„Seba hat Wind gemacht und wir machen jetzt den Sturm.“
(Luis / aus Zitrönchen – Auf die Pferde, fertig, los!)
Im Norden Englands geboren und aufgewachsen in Berlin, wo sie heute noch lebt. Pferde spielten in ihrem Leben schon von klein auf eine große Rolle. Zusammen mit den eigenen Pferden und ihren beiden Töchtern, die inzwischen schon erwachsen sind, erfuhr sie ein „Pferdeleben“ mit allen Höhen und Tiefen.
In einer großen Schatzkiste hütet sie bis heute spannende Geschichten, die das Leben selbst geschrieben hat.
Ein gutes Pferd hat keine Farbe
Braune Rappen jagen Füchse
Ein klarer Fall von Dickfelligkeit
Nonstop im Herzgalopp
Auf die Pferde, fertig, los!
Wahre Pferdestärke kommt von innen
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© 2018 Maria Durand - 6. Band
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7528-1896-3
Mücke konnte nur schwer atmen. Sie saß eng zwischen Jo und Samantha gepresst auf der obersten Stufe der Treppe.
„Rutscht ein Stück!“, forderte Esra die Mädchen auf, woraufhin sie noch enger zusammenrückten.
„Ich bekomme keine Luft, wenn ihr mich einquetscht. Ich sitze hier schon wie die Wurst in der Pelle!“, beschwerte Mücke sich und versuchte sich Platz zu schaffen, als Samantha ihr den Ellbogen in die Rippen bohrte. „Aua!“, rief Mücke laut.
„Pssst“, zischte Jo, legte dann einen Finger über die Lippen ihrer kleinen Schwester und fügte ermahnend hinzu: „Sei leise! Ich verstehe kein Wort.“
„Wie soll man auch nur ein Wort verstehen, wenn ihr euch die ganze Zeit unterhaltet?“, bemerkte Samantha ungeduldig und rollte mit ihren Augen, als die Mädchen Inchis Mutter aus der Küche schluchzen hörten: „Ich weiß mir keinen Rat mehr, Frau Dumont.“
Esra biss sich auf die Unterlippe, genauso wie Jo und Mücke.
Samantha hingegen spitzte ihren Mund und runzelte die Stirn.
„Was hat Inchi getan?“, murmelte Mücke in deutlich gedämpftem Ton.
„Es muss schon ganz schön schlimm sein, wenn ihre Mutter bei uns in der Küche sitzt und weint“, flüsterte Jo zurück, woraufhin Esra nachdenklich und in Zeitlupe nickte.
Die Mädchen hörten Oma etwas sagen, doch sprach Oma so ruhig und leise, dass sie nur den Klang ihrer Stimme vernahmen, jedoch kein einziges Wort verstanden. Ratlos tauschten sie untereinander Blicke aus, die sie sich gegenseitig mit einem kurzen Zucken der Schultern beantworteten. Umso lauter drang kurz darauf ein erneutes Schluchzen von Inchis Mutter durch den Spalt der Küchentür.
„Was soll ich nur tun? Das Kind entgleitet mir. Sie hat nicht einmal mehr Interesse daran, in den Stall zu fahren.“
„Ich wusste es!“, rief Samantha und sprang auf.
Jo, Mücke und Esra schauten erschrocken zu ihr auf.
„Sie lässt uns hängen!“, fuhr Samantha aufgebracht fort, als Esra noch sichtlich überrascht nachfragte: „Wer lässt uns hängen?“
„Inchi natürlich!“, erwiderte Samantha mürrisch, als Mama in diesem Moment am unteren Ende der Treppe auftauchte.
Sie warf den Mädchen einen ernsten Blick zu.
„Ich wollte sowieso in den Stall“, erwiderte Samantha hastig Mamas Blick und eilte die Treppe hinunter.
Zögerlich folgten Jo, Mücke und Esra und Mama reichte ihnen die Jacken.
„Was ist denn mit Inchi?“, fragte Mücke besorgt, während sie in ihre Stiefel schlüpfte und Mama erwiderte: „Wenn wir das nur wüssten.“ Dann verstummte sie kurz, weil Inchis Mutter erneut ein unüberhörbares Schniefen von sich gab.
„Wir reden später“, sagte sie rasch und schob die Mädchen in Richtung Haustür.
„Aber warum weint Inchis Mutter denn so?“, wollte Jo wissen und Mama erwiderte: „Inchi macht wohl, was sie will.“ Dann öffnete sie die Haustür und nickte den Mädchen auffordernd zu.
Zögerlich stiefelten sie nach draußen, als ihnen ein eisiger Wind entgegenschlug. Hastig zogen sie sich ihre Mützen tiefer ins Gesicht und die Reißverschlüsse so hoch wie es nur ging.
„Moment! Ich hole Kimba!“, rief Mücke und rannte eilig zum Pavillon im Garten, während Jo, Samantha und Esra zum Tor liefen.
„Wie sollen wir jetzt eine Mannschaft bilden?“, fragte Samantha vorwurfsvoll und Jo bemerkte den verärgerten Ton in ihrer Stimme.
Mindestens genauso ärgerlich zischte Esra umgehend zurück: „Ist der Wettkampf jetzt dein einziges Problem? Mich interessiert viel mehr, was Inchi dieses Mal wieder angestellt hat.“
Doch das interessierte Samantha nicht. „Dann sag mir, wer für Inchi einspringen kann. Wir sind eine Mannschaft und es gibt keinen, der für Inchi einspringen kann!“, schimpfte sie wütend.
In diesem Moment kam Mücke auf Kimba sitzend hinter ihnen angetrabt.
„Kimba sieht aus wie ein Eisbär“, lachte Esra und ließ sich beim Anblick des Ponys für einen Augenblick von Samanthas Genörgel ablenken.
„Diese eisigen Temperaturen übersteht er auf jeden Fall“, erwiderte Mücke und fuhr mit ihrem Handschuh durch das dicke weiße Fell an Kimbas Hals.
„Da bin ich mir ganz sicher“, pflichtete Esra bei. „Der würde auch überleben, wenn ihr am Nordpol wohnen würdet.“
„Nordpol, pfff! Wen interessiert jetzt der Nordpol?“, grummelte Samantha in ihren Schal und stiefelte hastig voran.
Jo hatte Schwierigkeiten mit ihr Schritt zu halten.
Esra lief neben Mücke und Kimba und strich dabei immer wieder durch das dicke Fell.
„Jetzt lauf doch nicht so schnell, wir haben doch Zeit!“, beschwerte sich Jo nach ein paar Minuten bei Samantha und verlangsamte ihren Schritt.
Samantha reagierte nicht und stapfte weiter voran.
„Was hat sie denn nun schon wieder?“, fragte Mücke und bemühte sich leise zu sprechen, damit Samantha sie nicht hörte.
„Sie glaubt, dass Inchi uns beim Wettkampf sitzen lässt“, erklärte Esra, doch bemühte sie sich ganz und gar nicht um einen leiseren Ton und Mücke war sich sicher, dass Samantha jedes Wort verstanden hatte.
„Es gibt noch keinen neuen Termin“, versuchte Jo beruhigend auf die Situation einzuwirken.
„Ich bin froh, dass der Termin vor Weihnachten abgesagt wurde“, warf Mücke ein. „Für Bruschettino wäre es ganz schön viel gewesen und so haben wir mehr Zeit uns darauf vorzubereiten.“
„Wie lange dauert so eine Druse denn?“, fragte Esra.
„Lange, manchmal sehr lange“, antwortete Jo, überlegte kurz und fügte dann hinzu: „Druse ist ansteckend und der Tierarzt darf den Stall erst freigeben, wenn alle Pferde wieder gesund sind.“
„Ich möchte nicht, dass Kimba oder Bruschettino die Druse bekommen. Die Pferde leiden an hohem Fieber und bekommen riesige Eiterbeulen“, erklärte Mücke und verzog angeekelt ihr Gesicht. „Das müssen wir nicht haben. Von mir aus kann der Termin auch auf den Sommer verlegt werden“, fuhr sie fort.
Kimba warf zustimmend seinen Kopf hoch in die Luft, als hätte er jedes Wort verstanden.
„Der Termin wurde auf das Frühjahr verlegt und wir haben jetzt Frühjahr!“, mischte Samantha sich erneut ein. Sie hatte sich zu den Mädchen herumgedreht und stampfte mit ihrem rechten Bein ungeduldig auf den Boden.
Jo, Mücke und Esra schauten ihr gespannt entgegen.
„Das liegt an dieser Cordula!“, fügte Samantha rasch hinzu.
„Cordula?“, fragten die anderen erstaunt im Chor.
„Dieses Mädchen mit den künstlichen Augenbrauen. Ihr wisst schon. Die kurz vor Weihnachten Bent hinterhergerannt ist, wie ein Hund.“
„Ach, diieee“, vernahm Samantha die Antwort der Mädchen erneut wie aus einem Mund und erwiderte: „Genau die! Na, die knöpfe ich mir jetzt vor!“ Dann drehte sie sich wieder um und marschierte entschlossen voran.
In Jos Magen machte sich nun ein unwohles Gefühl breit. Sie wusste, dass der Schmetterling, der sich vor langer Zeit als lästiger Mitbewohner in ihrem Magen eingenistet hatte, die Lage längst erkannt hatte. Wie Jo bereits festgestellt hatte, liebte er besonders das Drama oder solche Situationen, aus denen man gut ein Drama machen konnte. Nun sank er theatralisch wie ein Stein auf den Grund ihres Magens und sorgte für ein schweres, drückendes Gefühl, das Jo tatsächlich traurig stimmte. Bevor sie jedoch weiter darüber nachdenken konnte, rief Esra Samantha warnend hinterher: „Diese Cordula heißt übrigens Cordelia und ist wirklich nicht nett!“, woraufhin Samantha sich noch einmal kurz zu den Mädchen herumdrehte und mit einem breiten Grinsen im Gesicht erwiderte: „Na und? Ich auch nicht!“
Während die Mädchen Samantha wortlos hinterherschauten, beschleunigte diese energisch ihren Schritt und steuerte zielstrebig auf das Tor der Reitanlage zu.
Hinter dem Tor tauchte Seba auf und winkte ihnen aufgeregt zu. Der Reitlehrer wedelte den Mädchen mit einem Blatt Papier in der Hand entgegen und forderte sie zur Eile auf.
„Glaubt ihr, was ich glaube?“, fragte Esra und Jo stellte nun einen besorgten Unterton in ihrer Stimme fest.
Der Schmetterling schlug aufgeregt mit seinen Flügeln gegen Jos Magenwände und verpasste ihr blitzartig einen heftigen Schluckauf. „Hicks – das ist die Ausschreibung – Hicks!“, antwortete Jo und Mücke fügte hinzu: „Verdammt! Dann haben wir jetzt tatsächlich ein dickes Problem.“
„Buenos días, die Damen!“, begrüßte Seba die Mädchen freundlich. „Ich habe eine großartige Überraschung“, fuhr er fort und Jo dachte einen Augenblick darüber nach, ob es wirklich eine so großartige Überraschung werden würde. Nachdem Inchi anscheinend wieder etwas ausgefressen hatte und Samantha stocksauer war, war diese von Seba sogenannte „Überraschung“ mit Sicherheit alles andere als „großartig“.
„Ist das die Ausschreibung?“, fragte Samantha und unterbrach damit Jos Gedanken.
„Jawoll, das ist sie und sie ist großartig!“, erwiderte Seba und Jo sah ihm an, dass er sich tatsächlich darüber freute. „Wenn ihr mit euren Pferden fertig seid, treffen wir uns in der Küche, Rosita backt gerade einen Kuchen“, fuhr der Reitlehrer fort, als Luis durch die Stalltür trat.
„Jo?“, rief er lauthals über den Hof. „Reiten wir aus?“
Doch bevor Jo antworten konnte, quiekte Mücke auf: „Au ja, ich reite mit!“
Jo setzte daraufhin an: „Ist es dafür nicht…“, als Samantha sie unterbrach: „Nein, es ist nicht zu kalt. Wir reiten aus!“
Während Jo sich ein wenig darüber wunderte, dass Samantha anscheinend ihre Gedanken lesen konnte, sah sie in Luis’ enttäuschtes Gesicht. Sie sah ihm an, dass er das so nicht geplant hatte.
„Weiß Bent Bescheid?“, fragte Samantha und Luis antwortete: „Bent ist im Stall bei Silver Lining“, woraufhin Samantha kurz ein Lächeln über die Wangen huschte.
„Mit Inchi können wir heute wohl nicht rechnen“, überlegte Esra laut, woraufhin Seba seine Augenbrauen hochzog und Esra überrascht ansah.
„Wieso nicht?“, fragte er und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: „Sie war heute Morgen schon früh hier, wir haben uns unterhalten und jetzt ist sie im Stall und putzt Chocolat.“
Die Mädchen sahen Seba entgeistert an und Jo fand, dass das eine viel schönere Überraschung war.
„Warum sagst du das nicht gleich?“, entfuhr es Jo noch, doch Samantha zog sie schon am Ärmel hinter sich her. Esra und Mücke folgten, während Seba mit Kimba auf dem Hof zurückblieb. Hastig stürmten sie an Luis vorbei in den Stall und trafen prompt in der Stallgasse auf Inchi und Bent.
Bent hielt Inchi eine Packung Taschentücher hin, während Inchi sich die Nase schnaubte.
Jo erkannte sofort, dass Inchi weinte. Ihre Augen waren von der Wimperntusche schwarz verschmiert.
Als Inchi die Mädchen hereinkommen sah, wandte sie sich einen Moment lang von ihnen ab und versuchte, sich rasch die Tränen aus dem Gesicht zu wischen.
Bent stand schweigend vor ihr und warf Samantha einen Blick zu.
Jo hatte schon mehrmals diese Art der Verständigung unter den beiden beobachtet. Es schien so, als könnte Bent mit Samantha reden, ohne dass er ein Wort sagte. Das Erstaunliche daran war jedoch, dass er der Einzige war, der Samantha auch auf diese Art im Zaum halten konnte. So war es auch dieses Mal.
Bents Blick bremste Samantha aus. Obwohl sie auf dem Weg zum Stall noch nahezu vor Wut schäumte und wie ein Feldwebel den Weg entlangmarschiert war, stellte sie sich ruhig neben Bent und versuchte in Inchis Gesicht zu schauen.
Jo hatte erwartet, dass Samantha ausflippen würde und Inchi, wie es Mama immer ausdrückt, „zur Socke machen“ würde. Aber im Moment verhielt sie sich ruhig, sagte kein Wort, sondern schaute Inchi nur erwartungsvoll an.
Nachdem sich Inchi die Tränen getrocknet hatte, was nicht viel nützte, weil immer wieder welche nachliefen, drehte sie ihr Gesicht zu den anderen herum.
Esra, die eigentlich Inchis beste Freundin war, nahm sie in den Arm und drückte sie einen Moment lang.
„Was ist denn bloß passiert?“, fragte Esra, doch Inchi antwortete nur mit ein paar neuen Tränen und einem heftigen Schnauben in ihr Taschentuch.
Luis, der inzwischen den Mädchen durch die Tür gefolgt war, warf nach einem kurzen Räuspern ein: „Vielleicht ist es wirklich ganz gut, wenn wir alle zusammen ausreiten. Ich schlage vor, wir machen jetzt unsere Pferde fertig und treffen uns in einer halben Stunde zum Abritt auf dem Hof.“ Dann schaute er in die Runde und die anderen nickten ihm kurz zu und liefen dann zu ihren Pferden.
Als Jo auf Zitrönchens Box zusteuerte, drang ihr wie jeden Tag ein schrilles Wiehern entgegen.
Luis, der neben Jo lief, murmelte leise: „Ich wäre lieber allein mit dir ausgeritten, aber ich glaube, dass eine Krisenbesprechung notwendig ist.“
„Eine Krisenbesprechung?“, fragte Jo erstaunt und Luis nickte.
„Ich habe das Gespräch zwischen Inchi und Seba mitbekommen. Seba ist zuversichtlich. Er sieht das alles nicht so schlimm wie Inchis Mutter. Er glaubt auch fest daran, dass Inchi wieder in die Spur kommt“, führte Luis weiter aus und bemühte sich leiser zu sprechen.
„Natürlich kommt sie wieder in die Spur“, erwiderte Jo. „Ich denke doch, dass keiner von uns daran zweifelt.“
„Nun ja, wenn du gehört hättest, was sie sich geleistet hat, dann…“, gab Luis zurück, doch wurde er von Zitrönchens erneutem lauten Wiehern übertönt.
Jo bemerkte den ungeduldigen Ton im Ruf ihres Pferdes und öffnete rasch die Boxentür.
„Ich komme ja schon“, antwortete sie ihm und schob ihm eine Möhre zwischen die Zähne. „Wir reiten aus“, berichtete sie weiter, „obwohl es dafür viel zu kalt ist.“
„Es sind drei Grad“, meldete sich Luis aus der gegenüberliegenden Box zu Wort. „Das ist über Null. Noch können wir raus. Nächste Woche sinken die Temperaturen, da wird es schwieriger werden.“
„Genau dann, wenn das Training beginnt“, murmelte Jo leise vor sich hin, doch es schien, als hätte zumindest Zitrönchen es verstanden, denn dieser versetzte ihr einen frechen Stups mit seiner Nase.
„Du musst dich benehmen!“, erklärte Jo und strich ihrem Pferd über die Stirn, woraufhin es seinen Kopf in Jos Arme legte und für einen Moment ganz still stand.
„Er ist das liebste Pferd der Welt, oder?“, hörte Jo Luis hinter sich sagen und Jo huschte ein Lächeln über die Wangen.
„Ja, in seiner Box ist er das immer“, antwortete Jo lachend, woraufhin Zitrönchen kräftig schnaubte, als wolle er protestieren. „Du hast ja recht, manchmal auch außerhalb der Box“, fügte sie lachend hinzu. Dann griff sie sich das Putzzeug und begann über Zitrönchens Fell zu bürsten.
Luis brachte Jo den Sattel und die Trense aus der Sattelkammer mit und kurz darauf standen sie neben den anderen auf dem Hof, bereit zum Abritt.
Inchi saß bereits auf Chocolat und wischte sich immer wieder die Tränen aus dem Gesicht.
Samantha schimpfte mit Goethe, der partout nicht stehen bleiben wollte.
„Was hat er denn?“, fragte Esra erstaunt. „Goethe ist doch sonst nie aufgeregt.“
„Er ist auch nicht aufgeregt, er ist hungrig“, erwiderte Samantha und versuchte Goethe, der sich die ganze Zeit im Schritt um sie herumdrehte, anzuhalten. „Er ist auf Diät.
Der Tierarzt hat gesagt, er sei zu dick und das sei ungesund“, erklärte Samantha und zerrte ungeduldig an den Zügeln bis Bent sich Goethe in den Weg stellte. Rasch schwang sie sich in den Sattel und Goethe drehte erneut kleine Kreise um die anderen herum.
„Dann lass ihn doch laufen“, warf Luis ein und grinste breit. „Jeder Gang macht schlank, oder?“
Die anderen lachten, nur Samantha konnte sich nicht dazu durchringen, was Jo verriet, dass sich ihre Stimmung noch nicht wirklich verbessert hatte. In Bents Gegenwart nahm sie sich jedoch immer zusammen und bemühte sich freundlich zu sein. Schließlich schaffte sie es, dass Goethe zwei Minuten stehen blieb, was ihr für den Moment erst einmal ausreichte.
„Ich finde ihn nicht zu dick“, mischte Mücke sich ein.
„Nachdem er damals die Futterkammer geplündert hatte, da war er dick.“ Und bei dieser Erinnerung konnte nun auch Samantha sich ein leichtes Grinsen nicht verkneifen, ebenso wie Inchi, die jetzt weinte und lachte.
„Es wird kalt, wenn wir hier weiter rumstehen“, mahnte Jo, woraufhin Luis sich in Corazóns Sattel schwang und die Hand hob, was das Zeichen für den Abritt war.
„Auf geht’s, ganz ruhig im Schritt!“, rief er und ritt vorne weg durch das Tor der Reitanlage.
„Denkt an unsere Besprechung!“, rief Seba ihnen nach und Jo antwortete leise, ohne dass Seba es verstehen konnte: „Ich denke die ganze Zeit an nichts anderes.“
„Luis, weißt du schon was in der Ausschreibung steht?“, rief Samantha von hinten nach vorne.
„Nein, aber Inchi vielleicht!“, gab Luis zurück, woraufhin Inchi aufschaute und ihm zunickte.
„Ja, Seba hat sie mir vorgelesen“, antwortete Inchi und Jo bemerkte, dass ihre Augen aufhellten und die Traurigkeit, die bisher in ihrem Gesicht zu sehen war, verflog.
„Vier reiten Dressur und vier reiten Springen, aber es darf höchstens ein Reiter doppelt reiten“, erklärte sie und schaute in die gespannten Gesichter der anderen.
„Was heißt einer darf doppelt reiten?“, fragte Esra nach, woraufhin Inchi fortfuhr: „Ein Reiter, der Dressur reitet, darf auch springen. Die anderen reiten entweder Dressur oder Springen.“
„Das verstehe ich nicht“, gab Esra nachdenklich zurück, als Samantha einwarf: „Das heißt, pro Mannschaft müssen es mindestens sieben Reiter sein, aber es können auch acht sein.“
„Richtig!“, erwiderte Inchi. „Falls also einer ausfällt, darf einer beides reiten.“
„Und was ist, wenn noch einer ausfällt?“, fragte Samantha und Jo vernahm sofort einen drohenden Unterton in ihrer Stimme, der Inchi galt.
Doch bevor Inchi antworten konnte, stellte Mücke fest: „Wir sind sieben!“
„Wir brauchen obendrein noch einen Mannschaftsführer“, erklärte Inchi und versuchte so Samanthas Frage zu umgehen, obwohl sie ahnte, worauf Samantha anspielte.
„Ist Seba nicht der Mannschaftsführer?“, fragte Esra und versuchte den anderen zu folgen.
„Das müssen wir noch einmal nachlesen. Ich glaube, da gab es besondere Vorschriften“, erwiderte Inchi.
„Dann können wir es vergessen!“, warf Samantha erneut ein und nun schien ihr anscheinend die Anwesenheit von Bent völlig egal. „Wenn Inchi uns sitzen lässt, fehlt uns schon einer und wenn wir dann noch einen Mannschaftsführer suchen müssen, dann wird das nichts!“, prustete sie los.
„Nun mal doch nicht gleich schwarz!“, mischte Bent sich umgehend ein. „Und wieso sollte Inchi uns sitzen lassen?“, fragte er nach und schaute Samantha dabei fest in die Augen.
„Weil ihre Mutter gesagt hat, dass sie sich gar nicht mehr für den Stall interessiert. Und das haben wir ja auch gesehen. In der letzten Woche war sie gar nicht da. Die Woche davor nur ein Mal!“, schimpfte Samantha und nahm nun keine Rücksicht mehr auf Inchis Anwesenheit. „Sie treibt sich lieber mit dieser Cornelia herum!“
„Cordelia“, korrigierten Esra und Mücke wie aus einem Mund.
„Cordelia, Cornelia oder Cordula, ist mir wurscht wie die heißt!“, fuhr Samantha wütend fort. „Die baut den Mist und Inchi macht mit!“
Und dann war es still. Die Mädchen, Bent und Luis schauten Samantha an und richteten dann ihre Blicke auf Inchi.
Inchis Augen füllten sich in diesem Moment wieder mit Tränen und sie schüttelte ihren Kopf, bevor sie leise sagte: „Nein, dieses Mal war ich es, die das verzapft hat. Ich ganz allein.“ Dann senkte sie ihren Blick und hielt sich den Handschuh vors Gesicht und schluchzte ein paar Mal.
„Kannst du dich nicht ein Mal, nur ein einziges Mal, zurücknehmen?“, warf Esra Samantha vor.
Doch Samantha dachte gar nicht daran. Auch ein warnender Blick von Bent bremste sie nicht.
„Dann sag mir, wer reitet für Inchi?“, erwiderte Samantha zornig.
„Ich reite!“, warf Inchi unter Tränen ein. Sie konnte kaum sprechen, seufzte und schniefte und Mücke kramte in ihrer Jackentasche nach einem Taschentuch.
„Ich werde euch nicht hängen lassen. Natürlich werde ich reiten. Ich verspreche es!“, brachte sie schluchzend hervor.
Mücke reichte Inchi das Taschentuch und nun war sie es, die Samantha einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, den Samantha anscheinend auch wahrnahm, denn sie verstummte augenblicklich.
Nach ein paar stillen Minuten, in denen nur das Schnauben von Inchi zu hören war, setzte sich der Trupp erneut im Schritt in Bewegung.
Samantha, die an letzter Stelle ritt, schwieg.
Im Wald angekommen, hob Luis die Hand und wies die anderen mahnend an: „Ruhig im Trab. Keine spektakulären Auftritte. Sobald etwas ist, parieren wir durch. Ist das klar?“
Die anderen nickten und obwohl Luis das nicht sah, drückte er sanft seine Waden gegen den Bauch seiner Stute, die sich ohne zu zögern in den Trab setzte.
Zitrönchen zeigte sich ein wenig angespannt und Jo musste ihn immer wieder ein wenig zurücknehmen.
„Braaaav!“, lobte sie ihn mehrfach und fühlte dann, dass auch Zitrönchen sich nach und nach entspannte.
Nur ihr Schmetterling krallte sich weiterhin in ihre Magenwände und sorgte somit für ein verkrampftes Gefühl in ihrem Bauch.
Jo dachte darüber nach, was Inchi nur angestellt haben könnte. War es wirklich so schlimm? Samantha hatte schon recht, Inchi hatte sich in letzter Zeit wenig im Stall blicken lassen, dachte Jo. Inchis Mutter saß bei Oma und Mama weinend in der Küche, das gab es wirklich noch nie. Aber heute ist sie in den Stall gekommen. Genau an dem Tag, an dem auch diese Ausschreibung in den Stall flatterte.
Vielleicht kam diese Ausschreibung ja genau zur richtigen Zeit und vielleicht war dieser Vereinscup jetzt auch das Richtige, überlegte Jo weiter.
Und Samanthas Stimmungslage? Sie konnte es nicht lassen, wenn sie wütend war, bekamen das immer die anderen ab. Doch nun verhielt sie sich ruhig, denn Inchi hatte ihr die Antwort geliefert, die sie hören wollte, dachte Jo.
Was auch immer Inchi verzapft hatte, jetzt war sie da. Sie ritt mit ihnen bei diesen frostigen Temperaturen durch den Wald, wie immer, und sie hatte versprochen, sie nicht hängen zu lassen.
„Dann sind wir jetzt eine Mannschaft?“, unterbrach plötzlich eine Stimme Jos Gedanken.
Sie kam von Inchi, deren Tränen vom eisigen Wind getrocknet waren und nun wie eine Kruste auf ihren Wangen klebten.
Luis hob die Hand, parierte Corazón durch zum Schritt und hielt kurz darauf an. Er drehte sich zu den anderen herum, die ebenfalls ihre Pferde zum Stehen gebracht hatten, und erwiderte: „Natürlich sind wir eine Mannschaft! Aber bitte, wir sind nicht irgendeine Mannschaft…“, er lachte und schüttelte den Kopf, bevor er weitersprach: „Glaubt mir, wir sind der Haufen, an den sich die anderen noch lange erinnern werden!“
Seba hatte das Tor zum Hof bereits weit geöffnet, als die Mädchen, Bent und Luis zurückkehrten.
Nachdem sich die Stimmung beruhigt hatte, traute sich keiner Inchi zu fragen, was sie denn angerichtet hatte.
Samantha bemühte sich sogar um ein paar freundliche Worte und half ihr beim Absatteln.
„In zehn Minuten in der Küche!“, trieb Seba die Mädchen an und wandte sich dann an Bent und Luis: „Jungs, ich brauche euch draußen.“ Dann verschwand er mit den beiden durch die hintere Stalltür in Richtung Weide.
Bevor die Mädchen sich auf den Weg zur Küche machten, stoppte Inchi sie mit den Worten: „Ich bin heute Nacht Auto gefahren.“
Jo, Mücke, Esra und Samantha blieben wie angewurzelt stehen. Nur langsam drehten sie sich zu Inchi herum und starrten sie an.
Inchi hingegen schaute auf den Boden und versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten, was ihr nach ein paar Atemzügen auch gelang. „Ich habe das Auto meiner Mutter genommen und bin damit in die Stadt gefahren. Auf dem Rückweg überquerten Rehe die Straße und ich musste bremsen und bin dann…“, sie unterbrach, knetete ihre Handschuhe und fuhr dann mit zittriger Stimme fort: „Dann habe ich das Auto gegen einen Baum gefahren.“
Jo hatte das Gefühl, dass der Schmetterling tief in ihrem Innern vor lauter Schreck erstarrte und dieses Gefühl übertrug sich nun auf all ihre Gliedmaßen.
„Du hast das Auto deiner Mutter zu Schrott gefahren?“, prustete Samantha heraus und Inchi nickte, ohne aufzuschauen.
„Du kannst doch gar nicht Autofahren!“, warf Esra ein und ihre Stimme zitterte mindestens genauso wie Inchis zuvor.
Die Mädchen starrten Inchi fassungslos an.
„Lass mich raten, Cordula hat es dir gezeigt!“, blaffte Samantha.
Doch bevor Inchi antworten konnte, hörten sie Sebas Stimme hinter sich sagen: „Das spielt keine Rolle, wer hier wem etwas beigebracht hat. Wir haben das besprochen.
Inchi hat keinen Führerschein und darf sich nicht hinter das Steuer setzen. Das war ein Fehler.“
Die Mädchen drehten sich zu ihrem Reitlehrer herum und schauten nun auch in die ernsten Gesichter von Bent und Luis, die anscheinend schon informiert waren.
„Bei allem Übel, ich bin froh, dass Inchi und den anderen nichts passiert ist“, fügte Seba hinzu.
„Den anderen?“, fragte Samantha und zeigte sich sichtlich schockiert. „Du hast noch welche mitgenommen?“
„Samantha, bitte!“, mahnte Bent, doch Samantha schüttelte den Kopf, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und fragte erneut: „War das deine Idee?“
Nun griff Seba ein: „Samantha, das führt doch zu nichts. Was geschehen ist, ist geschehen. Es spielt keine Rolle, wer auf die Idee gekommen ist. Ich verstehe, dass es für euch schwer zu verstehen ist, wenn es überhaupt zu verstehen ist, aber…“, doch dann verstummte er.
Auf der Stallgasse tauchte Inchis Mutter in Begleitung eines Polizisten auf, der Seba, die Mädchen, Bent und Luis freundlich begrüßte. Anschließend wandte er sich an Inchi