„Ich glaube,
dass man nicht so einfach Pferdisch lernen kann, denn jedes Pferd spricht sein eigenes Pferdisch.“ (Oma / aus Zitrönchen – Ein gutes Pferd hat keine Farbe)
Maria Durand
Im Norden Englands geboren und aufgewachsen in Berlin, wo sie heute noch lebt. Pferde spielten in ihrem Leben schon von klein auf eine große Rolle. Zusammen mit den eigenen Pferden und ihren beiden Töchtern, die inzwischen schon erwachsen sind, erfuhr sie ein „Pferdeleben“ mit allen Höhen und Tiefen.
In einer großen Schatzkiste hütet sie bis heute spannende Geschichten, die das Leben selbst geschrieben hat.
Zitrönchens Abenteuer
Ein gutes Pferd hat keine Farbe
Braune Rappen jagen Füchse
Samantha ließ Goethe auf der kleinen Wiese vor der Reithalle Gras fressen. Der Februar gab allerdings nicht mehr als ein paar Grashalme her. Der frühe Samstagmorgen zeigte sich eisig kalt, mit glitzerndem Raureif auf den Dächern, an den Bäumen und an den vom letzten Jahr übrig gebliebenen Blättern. Nach ein paar dunklen Tagen schien endlich mal wieder die Sonne, die Goethes Fell braun färbte.
Inchi, Jo und Mücke traten durch das Tor der Reitanlage, woraufhin Samantha die drei freundlich begrüßte.
Doch die Freundlichkeit währte nicht lang.
Inchi trat an Goethe heran und musterte mit hochgezogenen Augenbrauen Goethes Fell. „Ich glaube, die haben dir das falsche Pferd verkauft.“
Samanthas freundliches Gesicht verzog sich schlagartig zu einer ernsten Miene, die aber für Jo und Mücke weniger bedrohlich wirkte als Samanthas freundliches Gesicht. Mit funkelnden Augen war Samantha ihnen irgendwie besser vertraut.
„Wieso?“, fragte Samantha, schob ihre Mütze aus dem Gesicht und blickte Inchi auffordernd an. Inchi betrachtete immer noch Goethes glänzendes Fell und antwortete ohne Samantha anzusehen: „Du hast definitiv keinen Rappen gekauft. Goethe ist eindeutig braun.“
Jo und Mücke begannen zu lachen und liefen weiter in Richtung Stall.
Samantha schien nicht sehr amüsiert.
„Goethe ist ein Rappe!“, verteidigte Samantha sich und Jo vernahm den warnenden Ton in ihrer Stimme noch an der Stalltür.
„Ist er nicht!“, antwortete Inchi bestimmt, drehte sich zu Samantha um und grinste über das ganze Gesicht: „Goethe ist braun. Eindeutig braun.“
Mücke sah von der Stalltür aus, wie Samantha die Zähne zusammenbiss, was auch Inchi nicht entging.
„Bleib locker, Sam“, versuchte Inchi Samantha zu beruhigen, „dann ist Goethe halt ein Brauner.“
Samantha kniff die Augen zusammen, was für Inchi jetzt das Zeichen für den Abflug bedeutete. Sie drehte sich rasch um und folgte Jo und Mücke, die immer noch in der Stalltür warteten.
„Ich habe wenigstens ein Pferd!“, rief Samantha Inchi nach, woraufhin Inchi sich noch einmal umdrehte und Samantha zurief: „Richtig, ein braunes“, dann rannte sie los.
Mücke hielt Inchi die Stalltür auf und Inchi landete nach einem großen Satz auf der Stallgasse. Vorsichtshalber schloss Mücke rasch die Tür, bei Samantha musste man mit allem rechnen.
„Ob das so schlau war?“, fragte Mücke und hob dabei warnend den Zeigefinger der rechten Hand. Aber es dauerte nur ein paar Sekunden, bis auch sie sich das Grinsen nicht mehr verkneifen konnte.
„Inchi, du kleines Zicklein“, mischte Jo sich ein, „du kannst es nicht lassen, oder?“ Doch bevor Inchi darauf antworten konnte, unterbrach ein lautes Wiehern die Unterhaltung.
Eilig folgte Jo dem Ruf, der aus der letzten Box am Ende der Stallgasse kam.
Jo blickte in die Box und eine weiche Nase drückte sich von innen an die Gitterstäbe.
Als Jo die Boxentür öffnete traute sie ihren Augen nicht.
„Was hast du gemacht?“, fragte sie entsetzt, doch das Pferd gab ihr keine Antwort, sondern erwiderte Jos Blick genauso vorwurfsvoll.
„Zitrönchen“, Jo versuchte einen strengen Ton anzuschlagen, „so geht das nicht. Oma kann nicht jede Woche eine neue Stalldecke für dich kaufen.“
Zitrönchen wollte einen Schritt auf Jo zugehen, jedoch hinderte ihn die Winterdecke daran. Die Decke hing zur Hälfte zerrissen um seinen Hals, die andere Hälfte wickelte sich um seine Beine.
Mücke und Inchi, die inzwischen auch vor Zitrönchens Box standen, begannen zu lachen und Inchi prustete hervor: „Ich würde mal sagen, Zitrönchen hatte heute Nacht keine kalten Füße.“
Mücke kramte in ihrer Tasche nach ihrer Kamera und fing gekonnt den Augenblick ein.
Jo schüttelte den Kopf: „Das wird Oma nicht gefallen“, dann befreite sie Zitrönchen von seiner Fußfessel. „Es wird Zeit, dass es Frühling wird.“
Mücke stimmte Jo zu und hob den anderen Fetzen der Decke über Zitrönchens Hals, als Seba in der Boxentür auftauchte.
„Buenos días Mädels, ich muss mit euch reden.“
Inzwischen kannten Jo und Mücke ihren Reitlehrer sehr gut und bemerkten, dass seine Stimme an diesem Morgen irgendwie ernster klang als sonst.
Inchi, die wie Jo und Mücke noch in Zitrönchens Box stand, warf sofort ein: „Ach, das mit Sam, das war doch nur Spaß, aber er ist wirklich braun. Hast du das schon gesehen?“
Seba sah Inchi verwundert an, runzelte die Stirn und fragte nach: „Wer ist braun?“
„Goethe ist ein Brauner“, verkündete Inchi und irgendwie klang sie ein bisschen stolz.
Seba winkte ab. „Goethe ist ein Rappe. Natürlich ist er jetzt braun. Er ist ein sogenannter Sommerrappe, im Sommer schwarz, im Winter braun. Das kannst du dir gleich für dein Abzeichen merken.“
Jetzt verzog sich Inchis Gesicht zu einer ernsten Miene und nun war Jo es, die sich das Lachen nicht mehr verkneifen konnte.
„Auweia Inchi, da hast du aber jetzt was angestellt“, flüsterte Jo Inchi zu.
Seba blickte fragend in die Gesichter der Mädchen. „Wovon redet ihr? Ich wollte etwas mit euch besprechen.“
„Du kommst nicht wegen Sam?“, fragte Inchi kleinlaut und Seba schüttelte den Kopf.
„Nein, wegen Luis.“
Jo vermisste ihn an diesem Morgen schon. Nicht Luis, sondern den Schmetterling in ihrem Magen. Nun aber meldete er sich mit einem nervösen Flattern, wodurch ein beunruhigendes Gefühl entstand. Als wolle sie den Schmetterling beruhigen, legte Jo die Hand auf ihren Magen und fragte vorsichtig nach: „Was ist mit Luis?“
Seba antwortete ungeduldig: „Das will ich euch die ganze Zeit erzählen, aber ich komme ja nicht dazu!“ Dabei sah er Inchi an, die einerseits erleichtert, aber auch andererseits gespannt Sebas Blick erwiderte.
„Guten Morgen!“, schallte es durch den Stall, woraufhin Jo, Inchi und Mücke vor die Box auf die Stallgasse traten.
Esra hüpfte gut gelaunt die Stallgasse herunter, direkt auf sie zu. Hinter ihr stiefelten Goethe und Samantha, sichtbar weniger gut gelaunt, was dazu führte, dass Inchi angespannt von einem Bein auf das andere trat.
Seba, der nun immer noch nicht zu Wort gekommen war, holte Luft, doch Esra unterbrach ihn: „Was ist denn hier los? Ihr schaut so ernst.“
Seba räusperte sich lautstark bevor irgendjemand antworten konnte: „Jetzt rede ich. Gut, dass ihr auch da seid, ich wollte etwas mit euch besprechen.“
Esra und Samantha blieben stehen. Jo sah den eisigen Blick, den Samantha Inchi zuwarf, doch dann fuhr Seba fort:
„Luis kommt heute Abend zurück und er kommt nicht allein.“
Während sich bei Jo der Schmetterling beruhigte, stockte Esra der Atem. „Hat er eine Freundin?“, fragte sie entsetzt.
Seba verdrehte die Augen. „Also wenn ich einmal aussprechen dürfte, dann…“
„Ich wusste es!“, schnaubte Esra, doch bevor sie einen hysterischen Anfall bekommen konnte, warf Seba ein: „Esra, Luis bringt ein Pferd mit.“
Schlagartig entspannte sich Jos Schmetterling restlos, sowie Esra, die sogar ein Lächeln aufsetzte.
„Kinder, mit euch ist das nicht leicht“, seufzte Seba, zwinkerte dann aber Jo zu. Er atmete tief ein und sprach weiter: „Bitte, ich möchte euch bitten, die Box hier neben Goethe herzurichten, ich schaffe es leider nicht. Ich muss noch Einkäufe erledigen und das Haus vorbereiten, denn meine Schwester, also Luis Mutter kommt auch mit. Sie ist noch immer sehr geschwächt, auch wenn es ihr schon besser geht, aber hier bei mir ist sie besser aufgehoben, als allein in Spanien. Um halb eins kommen schon die Zwillinge zum Unterricht, danach beginnt euer Abzeichentraining, also muss vorher alles fertig sein.“
Seba seufzte erneut, er wirkte sichtlich angespannt. „Und ich habe noch kein Kostüm für Montag rausgesucht“, fügte er hinzu.
Die Mädels, einschließlich Samantha, waren sich einig, dass sie die Box herrichten wollten und Inchi bot an, Seba im Haus zu helfen. Wohl aus Sicherheitsgründen, wie Jo sich dachte, denn so ging sie Samantha aus dem Weg.
„Mein Vater und ich wollten nach dem Training einkaufen gehen, wenn du mir eine Liste schreibst, erledigen wir den Einkauf für dich, Seba“, bot Samantha an und Jo fand, dass Samantha manchmal auch richtig nett sein konnte.
Seba freute sich sehr über die Unterstützung der Mädchen. „Es gibt da noch was“, erklärte er, „das Pferd ist ein Geschenk von Luis Mutter. Das Pferd wurde damals von Luis Vater eingeritten. Sie ist also etwas ganz Besonderes.“
„Sie?“, fragte Esra.
„Ja, sie. Das Pferd ist eine Stute. Corazón ist ihr Name. Sie ist in Spanien sehr bekannt, war sehr erfolgreich im Springsport.“
„War?“, fragte Esra noch einmal nach.
„Ja, sie stürzte im letzten Jahr auf einem Turnier und war lange sehr schwer verletzt.“ Seba schaute in die Augen der Mädchen und fuhr fort: „Das bedeutete das Aus für den Sport. Sie sollte eingeschläfert werden, aber Luis Mutter hat sie letzten Herbst zu sich genommen und auf die Weide gestellt. Nun läuft sie wieder, wenn auch noch nicht unter vollem Einsatz, aber sie läuft. Daran hat keiner mehr geglaubt.“
Es war mucksmäuschenstill, man konnte nur das Kauen und Schnauben der Pferde hören. Alle lauschten gespannt und sie erschraken, als Seba plötzlich in die Hände klatschte. „Also, ran an die Arbeit. Wenn wir alles geschafft haben, essen wir heute Abend alle zusammen. Da wird sich Luis freuen.“ Und dieses Versprechen freute auch die anderen, die sofort in alle Richtungen ausschwärmten.
Jo kam mit einer großen Schubkarre zurück, die mit Stroh beladen war. Samantha und Mücke nahmen das Stroh entgegen und verteilten es in der leeren Box.
„Das reicht noch nicht“, bemerkte Samantha, woraufhin sich Jo erneut mit der Schubkarre auf den Weg machte. Als sie die Stallgasse verließ, schnitt der Wind ihr in die Wangen, so dass sie ihren Schal höher zog und die Mütze tiefer ins Gesicht rückte. Während sie das Stroh auflud dachte sie, dass ihr noch vor einem halben Jahr nicht einmal bekannt war, was ein Pferd in seiner Box alles haben musste. Nun hatte sie ein eigenes Pferd im Stall, das täglich mit Stroh und Heu versorgt werden musste, einen Haufen Hafer fraß und ihr mindestens dreimal so viele Haufen Äpfel hinterließ, die alle sorgfältig zum Misthaufen geschafft werden mussten. Tag für Tag. Besonders im Winter musste sie mehrmals täglich nach dem Wasser gucken, da die Gefahr bestand, dass es einfriert, das wusste sie von Oma. Jo hielt inne und ein Lächeln huschte ihr über die Wangen. Sie hätte nie gedacht, wie gerne sie Pferdeäpfel schaufeln würde, sei es auch noch so kalt.
„Träumst du?“, fragte Mücke, die gekommen war, um Jo mit dem Stroh zu helfen.
Jo nickte und antwortete: „Ja, ich habe gerade daran gedacht, wie gerne ich Pferdeäpfel schaufle.“ Dabei setzte sie ein breites Grinsen auf.
„Also ich habe dir oft geholfen, obwohl ich Zitrönchen gar nicht reite“, erwiderte Mücke.
„Das war kein Vorwurf“, beruhigte Jo ihre kleine Schwester, „ich mache das wirklich sehr gern, für Zitrönchen.“
„Du hast ja recht, für Kimba mache ich auch alles“, Mücke überlegte kurz und fügte hinzu: „fast alles.“ Zusammen schoben Jo und Mücke die mit Stroh beladene Schubkarre zurück in die Stallgasse, wo Samantha und Esra bereits auf sie warteten.
„Na endlich!“, rief Samantha. „Ich habe nicht ewig Zeit, ich muss mein Kostüm noch abholen vor dem Training.“
Jo bemerkte, dass Samantha nicht mehr so freundlich klang, ließ sich jedoch nicht beirren und fragte nach: „Als was gehst du denn?“
„Das werde ich dir mit Sicherheit nicht verraten“, zischte Samantha und stocherte mit der Mistgabel im Stroh herum.
Jo versuchte die Stimmung zu verbessern und beschloss nicht auf Samanthas schlechte Stimmung zu reagieren. „Ich habe noch kein Kostüm, aber als ich Zitrönchen eben in der zerfledderten Decke gesehen habe, dachte ich, als Clown würde er sich sehr gut machen“, sagte Jo ruhig.
Mücke und Esra zeigten sich begeistert von dieser Idee und gaben Jo Tipps, wie sie am besten das Kostüm gestalten könnte.
Samantha beobachtete Esra und Mücke und es schien so, als würde ihr die Begeisterung der beiden gar nicht gefallen.
„Das wird aber ein sehr trauriger Clown“, warf sie ein, woraufhin Esra und Mücke verstummten und sie fragend ansahen.
Auch Jo, die gerade frisches Heu in einer Ecke der Box aufschüttelte, sah zu Samantha auf. Doch sie bekamen keine Antwort.
Samantha donnerte ihre Mistgabel auf den Boden und verließ die Box.
„Was war jetzt schon wieder falsch?“, fragte Mücke und warf Jo einen beunruhigten Blick zu.
„Nichts war falsch. Du kennst sie doch“, antwortete Jo und schüttelte weiter das Heu auf.
„Sooo“, bemerkte Esra und sah sich in der Box um, „das ist aber ein schönes Bettchen für…“, sie überlegte kurz.
„Wie hieß das Pferd nochmal?“
„Corazón“, erwiderte Mücke.
„Und das heißt was?“, fragte Esra nach, woraufhin Mücke mit den Schultern zuckte.
„Das wird Luis dir ganz bestimmt erzählen“, lachte Mücke.
„Mir wird er es aber zuerst erzählen“, stichelte Jo und blickte in das empörte Gesicht von Esra, die jedoch kurz darauf zu grinsen begann.
„Jajajaaaa“, lachte Esra. Es war bekannt, dass Esra Luis anhimmelte, denn Esra machte auch kein Geheimnis daraus. Nur Luis schien nicht so interessiert wie Esra, wovon Esra sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ. „Ihr werdet es schon sehen, eines Tages…“, schwor sie mit einem verschmitzten Lächeln, als Jo ihre Träume unterbrach.
„Als was verkleidest du dich, Esra?“
„Oh, ich werde mich und Emma mit roten Rosen schmücken, also gehe ich als Rosenrot“, antwortete Esra, woraufhin Mücke quiekend in die Luft sprang: „Suuuper, ich verkleide Kimba als Schneeweißchen. Das passt ja, dann reiten wir zusammen, ja?“
Esra lachte und nickte: „Das weiß ich doch, ich habe gehört, dass du stundenlang Schneeflocken ausgeschnitten hast. Da bin ich auf die Idee gekommen, deinen Gegenpart zu spielen. Wir haben dreißig Rosen zu morgen bestellt, die werde ich alle auf eine Decke nähen, so wie du deine Schneeflocken.“
Mücke war entzückt und hüpfte auf und ab. „Das wird toll! Das wird so so so toll!“
„Schneeweißchen und Rosenrot, pffff! Die kennt doch kein Mensch!“
Verdutzt drehten Esra und Mücke sich um und blickten in die eisigen Augen von Samantha.
Esra nahm ohne zu zögern Mücke beschützend in den Arm und antwortete: „Dann lernen sie uns halt kennen!“ Und Mücke drückte Esra ganz fest.
Kurz bevor die Zwillinge den Hof betraten, stellte Inchi fest, dass sie tatsächlich alle Aufgaben erledigt hatten.
Samantha hatte ihren Vater in den Stall bestellt, der nun für Seba allein den Einkauf erledigen wollte.
Jo konnte sich nun endlich voll und ganz auf Zitrönchen konzentrieren und Mücke war schon dabei, Kimbas Mähne zu bürsten.
Seba kramte noch im Schuppen und keiner wusste, wonach er wirklich suchte.
Inchi und Esra schlenderten auf den Schuppen zu, um zu fragen, welches Pferd sie im Abzeichentraining reiten sollten.
Plötzlich sprang Seba aus der Tür des Schuppens, er hielt einen Säbel in der Hand und über dem linken Auge trug er eine schwarze Augenklappe. Mit einem lauten „Huuuaaah“ brachte er Inchi und Esra zum Kreischen, was sicherlich noch im nächsten Dorf zu hören war.
Verängstigt klammerten sie sich aneinander.
Jo, Mücke und Samantha kamen aus dem Stall gestürmt und brachen in schallendes Gelächter aus. Jo wusste nicht, welcher Anblick besser war, der von Seba in einem viel zu engen Piratenkostüm, oder der von Inchi und Esra, die immer noch wimmernd aneinander hingen.
Seba ging zwei Schritte auf Inchi und Esra zu und obwohl die beiden ihn schon längst erkannt haben mussten, rannten sie laut quiekend vor ihm weg. Seba lachte und es sah fast so aus, als ob ihm ein paar Tränen vom Lachen die Wangen herunterlaufen würden. „Ach Kinder, ist das herrlich!“, lachte er. „Wenn ich so furchteinflößend bin, ist das genau das perfekte Kostüm für Montag“, fügte er hinzu und stiefelte in offenen Piratenstiefeln zu seinem Haus.
Eine halbe Stunde später, Seba hatte sich inzwischen wieder zurück in den Reitlehrer verwandelt, saßen die Zwillinge auf den Pferden und Jo putzte Zitrönchens Hals.
„Dich als Clown zu verkleiden ist bestimmt eine gute Idee“, sprach Jo leise und als ob Zitrönchen jedes Wort verstanden hätte, hob er den Kopf und schlug ihn nach oben. Für Jo war das ein klares Ja und sie begann das Kostüm zu planen. „Hmmm, aus den vielen kaputten Decken nähen wir dir eine bunte Decke mit Flicken. Solche Hosen tragen auch echte Clowns. In die Mähne binde ich bunte Blumen ein und deine Nase malen wir rot an. Einverstanden?“
„Einverstanden“, hörte Jo eine Stimme hinter sich und als sie sich umdrehte, lehnte ein junger Mann sich gelassen am Türrahmen an.
„Luuuuis!“, rief sie erfreut und sprang mit einem Satz zur Boxentür und umarmte ihn.
Jos Schmetterling sauste in ihrem Magen umher, so dass sie kurzzeitig das Gefühl hatte, er würde gleich aus ihr herausschießen, als Luis sie vorsichtig an sich drückte. Aber der Schmetterling ließ sich schnell beruhigen, als Jo feststellte, dass Luis ziemlich müde aussah.
Im letzten halben Jahr waren sie richtig gute Freunde geworden. Er war ihr eine große Hilfe, wenn sie Zitrönchen ritt. Jo war sich sicher, dass er Zitrönchen verstand wie kein anderer.
Zitrönchen begrüßte Luis auf seine Art, indem er ihm durch die Haare wuselte und sobald Luis sie wieder glatt strich, sorgte Zitrönchen für einen neuen Wusellook.
„Alles in Ordnung mit dir? Du siehst müde aus“, bemerkte Jo.
„Ja, wir sind lange gefahren die letzten drei Tage, Spanien liegt ja nicht um die Ecke“, antwortete Luis. „Na los, hilfst du mir abladen?“
Das ließ Jo sich nicht zweimal sagen und der Schmetterling spannte sich wie ein Flitzebogen durch ihren Magen. Zusammen liefen sie zum Tor, das Seba bereits weit geöffnet hatte. Er hielt seine Schwester im Arm und diesmal waren es tatsächlich Freudentränen, die an seinen Wangen herunterkullerten, so sehr freute er sich über das Wiedersehen mit seiner Schwester.
Als Seba sie endlich losließ und sie sich zu Jo und Luis herumdrehte, erblickte Jo eine zarte kleine Frau, die ihre dunklen Haare zu einem Dutt in den Nacken gebunden hatte. Ihr Gesicht und auch ihr Körper zeigten sich deutlich geschwächt, was sicherlich nicht nur der langen Autofahrt zuzuschreiben war. Seba stütze ihren Arm. „Luis, schaffst du das allein mit dem Pferd?“
„Natürlich, Jo hilft mir!“, antwortete Luis.
„Und ich!“, quietschte Mücke und sprang Luis von hinten auf den Rücken.
„Hey Moskito!“, begrüßte er Mücke und in dem Moment hüpften auch Esra und Inchi aus der Stallgasse und flogen Luis um den Hals. Samantha schlenderte hinterher und hob kurz die Hand zur Begrüßung, was Luis auf dieselbe Art erwiderte.
Esra und Jo ließen vorsichtig die Rampe des Transporters herunter und Luis schob Corazón vorsichtig rückwärts.
„Esra, pass auf, dass sie nicht an der Seite heruntertritt, auf dieser Seite ist das verletzte Bein.“
Natürlich passte Esra auf und Corazón stand schließlich sicher auf dem Hof der Reitanlage und wieherte lauthals. Anmutig und elegant stand die Stute nun da und blähte ihre Nüstern. Nahezu majestätisch schritt sie neben Luis her.
„Wie eine Königin“, flüsterte Jo und der Schmetterling flatterte vor Entzückung wie wild umher, was ihr fast die Sprache verschlug.
Corazóns Wiehern wurde aus dem Stall schallend erwidert.
Auch Esra und Inchi standen mit offenen Mündern neben dem Pferd und sogar Samantha schien sichtlich beeindruckt: „Wow, was ist das für eine Farbe?“, rutschte es ihr heraus.
„Ich würde sagen, sie hat gleich mehrere Farben.“ antwortete Mücke und tatsächlich zeigte Corazón sich in einem glänzenden weißen Haarkleid, gespickt mit kleinen roten Haaren. Oder war es ein rotes Fell mit weißen Stichelhaaren? Mücke ging näher ran und streifte das Fell mit ihren Fingern.
„Richtig, sie ist dreifarbig“, erklärte Luis, „Corazón ist ein Fuchsschimmel.“
„Mit schwarzen Füßen?“, fragte Inchi nach. „Und schwarzer Mähne?“
Luis schmunzelte. „Ja, ein Glückspferd, dreifarbige Pferde bringen Glück“, antwortete er und brachte Corazón in den Stall.
„Wir haben eine dreifarbige Katze zu Hause. Meine Mutter sagt auch, dass sie Glück bringt“, berichtete Esra ein wenig nachdenklich, als sie Luis hinterherliefen.
Dank der guten Vorbereitung war Corazón schnell versorgt.
Esra schaffte es innerhalb von zehn Minuten Luis alle Ereignisse des letzten Monats zu erzählen.
Sie wurden unterbrochen, als Seba auf der Stallgasse erschien.
„In zehn Minuten möchte ich jeden in der Halle sehen“, woraufhin jeder eilig zu seinem Pferd spurtete.
Inchi durfte ihre heißgeliebte Chocolat reiten, obwohl Seba sich nicht sicher war, ob die Stute sich zum Springen eignete. Aber den Dressurteil für das Reitabzeichen sollte Inchi erst einmal mit ihr reiten.
Auch Esra war erleichtert, dass sie Emma reiten durfte.
Mücke sollte es mit Kimba versuchen und Samantha war natürlich mit Goethe eingeplant.
Seba klopfte Luis freundlich auf den Rücken. „Geht es dir gut?“
„Ja, alles in Ordnung. Schläft sie?“, fragte Luis und Seba nickte.
„Bist du müde? Willst du auch etwas schlafen?“, fragte Seba zurück.
Doch Luis winkte ab. „Ich lass mir doch das erste Training für das Reitabzeichen nicht entgehen.“ Er lächelte und Seba sah, dass Luis erleichtert war, wieder zu Hause zu sein. Noch einmal klopfte er sanft auf Luis rechte Schulter und sagte aufmunternd: „Dann lass uns mal den Hühnerhaufen bändigen. Ich sage dir, ich hatte es nicht leicht mit ihnen.“ Dabei lachte er und zwinkerte Luis zu.
Es begann schon bei der Aufstellung der Pferde vor dem Aufsitzen. Irgendwie wirkten die Pferde unruhig, keines stand still und als Luis und Seba die Halle betraten wieherte Zitrönchen lauthals, so dass Jo schützend die Hand über ihr rechtes Ohr hielt. Auch Zitrönchen stand nicht still und daher gelang Jo der Aufstieg erst beim zweiten Versuch.
„Können wir uns vielleicht erst einmal beruhigen?“, fragte Seba in bestimmtem Ton, worauf ein Nicken der Mädels folgte. Seba hielt Kimba fest, damit Mücke aufsteigen konnte: „Selbst der alte Herr ist völlig aus dem Häuschen, so geht das nicht. Jetzt erst einmal im Schritt Abteilung bilden, Samantha voran, dann Jo, Esra, Inchi und du reitest am Ende, okay?“
Mücke nickte und fasste die Zügel nach, weil Kimba Sebas Anweisung anscheinend anders verstanden hatte und auf gar keinen Fall ans Ende wollte. Es dauerte ein bisschen, bis alle ihren Platz gefunden hatten.
Seba ließ mehrere Bahnfiguren im Schritt reiten und erklärte in beruhigendem Ton den Ablauf des Abzeichenlehrgangs: „Es gibt einen Dressurteil, einen Springteil und natürlich auch einen theoretischen Teil. Ihr müsst sicher im Umgang mit dem Pferd sein, in der Box, in der Stallgasse und außerhalb, aber das üben wir alles. Wir treffen uns jetzt zweimal in der Woche zum Reiten und einmal am Wochenende zum Theorieunterricht. Versucht die Termine einzuhalten, sonst fehlt euch nachher was. Mit den Pferden müssen wir schauen, vielleicht tauschen wir das eine oder andere noch einmal aus.“
Sofort stellte sich Protest ein, doch Seba unterbrach: „Wer redet während des Unterrichts?“, woraufhin einstimmig ein kurzes „du“ zu hören war und Seba erwiderte: „Gut! Das ist sehr gut!“
Er holte kurz Luft und rief dann laut: „Bügel überschlagen und Abteilung im Arbeitstempo Teeerraaaab!“
Ein leises Murren war zu hören, aber jeder folgte der Anweisung und langsam trat Ruhe ein, die Pferde entspannten sich zunehmend. Zum Ende der Stunde trugen Seba und Luis zwei Stangen und zwei Ständer in die Halle und bauten daraus einen kleinen Sprung, der jedoch gerade mal über Sebas Fußknöchel ragte.
„Ich möchte nur mal sehen, wie das funktioniert. Abteilung auf dem Zirkel geritten, Samantha du kommst im Trab hier mal rüber, die anderen bleiben weiter auf dem Zirkel.“
Goethe trabte gelassen auf den Sprung zu. Es schien, als wäre er die Ruhe selbst, doch kurz vor dem Sprung stoppte er, Samantha jedoch reagierte sofort und trieb ihn energisch vorwärts. Goethe trat an den Sprung heran, senkte den Kopf und blieb wie angewurzelt stehen, was Samantha nach vorne auf den Hals warf.
„Das ist nicht schlimm, lass ihn mal gucken und dann komm nochmal. Er kennt das sicherlich nicht“, beruhigte Seba und Luis stellte sich neben den Sprung, damit Goethe nicht ausweichen konnte.
Samantha ritt erneut an und trieb diesmal noch energischer als zuvor, indem sie fest ihre Waden an Goethes Bauch drückte und Goethe machte einen riesigen Satz über die Stangen, wodurch Samantha nun in die Rückenlage katapultiert wurde. Goethe musste jetzt nur noch einen kleinen Satz zur Seite hüpfen und schon lag Samantha im Sand. Wütend sprang sie auf und klopfte sich den Sand von ihrer Hose.
Goethe lief Seba direkt in die Arme.
„Aijaijai, das bedeutet viel Arbeit, er kennt das nicht. Aber er springt wenigstens. Steig nochmal auf und komm nochmal.“
Jo sah wie Samantha sich auf die Unterlippe biss und ihre Wangen zuckten vor Wut.
Samantha trieb Goethe nun so kräftig an, dass er aus dem Stand in den Galopp umsprang und auf das Hindernis zuraste.
„Im Traaaab Samantha!“, rief Seba, doch Samantha parierte Goethe nicht durch.
Goethe donnerte auf den Sprung zu und bohrte direkt vor den Stangen alle vier Hufe fest in den Sand.
Samantha flog im hohen Bogen über Goethes Hals und landete im Stehen auf der anderen Seite des Hindernisses.
„Samantha!“, rief Seba in einem strengen Ton. „Das nächste Mal nimm doch bitte das Pferd mit.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich habe gesagt im Trab, warum galoppierst du?“
Samantha antwortete nicht.
„Steig auf, Schritt und Feierabend für heute.“