Emmi und Einschwein flitzten durch den langen Schulflur. Gerade hatte es zur großen Frühstückspause geläutet, und alle Türen standen offen. Lautes Lachen, Reden und Rufen von vielen Kindern hallten durch den Flur.
Besorgt blickte Emmi auf ihre Armbanduhr. Sie waren spät dran! Und das ausgerechnet heute, wo alles perfekt sein musste. So perfekt wie ein Einhorn. Schließlich hatte die Direktorin ihrer Schule Geburtstag. Und Emmi plante eine tolle Einhorn-Überraschung für sie.
Einschwein war fröhlich und glücklich und allerfeinster Dinge, wie es sagte. »Du, Emmilein, soll ich für die Überraschung Glitzerstaub zaubern?«, fragte es.
»Bloß nicht«, rief Emmi im Rennen. »Du kannst doch gar keinen Glitzerstaub. Du kannst nur Essen zaubern.«
»Stimmt, haste recht«, stellte Einschwein fest.
»Beeil dich lieber!«, ermahnte Emmi ihr Schwein. »Wir müssen in einer Minute da sein.«
»Geht klar, Chef!«, rief Einschwein zurück und lachte.
Der Fußboden war frisch gebohnert und deshalb sehr rutschig. Einschwein nahm Anlauf, ließ sich auf seinen Hosenboden plumpsen und schlitterte durch den Flur. Bis es an der nächsten Ecke in den Hausmeister Herrn Ultz knallte. Besser gesagt, in dessen grüne Gummistiefel.
»Schlittern verboten!«, murrte Herr Ultz ärgerlich.
Das Fabelwesen von Herrn Ultz, ein mittelgroßer Riese Namens Udomar, packte Einschwein und setzte es in den Rabaukenkorb. Das war nämlich die Strafe für Schlittern im Hausflur. Und eigentlich auch die Strafe für alles andere. Den Rabaukenkorb, braun und rund und aus Weidenruten geflochten, trug der Riese immer auf dem Rücken. Er transportierte damit ungezogene Kinder oder Fabelwesen. Und wen Udomar einmal in den Rabaukenkorb gesetzt hatte, der kam nicht so schnell wieder heraus.
Im Korb saß bereits Anton, ein Junge aus Emmis Klasse. Er war Stammgast im Rabaukenkorb und landete fast jeden Tag dort. Das lag daran, dass sein Fabelwesen ein Rüpel-Elf war. Manchmal hatten die beiden wirklich etwas ausgefressen. Aber oft bekamen sie auch einfach den Ärger für etwas, das sie gar nicht gemacht hatten. Denn die Lehrer waren der Meinung, dass Rüpel-Elfen immerzu Unsinn machten und herumrüpelten.
Das Schwein im Rabaukenkorb? Oh, nein! Das konnte Emmi jetzt nicht gebrauchen. Mit entschlossenem Blick stellte sie sich vor den Riesen hin.
»Lieber Herr Ultz, Entschuldigung!«, sagte sie. »Wir haben es eilig. Darum ist Einschwein geschlittert.«
»Eilig?«, fragte der Riese.
»Wegen Frau Walter!«, rief Einschwein ungeduldig aus dem Korb herunter. »Wir machen doch eine Überraschung für sie!«
»Ts«, machte Udomar, der kein Riese der vielen Worte war.
»Bitte, bitte«, sagte Emmi. »Wir haben es tagelang vorbereitet.«
Einschwein kletterte auf den Rand des Rabaukenkorbs. »Udomarchen! Lass mich flott wieder runter!«, rief es.
Herr Ultz runzelte die Stirn. »Du hattest doch immer dieses chaotische kleine Schwein. Warum hast du auf einmal einen Wischmopp als Fabelwesen?«
»Was?« Emmi starrte den Hausmeister wütend an und war drauf und dran, einen hässlichen Satz über seine Haare zu sagen, in dem auch das Wort Wischmopp vorkam. Aber jetzt war es wichtig, höflich zu bleiben. »Das ist mein Schwein. Es ist bloß als Einhorn verkleidet«, erklärte sie.
Wie immer trug Einschwein seine gelbe Latzhose. Aber für diesen besonderen Tag hatte Emmi ihm eine Mähne gebastelt: Sie hatte sich die Mütze ihres kleinen Bruders geborgt und lange weiße Wollfäden angeknotet. Es war eine ziemliche Fummelarbeit gewesen, aber das Ergebnis hatte Emmi gut gefallen. Doch jetzt hatte Herr Ultz das Wort Wischmopp gesagt, und da fand Emmi die Mähne nicht mehr ganz so gut.
»Mhpf?«, schnaufte der Riese. »Einhorn?«
Hastig erklärte Emmi, dass die Direktorin Frau Walter Einhörner wie verrückt liebe. Deshalb hatte Emmi ihr zum Geburtstag ein Lied geschrieben, in dem es um Einhörner ging.
»Und ich tanze ein Tänzchen«, sagte Einschwein. Passend zum Lied hatte es den Tanz des fröhlichen Einhorns einstudiert.
»Jetzt müssen wir ganz schnell zum Lehrerzimmer! Weil doch die Pause gleich wieder vorbei ist«, sagte Emmi.
»Hm«, machte Udomar und wiegte seinen Kopf.
»Bitte, bitte!«, sagte Emmi.
Herr Ultz seufzte und nickte. »Aber wehe, dein Chaos-Schwein stellt heute noch mehr Unsinn an.«
»Nein, auf keinen Fall«, versprach Emmi.
Da nahm der Riese den Rabaukenkorb von seinem Rücken, und das kleine Schwein kletterte heraus.
Emmi und Einschwein rannten los.
Am Ende des dunklen Flurs, vor dem Lehrerzimmer, warteten Moritz und Antonia. Sie gingen auch in Emmis Klasse und hatten die Einhorn-Überraschung mit ihr vorbereitet. Jetzt winkten sie ungeduldig.
»Wo bleibt ihr denn so ewig?«, rief Antonia durch den Flur.
»Es gab einen riesigen Zwischenfall«, rief Einschwein zurück.
Moritz verstand sofort, was Einschwein meinte. Er grinste. »Habt ihr Udomar geärgert?«, fragte er.
»Udomar hat uns geärgert«, sagte Einschwein.
Alle kicherten. Alle außer Antonia. Sie stemmte die Hände in die Hüften und baute sich vor Einschwein auf. »Wie siehst du denn aus?«
»Einfach schick«, sagte Einschwein. Es stellte sich auf seine Hinterbeine und drehte sich im Kreis. Die Mähne wehte in der Luft. Emmi betrachtete ihr Fabelwesen. Na ja, ein perfektes Einhorn gab es nicht ab, aber es sah süß aus.
»Da muss mal die Fachfrau ran«, sagte Antonia herrisch und kniete sich vor Einschwein hin.
Und da wusste Emmi, dass Herr Ultz und Udomar nicht das einzige Problem an diesem Morgen waren.
Moritz hatte noch kein Fabelwesen, weil er erst neun Jahre alt war. Und ein Fabelwesen bekam man zum zehnten Geburtstag. Antonia war schon zehn und hatte als Fabelwesen die winzige Flussjungfrau Alva. An diesem Tag trugen Alva und Antonia Glitzerschleifen in ihren blonden Haaren. Mitsamt ihrer kleinen Wolke schwebte Alva heran und betrachtete Einschwein. »Einhorn?! Dass ich nicht lache«, flötete sie mit ihrem süßen Stimmchen.
»Ist doch egal, wie es aussieht«, sagte Moritz. Er trat einen Schritt nach vorn und wollte an die Lehrerzimmertür klopfen. Er konnte es nicht erwarten, der Direktorin Frau Walter endlich die Überraschung vorzuführen.
»Hallo?!«, rief Antonia. »Ein Einhorn sieht immer schick aus.«
Emmi und Einschwein sahen sich an. Na toll!
Eigentlich war die Einhorn-Überraschung Emmis Idee gewesen. Sie hatte Moritz davon erzählt, und er wollte mitmachen. Doch dann hatte Antonia die Sache mitbekommen und gesagt, dass sie auch mitmachen würde. Seitdem spielte sie sich deswegen mächtig auf. Jetzt holte sie aus ihrem großen Rucksack ein rosa Ballettröckchen und zog es Einschwein über seine Latzhose.
Es sah ziemlich albern aus, fand Emmi. Ärgerlich sah sie zu Moritz. Der tippte sich an die Stirn. Aber Antonia scherte sich nicht darum. Sie war ganz Einhorn-Fachfrau und holte eine weiße Spitzentischdecke hervor. Die Decke legte sie dem Schwein um die Schultern. Dann steckte sie ihm jede Menge Glitzerschleifen in die Wollfaden-Mähne. Begeistert klatschte sie in die Hände. »So sieht ein Einhorn aus«, sagte sie.
Einschwein war unter der ganzen Deko kaum noch zu erkennen. Unzufrieden sah Emmi ihr Schwein an. Es war alles so … unmagisch. Ihr fiel ein, was der Hausmeister gesagt hatte. »Jetzt sieht Einschwein aus wie ein Wischmopp, der heiraten will«, brachte sie wütend hervor.
Antonia wedelte mit der Hand, als könnte sie Emmis Ärger verscheuchen wie eine kleine Fliege. »Ach, Quatsch«, sagte sie nur. Und dann bestand sie darauf, Glitzerstaub zu streuseln. Stolz holte sie ein großes Glas voll glitzerndem Pulver aus ihrem Rucksack.
Empört starrte Moritz sie an. »Was haben Einhörner mit Glitzerstaub zu tun?«, rief er.
»Hallo?!«, sagte Antonia wieder. »Sie verstäuben den Glitzerstaub. Das ist ihr Hobby. Weil Glitzerstaub glücklich macht. Und Einhörner wollen, dass alle immer glücklich sind.«
Einschwein staunte und nickte und fragte, woher Antonia das so genau wisse. Da zeigte sie ihm das große, glitzernde Einhorn-Buch, das sie dabeihatte. »Hier steht alles drin, was man wissen muss.«
Moritz fand das Buch kitschig. Um Antonia zu ärgern, schlug er vor, Chips zu streuseln. Die hatte er nämlich gerade in der Schulmappe.
Emmi wollte gar nichts streuseln. Sie wollte lieber mit der Überraschung anfangen.
»Glitzer muss sein!«, fauchte Antonia. Schon griff ihre Flussjungfrau Alva in das große Glas und verteilte Glitzerstaub über den Köpfen der Kinder.
Einschwein zuckte mit dem Rüssel. »Dein Glitzer kitzelt mir in der Nase«, brachte es hervor und sah erschrocken zu Emmi. »Du, ich muss gleich niesen.«
Auch das noch! Emmi erklärte Antonia, dass Einschwein auf keinen Fall niesen durfte. Das kleine Schwein konnte mit seinem Horn Essen zaubern, und diese Fähigkeit nannte sich Kulinarische Magie. Diese Form der Magie ist im Allgemeinen sehr praktisch. Aber beim Niesen konnte Einschwein sie nicht kontrollieren. Der letzte Nies-Anfall war passiert, als Emmi gerade mit ihrer großen Schwester Meike und ihrem kleinen Bruder Fiete in der Kaufhalle gewesen war, um Zutaten für Eierkuchen zu kaufen. Aber dann war eine Tüte Mehl kaputtgegangen, und Einschwein musste von dem Mehl niesen. Unfassbar viele Eierkuchen waren von der Decke geklatscht. Die Eierkuchen waren auf den Köpfen der Kunden gelandet. Und eigentlich auch überall sonst.
Es hatte ziemlich viel Ärger deswegen gegeben.
Von da an war Familie Brix pingelig darauf bedacht, Einschwein vom Niesen abzuhalten. Allerdings passierte es noch ein paar Mal. Und jedes Mal endete es in einer Katastrophe. Eierkuchen, Apfelmus, einmal sogar Rutschi-Matschi. Alle möglichen Dinge fielen in großen Mengen von oben herab, wenn das Schwein einen Niesanfall hatte.
»Deshalb muss es ohne Glitzer gehen«, sagte Emmi.
»Ohne Glitzer kein Einhorn«, beharrte Antonia.
»Du kannst hier nichts befehlen! Ich will lieber Chips streuseln«, sagte Moritz ärgerlich. Und tatsächlich holte er eine Tüte Chips aus seiner Mappe. Er quetschte sie ordentlich zwischen den Handflächen, damit die Chips zu schönen kleinen Bröseln wurden. Dann öffnete er die Tüte. Ein strenger Geruch von Zwiebeln verteilte sich im Schulflur.
»Hier, bitte, feinster Einhorn-Chipsstaub«, sagte er und warf eine Handvoll Chipsbrösel in Antonias Richtung.
Alva gab ein kleines zickiges Geräusch von sich.
Antonia gab ein großes zickiges Geräusch von sich.
Mit einem Blick wie ein schießwütiger Cowboy griff sie in das Glas. Schwungvoll schleuderte sie Glitzerstaub auf Moritz. Er schimmerte und leuchtete und sah wirklich schön aus, als er sich im Flur verteilte.
»Bitte schön, Einhorn-Konfetti«, rief Moritz und warf mit den dummen Chipskrümeln. »Extra mit Zwiebelduft.«
Antonia kreischte und warf noch mehr Glitzer.
Emmi stand zwischen den Streithähnen. Sie rief »Stopp!« und »Halt!«, aber niemand hörte auf sie.
Einschwein bekam feinen Glitzerstaub in die Nase. Sein Rüssel zuckte. Es holte mehrmals Luft und war kurz davor zu niesen. Sein Horn fing an, mächtig zu leuchten.
»Nein, Einschwein, bitte nicht!«, flehte Emmi.
Erst jetzt hörte Moritz auf, mit Chips zu werfen, und auch Antonia beruhigte sich. Alle starrten das Schwein an. Sein Gesichtchen wurde rot, und es riss die Augen und den Mund auf. Holte Luft … rümpfte den Rüssel … holte wieder Luft …
In diesem Moment öffnete sich die Tür vom Lehrerzimmer. Die Direktorin Frau Walter trat in den Flur. Sie trug ein schickes Blumenkleid und sah aus wie ein richtiges Geburtstagskind. Feierlich lächelte sie die Kinder an.
Erstaunt stellte sich Frau Walter neben Emmi. »Uuuh! Was ist das für ein Gestank?«, fragte sie und wedelte sich mit der Hand vor der Nase herum.
Als sie zu Boden blickte, sah sie den Glitzer und die Chipsbrösel. »Was ist hier los?«, fragte die Direktorin, jetzt nicht mehr ganz so nett.
In diesem Moment passierte es.
»Hatschi!«
Einschwein nieste durch den Schulflur. Einmal. Zweimal. Dreimal. Feines buntes Pulver rieselte von der Decke. Wie Schnee an einem Wintertag fiel es sacht auf den Schulflur und die Kinder und die Direktorin herab. Eigentlich sah es schön aus.
»Was ist das?«, fragte Frau Walter.
»Das ist Einschweins Glitzerstaub«, sagte Emmi mit dieser tonlosen Stimme, die Mama benutzte, wenn sie zu müde zum Meckern war.
An dieser Stelle können sich alle Einhorn-Fans wieder beruhigen. Einschwein kann keinen Glitzerstaub zaubern und konnte auch noch nie welchen. Es sah nur aus wie Glitzerstaub. In Wirklichkeit war es etwas, das mit seiner Kulinarischen Magie zu tun hatte.
Moritz streckte die Zunge heraus, um zu kosten. »Lecker, Brausepulver«, rief er.
Frau Walter sah erschrocken zu Emmi. »Bitte sag, dass das nicht wahr ist.«
»Es ist wahr«, sagte Emmi leise.
Ja, wirklich. Es war Brausepulver in allen bekannten Geschmacksrichtungen. Der Duft von Himbeeren und Waldmeister erfüllte den Flur.
Aus dem Inneren des Lehrerzimmers hörte Emmi empörte Ausrufe. »Aufhören! Sofort!« Das war die Stimme von Herrn Silbermann, dem Fabelkunde-Lehrer. »Die ganzen Bücher verkleben.«
Emmi beugte sich vor, um ins Lehrerzimmer zu blicken. Auch dort rieselte Brausepulver von der Decke.
Frau Walter warf die Arme in die Luft. »Aber … aber die Mathearbeiten!«, rief sie. »Die muss ich doch noch korrigieren.« Mit leerem Blick blieb sie stehen. Erst nach ein paar Sekunden drehte sie sich um und rannte ins Lehrerzimmer zurück.
Das Schwein sah Emmi an. »Das war ganz schön viel Glitzerstaub, stimmt’s, Emmilein?«, sagte es.
»Ja«, sagte Emmi knapp.
Am Nachmittag saß Emmi im Zimmer der Direktorin und hielt Einschwein auf dem Schoß. Das Zimmer war gelb gestrichen, und an der Wand hing ein Bild mit einer Sonnenblume. Frau Walter hatte ihr schickes Blumenkleid ausgezogen, weil es ja nun voller Brausepulver war. Stattdessen trug sie ihren Sportanzug.
Sie saß hinter ihrem großen Schreibtisch und sprach über Brausepulver. Und darüber, dass es in der Schule nichts zu suchen hatte. Ganz besonders wenig im Lehrerzimmer. Zwischendurch sagte sie mehrmals »Emmi Brix«, weil ein ganzer Name strenger klingt als ein einfacher Vorname.
Natürlich wäre es ein guter Moment gewesen, um die Sache mit der Überraschung zu erklären. Und dass alles nur ein dummer Nies-Unfall gewesen war. Aber Emmi traute sich nicht, etwas zu sagen.
Das lag am Fabelwesen von Frau Walter. Es hieß Frau Willery und war eine Sphinx. Frau Willery hatte den Körper einer Löwin und den Kopf einer Frau. Sie sprach nicht viel und bewegte sich noch weniger, und Emmi fand sie ziemlich unheimlich. Frau Walter und Frau Willery hatten die gleiche Frisur, nämlich blonde Locken, die etwas wild vom Kopf abstanden. Und das kam daher, dass die beiden zum selben Friseur gingen.
Still und erhaben saß Frau Willery neben dem Schreibtisch. Ihre Augen hatten die Farbe von hellem Sand, und mit diesen Augen starrte sie Emmi an. Schüler anstarren, die etwas ausgefressen hatten, gehörte nämlich zur Fähigkeit von Frau Willery. Die Sphinx konnte erkennen, ob jemand schwindelte. Das war gut für Frau Walter. Und schlecht für die Kinder der Fragzwerg-Heino-Grundschule.
Um den Augen von Frau Willery zu entgehen, blickte Emmi stur vor sich hin, genau auf den Schreibtisch von Frau Walter. Dort lag eine Zeitung, und Emmi las immer wieder die groß gedruckte Überschrift: Hurra! Wichtelstadt hat endlich ein Einhorn. Sofort wollte Emmi mehr wissen. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es kein guter Moment war, um die Zeitung vom Tisch zu nehmen und ein wenig zu lesen.
Papa und Mama saßen neben Emmi. Mama hatte Sorgenfalten auf der Stirn. Ihr Fabelwesen, der Zweifühlige Blütenspatz Pieps, streute Lavendel, weil diese Blume beruhigend wirkt. Papas blauer Drache Henk wartete auf dem Hof. Er flog einen Salto nach dem nächsten und versuchte dabei, einen Blick durchs Fenster zu werfen. Zwischendurch zog er lustige Grimassen, um Emmi aufzuheitern.
Papa war sicher, dass Einschwein es nicht so gemeint hatte, und das sagte er gleich vier Mal, damit Frau Walter es auch wirklich verstand. Mama seufzte und sagte, die Sache mit dem Niesen sei ihr völlig neu, das habe Einschwein zu Hause noch nie gemacht. Wirklich nicht. Das müsse ein Ausrutscher sein.
Emmi sah ihre Mutter erstaunt an. Das war doch eine glatte Lüge! Einschwein hatte wegen seiner Nieserei schon mehrmals die ganze Wohnung von Familie Brix vermurkst. Mit Puderzucker, Rutschi-Matschi oder Apfelmus. Oder eben mit Brausepulver, was leider auch schon zwei Mal vorgekommen war. Mama war Polizistin und schwindelte nicht gern, aber wenn sie es mal tat, konnte sie es besonders gut. Dankbar nahm Emmi Mamas Hand, weil sie es wahnsinnig nett fand, dass sie für Einschwein schwindelte.
Die Sphinx starrte Mama mit ihrem unbewegten Gesicht an. Sie starrte und starrte, aber Mama starrte mutig zurück. Bestimmt merkte die Sphinx, dass Mama schwindelte. Aber sie sagte nichts. Und daran kann man sehen, dass Sphinxen ein gutes Herz haben, auch wenn sie zum Fürchten aussehen.
Noch immer ärgerlich, holte Frau Walter ein Knäuel aus klebrigem Papier unter ihrem Tisch hervor, das so groß war wie ein Wasserball und nach Brausepulver roch. »Das sind sämtliche Mathearbeiten der 3b und der 4a«, erklärte sie und knallte das Knäuel auf den Tisch. »Ich glaube, Einschwein hat das mit Absicht gemacht! Weil Emmi Brix in der Mathearbeit nichts wusste.«
»Oh«, sagte Mama.
Papa zog den Mund breit und ließ ein Zischen hören.
Auweia! Erschrocken blickte Emmi ihre Direktorin an. Es stimmte, in der Mathearbeit hatte sie gerade mal die Hälfte der Aufgaben geschafft. Aber deshalb würden sie und Einschwein niemals Brausepulver im Lehrerzimmer verteilen. Das war ein schlimmes Missverständnis!
Deshalb musste Emmi jetzt alles erklären, auch wenn sie immer noch Angst vor Frau Willery hatte. Sie sagte, dass sie eine Einhorn-Überraschung für Frau Walter zum Geburtstag geplant hätten. Und dass es dann Streit gegeben habe und sie sich mit Chips und Glitzer beworfen hätten. Und davon musste Einschwein niesen.
»Ich wollte das Einhorn sein«, sagte Einschwein fröhlich. »Mit Tänzchen.«
Aber da schnaubte Frau Walter nur und zeigte auf die Zeitung mit der Einhorn-Überschrift. »Ein echtes Einhorn würde so etwas Dummes niemals tun!«, sagte sie. »Einhörner machen nie Fehler. Sie sind perfekt. Das ist ja das Tolle an ihnen.«
Das war ganz schön gemein, fand Emmi. Ihr Einschwein mit einem echten Einhorn zu vergleichen, war nicht gerecht. Da konnte Frau Walter genauso gut den Rüpel-Elf oder den Superklugen Tintenfisch Dr. Pi mit einem Einhorn vergleichen.
Einschwein allerdings war immer noch bester Laune. »Sei doch froh, dass es nur Brausepulver war, Frau Walterchen! Es hätte auch Rutschi-Matschi sein können!«, rief es aus.
Frau Walter verstand nicht, was damit gemeint war. Aber Familie Brix nickte wissend. Ja, Rutschi-Matschi wäre noch schlimmer gewesen.
Leider wollte die Direktorin nicht glauben, dass das mit den Mathearbeiten ein Zufall gewesen war. Deshalb warteten alle gespannt auf das Urteil der Sphinx.
Mit ihren sandfarbenen Augen sah sie Emmi durchdringend an. Dazu solltet ihr wissen, dass Sphinxen den Blick von jemandem einfangen können. Sie halten den Blick dann fest, und man muss die Sphinx so lange ansehen, bis sie den Blick wieder loslässt. In der Zwischenzeit ist es nicht mal möglich, zu blinzeln. Oder kurz die Augen zu schließen.
Auf diese Weise hielt sie nun auch Emmis Blick gefangen.
Mitten in der Stille gab Papa ein langes Husten von sich. Es stellte sich heraus, dass er sich an seinem Bonbon verschluckt hatte.
Nach einer Zeit, die Emmi endlos erschien, nickte die Sphinx. »Das Kind sagt die Wahrheit«, erklärte Frau Willery. »Es war keine Absicht. Sie hatten wirklich eine Überraschung geplant.«
»Die Überraschung ist euch gelungen. Recht vielen Dank«, sagte Frau Walter.
Emmi wusste, dass ihre Direktorin das nicht so meinte, wie sie es sagte. In Wirklichkeit wollte sich Frau Walter nicht bedanken. Sie wollte zeigen, dass sie sauer war. Und diese Art, etwas zu sagen und das Gegenteil zu meinen, konnte Emmi nicht leiden. Jetzt war sie auch ein bisschen böse auf Frau Walter.
Nur Einschwein merkte nichts. Es strahlte Frau Walter an. »Du kannst nächstes Jahr wieder so eine schöne Überraschung haben, wenn du willst.«
Die Direktorin verdrehte empört die Augen und lehnte sich vorn an den Lehrertisch. »Wenn es nur das Niesen wäre«, sagte sie. Und dann erinnerte sie alle an das Sportfest. Einschwein hatte den jüngeren Kindern helfen sollen, ihre Turnschuhe anzuziehen. Aber dann zauberte es den Kindern aus Versehen Puddingschuhe.
Papa sah aus dem Fenster. Und Mama seufzte.
Frau Walter sprach auch vom Tag der offenen Tür, und bei dieser Erinnerung schüttelte sie sich entsetzt. Einschwein und Emmi hatten am Kuchenstand gearbeitet. Am Ende musste die Direktorin aus einer riesigen Torte befreit werden, die Einschwein um sie herum gezaubert hatte.
»Es ist und bleibt ein Chaos-Schwein«, sagte sie abschließend.
Wie bitte?! Chaos-Schwein? Das hatte schon Hausmeister Ultz zu ihrem süßen, kleinen Schwein gesagt. Langsam wurde Emmi ärgerlich.
»Aber Einschwein macht es doch nicht mit Absicht«, sagte Mama.
Papa nickte. »Schweine sind einfach keine guten Zauberer.«
Und da nickte Mama auch. »Genau. Einschwein kann es eben nicht besser.«
So! Und nun war es genug. Emmi wurde richtig wütend, und ihre Ohren fühlten sich heiß an deswegen. Sie sprang auf. »Einschwein ist kein Chaos-Schwein!«, rief sie. »Und sehr wohl kann es gut zaubern.«
Natürlich stellte sich Einschwein auf Emmis Seite, schließlich war es ja ihr Fabelwesen. »Sehr wohl kann ich gut zaubern!«, sagte es.
Emmis Blick fiel wieder auf die Zeitung. Und vor allem auf die Überschrift: Hurra! Wichtelstadt hat endlich ein Einhorn.
Aha!
Sie packte ihr Schwein und ging zur Tür. »Ich werde euch beweisen, dass Einschwein sehr gut zaubern kann.«
»Ja, ich auch«, sagte das Schwein.
»Wie soll das gehen?«, fragte Frau Walter ungläubig.
»Ganz einfach. Wir suchen jemanden, der Einschwein das Zaubern mit Horn beibringt«, erklärte Emmi.
Frau Walter zischte durch die Nase. »Aber Kind! Zaubern mit Horn können nur Einhörner.«
»Genau«, sagte Emmi und warf Frau Walter einen Blick zu, den man fast schon als frech bezeichnen musste. »Deshalb fragen wir ja auch das neue Einhorn.«
Einschwein sprang von Emmis Arm und öffnete im Sprung die Tür. »Au ja!«, sagte es begeistert.
Mama war dagegen und fand die Idee ganz und gar verrückt. Aber da waren Emmi und Einschwein schon unterwegs.
»Ein Einhorn als Lehrer, das wird ordentlich vornehm, Emmilein«, sagte Einschwein und hopste durch den Schulflur. Jeder Sprung machte ein ploppendes Geräusch.
Emmi nickte und rannte hinterher.
Gerade wischte der Riese Udomar den Flur. Denn natürlich klebte der Boden ganz fürchterlich von dem vielen Brausepulver. Der Riese brabbelte vor sich hin, während er den Schrubber auf den Boden knallte. Der winzige Schrubber sah in Udomars großen Händen aus wie ein Stift. Riesen-Schrubber waren teuer, und die Schule hatte kein Geld dafür, wie Herr Ultz bei jeder Gelegenheit beklagte. Deshalb musste der Riese mit normalem Putzzeug klarkommen.
Einschwein sprang an ihm vorbei und polterte gegen den Eimer. Etwas Wischwasser schwappte aus.
»Chaos-Schwein«, murrte der Riese.
Als Emmi und Einschwein nach Hause kamen, lümmelte Meike auf dem Sofa und spielte auf ihrem Handy Fabelmania. Bei diesem Spiel ging es darum, ein möglichst tolles Fabeltier zu bekommen. Meike versuchte schon seit Monaten, ein Einhorn zu gewinnen.
Emmi ließ sich neben ihre große Schwester auf das Sofa fallen. »Du musst mir helfen«, sagte sie und seufzte.
»Keine Zeit«, sagte Meike, ohne aufzusehen.
Das war Emmi egal. Sie redete einfach weiter. »In der Zeitung stand, dass es jetzt ein Einhorn bei uns gibt. Ich muss es ganz dringend finden. Am besten heute! Es soll Einschwein das Zaubern mit Horn beibringen.«
Mit seinem Horn spießte Einschwein einen Apfel auf. »Vielleicht ist es auch genau andersrum«, sagte es und lachte, »und ich bringe dem Einhorn etwas bei.«
Da schnaufte Meike. »Was willst du einem Einhorn schon beibringen«, sagte sie.