtig und echt gewesen, und sie hatte Callista Hoffnung und Trost gegeben … bis zu jenem schicksalhaften Tag in Londenton.
Callista hatte nicht gesehen, wie es passiert war. Caleb hatte es ihr erzählt. Er hatte berichtet, wie Lukan den Kampfmaschinen bis zuletzt Widerstand leistete, um den Rückzug seiner Freunde zu decken, und wie ihn zuletzt eine der gleißend roten Feuerlanzen durchbohrte, mit denen die Destrukter um sich schossen. Inzwischen wusste Callista, dass es sich um Strahlen aus gebündeltem Licht handelte, aber dieses Wissen war nutzlos, und auch Lukan half es nicht mehr. Doch sie hatte sich geschworen, dass sein Tod nicht ungerächt bleiben durfte, und daran hatte sie sich gehalten.
Callista fror.
Es war kalt auf dem Felsen. So sternklar die Nacht war, so eisig war sie auch. Eine eisblaue Decke aus harsch gefrorenem Schnee überzog Bäume und Hügel, so weit das Auge reichte. Es sah wunderschön aus, als wäre die Zeit selbst eingefroren, doch Callista wusste nur zu gut, dass dieser Eindruck trog. Aufmerksam lauschte sie dem hässlichen Summen der Malborgs, während sie von ihrem hohen Posten aus die Umgebung des Lagers im Auge behielt.
Ein Feuer gab es nicht, denn der Lichtschein wäre verräterisch gewesen, vom Brandgeruch ganz zu schweigen, den die Sensoren der Malborgs erfassen konnten. Callista schauderte bei dem Gedanken an die fliegenden Sonden, die weder Erbarmen noch Nachsicht kannten. War man außerhalb des Stützpunkts, musste man beständig auf der Hut vor ihnen sein, sogar in der Nacht. Denn die Malborgs der neuesten Baureihe vermochten auch bei Dunkelheit zu sehen.
Callista zählte die Gestalten, die dort unten im Schutz der Felswand schliefen. Sie sah Piter, Zaira und die beiden Boulanger-Zwillinge. Viele, die gegen die Maschinen kämpften, waren Waisen, genau wie Jona und sie. Andere waren im Widerstand zur Welt gekommen und taten das, was bereits ihre Eltern getan hatten, denn der Kampf gegen die Maschinen währte schon lange, länger als zwei Jahrhunderte … Zusammen waren sie die letzten freien Menschen, die noch auf der Welt existierten.
Ein beängstigender Gedanke …
Callista schob ihn beiseite und spähte mit dem Feldstecher auf die andere Seite der Senke, wo Sergeant LeBeauf, der Anführer ihres Trupps, Wache hielt. Ihren Bogen und den Köcher mit den Pfeilen hatte Callista griffbereit neben sich liegen. An die Gewehre, die die meisten Widerstandskämpfer benutzten – natürlich immer vorausgesetzt, sie fanden genügend Munition dafür –, hatte sie sich nie gewöhnen können, ebenso wenig wie an die Bekleidung. Statt der gefleckten, an unzähligen Stellen ausgebesserten Uniformen, die die meisten Widerstandskämpfer trugen und die sie teils von ihren Ahnen geerbt hatten, hatte Callista ihre gewohnte Kleidung beibehalten: einen Waffenrock aus gegerbtem Leder, der ihr bis über die Knie reichte; darunter wollene Unterkleidung, darüber einen Gürtel, an dem neben einem großen Jagdmesser auch kleine Taschen mit allerhand nützlichen Dingen befestigt waren. Ihre Stiefel waren noch immer jene, die sie den weiten Weg aus Moonvale bis hierher getragen hatten, nur dass die Sohlen nun fest beschlagen waren.
Ein fellgefütterter Umhang aus einem seltsamen Material, das keine Nässe durchließ, war Callistas Schutz vor Kälte und Schnee, zusammen mit den Fäustlingen aus gefüttertem Leder und der Kapuze, die sie über dem zu einem Zopf geflochtenen kastanienbraunen Haar trug. Wenn man allerdings stundenlang auf Wache war, nutzte auch wärmende Kleidung wenig, und irgendwann drang die eisige Kälte bis auf die Haut durch. Callista fror am ganzen Körper, dennoch harrte sie aus. Es war ein hartes, entbehrungsreiches Leben, das die Widerstandskämpfer in den Bergen führten, aber Callista beschwerte sich nicht. Denn die Berge und das raue Klima boten zugleich auch Schutz.
Als sie ein Rascheln hinter sich hörte, griff Callista zum Messer und warf sich herum. Aber es war nur Hal, der den Felsen erklommen hatte und sie über den Abbruch hinweg ansah.
Hal Parker, der mit dem Flugzeug am Rand des Großen Waldes abgestürzt war und sich ihnen angeschlossen hatte. [Siehe PHÖNIX, Band 1]
Hal Parker, dem Callista, Caleb und Jona den Kontakt zum Widerstand zu verdanken hatten.
Hal …
»Was tust du hier?«, fragte sie und deutete auf den Mond. »Deine Schicht hat noch nicht begonnen.«
Ein sanftes Lächeln huschte über seine schmalen Züge, die von kurz geschnittenem schwarzem Haar umrahmt wurden. »Ich weiß«, versicherte er ihr. »Aber ich konnte nicht schlafen. Da dachte ich mir, ich löse dich einfach früher ab.«
»Nett von dir, aber das musst du nicht.«
»Ich weiß, dass ich das nicht muss. Aber ich wette, du bist völlig durchgefroren.«
Callista widersprach nicht, sondern rückte zur Seite, worauf Hal den Felsen vollends erklomm. Er trug seine alte Fliegerjacke und einen dicken Wollschal. An seinem Gürtel hing eine Waffe, die Revolver genannt wurde, wie Callista inzwischen wusste. Er vermochte sechs Kugeln zu verschießen, war dabei allerdings sehr viel weniger treffgenau als ihr Bogen und machte infernalischen Lärm.
Hal ließ sich neben ihr auf dem nackten Fels nieder. Gemeinsam spähten sie hinaus in das eisblaue Dunkel.
»Angst?«, fragte Hal nach einer Weile. »Vor morgen, meine ich.«
»Ein wenig«, gab sie offen zu. Sie hatten gemeinsam zu viel durchgestanden, um einander etwas vorzumachen. »Und du?«
»Wozu es leugnen?«, gab er zaghaft zurück. »Du kannst meine Furcht spüren.«
Ja, stimmte Callista in Gedanken zu. Und noch mehr als das …
»Hast du in letzter Zeit geübt?«, fragte Hal wie beiläufig.
Ah, sagte sie sich. Deshalb ist er hier …
»Keine Zeit dazu«, erwiderte sie.
»Die solltest du dir aber nehmen.« Er wandte den Kopf und musterte sie von der Seite. »Du bist eine Determinierte, Callista.«
»Sag das nicht!« Sie schüttelte den Kopf. Das Wort Determinierte weckte Assoziationen. Erinnerungen an eine Vergangenheit, die sie lieber aus dem Gedächtnis gelöscht hätte.
»Dennoch ist es wahr«, beharrte er. »Du solltest mit einem solchen Geschenk nicht leichtfertig umgehen.«
»Geschenk?« Sie blitzte ihn wütend an. »Meine Eltern sind tot wegen dieses Geschenks.«
»Deine Pflegeeltern«, korrigierte er sie. Hal war dabei gewesen, als Callista die Wahrheit über ihre Eltern erfahren hatte – über ihre leiblichen Eltern, die bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Nur Jona und sie hatten überlebt.
»Und?«, fragte sie. »Macht das einen Unterschied?«
»Ich wollte dich nicht verletzen«, versicherte er ihr und hob beschwichtigend die Hände. »Ich finde nur, du solltest deine Fähigkeit nicht einfach in den Wind schlagen …«
»Das tue ich nicht.«
»… sondern daran arbeiten. Womöglich kann sie uns noch von großem Nutzen sein.«
»Wozu?« Callista schnaubte. »Soll ich die Gedanken unseres Feindes lesen? Maschinen haben keine Gedanken, wie du weißt, also ist meine Gabe ziemlich nutzlos. Aber hiermit« – sie griff nach dem Bogen – »kann ich ihnen Schaden zufügen.«
»Du willst Rache«, stellte Hal fest. »Du willst deine Eltern rächen.«
»Und Lukan«, fügte sie hinzu.
Hal verkrampfte sich innerlich. Die Erwähnung des Namens genügte, und plötzlich stand etwas zwischen ihnen, unsichtbar, aber für Callista deutlich wahrzunehmen.
»Lukan hat nichts davon, wenn du dich opferst«, wandte er leise ein.
»Er ist tot«, flüsterte sie.
»Und er starb, damit wir anderen überleben«, fügte Hal hinzu. »Das solltest du niemals vergessen. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber ich glaube, es wäre nicht in seinem Sinn, dass du dein Leben aus blinder Rache wegwirfst.«
»Das habe ich nicht vor. Aber ich will möglichst viele von diesen mechanischen Bastarden zerstören – so wie sie Lukan zerstört haben.«
Hal betrachtete sie prüfend. »Du hast dich verändert, Callista.«
»Ich weiß.« Sie nickte und spürte seine Enttäuschung. »Es tut mir leid«, fügte sie deshalb etwas leiser hinzu. »Aber ich bin nicht mehr das naive Mädchen, das aus Moonvale geflohen ist.«
»Das macht nichts«, meinte er. »Aber du solltest nicht zulassen, dass du dich in deinem Hass und deinem Durst nach Rache verlierst. Du bist etwas Besonderes, Callista.«
Darauf erwiderte sie nichts.
Mit einem Nicken bedankte sie sich dafür, dass er sie früher als vereinbart abgelöst hatte. Dann nahm sie ihren Bogen und die Pfeile und schickte sich an, vom Felsen zu klettern.
Sie wollte sehen, ob sie noch etwas Schlaf bekam, bevor der neue Tag begann. Denn es würde ein anstrengender Tag werden.
Und womöglich würde es ihr letzter sein.
Sie kamen.
Destrukter.
Ein ganzer Trupp.
Noch vor Tagesanbruch hatten Callista und ihre Begleiter das Lager verlassen. Über einen schmalen Wasserlauf, der um diese Jahreszeit gefroren war und sich wie eine Straße durch die gebirgige Landschaft schlängelte, waren sie nach Westen vorgedrungen, wo die rauen Berge in sanfte Hügel übergingen. Dort, bei einem Hohlweg, der wie geschaffen war für einen Überfall, hatten sie Posten bezogen und gewartet, hatten trotz eisiger Kälte ausgeharrt. Und endlich wurde ihre Geduld belohnt.
Späher des Widerstands hatten von einem Gefangenentransport berichtet, der aus den Waldgebieten im Westen kommen sollte, und man hatte beschlossen, diesen Transport anzugreifen und die Gefangenen zu befreien oder es zumindest zu versuchen. Denn wie ein Kampf gegen Destrukter ausging, ließ sich nie vorhersagen.
Man hatte Freiwillige für dieses Kommando gesucht, und Callista hatte sich als eine der ersten gemeldet. Nicht weil das Leben ihr gleichgültig gewesen wäre.
Sondern weil sie Rache wollte.
Angespannt blickte sie durch den Feldstecher.
Es waren vier Destrukter.
Zwei marschierten an der Spitze, drei bildeten die Nachhut. Dazwischen kroch ein seltsames Gefährt über den gefrorenen Boden – eine Kutsche ohne Pferde, deren Aufbau aus gepanzertem Stahl bestand. Die großen Räder, sechs an der Zahl, waren mit metallenen Dornen versehen, sodass sie auf jedem Untergrund Halt fanden. Im Innern des Gefährts befanden sich die Gefangenen, die man aus den umliegenden Dörfern geraubt hatte. Menschen, die noch völlig ahnungslos waren und von der wahren Natur der Welt nichts wussten. In diesem rollenden Gefängnis saßen sie aus zwei Gründen. Entweder weil sie gegen das Gesetz des Phönix verstoßen hatten und nun dafür bestraft wurden. Oder weil sie zu jener kleinen Gruppe zählten, zu der auch Callista gehörte. Sie waren Determinierte – Menschen, die über besondere geistige Fähigkeiten verfügten.
Warum die Maschinen überall in den Dörfern nach solchen Menschen fahndeten, war ein großes Rätsel. Niemand beim Widerstand wusste eine Antwort darauf. Doch sobald jemand Eigenschaften entwickelte, die über das durchschnittliche Maß hinausgingen, hatte der Dorfmeister die Pflicht, dies an den Phönixorden zu melden. Es hieß dann, dass jener Mensch zu Höherem bestimmt und ausersehen sei, dem Phönix in dessen Tempel zu dienen. Dann kam der Graf, der über die Dörfer gebot, um jene Menschen abzuholen. Auch Callista hatte einst ein solches Schicksal gedroht.
Durch den Sucher des Fernglases nahm sie die Destrukter in Augenschein – fast zwei Mannslängen große Ungeheuer aus Metall, die mit ihren dürren Gliedmaßen und ihren kahlen Schädeln an wandelnde Skelette erinnerten. Kein Wunder, dass sie in den Dörfern für Todesboten gehalten wurden, für Ungeheuer, die der Phönix schickte, um die Menschen Demut zu lehren und jene zu strafen, die sich nicht an seine Gesetze hielten. Auch Callista hatte dies geglaubt, und erst später war ihr aufgegangen, wie falsch sie mit dieser Ansicht gelegen hatte.
Und wie richtig zugleich …
Schnitter hatte man diese grässlichen Maschinen bei ihr zu Hause in Moonvale genannt und nicht geahnt, dass es in Wahrheit Automaten waren, darauf programmiert, zu töten und zu zerstören – und die Grafen waren ihre Herren.
Auch dieser Transport wurde von einem Grafen angeführt. Auf einem Pferd sitzend, das nur der Staffage diente, ritt er vor dem Gefängniswagen her, umgeben von seinen Destruktern, die wie die Türme einer unbezwingbaren Festung um ihn aufragten.
Nicht mehr lange, dachte Callista.
Sie waren früh genug eingetroffen, um alles vorzubereiten. Die Beschaffenheit des Geländes legte nahe, dass die Destrukter über den Hohlweg kommen mussten, und das brachte Vorteile. Dennoch grenzte es an Irrsinn, mit nur sieben Kämpfern vier Destrukter angreifen zu wollen. Aber Irrsinn war andererseits auch die Spezialität von Sergeant LeBeauf.
Im Lager des Widerstands gab es nicht wenige, die behaupteten, LeBeauf sei nicht ganz richtig im Kopf und habe den Tod seiner Frau und seiner Kinder durch die Destrukter nie wirklich verwunden. Callista hatte sich dennoch seinem Kommando unterstellt, aus zwei Gründen. Erstens hatte sie schon bei früheren Einsätzen unter ihm gedient und ihn als ebenso entschlossenen wie listenreichen Anführer schätzen gelernt; und zweitens hasste er die Maschinen genauso wie sie.
»Bereithalten!«, flüsterte er.
Callista, die hinter einem umgestürzten Baum kauerte, zog einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. LeBeauf nickte ihr zu. Er mochte an die dreißig Winter alt sein und hatte dunkle Haut, was Callista noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Vielleicht war das ein weiterer Grund, warum sie sich ihm angeschlossen hatte. LeBeauf strahlte Hoffnung aus, denn er ließ erahnen, wie verschieden und vielfältig die Menschheit einmal gewesen war, damals, in der Zeit vor dem Phönix und den Maschinen.
Durch den Feldstecher spähte Callista zur anderen Seite des Hohlwegs hinüber, wo sie Hal und Piter wusste. Zaira war etwas weiter links postiert und dafür zuständig, dem Feind den Fluchtweg abzuschneiden. Die Boulanger-Zwillinge würden das tun, was sie am besten konnten …
Die Destrukter kamen heran.
Callista fiel es schwer, nicht in Panik zu verfallen, als sie die Geräusche der Maschinen hörte – das seelenlose Klirren, das jeden ihrer Schritte begleitete, und das mechanische Kreischen, mit dem sie sich untereinander verständigten. Zwar wusste Callista inzwischen, dass diese Geräusche nicht von Dämonen stammten, doch ihre Furcht saß tief, war beinahe so alt wie sie selbst. Außerdem war ein Destrukter auch dann noch ein furchtbarer Gegner, wenn man wusste, was er war …
Der Graf ritt dem Trupp voraus, unbeirrt und sich seiner Macht in vollem Umfang bewusst. Er war ein Mann in reiferem Alter, groß, beinahe hager. Das graue Haar reichte ihm bis zur Schulter, seine harten Züge und die dunklen Augen verrieten Entschlossenheit. Die Tatsache, dass dieser Mann genauso aussah wie der, dem Caleb und Jona in Moonvale begegnet waren, war nur auf den ersten Blick verwunderlich. Nicht, wenn man die Wahrheit kannte.
Callistas Herz klopfte heftig, als der Graf an ihrem Versteck vorbeiritt. Ihre Kehle schnürte sich zu, Schweiß trat ihr auf die Stirn. Mit aller Kraft ermahnte sie sich zur Ruhe.
Du musst ruhig bleiben, redete sie sich ein.
Du darfst dein Ziel nicht verfehlen.
Sie verlassen sich auf dich …
Der Graf war an ihr vorbei – und die Destrukter in Reichweite. Mit ihren leuchtenden Sensoren blickten sie sich um, wachsam und bereit, alles zu töten, was sich ihnen in den Weg stellte.
»Jetzt!«, erscholl LeBeaufs Befehl, und Callista handelte.
Sich aufzurichten und den Bogen nach vorn zu drücken, war eins. Dann hatte sie die Sehne auch schon am Ohr, zielte und schoss. Der Pfeil schnellte davon, stach in den Hohlweg hinab und fuhr durch das mechanische Auge des einen Destrukters geradewegs in seinen metallenen Kopf.
Dann überstürzten sich die Ereignisse.
Während der getroffene Destrukter einen grässlichen Schrei ausstieß, der keinen Schmerz signalisierte, sondern ein Warnsignal an seine Begleiter war, stampfte der Kampfkoloss zu seiner Linken weiter und stieß gegen das im Schnee verborgene Hindernis. Das Stahlseil spannte sich mit einem flirrenden Geräusch, aber es gab nicht nach. Von der Trägheit seiner eigenen Masse angetrieben, geriet der Destrukter ins Taumeln, fiel nach vorn und stürzte. Gleichzeitig eröffneten Hal und die anderen auf der gegenüberliegenden Seite des Hohlwegs das Feuer.
Schüsse krachten, und ein wahres Inferno brach los. Beißender Pulverdampf stieg auf, durchzuckt von roten Lichtblitzen, als die Destrukter hinter dem Gefängniswagen das Feuer eröffneten. Zwar waren ihre Schüsse ungezielt, weil sie den Feind nicht sehen konnten, doch wo immer ihre Geschosse aus reiner Energie einschlugen, richteten sie furchtbaren Schaden an. Eisbrocken und Erdreich wurden hochgeschleudert und gingen prasselnd nieder, Bäume zerbarsten und fingen Feuer, und plötzlich schrie ein Getroffener gellend auf.
Piter, erkannte Callista, doch ihr blieb keine Zeit, sich um den Kameraden zu kümmern.
»Zum Angriff!«, befahl LeBeauf in diesem Moment – das war das Zeichen für die Zwillinge.
Alain und Jacques Boulanger sahen einander so ähnlich, dass Callista sich gar nicht erst die Mühe machte, sie auseinanderhalten zu wollen. Beide waren nur wenig älter als sie selbst, dabei klein und von schmächtiger Statur, doch wer die beiden unterschätzte, beging einen Fehler. Denn auch sie waren Determinierte, und von den Kräften, die ihnen innewohnten, konnte Callista nur träumen.
Am vorderen Ausgang des Hohlwegs tauchten sie auf, dort, wo der eine Destrukter sich soeben wieder aufrichtete. Sein metallener Artgenosse hatte inzwischen auch noch das andere Auge verloren. Callista hatte zwei Versuche dafür gebraucht, aber dann hatte ihr Pfeil auch den linken Rezeptor der Maschine zerstört. Die Augen waren die Schwachstellen der Destrukter, wie Lukan herausgefunden hatte.
Schreiend wie ein waidwundes Tier, feuerte der beschädigte Kampfkoloss wahllos um sich, bis ihn plötzlich etwas von der Seite her traf. Es war ein Schlag wie von einer unsichtbaren Faust, der ihn ins Straucheln brachte. Auch der andere Destrukter, der sich gerade erst wieder aufgerichtet hatte, schien einen solchen Schlag bekommen zu haben. Ohne es zu wollen, taumelten sie aufeinander zu.
Es schien so, als würden die beiden Todesmaschinen einen bizarren Tanz aufführen. Lärmend krachten sie aufeinander, und sosehr sie sich auch bemühten, vermochten sie sich doch nicht mehr voneinander zu lösen. Da ihre tumben Programmierungen nichts anderes kannten als Gewalt und Zerstörung, feuerten sie aufeinander und besiegelten damit ihr Schicksal. Schwelend und mit durchbohrter Panzerung sanken sie zu Boden, Opfer zweier unscheinbarer junger Männer, die in der Lage waren, kraft ihrer Gedanken metallische Objekte gegenpolig aufzuladen.
Der Graf, der den Trupp angeführt hatte, schrie Befehle in abgehackter Maschinensprache, während sein Pferd immerzu scheute und ihn schließlich abwarf. Callista rannte auf ihn zu, während Hal, LeBeauf und die übrigen sich um die beiden verbliebenen Schnitter kümmerten und aus allen Rohren auf sie feuerten. Zunächst leisteten die Maschinen noch Widerstand, doch als ihre Analyse ergab, dass sie nicht gewinnen konnten, wandten sie sich ihrer Programmierung folgend zur Flucht. Hektisch stampften sie den Hohlweg zurück, wo Zaira sie bereits mit einer Handgranate erwartete.
Die Dinger waren uralt. Manchmal zündeten sie, manchmal nicht, und oft genug explodierten sie in der Hand dessen, der sie werfen wollte. An diesem Tag jedoch hatten die Widerstandskämpfer Glück. Zaira schleuderte den Destruktern das eiförmige Gebilde entgegen, und es detonierte in einem grellen Feuerball, der den einen zerfetzte. Der andere büßte seinen Waffenarm ein, stakste auf dürren Beinen jedoch weiter, bis die Schüsse, die LeBeauf und die anderen ihm hinterherschickten, auch ihn zur Strecke brachten.
Ächzend sank der letzte Kampfkoloss nieder, worauf LeBeauf einen heiseren Siegesschrei ausstieß, in den die anderen mit einfielen. Darin brachen sich die Furcht und die Anspannung der vergangenen Stunden lauthals Bahn.
Callista hatte unterdessen den Grafen erreicht.
Schwer atmend lag er vor ihr auf dem Boden, augenscheinlich unfähig, sich wieder zu erheben. Aus dunklen Augen taxierte er sie und versuchte offenkundig, Rückschlüsse aus ihrem Äußeren zu ziehen. »Ich erkenne, dass du ein Kind des Waldes bist«, begann er, »eine Tochter des Phönix. Ich bin dein Graf und dein Herrscher. Lass nicht zu, dass sie mich …«
»Das lasse ich tatsächlich nicht zu«, fiel Callista ihm hart ins Wort. Dabei zog sie den nächsten Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. »Weil ich es selbst erledigen werde.«
Sie nahm sich noch die Zeit, dem Grafen in die Augen zu blicken und sich zu fragen, ob er in diesem Moment etwas empfinden mochte. »Für dich, Lukan«, sagte sie.
Dann ließ sie los.
Der Pfeil brauchte nur einen Sekundenbruchteil, um die kurze Distanz zu überwinden. Er traf den Grafen genau ins Auge und durchschlug mit furchtbarer Gewalt sein Haupt. Während sein Oberkörper zurückfiel, schlugen Funken und Rauch aus der Wunde, und statt Blut rann ihm eine milchige Flüssigkeit über die Lippen, denn auch er war nur eine Maschine.
Die Erkenntnis, dass es Maschinen gab, die wie Menschen aussahen, war ein weiterer Schock für Callista gewesen. Und man hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Grafen der unterschiedlichen Dörfer mit einem jeweils unterschiedlichen Aussehen auszustatten, wozu auch? Die wenigsten Menschen verließen jemals in ihrem Leben ihr Dorf, geschweige denn den Wald …
In dem Augenblick, als das künstliche Bewusstsein erlosch, blieb der Gefängniswagen stehen. Die Kontrolle war dem Grafen schon zuvor entglitten, und so war der Koloss mit den dornenbeschlagenen Rädern drauf und dran gewesen, sich über die Rückstände der beiden Destrukter zu wälzen, die den Zwillingen zum Opfer gefallen waren. Jetzt verharrte er, und Callista kehrte zu den anderen zurück. Während Zaira und die Zwillinge den Hohlweg sicherten und nach Malborgs Ausschau hielten, kümmerte sich Hal um den verwundeten Piter. Callista und Sergeant LeBeauf machten sich unterdessen daran, die Luke am Heck des Transporters zu öffnen. Mit ihrem Jagdmesser lockerte Callista die Abdeckung, die unterhalb der Luke angebracht war. Daraufhin bückte sich der Sergeant und riss ein Bündel Kabel heraus. Indem er einige von ihnen durchtrennte und dann anders verband als zuvor, löste er einen grellen Funkenregen aus, und die Heckluke des Transporters fiel herab.
»Hallo?«, fragte Callista und warf einen Blick hinein. »Ist da jemand …?«
Es dauerte einen Moment, aber dann kamen sie.
Scheu wie verschreckte Tiere wagten sie sich langsam aus dem Dunkel, abgerissene Gestalten, schwach und ausgemergelt und dem Tod teils näher als dem Leben. »Keine Angst!«, beeilte sich Callista ihnen zu versichern. »Alles ist gut. Ihr seid frei, versteht ihr? Frei …«
Einer nach dem anderen torkelte heraus. Die meisten konnten sich kaum auf den Beinen halten. Mit beiden Händen schirmten sie die Augen gegen das blendend helle Tageslicht ab. Das Glück ihrer Rettung vermochte noch keiner von ihnen zu fassen.
»Zwölf«, zählte Callista. »Und wie es aussieht, sind sie alle misshandelt worden.«
»Verdammt!« Sergeant LeBeauf spuckte auf den Boden. Callista konnte seine Enttäuschung nur zu gut verstehen. Wenn diese Menschen gefoltert worden waren, dann waren sie Ketzer, die gegen das Gesetz des Phönix verstoßen hatten. Sicher würden die meisten von ihnen mit ihnen kommen und sich dem Widerstand anschließen. Aber die Hoffnung, dass Determinierte unter den Gefangenen sein würden, Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die ihnen im Kampf gegen die Maschinen helfen würden, hatte sich jäh zerschlagen.
In diesem Augenblick stieß Hal zu ihnen.
Er sah fürchterlich aus.
Sein Gesicht und seine Hände waren blutverschmiert, und er trug Piter auf den Armen. Der Junge, der erst vor wenigen Wochen seinen fünfzehnten Geburtstag gefeiert hatte, war kreidebleich. Sein Kopf war nach hinten gefallen, leblos hing er in Hals Griff. In seiner Brust steckte das ellenlange Splitterstück eines Baums, das ihn getroffen hatte.
Die Gefährten sahen sich betroffen an.
»Verdammt!«, knurrte LeBeauf noch einmal.
Die Gegner umkreisten einander.
Sorgfältig taxierten sie die Bewegungen des jeweils anderen, versuchten vorauszusehen, was dieser als Nächstes unternehmen würde.
448 war gut darin. Die Handlungen des anderen zu erahnen und entsprechend zu reagieren, war sein Talent, war seine Bestimmung. Dass er jemals etwas anderes getan haben sollte, war für ihn selbst schwer zu glauben und noch schwerer nachzuvollziehen, denn das war vor langer Zeit gewesen.
In einem anderen Leben …
Sein Gegner trug einen Angriff vor. In einem engen Aufwärtsbogen führte 442 die Klinge, doch es fiel 448 nicht schwer, der Attacke auszuweichen. Mit der Linken umfasste er das Handgelenk seines Gegners, während er mit der Rechten selbst zustach. Beinahe mühelos drang sein Messer durch die Deckung. Die Klinge durchstieß den Stoff des hautengen Kampfanzugs und schnitt durch Haut und Muskeln. Blut trat hervor, 442 stöhnte auf. Ihm die eigene Waffe zu entwinden und ihn mit einem Schulterwurf auf den harten Boden zu befördern, stellte keine Schwierigkeit mehr dar. Einen Herzschlag später war 448 über seinem verwundeten Gegner und presste ihm sein Messer an die Kehle, bereit, den tödlichen Schnitt zu führen …
»Ich denke, das genügt, 448«, sagte die Stimme des Insistors in diesem Moment.
448 gehorchte ohne Zögern.
Zwar pumpte noch immer Adrenalin in wilden Stößen durch seinen Körper, doch seine Ausbildung hatte ihn gelehrt, dass den Anweisungen seines Meisters unbedingt Folge zu leisten war.
Oder die Folgen werden schmerzhaft sein …
Sofort erhob sich 448, schob das Messer in das Futteral am Gürtel zurück und nahm Haltung an.
Auch 442 kam wieder auf die Beine, allerdings bedeutend langsamer, das Gesicht schmerzverzerrt und die Hand auf die blutende Wunde unterhalb der Rippen gepresst.
»Schmerzen, 442?«, erkundigte sich der Insistor. Sein Gesicht war nicht zu sehen, denn der weiße Helm mit dem schmalen Sehschlitz bedeckte wie immer seine Züge. Zu Beginn hatte sich 448 noch manchmal die Frage gestellt, ob sich ein Mensch oder eine Maschine darunter befinden mochte. Inzwischen war er zu der Überzeugung gelangt, dass dies keine Rolle spielte …
»Ich habe dich etwas gefragt, 442.«
Der Befragte nickte krampfhaft, die Zähne fest zusammengebissen, um sich selbst am Schreien zu hindern.
»Das ist gut«, sagte der Insistor. »Durch den Schmerz wirst du lernen, das nächste Mal achtsamer zu sein. 448 hat dir eine Lehrstunde erteilt. Dafür solltest du dich bei ihm bedanken.«
442 widersprach nicht. Seinen Schmerzen zum Trotz wandte er sich seinem überlegenen Gegner zu und verbeugte sich, so gut er es noch vermochte. »Danke, 448«, stieß er zähneknirschend hervor. »Dein Sieg ist mir ein Ansporn.«
448 nickte, dann wandte der andere sich ab und schlich aus dem Trainingsraum, dessen Beleuchtung kalt war und grell. Die Wände waren verspiegelt, sodass die Kämpfenden sich von allen Seiten sehen konnten.
»Du erstaunst mich immer wieder, 448«, ergriff der Insistor das Wort, während er seinen Schützling langsam umkreiste. »Noch vor wenigen Monaten warst du nichts als ein hergelaufener Rumtreiber. Und nun sieh dich an!« Er deutete auf die Wände, in denen sich die muskulöse, athletische Gestalt von 448 von allen Seiten spiegelte. »Aus dir ist ein vollendeter Soldat geworden, ein nützliches Werkzeug in den Diensten des Phönix.«
»Nichts anderes will ich sein«, schnarrte 448.
»Ich weiß. Um ehrlich zu sein, habe ich es vom ersten Moment unserer Begegnung an gewusst. Weißt du noch?«
448 nickte. Er erinnerte sich, wenn auch nur verschwommen. Alles, was seither geschehen war – seine Ausbildung zum Soldaten, sein Training in den Hallen des Tempels –, nahm einen sehr viel breiteren Raum in seinen Erinnerungen ein. Aber er wusste noch, wie er erwacht war. In der festen Überzeugung, nicht mehr am Leben zu sein, hatte er die Augen aufgeschlagen und war in einem neuen Leben aufgewacht. In einem Leben, wie er es sich früher um keinen Preis erträumt hätte.
»Weißt du noch, was ich dir damals versprochen habe, 448?«, erkundigte sich der Insistor.
448 nickte. »Die Wahrheit«, erwiderte er. »Ihr habt mir die Wahrheit versprochen.«
»Und? Habe ich dich enttäuscht?«
448 schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, Meister. Wann immer ich Fragen hatte, habt Ihr mir Antwort gegeben.«
»Weil ich glaube, dass die Wahrheit die stärkste aller Waffen ist«, bestätigte der Insistor. 448 hatte den Eindruck, dass das Gesicht unter dem Helm lächelte, aber das mochte eine Täuschung sein. »Und deshalb möchte ich dir auch heute die Wahrheit eröffnen, denn ich weiß, dass ich dir vertrauen kann.«
»Meine Treue gehört dem Phönix, Meister«, erwiderte 448 reflexhaft. Wer sein Meister war, wusste er nicht. Weder kannte er dessen Namen, noch hatte er jemals das Gesicht unter der Maske gesehen. Aber er hatte längst damit aufgehört, nach Dingen wie diesen zu fragen. In der Welt des Phönix kam es nicht darauf an, warum die Dinge so waren, wie sie waren. Sondern nur darauf, ob sie funktionierten. Anfangs war es ihm schwergefallen, diese einfache Wahrheit zu akzeptieren, doch inzwischen hatte er sie durch und durch verinnerlicht.
»Ich weiß, 448«, versicherte der Meister und umkreiste ihn einmal mehr, bevor er weitersprach. »Aus diesem Grund sehe ich uns noch längst nicht am Ende unserer Möglichkeiten.«
»Meister?«
»Deine Ausbildung ist nahezu abgeschlossen, 448. Nur noch wenige Prüfungen warten auf dich, dann wirst du ein vollwertiger Troyaner des Phönix sein, einer der besten, die diese Abteilung jemals hervorgebracht hat.«
»Danke, Meister!«
»Die meisten Operatoren haben dieses Programm als Verschwendung bezeichnet. Sie haben behauptet, dass ein den Menschen nachempfundener Maschinenmensch einem menschlichen Agenten in jeder Hinsicht überlegen sei, doch ich kenne die Menschen besser. Jemandem von ihrer eigenen Art werden sie stets mehr vertrauen als einem Replikat. Den Grund dafür vermögen sie wohl selbst nicht zu benennen, es ist in ihrem Innersten verankert, ein tiefes Misstrauen gegen alles, was nicht menschlich ist. Doch du, 448, bist durch und durch Mensch und stehst dennoch auf der richtigen Seite. Schon bald wirst du zu einer Mission entsandt, von deren Gelingen sehr viel abhängen wird, nicht nur für dich selbst, sondern auch für mich. Ich gehe davon aus, dass sie mir den Posten eines Operators eintragen wird, auf dem ich noch wirkungsvoller und erfolgreicher für die Verwirklichung unseres hohen Ziels arbeiten kann. Fühlst du dich dieser Herausforderung gewachsen?«
»Ja, Meister«, versicherte 448 ohne Zögern.
Der Insistor trat dicht vor ihn, und die Augen hinter dem schmalen Sehschlitz musterten ihn mit ebenso ruhigem wie intensivem Blick.
»Ich bin stolz auf dich, 448«, sagte er leise und mit einem Tonfall, der etwas tief im Innern von 448 berührte. Eine Empfindung, die er vermeintlich hinter sich gelassen hatte, eine Erinnerung an einen alten Lehrer …
Das wettergegerbte Gesicht eines etwa Fünfzigjährigen tauchte für einen Moment vor seinem inneren Auge auf. Bart und Haar des Mannes waren bereits angegraut, und er trug grüne Jagdkleidung. Sein Blick war stechend, die Nase glich dem Schnabel eines Raubvogels … Doch schon im nächsten Moment war das Bild wieder verschwunden. Zurück blieb nur die Empfindung, losgerissen wie ein Blatt vom Baum und vom Wind davongeweht.
»Auch ich bin stolz, Meister«, erwiderte 448 und straffte die breite Brust. »Stolz, auserwählt zu sein und dem Phönix dienen zu dürfen.«
»Ich weiß.« Der Insistor nickte, sichtlich zufrieden damit, was er innerhalb des vergangenen halben Jahres erreicht hatte. Der junge Mann, den er auf dem Schlachtfeld von Londenton mehr tot als lebendig aufgefunden hatte, war praktisch nicht mehr wiederzuerkennen – genauso, wie das Programm zur Umerziehung und Einflussnahme es vorsah. »Nichts anderes, mein junger Freund«, erklärte der Insistor gönnerhaft, »habe ich von dir erwartet.«
Erst am Abend des darauffolgenden Tages kehrten sie in die Basis zurück.
Da der Boden gefroren war, hatten sie Piters Leichnam unter Steinen begraben, denn die Ratnags sollten ihn nicht bekommen. Zaira hatte ein Lied gesungen, das sie aus ihrer südlichen Heimat kannte, und Hal hatte einige Worte gesprochen.
Dann waren sie aufgebrochen.
Obwohl sie einen Sieg errungen hatten, war keinem von ihnen nach Jubel zumute. Zwar hatten sie vier Destrukter und einen Grafen erledigt und zwölf Menschen aus der Hand der Maschinen befreit. Doch das eigentliche Ziel ihrer Mission – neue Determinierte für den Widerstand zu rekrutieren – hatten sie verfehlt. Und der Preis war hoch gewesen.
So viele hatten im Kampf gegen die Maschinen bereits ihr Leben gelassen.
Zuerst Callistas Eltern.
Dann Lukan.
Jetzt Piter.
Die Liste wird länger …
Die Basis, die der Widerstand in den Bergen von Arden unterhielt und die Callista und ihren Kameraden als Zuflucht diente, ging noch auf die Zeit vor dem Krieg zurück. In den Stollen und Schächten, die sich bis tief ins Berginnere erstreckten, war in alter Zeit Erz abgebaut worden. Und da aus jenen Tagen keine Aufzeichnungen zu existieren schienen, waren sie in Vergessenheit geraten, bis die Kämpfer des Widerstands sie als Schlupfwinkel entdeckt hatten.
Wie groß das alte Bergwerk tatsächlich war und wie tief die Stollen hinabreichten, wusste Callista nicht. Sie vermutete aber, dass außer den rund hundertfünfzig Männern, Frauen und Kindern, die zur Vierten Kontinentalen Widerstandszelle gehörten, noch weitaus mehr in den Tunneln und Gewölben Platz gefunden hätten. Eins der größten Problem war die Nahrungsbeschaffung für so viele Menschen, denn der strenge Winter hatte dafür gesorgt, dass die Rationen mehrfach hatten gekürzt werden müssen.
Die Basis besaß zwei Zugänge, einen nach Osten, der in ein schmales Tal mündete, und einen weiteren nach Südwesten. Letzterer war das Haupttor der Basis, das bei Tag und Nacht von einem Dutzend schwer bewaffneter Posten bewacht wurde. Durch diese Pforte kehrte der Trupp von Sergeant LeBeauf zurück. Der zuständige Deckoffizier nahm sich der Gefangenen an, die man zunächst mit Kleidung und – soweit die Vorräte es zuließen – auch mit Nahrung versorgen würde. Und mit der Wahrheit.
Callista wusste aus eigener Erfahrung, was es bedeutete, die wahre Natur der Welt zu entdecken. Natürlich wäre es ein Schock, aber da die meisten der Gefangenen der Ketzerei bezichtigt worden waren, hatten sie wahrscheinlich ohnehin schon einiges hinterfragt, genau wie Callista damals. Von der wahren Dimension der Täuschung jedoch hatten sie sich ganz bestimmt keine Vorstellung gemacht.
Während LeBeauf und Hal den Kommandanten aufsuchten, um Rapport zu erstatten und von Piters Tod zu berichten, durften Zaira, die Zwillinge und Callista ihre Quartiere aufsuchen, um sich auszuruhen. Callista war dankbar dafür. Sie sehnte sich danach, nach eisig kalten Nächten im Wald endlich wieder auf ihrer Pritsche zu schlafen und nicht ständig fürchten zu müssen, von einem Malborg entdeckt zu werden.
Und sie freute sich auf das Wiedersehen mit Jona.
Um in den Stollen Material zu transportieren oder sich rasch fortzubewegen, benutzten die Widerstandskämpfer Minenloren, uralte rostige Gefährte, die auf nicht weniger rostigen Schienen liefen und in denen einst das abgebaute Eisenerz transportiert worden war. Bergab fuhren sie von allein, zurück wurden sie von Pferden gezogen, die man eigens zu diesem Zweck ausgebildet hatte. Um zu den tiefer gelegenen Sohlen zu gelangen, in denen sich auch die Quartiere befanden, benutzte man Weidenkörbe, die so groß waren, dass man aufrecht darin stehen konnte. An einem Seilzug, der über Rollen lief, konnte man damit aufwärts- oder abwärtsfahren. Callista stieg in einen der Körbe und ließ sich selbst hinab.
Je tiefer sie gelangte, desto dunkler wurde es. Elektrizität, jene geheimnisvolle unsichtbare Kraft, die einst die menschliche Zivilisation angetrieben und ihr Licht und Wärme gespendet hatte, stand kaum zur Verfügung. Zwar gab es im Widerstand Gelehrte, die wussten, wie sich diese spezielle Form von Energie gewinnen ließ, doch war dies kaum möglich, ohne die Aufmerksamkeit der Maschinen auf sich zu ziehen. Also wurden die Stollen, die zu den Quartieren führten, nur von Talglichtern und blakenden Fackeln erhellt, und beständig lag Brandgeruch in der Luft. Auch gab es keine Fenster, die sich öffnen ließen, sodass die Luft unter Tage abgestanden und stickig war.
Jeweils vier Personen teilten sich eine Unterkunft, die aus wenig mehr als zwei grob gezimmerten Stockbetten bestand. Trotzdem freute sich Callista, wieder hier zu sein. Zwar hing sie nicht sonderlich an den dunklen Gängen und feuchten Wänden, umso mehr aber an den Menschen, die darin lebten.
»Cally!«
Sie hatte die aus morschem Holz gezimmerte Tür zu ihrem Quartier noch nicht ganz geöffnet, als Jona ihr bereits entgegenstürmte. Er war größer geworden seit der Flucht von der Insel, und sein Haar war leicht nachgedunkelt. Geblieben aber war das Strahlen seiner blauen Augen, wenn er sie ansah. Bisweilen – wenn auch nicht mehr ganz so oft wie früher – bekam er noch seine Anfälle. Sie hatten ihm in Moonvale das Misstrauen des Tempelmeisters eingetragen und dazu geführt, dass alles so gekommen war …
Erst vor zwei Wochen hatten sie seinen elften Geburtstag gefeiert. Obwohl Callista bezweifelte, dass dies Jonas tatsächliches Geburtsdatum war, hatte sie die Tradition beibehalten. Trotz aller Veränderungen, die über sie hereingebrochen waren, mussten einige Rituale bestehen bleiben.
»Ist schon gut, Kleiner«, murmelte sie, während er sich so fest an sie presste, als wollte er sie niemals wieder loslassen. »Es ist alles gut, in Ordnung? Ich bin wieder da.«
»Und gehst du auch nicht mehr fort?« Er sah zu ihr auf, und Tränen rannen ihm über die sommersprossigen Wangen.
»Vorerst nicht«, versprach sie.
»Hallo, Callista!«
Aus der unteren Etage des linken Stockbetts tauchte ein blasses Gesicht auf. Es war jung, jedoch von Entbehrung gezeichnet. Sanfte braune Augen blickten Callista an.
»Hallo, Caleb!«, erwiderte sie und lächelte. »Danke, dass du auf den Knirps aufgepasst hast!«
»Bin kein Knirps mehr!«, protestierte Jona entrüstet.
»Ich weiß.« Sie fuhr ihm versöhnlich durchs Haar.
»Gern geschehen.« Caleb Lewis erhob sich. Er hatte Gewicht verloren, und von dem Bäuchlein, das er sich als Novize des Phönixordens angefuttert hatte, war nichts mehr übrig. Auch die Tonsur auf seinem Kopf war verschwunden. Kurz geschnittenes, rötlich blondes Haar bedeckte jetzt sein Haupt.