Buchbeschreibung:

Der junge quirlige Sonnenengel Aurora reist mit einer wichtigen Mission zur Rettung der Erde von Hawaii nach Europa. Viele Abenteuer hat Aurora hierbei zu bestehen und lernt auf humorvolle Art die Welt außerhalb der Lavaströme kennen.

Wird es Aurora gelingen, mit ihren Freunden Mutter Erde zu retten?

Über die Autorin:

Diana Dörr, geboren 1970, ist Heilpraktikerin mit eigener Praxis in Bad Homburg.

2011 veröffentlichte sie ihren ersten Roman mit dem Titel "Der Steg nach Tatarka" beim Paracelsus Verlag in Salzburg/ Österreich.

Die Autorin vereint durch ihre Bücher ihre Verbundenheit mit der Natur mit ihren beruflichen Interessen, der Heilung von Menschen und Mutter Erde.

Mehr über die Autorin erfahren Sie hier:

www.dianadoerr.de

Weitere Bücher der Autorin:

Der Steg nach Tatarka

Aurora und der Wächter des Wassers

Erdheilung kinderleicht gemacht

Auroras Heilquellenführer

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

3. überarbeitete Auflage 2019

© 2019 Diana Dörr - alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Donna Dean

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH,
Norderstedt

© 1. Auflage 2012 Diana Dörr

ISBN 9783749412303

Für Mutter Erde

Inhaltsverzeichnis

Im Zwergenreich

Lautlos ging die große Sonne hinter dem alten Steinbruch unter und färbte die steilen Vulkanfelsen für kurze Zeit in ein ganz besonderes Rot, als wollte sie die Farbe der Lava, die vor 15 Millionen Jahren aus dem Vulkanschlot herausgeschleudert worden war, noch einmal zeigen. Dann schien es, als nähme der Sonnenuntergang alles Licht und Leben mit sich und ließe nur Dunkelheit und Stille zurück. Doch so verlassen, wie dieser Ort nun wirkte, war er in Wirklichkeit nicht. Kaum war der letzte sichtbare Sonnenstrahl verglüht, erwachte der Steinbruch Michelnau plötzlich zum Leben. Als hätten seine Bewohner nur auf diesen Moment gewartet.

Der kleine gelbe Sonnenengel, der von einem behauenen roten Tuffstein am Rand des Abhangs aus das Untergehen der großen Sonne beobachtet hatte, vernahm in seiner Nähe ein Rascheln und Wispern. Was war das? Angestrengt spähte er durch die Dunkelheit und versuchte etwas zu erkennen. Doch die Schatten bewegten sich nicht.

Hier musste der Zwerg wohnen, von dem ihm seine Familie vor vielen Jahren erzählt hatte. Der alte weise Zwerg, der die Kräfte der Natur in Ausgleich zu bringen versuchte. Doch wo war er nur?

Schon wieder raschelte es neben dem Stein des Sonnenengels, doch es war nichts zu sehen.

»Erasmus? Bist du hier, Erasmus?«, rief der Sonnenengel in die Dunkelheit. »Ist hier jemand, der mir sagen kann, wo ich den Zwerg Erasmus finde?«

Plötzlich erfüllte ein Schimmern den Steinbruch.

Aus der Dunkelheit tauchte ein Zwerg auf, der einen weiten rosafarbenen Wollmantel und eine cremefarbene Filzhose trug.

Seine langen weißen Haare und sein ebenso langer Bart leuchteten so mystisch wie das Licht des vollen Mondes.

»Suchst du mich?«

»Ich suche Erasmus, den weisen Zwerg.«

»Das bin ich. Und wer bist du?«

»Aurora. Aurora, der Sonnenengel aus Hawaii.«

»Und wie kommst du hierher? Was macht ein Sonnenengel aus Hawaii hier in Michelnau am Rande des Vogelsberges?"

»Man hat mir von dir erzählt. Es heißt, dass du dich mit den Elementen auskennst, sie zu beruhigen verstehst.«

»Das erzählt man sich über mich?«

»Ja. Und noch viel mehr.« Aurora machte eine nachdenkliche Pause und musterte die silberne Spiralkette, die Erasmus um den Hals trug, bevor sie weiter sprach. »Ich kenne mich nur mit dem Feuer aus. Ich habe die Vulkane studiert, die Sonne beobachtet und die Lavaströme bereist. Aber es ist so viel mehr im Ungleichgewicht.«

»Das ist bedeutend mehr, als die Menschen zu verstehen bereit sind«, sagte Erasmus.

»Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche. Die Zukunft der Menschen steht auf dem Spiel.« Kaum wahrnehmbar zuckte Erasmus’ rechte Augenbraue, während Aurora hastig weiter sprach. »Nicht nur das Leben der Menschen ist in Gefahr. Ich weiß, dass du mir helfen kannst.«

Erasmus antwortete nicht darauf, sondern deutete auf einen Zwerg, der sich ihnen näherte. Der Zwerg trug einen tannengrünen Mantel und seine Mütze leuchtete in den Farben des Herbstlaubes.

»Das ist Waldemar, der Waldzwerg. Er lebt hier seit vielen hundert Jahren und kann dir weiterhelfen.«

Aurora sah Erasmus erstaunt an. Konnte er ihre Gedanken lesen?

Wie viel sie doch von diesem Ort wissen wollte.

Sie wusste nur nicht, wo sie beginnen sollte. Sie wollte so viel mehr erfahren, von dem Steinbruch, den Menschen, die hier tagsüber den Ort bevölkert hatten, den Naturwesen, die hier lebten, doch noch mehr von dem Vulkan, der unter dem Steinbruch lauerte. Ja lauerte. Denn tot war der Lavaschlot nicht, wie es die Menschen glaubten. Aurora spürte das Leben, das hier tief im Inneren der Erde noch immer pulsierte und sich von dort in der gesamten Region ausbreitete.

Doch sie kam nicht dazu, ihre Fragen zu stellen, Waldemar begann bereits zu sprechen.

»Dort gibt es eine Menschensiedlung«, sagte er und zeigte dabei nach Osten. »Doch die Menschen, die dort leben, ahnen nichts von uns. Sie sehen uns nicht, selbst die Kinder beachten uns nicht.«

Aurora bemerkte den traurigen Glanz in Waldemars grünen Augen.

»Sie haben uns vergessen. Einfach vergessen, wie so vieles andere auch.«

Aurora schwieg. Sie wollte so gerne etwas Tröstendes zu dem traurigen Waldzwerg sagen, doch zum ersten Mal in ihrem Leben, versagte ihre Stimme.

»Weißt du, das war nicht immer so«, sprach Waldemar weiter.

»Früher haben die Menschen mit der Natur gelebt und uns Wesen wahrgenommen. Wir waren ein Teil ihrer Welt. Doch das ist lange vorbei, nicht nur hier.«

»Sie sehen die Steine, die Bäume, aber nicht das Leben und die Weisheit darin«, fügte Erasmus hinzu. »Wir haben es kommen sehen, wir wussten es. Doch ich hätte nicht gedacht, wie schnell es gehen wird. Wir müssen dagegen etwas tun, die Existenz unserer Welt ist in Gefahr. Wirst du uns dabei helfen?«

Aurora spürte wie die Röte in ihr gelbes Sonnenengelgesicht stieg, und ihr breiter Strahlenkranz, der ihren Kopf umgab, aufgeregt leuchtete.

»Und ob ich das will. Dafür bin ich doch da. Meine Familie hat mir davon erzählt und mich in diese Welt geschickt. Sie haben mir gesagt, dass es kalt und beschwerlich werden wird. Doch ich bin hier und freue mich, dass ich euch gefunden habe.«

»Komm mit«, sagte Erasmus, »ich muss dir etwas zeigen.«

»Schau mal Oma«, rief das blonde Mädchen vom Ufer des Sees seiner Großmutter Gertrude aufgeregt zu. »Ich bin fast fertig mit bauen. Gehen wir jetzt schwimmen?«

»Das geht heute leider nicht«, antwortet Tinas Großmutter.

»Aber es ist so heiß. Warum darf ich nicht ins Wasser gehen?«

»Es ist leider verboten, heute hier zu schwimmen, weil zu wenig Wasser im See ist. Wenn die Trockenheit so weiter geht, trocknet der See noch ganz aus. Dann wird das Baden dieses Jahr überhaupt nicht mehr möglich sein.«

»Aber warum sind wir dann nicht ins Schwimmbad gegangen?

Wir wollten doch schwimmen gehen.«

»Dafür ist es jetzt zu spät. Lass uns morgen ins Schwimmbad gehen. Doch da kannst du keine Sandburg bauen.«

»Wie schade!« Tina betrachtete stolz ihre Burg, die sie die letzten Stunden gebaut und nun liebevoll mit Steinen und Blättern verziert hatte. »Die Zwerge werden sich bestimmt freuen. So eine tolle Burg hatten sie noch nie.«

»Nun packe deine Schaufel und den Eimer zusammen. Wir müssen los. Deine Mutter wartet mit dem Abendessen«, sagte Gertrude und ignorierte die letzten Worte ihrer Enkelin. »Morgen ist auch noch ein Tag.«

Während Tina widerwillig ihrer Großmutter folgte, warf sie noch einen letzten Blick auf den See und fragte sich, ob ihre Freunde, die Zwerge, auch schwimmen konnten. Das nächste Mal würde sie sie fragen.

Aurora hatte kaum geschlafen, zu viel hatte sie in den letzten Stunden erfahren und erlebt. Sie war glücklich, in dieser ihr so fremden Welt Erasmus gefunden zu haben. Erasmus und Waldemar waren ihr sofort ans Herz gewachsen und sie war sich sicher, dass sie verstehen würden, warum sie an diesen Ort kommen musste. Erasmus strahlte eine unbeschreibliche Güte und Warmherzigkeit aus. Seine Augen waren voller Liebe und Weisheit. Waldemars Augen waren ebenso von Güte und Liebe erfüllt, doch Aurora spürte in ihnen auch eine tiefe Traurigkeit, die sie von ihrer Familie kannte. Auch sie hatten sie mit solch einer Schwermut angeblickt, als sich Aurora von ihnen verabschiedet hatte. Nicht, weil sie sie verließ, sondern wegen der Schwere der Aufgabe, die sie mit sich nahm. Doch sie wussten, dass sich Aurora nicht von ihrer Reise abbringen lassen würde.

Erasmus hatte Aurora in der vergangenen Nacht einen besonderen Lavastein gezeigt. Er wusste, dass sie sich dafür interessierte, dass sie mehr über die Vulkansteine des Vogelsbergs erfahren wollte, und über die Energien, die unter diesem Platz schlummerten und sich vor 15 Millionen Jahren einen Weg an die Oberfläche gebahnt hatten. Es waren andere Energien als in ihrem Heimatvulkan auf Hawaii. Es waren andere Kräfte und doch waren sie ihr vertraut. Sie hatte sie auf den Osterinseln studiert, wohin sie von ihren Lehrern geschickt worden war. Erst danach war sie bereit gewesen, nach Deutschland zu reisen.

Erasmus wusste, dass Aurora so viel mehr von diesen Steinen und dem Vulkan, auf dem er mit seiner Familie lebte, verstand.

Er hatte den haushohen Stein auf einem seiner Spaziergänge im Wald entdeckt und konnte ihn seitdem nicht mehr vergessen.

Erasmus musste immer wieder in seine Nähe gehen, den Stein berühren, seine Energien fühlen. Er träumte sogar von dem Stein. Doch er verstand nicht warum. Was für ein Geheimnis verbarg sich in oder auch unter dem Stein?

So führte Erasmus Aurora zu dem Lavastein und sie spürte sofort, dass er für ihre Mission wichtig war, dass er hier auf sie gewartet und ein Geheimnis für sie gehütet hatte. Doch zunächst musste sie mehr über den Ort und die Wesen erfahren, die hier lebten. Erasmus würde ihr dafür ein guter Lehrmeister sein!

Nachdem sie nun hier, am Rande des Vogelsberges, eingetroffen war, wurde es Zeit, ihren Plan in die Tat umzusetzen. Erasmus hatte ihr seine Unterstützung zugesichert und die Bewohner des Steinbruchs zu einem Mitternachtstreffen eingeladen. Aurora konnte es gar nicht erwarten, die Wesen dieses Ortes kennenzulernen. Bis dahin musste sie versuchen, ihre Fragen zu sortieren und Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Es blieb ihnen nicht mehr viel Zeit, daher war es wichtig, dass sie diese nicht mit unnötigen Erklärungen vergeudete. Ebenso wichtig war es, dass jeder die Dringlichkeit ihrer Mission verstand. Doch es war nicht nur nötig, dass man sie verstand, noch viel wichtiger war es, dass man sich ihrem Plan anschloss. Sie würde für ihre Mission sehr viel Unterstützung brauchen, die sie nur in dieser, für die meisten Menschen unsichtbaren Welt, finden konnte.

»Schau mal Papa, was ein schönes verwunschenes Schloss.« Der kleine regenbogenfarbene Zwerg Fred deutete aufgeregt auf die hohe Sandburg. »Ach, ist das schön.«

»Das Menschenkind war wieder da. Sie hat dich nicht vergessen«, antwortete Freds Vater Elbert, dessen Zipfelmütze die Farben des Regenbogens widerspiegelte. Wenn es doch so bleiben könnte, dachte er betrübt. Warum müssen die Erwachsenen den Kindern nur immer ausreden, dass es uns gibt. Dabei haben sie uns oftmals als Kinder selbst gesehen. Doch wie schnell ist das vergessen. Oder verdrängt, wie Erasmus sagen würde.

»Schau nur, was Tina alles gebaut hat. Wie schade, dass wir sie verpasst haben. Ich hätte so gerne mit ihr gespielt.« Fred schaute sich suchend um, doch statt seiner kleinen Menschenfreundin, erblickte er eine schneeweiße Feder mit braunen Flecken. »Oh wie hübsch. Das passt zu unserem Zauberschloss.«

Fred schnappte sich die Feder und steckte sie begeistert auf die Turmspitze. Er bemerkte nicht, wie eine alte Frau verwundert stehenblieb und ihn beobachtete. Doch sie sah ihn nicht wirklich.

Erstaunt nahm sie wahr, wie sich die Feder auf die Sandburg zubewegte und die Burg wie eine Fahne verzierte. Sie schüttelte verwirrt den Kopf und ging langsam weiter.

Aurora betrachtete die hohe Nordwand des Steinbruchs, in der nicht nur die Schichten des Vulkankegels zu erkennen waren, sondern auch die Abbauspuren der Sägemaschinen. Ihr Blick wanderte weiter zu dem ausladenden Holz-Kran im Inneren des Steinbruchs, der sie an den Grund ihrer Reise erinnerte.

Was die Menschen sich nicht alles einfallen lassen, um in unsere Welt einzudringen, unsere Energie zu nutzen oder zu verändern, dachte Aurora. Wenn sie sich doch wenigstens dafür interessieren würden, für unsere Welt, dafür woher diese Steine kommen, was nötig war, damit sie hier nun sichtbar zu bewundern sind.

Aber nein. Sie sehen nur das, was sie für ihre Welt brauchen, sie sehen nicht hinter die sichtbaren Wände und sind blind für das, was dahinter liegt.

Sie spüren nicht die Energie in dem Vulkangestein. Dem Stein, der das Leben auf diese Erde bringt, aber auch Zerstörung bringen kann. Je nach dem was die Menschen damit tun.

Ach, wenn sie doch wüssten, in welche Welt sie da einzudringen bereit sind. Mit welchen Kräften sie spielen, welche Wesen sie rufen… Wenn sie nur wüssten, was sie mit ihrem vermeintlichen Wissen und ihren seelenlosen Kraftmaschinen erwecken… Dann würden sie nicht so ruhig schlafen… Wenn sie es wüssten… Aber nein, sie verschließen ihre Augen davor, vor uns und dem, was sie nicht sehen.

Darum bin ich hier… Ich habe die Hoffnung noch nicht verloren, dass sich die Augen der Menschen öffnen mögen.

Sicher nicht alle, doch ich hoffe, ich werde mitfühlende Menschenherzen finden, die mir helfen, meine Mission zu erfüllen.

»Wir müssen ein Treffen der Naturwesen einberufen«, riss Erasmus Aurora aus ihren Gedanken. Selbst bei Tageslicht verbreitete er einen lichtvollen Schein, der den Platz noch heller zu erleuchten vermochte, als die inzwischen hoch am Himmel stehende Sonne. »Wir werden sie über deine Mission informieren und danach fragen, was sie für Ideen haben und wie sie dich unterstützen möchten.«

»Oh, das hört sich hoffnungsvoll an«, antwortete Aurora.

»Ich werde versuchen, dass Vertreter des Naturgeisterreiches aus der ganzen Welt daran teilnehmen werden. Es wird Zeit, dass wir uns austauschen und zusammenarbeiten, zum Wohle unserer Welt und Mutter Erde.«

»Und wie werden sie davon erfahren?«

Aurora fragte sich, wie Erasmus dies bewerkstelligen würde. Ob er dafür solche viereckigen Tüten benutzen würde, die die Menschen mit bunten Bildern beklebten und Briefe nannten?

»Ich werde heute Nacht meditieren und meine Botschaft um die Welt schicken. So hoffe ich, dass die Vertreter der Naturwesen davon erfahren und sich zu uns auf den Weg machen werden.«

Hatte Erasmus schon wieder ihre Gedanken gelesen?

»Ich kann nicht verhindern, dass auch andere Wesen auf diesem Weg von unserer Einladung erfahren, sich auf meine Gedanken einschwingen und sich ebenso auf den Weg in den Steinbruch Michelnau machen werden. Daher werde ich beginnen, diesen Platz für das Treffen vorzubereiten, ihn zu schützen und dafür aufzuladen.«

Oh, wie spannend, dachte Aurora. An was man bei dieser Mission alles denken muss. Wie gut, dass sie Erasmus gefunden hatte und er ihr half, dieses Treffen durchzuführen.

»Und was für Wesen meinst du damit?«, fragte sie Erasmus.

»Menschen?«

»Oh nein«, erwiderte Erasmus. In sein sonst so ernstes Gesicht schlich sich ein Hauch von einem Lächeln. »Die Menschen erfahren sicher nichts davon. Sie schnappen ja noch nicht einmal ohne Hilfsmittel die Radiowellen auf. Sie brauchen immer ihre Instrumente, ihre Geräte, um etwas Feinstoffliches, Schwingendes zu sehen oder zu hören. Die Menschen meinte ich nicht.«

Aurora konnte ihr Lachen kaum unterdrücken. Ja, die Menschen waren sehr einfallsreich. Und doch auch so umständlich, so kompliziert. Warum machten sie sich das Leben so schwer?

»Und wen meinst du dann?«

»Es gibt Wesen in unserer Welt, die sich nicht nach dem Licht sehnen. Sie sind blind dafür, wie ich es früher nur von manchen Menschen kannte.«

»Das wusste ich nicht.«

»Sie leben auch nicht im Licht. Sie leben in Finsternis und produzieren mit ihren Gedanken noch mehr Dunkelheit.

Manche leben in der Erde, jedoch nicht an solch energiereichen und lichten Plätzen wie deine Familie.«

Aurora erinnerte sich an die Warnungen ihrer Lehrer, bestimmten Plätzen in den erloschenen Vulkanen von Hawaii fernzubleiben.

Sie wollte immer mehr erfahren, fragte neugierig danach, doch man vertröstete sie stets damit, sie sei zu jung und die Zeit käme noch, zu der man sie in dieses Wissen einweihen würde. War es nun soweit?

»Ich werde den inneren Bereich des alten Steinbruches so versiegeln, damit sie ihn nicht erreichen, noch nicht einmal wahrnehmen können. So wie vielen Menschen unsere Welt ungewollt verschlossen bleibt, werde ich diesen Ort für deine Mission verschließen.«

Aurora war beeindruckt von diesen Möglichkeiten. Darüber hatte sie sich bisher keine Gedanken gemacht. Konnte es denn sein, dass sie jemand bei ihrer Mission stören oder diese sogar verhindern wollte?

Erasmus wird seine Gründe haben, dachte sie. So vieles war ihr hier neu, wie auch in der Menschenwelt. Sie hatte in den Lavaströmen des Kilauea Vulkans in Hawaii gelebt, ihr Leben dort genossen und die Liebe und Freude gespürt, die von den Energien des Vulkans ausgingen.

Doch dann, als sie sich auf den Weg machte, um ihre Mission zu erfüllen, und ihre Familie im großen Vulkan verließ, um zunächst zu den Osterinseln zu reisen, spürte sie schon bald, wie anders es außerhalb ihrer Welt sein konnte. Als erstes fiel ihr die Kälte auf.

Es war weniger das Wetter, das sie frösteln ließ. Wenn man gewohnt war, in 400 Grad heißen Lavaströmen zu leben, konnte selbst das sonnigste Wetter auf Hawaii für einen Sonnenengel nicht wirklich wärmend sein. Nein, das hatte sie gewusst, darauf hatte man sie vorbereitet.

Es war die Kälte, die sie bei manchen Menschen empfand, die Kühle ihrer Aura, die Frostigkeit in ihrem Blick. So kalt hatte sie sich das nicht vorgestellt. Die Menschen merkten es nicht. Sie vermissten die Wärme nicht.

Aurora hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Die Zeit drängte.

Sie musste weiter nach Europa, und nun war sie hier.

Sie hatte noch nicht viele Menschen getroffen, doch was sie sah, war ihr von Hawaii bekannt. Auch hier sahen die Menschen durch sie hindurch. Sie konnte noch so sehr ihren Strahlenkranz leuchten lassen, man sah sie nicht.

»Die Waldzwerge aus dem Regenwald werden viel zu erzählen haben«, riss Waldemar, der inzwischen hinzugekommen war, Aurora aus ihren Gedanken. »Ich wollte schon immer mal dorthin reisen, mit ihnen reden, aber hier gibt es so viel zu tun.«

»Was hast du denn alles zu tun?«, fragte ihn Aurora. »Ich weiß so wenig über dich und deine Welt. Auf Hawaii gibt es nicht nur Palmenstrände, sondern auch Regenwälder, doch ich war noch nicht oft dort.« Nun bereute es Aurora, dass sie sich nicht besser auf diese Reise vorbereitet hatte. Wie dumm kam sie sich vor.

»Dafür weiß ich nichts über deine Familie, Aurora. Wir leben mit ihnen in solch enger Nachbarschaft und doch sind wir ihnen nie begegnet.«

«Ich dachte immer, in diesem Vulkan lebt niemand mehr«, ertönte es aus einem kleinen Erdloch. »Mir ist hier unten noch nie jemand begegnet.« Ein kleines runzliges Wurzelwesen kletterte aus seinem Versteck, von dem aus es unbemerkt dem Gespräch gefolgt war.

»Die Wesen, die ich meine, leben doch tief in der Erde und nicht unter den flachen Wurzeln deines Baumes, Anton«, antwortete Waldemar.

»Und wie es dort noch Leben gibt«, fügte Aurora hinzu.

»Die Vulkane sind nicht tot. Sie schlafen nur. So wie ein Bär seinen Winterschlaf in einer Höhle hält, so ruht sich die Vulkanfamilie dort aus und schöpft Kraft für spätere Zeiten. Sie haben auch ihre Mission, sie wissen das, und bereiten sich darauf vor.«

»Was für eine Mission? Was ist das denn für eine Mission? Von was redet ihr denn?«, fragte Anton sichtlich verwirrt.

»Das wirst du bald erfahren. Wir bereiten eine Versammlung vor, auf der Aurora ihre Mission vortragen wird. Du bist herzlich eingeladen. Sie findet auch nicht in der Mittagshitze statt«, erklärte Erasmus, dem es nicht entgangen war, dass Anton beim Herausklettern aus seinem Erdloch schützend die rechte Hand vor die Augen gehalten hatte.

»Danke Erasmus. Ich bin sehr gespannt. Stört dich die Sonne denn nicht?«, fragte Anton.

Aurora zuckte zusammen und spürte wie ihr heiß wurde.

»Nein dich meint er nicht«, beruhigte Waldemar Aurora. »Er meint die große Sonne. Sie blendet ihn, da er sie nicht gewohnt ist. Anton ist ein Wurzelwesen und lebt meist in völliger Dunkelheit.«

»Ich lebe nicht in der Dunkelheit! Wie hört sich das denn an? Ich lebe nur nicht ständig in zu viel Licht.«

»Zu viel Licht?«, fragte Aurora.

»Ja. Das ist mir hier viel zu hell. Ich muss los, es gibt eine Menge zu tun. Besucht mich ruhig mal. Doch jetzt muss ich los.«

Aurora blickte ihm nach, während er noch einmal kurz winkend in sein Erdloch sprang und verschwand.

»Langweilig ist es hier nicht«, sagte Erasmus. »Nun kennst du auch Anton, unser Wurzelwesen, der es wieder einmal geschafft hat, uns völlig aus dem Konzept zu bringen. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei Auroras Vulkanfamilie hier unter dem Berg. Ich würde gerne mehr darüber erfahren«, antwortete Waldemar. »Doch nun wird es leider auch für mich Zeit. Die Borkenkäfer sind heute wieder so frech, sie versuchen gar nicht erst, sich unter der Rinde vor mir zu verbergen. Ich muss schauen, was ich machen kann, sonst bekomme ich sie gar nicht mehr in den Griff.«

Waldemar betrachtete bei diesen Worten angespannt eine Rotbuche, auf der mehrere Dutzend Käfer saßen. »Ihr seht ja, wie wichtig diese schattenbringenden Bäume sind. Selbst für Auroras Mission.«

Von Trollen und Menschen

»Oma, guck mal. Die Feder!« Tina blieb vor ihrer Sandburg stehen und deutete freudig auf die Feder, die selbst der leichte Wind in der Nacht nicht von ihrem Platz geweht hatte. Oder hatten sie die Zwerge wieder dorthin gebracht? »Die haben sicher meine Freunde für mich dort gelassen!«

»Was für Freunde?«, fragte Tinas Großmutter Gertrude unkonzentriert zurück, während sie weiter ihren Liegestuhl aufbaute.

»Na, die Zwerge.«

»Natürlich, die Zwerge, deine Freunde die Zwerge.« Was für eine Phantasie das Kind hat, dachte Gertrude. Wie oft hatte ihr Tina schon die phantastischsten Märchen erzählt. Von regenbogenfarbenen Zwergen und durchscheinenden Elfen. Aber besser das, als diese Horrorgeschichten, die sich ihre Nachbarkinder immer einfallen ließen. Deren außerirdische Phantasiewesen waren schwer bewaffnet und immer kampfeslustig.

»Das ist aber nett von den Zwergen«, rief sie Tina zu. »Suche doch auch für sie ein Geschenk. Vielleicht einen schönen Stein?«

»Oh ja, was für eine tolle Idee. Das wird ihnen gefallen. Und ich werde ihnen einen kleinen See bauen, neben dem Schloss. Dafür reicht das Wasser bestimmt. So können wenigstens sie baden, ihnen ist bestimmt auch ganz heiß.«

Während Tina aufgeregt nach ihrer Schaufel griff, blätterte ihre Großmutter zufrieden in ihrer Zeitschrift und freute sich auf den ruhigen Nachmittag und dachte erneut: Was ein Glück, dass es nur Zwerge sind.

»Hast du es schon gehört, Guldur? In Deutschland soll es eine Versammlung der Naturwesen geben. Im Steinbruch Michelnau, am Rande des Vogelsberges.« Guldur ließ den Stein fallen, den er gerade mühsam über die Hochebene getragen hatte und starrte seine Frau Sigrun verständnislos an. »Eine Versammlung? Warum das denn?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe gerade diese Nachricht aufgeschnappt.«

Guldur hob den Felsbrocken erneut auf und setzte seinen Weg über die Hochebene fort. Es wurde Zeit, der Sonnenaufgang nahte und er hatte noch so viel zu tun.

»Und was haben wir davon? Was sollen wir auf einer solchen Versammlung?«, fragte er Sigrun, die Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten.

»Das erfahren wir dort. Es geht um die Menschen und die Rettung der Welt«, antwortete Sigrun.

»Pffff… Die Menschen. Die können mir gestohlen bleiben. Sie mischen sich in alles ein, was sie nichts angeht.«

»Keine Angst, Menschen sind bestimmt nicht eingeladen«, erwiderte Sigrun. »Es ist eine Versammlung des kleinen Volkes.«

»Kleines Volk? Guck mich doch mal an. Bin ich etwa klein?«

Guldur schüttelte nur stumm den Kopf. »Und Angst habe ich bestimmt keine. Die sollten lieber die Menschen vor mir haben. Meine Geduld ist langsam aufgebraucht«, und wie zur Unterstreichung seiner tief im Inneren verankerten Wut auf das Menschenvolk, ließ er den Felsbrocken fallen. Der Boden unter ihm erzitterte und ein zufriedenes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus. »Wer hat hier Angst?«

Einige hundert Kilometer entfernt blickte der Vulkanologe Igorson auf die heftigen Ausschläge auf seinem Monitor. »Schon wieder ein Erdbeben«, brummte er. »Seit Tagen bebt es in dieser Hochebene.«

»Die Beben waren sicher tektonischen Ursprungs«, winkte sein Kollege, der gerade mit frischem Kaffee den Kontrollraum betreten hatte, ab. »In dem Gebiet deutet nichts auf frische Magmabewegung hin.«

»Du hast sicher Recht. In meinen Nachtschichten hält mich meist nur der Kaffee wach, warum sollte es diesmal anders sein.«

»Aurora, Aurora! Wach auf!«

Aurora öffnete müde die Augen und musste sich einen Moment besinnen. Wo bin ich?

»Die ersten Anmeldungen sind da. Unsere Nachricht hat Naturwesen in Afrika, Amerika und Australien erreicht. Sie haben zugesagt, an der Versammlung im Steinbruch teilzunehmen.«

Natürlich. Sie war im Vulkandorf Michelnau, wie die Menschen, die hier lebten, den Ort nannten. Wie konnte sie das vergessen.

»Danke, Erasmus. Wie dollo. Ich hoffe, es kommen Vertreter aus allen Kontinenten. Die Lage ist ernst und wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Mein Onkel aus der Eifel ist bereits auf dem Weg, Aurora. Ich bin mir sicher, dass du von ihm sehr viel erfahren wirst. Ich freue mich, dass wir dich bei deiner Mission unterstützen können.«

»Wann ist es denn soweit? Wann findet das Treffen statt, Erasmus?« Aurora spürte wie sie trotz der Schwere ihrer Mission von einer Leichtigkeit und Vorfreude erfasst wurde. Sie hatte es geschafft, sie hatte den ersten Teil ihres Auftrages erfüllt. Die Naturwesen würden bald hören, was es zu hören gab.

»Beim nächsten Vollmond, also in 7 Tagen.«

7 Tage… So lange noch. Diese Zeiteinteilung konnte nur von Menschen stammen. Alles mussten sie in Kategorien und Begriffe pressen. Die Zeit, die Wärme, selbst die Geschwindigkeit. Alles mussten sie berechnen, untersuchen und dokumentieren. Aber sie erkannten nicht das Wesentliche in Aufzeichnungen, da sie beim Studieren ihre Herzen verschlossen ließen. Doch wie sollte sie, Aurora, ihnen die Augen öffnen für das, was in ihren Messungen selbst für jeden Babysonnenengel sofort ersichtlich war?

»Hörst du mir eigentlich zu? Aurora?«

»Äh ja, natürlich. Ich freue mich so sehr, dass die Naturwesen auf unseren Aufruf reagieren und bin gespannt, deinen Verwandten kennenzulernen. Ich habe schon viel vom Laacher See in der Eifel gehört.«

»Du wirst Augustus mögen. Doch nun muss ich los, es gibt noch sehr viel vorzubereiten.«

Auch am Gederner See stand die große Sonne inzwischen hoch am Horizont. Tina saß glücklich im Sand und erzählte ihren Freunden von ihrem Tag. Fred und Elbert hatten es sich neben ihr gemütlich gemacht und hörten Tina aufmerksam zu. Was das Menschenkind alles zu erzählen hatte. Doch am meisten freute es sie, dass sie sie wahrnahm, mit ihnen sprach, mit ihnen spielte.

»Redest du wieder mit den grünen Monstern?«

Da ist er ja schon wieder, dachte Tina. Warum kann Olaf mich nicht einfach in Ruhe lassen.

»Ich spreche mit keinen grünen Monstern.«

Fred schaute sich verwundert um. Welche grünen Monster? Hier war doch niemand außer ihm und Elbert.

»Ha, ha, ha. Das weiß ich selbst. Aber warum plapperst du dann wieder unentwegt vor dich hin, Tina?«

»Das geht dich nichts an, Olaf. Lass mich in Ruhe.«

Fred würde zu gerne Tina zur Hilfe kommen. Warum musste dieser Junge sie immer so aufziehen. Aber Fred wusste nicht, wie er Tina beistehen konnte.

»Oh, ist das das Monsterschloss?«, fragte Olaf nun und zeigte dabei auf Tinas Sandburg. »Da wohnt bestimmt auch Graf Dracula.«

Tina konnte ihre Tränen kaum zurückhalten. Sie wusste, dass die anderen Kinder ihre Zwergenfreunde nicht sehen konnten. Aber warum musste Olaf immer so gemein zu ihr sein. Da spürte sie die winzige Hand von Fred in ihrer Hand und wie es ihr durch seine Berührung im Herzen warm wurde. »Lass ihn doch reden«, flüsterte ihr Fred zu. »Du hast doch uns und wir beschützen dich.«

Augustus stand am Ostufer des Laacher Sees und betrachtete die Gasbläschen, die blubbernd aus der Tiefe aufstiegen. Es sind schon wieder mehr geworden, dachte er. Und dieser Gestank.

Nicht auszuhalten. Warum kümmerte es die Menschen nicht? Es blubberte hier nun schon so lange Zeit und kaum jemand nahm Notiz davon. Ich bin gespannt, was Aurora dazu zu sagen hat.

Erasmus hat mir schon so viel von ihr erzählt. Wenn ich doch nur schon in Michelnau wäre, ich möchte wissen, was sie für eine Mission zu erfüllen hat. Sein Blick verlor sich im Blau des Sees, während er weiter an seine bevorstehende Reise Richtung Vogelsberg dachte. Hoffentlich hat Aurora Zeit, sich meine Sorgen anzuhören. Vielleicht kann ich sie überreden, mit mir hierher in die Eifel zu kommen. Sie muss das sehen, was ich letzte Woche in der Wolfsschlucht entdeckt habe. Ich bin gespannt, was Aurora dazu sagen wird. Ich kann es immer noch nicht glauben.

Augustus wurde von einer Gruppe Spaziergängern abgelenkt. Sie haben auch solche sonderbaren Stangen in der Hand, dachte er.

Warum brauchen die Menschen für alles Hilfsmittel? Vertrauen sie ihrer eigenen Kraft nicht?

Erfindungsreich sind sie, das gebe ich zu. Diese Kästen mit Rädern bringen sie enorm schnell durch den Wald. Aber merken sie denn nicht den Gestank und was sie den Bäumen damit antun? Wissen sie denn nicht, dass man so etwas nicht braucht?

Man kommt auch auf andere Art sehr schnell an sein Ziel. Aber das Naheliegende erscheint den Menschen offensichtlich so fern.

Ich werde jedenfalls bestimmt nicht mit solch einem Kasten zu der Versammlung reisen. Dafür bliebe auch keine Zeit, es gibt schnellere Wege. Wenn ich doch nur schon dort wäre und mit Aurora sprechen könnte. Ich muss ihr erzählen, was ich gesehen habe und hoffe, sie weiß, was zu tun ist. Ich wollte meinen Augen zunächst selbst nicht trauen, erinnerte sich Augustus. Ich dachte, das kann doch nicht wahr sein, so etwas gibt es nicht mehr. Doch auch mein Sohn hat es gesehen. Wenn es das ist, was ich glaube, wird es Zeit, etwas zu tun. Das kann kein Zufall sein, dass Aurora gerade jetzt in unserer Welt erscheint. Ich bin gespannt, was sie uns mitzuteilen hat.

Aurora blieb fasziniert vor dem Tor zum alten Steinbruch stehen. Wo kamen nur all diese Vulkansteine so plötzlich her, dachte sie. Die waren gestern doch noch nicht hier. Am Rand des Versammlungsgeländes lagen unzählige Steine und Felsbrocken in den verschiedensten Größen.

»Das sind die Häuser für die Gnome. Irgendwo müssen sie doch während der Versammlungstage wohnen«, sagte Erasmus.

Aurora zuckte zusammen. Sie fragte sich, wieso Erasmus plötzlich neben ihr stand. »Was für dolle Wohnungen, in Vulkansteinen. Wie kommst du nur auf solche Ideen?«

»Ich bin in meinem Leben schon viel herum gekommen, Aurora«, antwortete Erasmus. »Nicht so, wie es die Menschen tun. Nicht in stählernen Vögeln oder auf großen hölzernen Fischen. Ich reise so, wie du von Hawaii in den Vogelsberg gekommen bist, die Menschen nennen das Ley-Linien oder Heilige Linien.

Aber manchmal reise ich nur mit meinem Geist. Da erfährt man auch viel.«

Aurora lauschte gefesselt seinen Worten und dachte, dass sie ihm stundenlang zuhören könnte. »Und so habe ich mir auch Island angesehen. Es wurde mir so viel davon erzählt, ich musste herausfinden, ob es wirklich so ist. Es leben dort sehr viele Naturwesen, du wirst einige von ihnen bald kennenlernen…«

Erasmus zögerte, bevor er weiter sprach.« Es gibt dort nicht nur freundliche. Manche sind brummig, andere können sehr unangenehm werden, wenn man mit ihnen Streit bekommt. Die Isländer wissen das.« Aurora hatte inzwischen alles um sich herum vergessen, während sie gebannt weiter den Erzählungen von Erasmus lauschte. »Sie haben schon oft erlebt, dass sich die Trolle gerächt haben, wenn man ihren Lebensraum zerstört«, fuhr Erasmus fort.

»Und wie haben sie sich gerächt?«, fragte Aurora.

»Wenn sie ihrer Heimat durch den Straßenbau beraubt wurden, spielten sie den Autofahrern Streiche. Viele Autofahrer verunglückten dadurch, kamen plötzlich mit ihrem Wagen von der Straße ab. Leider gab es auch so tragische Fälle, dass die Menschen Angst vor den für sie unsichtbaren Kräften bekamen. Immerhin spürten sie, was sich dahinter verbarg. Sie erinnerten sich an das Wissen ihrer Ahnen, an das, was sie in den Sagen niedergeschrieben hatten. Und so bekamen die Menschen schließlich Respekt vor den Trollen und damit auch vor den Naturkräften.«

»Und was passierte dann?«

»Dann ernannten sie eine Elfenbeauftragte, die die Straßen vor dem Bau zu untersuchen hat. Und wenn ein Stein besiedelt ist, muss die Straße um den Stein gebaut werden. So einfach war das.«

»Ja, das klingt einfach. Aber warum müssen erst Unglücke geschehen, bevor die Menschen verstehen und etwas ändern?«

Erasmus schaute sie traurig an und sagte: »Das weiß ich leider auch nicht. Lass uns in den Steinbruch gehen, die Waldwichtel warten und wollen wissen, wo sie die Rednerbühne aufstellen sollen.«

»Hast du von der Versammlung gehört?« Der regenbogenfarbene Zwerg Elbert schaute verwundert auf. Er war in Gedanken versunken, während er auf einem Baumstumpf sitzend auf Tina wartete. »Es gibt eine Versammlung im alten Steinbruch Michelnau. Du wirst dort erwartet.«

Nun sah Elbert die zarte durchscheinende Fee, die zu ihm gesprochen hatte und antwortete ihr: »Nein, das wusste ich noch nicht. Was ist das denn für eine Versammlung?«

»Sie wurde von dem Rosenquarzzwerg Erasmus einberufen. Er hat einen Gast aus Hawaii im Steinbruch wohnen. Einen Sonnenengel, der den Naturwesen etwas Wichtiges zu sagen hat. Ich habe Gerüchte vernommen, nachdem dieser Sonnenengel in einer geheimen Mission unterwegs sei und dass es um die Rettung der Erde gehe. Aber ich weiß nicht, ob das stimmt.«

»Und wann findet diese Bekanntmachung statt?«

»Sie beginnt am kommenden Vollmondtag, genau bei Sonnenaufgang.«

»Ich danke dir. Ich werde sehr gerne kommen.«

Während die Fee davon flog und ein Glitzern in der Luft hinterließ, wurde Elbert bewusst, dass er vergessen hatte zu fragen, wie lange diese Versammlung dauern würde. Besser ich sage Tina, dass ich mit Fred vielleicht ein paar Tage nicht hier sein werde, dachte er. Nicht, dass sie sich Sorgen macht.

Der Tag der Versammlung rückte immer näher und die Vertreter aus dem Naturgeisterreich begannen, sich auf den Weg nach Michelnau zu machen.

Erasmus‘ Einladung war bis in die abgelegensten Wälder und tiefsten Meere vorgedrungen und hatte viele offene Ohren und