Boris Strugatzki

Die Suche nach der
Vorherbestimmung

oder Der
siebenundzwanzigste
Lehrsatz der Ethik

Roman

Aus dem Russischen von
Erik Simon

Suhrkamp

Meinen lieben Freunden, mit denen ich mich heute – öfter oder seltener, aber immerhin – treffe, und denen von ihnen, die ich nun vielleicht niemals mehr treffen werde.

Evolution kann nicht gerecht sein.

Friedrich August von Hayek: Die verhängnisvolle Anmaßung

Stanislaw Krasnogorow, Programmierer künstlicher Intelligenz und Amateurschriftsteller, ahnt, dass in seinem Leben nicht alles mit rechten Dingen zugeht: Ganze 23 Mal hat Stanislaw, genannt Stak, am Rande des Abgrunds gestanden – und entkam jedes Mal dem Tod um Haaresbreite. Zufall? Oder Schicksal? Und wenn er nicht zufällig überlebt hat, muss es dann nicht eine Bestimmung geben, für die er gerettet und aufgespart wird? Auch der KGB wird auf die seltsamen Vorfälle aufmerksam und bringt sie mit einer Reihe ungeklärter Todesfälle in Zusammenhang. Doch niemand hat mit der Entschlossenheit gerechnet, mit der Stak plötzlich seine außergewöhnliche »Gabe« für sich nutzt und eine Zukunft inszeniert, die sich von unserer Gegenwart mehr als grundlegend unterscheidet …

Boris Strugatzki (1933–2012) zählt zusammen mit seinem Bruder Arkadi (1925–1991) zu den erfolgreichsten russischen Autoren der modernen Science-Fiction und Phantastik, ihre Bücher sind in über 30 Sprachen übersetzt. Viele ihrer Romane wurden verfilmt – unvergesslich Picknick am Wegesrand (st 670) unter dem Titel Stalker von Andrei Tarkowski. Die Suche nach der Vorherbestimmung schrieb Boris Strugatzki nach dem Tod seines Bruders.

Aus dem Russischen von
Erik Simon

Ein Wort des Autors

Ausnahmslos alle Helden dieses Buches haben mehrere Vorbilder. Die Züge dieser Vorbilder sind in jedem Helden in ziemlich willkürlichem Verhältnis vermengt. Dasselbe kann man von den krassesten im Buche geschilderten Situationen sagen. Obwohl vieles, sogar sehr vieles hier ohne größere Umstände von der Wirklichkeit abgekupfert wurde, hat es darum keinen Sinn, Fragen der Art »Wer ist wer, was ist was, wo und wann genau?« zu stellen.

Der überwiegende Teil der im Buche zitierten »Maschinen-Aphorismen« ist dem Sammelband Computerspiele (Leningrad: Lenisdat, 1988) entnommen. Der Autor nutzt die Gelegenheit, dem Schöpfer der entsprechenden Computerprogramme, D. M. Ljubitsch, seinen Dank und seine Hochachtung auszusprechen.

Erster Teil

Der Glückliche Junge

1

»Plötzlich kommt der Augenblick, wo du das Bedürfnis empfindest, ein Resümee zu ziehen«, sagte Stanislaw daraufhin. »Und das muss dir durchaus nicht erst auf deine alten Tage passieren ...« Er hatte einen Anfall von Tiefsinn. »Und es braucht nicht unbedingt einen besonderen Grund dafür zu geben! Das geht so: Jemand in dir, der für gewöhnlich mit seinen eigenen Angelegenheiten befasst ist, blickt plötzlich von diesen Angelegenheiten auf und spricht nachdenklich: ›Tja, mein Herr, für uns scheint es an der Zeit zu sein, ein Resümee zu ziehen ...‹«

Vikont hörte sich die Rede wohlwollend an, klopfte mit der Pfeife auf den Tisch und äußerte: »Gekauft. Schreib’s auf ...« Aber Stanislaw dachte natürlich nicht daran, etwas aufzuschreiben – er lauschte seiner inneren Empfindung, und er begriff schon, dass das ein Vorzeichen war. Das Gefühl verflüchtigte sich allmählich, verlor die Schärfe ... die Bestimmtheit ... die ursprüngliche wilde Vieldeutigkeit – die klare Treffsicherheit eines glücklichen Verses ... Schließlich verstand er doch nicht, welches Resümee zu ziehen es ihn plötzlich gedrängt hatte.

Das geschah im Jahre neunzehnhundertsiebzig, im Frühling, an dem Tag, als Stanislaw siebenunddreißig wurde. Genauer, am Abend dieses Tages, und noch genauer – nachts, als die Gäste schon gegangen waren; die Mutti hatte begonnen, das Geschirr wegzuräumen, und Stanislaw war mit seinem Freund Viktor Kikonin (genannt Vikont) an die frische Luft gegangen, und an der frischen Luft hatten sie beschlossen, noch ein bisschen beisammenzusitzen – nun bei Vikont.

Es gab eine Flasche rosigen »Vin de mas«, es gab starken Kaffee mit Pflaumenkonfitüre, die Gitarre klimperte leise, und die beiden Schöpfer, die beiden wahren Dichter, Busenfreunde, fast Brüder, hoben sacht und mit Gefühl an:

Am Steuerrad die Hand erstarrt,

Der Mast im Nebelgrau zerrinnt,

Schwer liegt’s dem Seemann auf der Seele,

Voraus nur Finsternis und Wind ...

(Worte vom Autorenkollektiv Krasnogorow & Kikonin, Melodie – dito.) Aus irgendeinem Grunde kam es Stanislaw in den Sinn, dass er mehrmals am Ertrinken gewesen war. Genaugenommen dreimal. Das erste Mal schon als ganz kleiner Junge, noch vor dem Krieg, in einem Teich des Waldparks. Mutti hatte am Ufer gesessen und sich mit Tante Lida unterhalten, und der kleine Slawa hatte zunächst am Rande geplanscht, dann aber beschlossen, weiter ins Wasser zu gehen. Anfangs hatte er festen Grund unter den Füßen, dann kam eine dünne und ekelhafte Schlammschicht, dann eine Art Ziegelschutt, und dann nichts mehr. Schwimmen konnte Slawa nicht. Vor Angst riss er die Augen auf, er sah über sich trüben Lichtschein, vor sich wogende Finsternis und begann krampfhaft zu zappeln, wusste schon, dass er verloren war. Und plötzlich tauchte unter den Füßen wieder fester Grund mit einer dünnen Schlammschicht auf. Rasch ging er ans Ufer und setzte sich neben die Mutti auf die ausgebreitete Decke. Niemand hatte etwas gemerkt. Und nichts ringsum hatte sich verändert. Und plötzlich kam ihm der Gedanke, er sei in Wahrheit schon ertrunken, auf der Decke aber sitze statt seiner jemand anders, und niemand bemerke diesen wichtigen Umstand. Und genau in diesem (und nur diesem einen) Augenblick erschrak er richtig.

Der zweite Fall war viel interessanter. Es war eine ziemlich sonderbare Geschichte. Schon während des Krieges – sie waren aus Leningrad evakuiert worden und lebten in dem kleinen Dorf Kischla in der Tschkalower Oblast – hatte Slawa mit Dorfkindern eine Bootsfahrt unternommen. Sie waren zu fünft ins Boot geklettert, hatten die Ruder hervorgeholt, und plötzlich begann Tolka Brunow mit schrecklicher Stimme zu brüllen und wurde kreideweiß. Schon das war an sich so entsetzlich, dass einem der Atem stockte, und da sah Stanislaw noch, warum Tolka brüllte: Auf dem Bug, inmitten irgendwelcher alter Lappen, saß eine ungeheuerliche, riesige Spinne, grün mit roten Punkten und faustgroß. Slawa konnte sich später nie erinnern, wie er ins Wasser geraten war. Alle fünf fanden sich im Wasser wieder, und nur durch ein Wunder kippte das Boot nicht um. Slawa hatte damals schon schwimmen gelernt, er tauchte auf und wollte gerade aus Leibeskräften zum nahen Ufer starten, als er entdeckte, dass auf dem Wasser direkt vor seinem Gesicht, die grünen Beine nach allen Seiten ausgestreckt, ebendie Spinne schaukelte und ihn aus blutroten Ansammlungen von Augen anschaute, von denen sie eine Million hatte. Und da klinkte sich Slawas Bewusstsein aus. Weiter erinnerte er sich an nichts. Die Kinder erzählten ihm später, dass er reglos an der Oberfläche schwamm, sodass der Hinterkopf aus dem Wasser ragte, und völlig weggetreten war. Sie zogen ihn rasch ans Ufer und pumpten das Wasser aus ihm raus. Die Spinne hatte niemand mehr zu Gesicht bekommen. Viel später dann, schon wieder in Leningrad, schon erwachsen, hatte Slawa eine Menge Bestimmungsbücher für Gliederfüßler gewälzt und sogar im Zoologischen Museum nachgefragt, doch alles vergebens – wie sich zeigte, war der Wissenschaft diese sonderbare und schreckliche Spinne unbekannt. Sie kam in der Natur nicht vor, zumindest nicht in den russischen Breiten ...

Und was das dritte Ertrinken betraf ... die Ertränknis ... das »katastrophische Untertauchen in Wasser ohne anschließendes Verlassen desselben« – beim dritten erinnerte sich Stanislaw nur ungern an irgendwelche Einzelheiten, und erzählen mochte er davon schon gar nicht. Damals war ein ganzer Trupp ins Wasser gefallen – sechs Burschen, vier Mädchen: Sie waren ins Eis des Ladogasees eingebrochen, in voller Montur, mit ihren monströsen Rucksäcken, mit den Zelten ... Ein Mädchen war ertrunken, doch Stanislaw hatte sich gerettet. Er hätte sich nicht retten dürfen, wenn es ehrlich zugegangen wäre, doch er hatte sich gerettet ...

So hatte die Zählung begonnen. Im Grunde aufs Geratewohl. Ganz zufällig.

Er erzählte Vikont von allen drei Fällen, und Vikont gestand (mit gewissem Bedauern), dass er selbst niemals am Ertrinken gewesen sei. Von dem Fall in der Kindheit abgesehen, als der Zünder hochgegangen war, hatte er überhaupt niemals sein Leben einer Gefahr ausgesetzt. Stanislaw wunderte sich. Ihm kamen auf Anhieb drei, sogar vier weitere Fälle in den Sinn, wo er um Haaresbreite dem Tode entronnen war. Nichts einfacher als das – dem Tod um Haaresbreite nahezukommen. Er glaubte Vikont nicht. Er kam zu dem Schluss, dass Vikont wie gewohnt etwas verschleierte. Vikont war ein Geheimniskrämer, Geheimniskrämer vulgaris.

Er arbeitete in einem »Kasten«, und es war völlig unklar, was er dort trieb. »Ach, allen möglichen Kram ...«, gab er für gewöhnlich zur Antwort, wenn man ihn danach fragte, und verzog dabei angewidert sein langes, bleiches Gesichtchen – er log. Es war anzunehmen, dass er sich durchaus nicht mit Kram befasste. In den letzten zehn Jahren hatte er es schon auf rund hundert Auslandsreisen gebracht. Wobei er immerzu in irgendwelche ausgefallenen Länder flog, wohin normale Sowjetmenschen niemals reisen: Brasilien, Lesotho, Guayana ... Aus irgendeinem Grunde in den Iran. Was zum Teufel hatte ein Sowjetmensch, der das Vierte Medizinische Institut absolviert hatte, im Iran zu suchen?

Eine halbwegs vernünftige Antwort war von Vikont nicht zu kriegen. Von seiner Arbeit pflegte er niemals das Geringste zu erzählen. Niemandem. Und es gab auch niemanden, dem er davon hätte erzählen können. Er hatte keine Freunde, ausgenommen Stanislaw.

Wenn sich bei Stanislaw die übliche Gesellschaft traf, fing Vikont (freilich selten) aus heiterem Himmel an, von anderen Ländern zu erzählen. Als Erzähler hatte er kaum seinesgleichen. Alle verstummten, wenn es über ihn kam, und lauschten mit angehaltenem Atem, voller Angst, er könnte stutzen und ebenso unvermittelt und grundlos aufhören, wie er begonnen hatte.

Er begann immer in der Mitte, von einem unverständlichen Punkt aus, den er anscheinend für den springenden hielt.

»... ein weißer Gürtel um den Berg ...«, begann er zum Beispiel. »Weiße Bäume – genauer, die weißen Skelette von Bäumen in einem widerlichen giftigen Nebel. Als stünde man nicht auf einem Berg, sondern auf einem gottverlassenen ausdünstenden Friedhof ... keinem Menschenfriedhof ... Und im Nebel stachlige, scharfblättrige Gewächse, die dort ›Christi Dornenkrone‹ heißen ... Und riesige Spinnen, die ihre Netze zwischen den Gewächsen gewoben haben ... Der Erdboden ist überhaupt nicht zu sehen – nur dichtes hässliches Moos und Senken voll schwarzen Wassers, und auf jedem weißlichen Stamm ekelhafte, glitschige, vielfarbige Pilze ...«

Sein schmales Gesicht wurde grau wie von unerträglichem inneren Schmerz, die Stimme versagte ihm – die Erinnerung quälte ihn wie eine Krankheit. Diese Erzählungen, und nicht einmal sie selbst, sondern die Art und Weise, wie er erzählte, machten auf die Zuhörer einen frappanten Eindruck. Und auf Stanislaw natürlich auch. Vikont erschien ihm in diesen Minuten als Übermensch oder als Mensch aus der Hölle, oder gar als Wechselbalg – in diesen Minuten erkannte er ihn nicht wieder ... Und dann fand er plötzlich eine von Vikonts Erzählungen in einem Bändchen des Geographischen Verlages (es war wohl Cowell, »Das Herz des Waldes«). Die Übereinstimmung war fast wörtlich. Zuerst traute er seinen Augen nicht. Dann erfüllte ihn Wut. Dann Hochachtung. Und dann dachte er: Wozu zum Teufel macht er das, der dreckige Snob?

Natürlich war er ein Snob. Er war ein Snob in allen seinen Erscheinungsformen: im Gespräch, in seinen literarischen Vorlieben, im Alltag. Wenn er sich am Bierkiosk anstellte, brachte er es fertig, mit unbeschreiblichem Hochmut zu fragen: »Tja, also wer wagt es, hier zu gestehen, dass er der Letzte ist?« Auf die vom Kater zitternden, verwilderten Spritis machte das einen unauslöschlichen Eindruck ...

Auf einem niedrigen polierten Tischchen stand bei ihm daheim eine große hölzerne Schale, schwarz mit goldenen Drachen. Von der Insel Mindanao. Die Schale war voll Tabakspfeifen. Es waren an die dreißig Stück – von Nasenwärmern aus Rinde, wie sie Neger selbst angefertigt hatten, bis zu schweren aus Buchsbaumholz (?) mit einem Griff wie eine Pistole – museale, antiquarische, mit Namenszug versehene Exemplare ... Ohne hinzusehen steckte er seine linke Hand, wo die Finger fehlten, in diesen Haufen, dieses Wirrwarr, diese nach Teer stinkende luxuriöse Deponie, griff unfehlbar die gewünschte Pfeife heraus, stopfte sie mit geübten Handbewegungen, zündete sie mit einem Streichholz an und hüllte sich in honigfarbenen Rauch – das linke, blinde Auge zusammengekniffen ... Und plötzlich hob er mit leicht fistelnder Stimme an:

Du sitzt am Kamin, und es tanzen die rötlichen Lichter

Gemessen umher, dirigiert vom Dessin der Gardine,

Du schluchzt überm Reim, also liest du dem Dunkel Gedichte,

Dein Foxterrier, grau, schaut empor mit sinnierender Miene ...

Auf dem Plüschtaburett döst friedlich ein Äffchen aus Samo,

Die Bilder Watteaus überzieht’s wie mit pechschwarzem Lack,

Du sitzt am Kamin und schlingst um dich den Schal »Dimuamo«,

Die Seiten regt sachte auf deinen Knien der Stak.

»Was für ein Stak?«, erkundigte sich Stanislaw, bemüht, sich von dem Eindruck zu lösen. »Was kümmert’s dich?«, erwiderte Vikont mit majestätischem Missmut. »Na, zum Beispiel Sta-nislaw K-rasnogorow – ist das zufriedenstellend?« »Schon gut ... Und warum Samo? Es gibt kein Samo, bloß ein Somo.« »Weil DimuAmo gut klingt und DimuOmo nicht.« Da hatte er völlig recht: »Dimuamo« klang gut, und »Dimuomo« aus irgendeinem Grunde nicht ...

Als sie sich (in der fünften Klasse) kennengelernt hatten, war er ein kleiner, ungefährlicher, doch geistreicher Rowdy gewesen. Seine weiten Hosen und sein Matrosenhemd trug er damals mit dem breiten Gang eines alten Seebären. Er war ein Tunichtgut, ein Meister böser Streiche. Einmal hatten sie zusammen Pausendienst in der Klasse. Es war im Frühling fünfundvierzig. Die Klasse lärmte, trampelte und drängte sich auf dem Flur, und sie beide saßen auf einem Fensterbrett des Klassenzimmers im ersten Stock und schauten hinab. Zuerst gab es da nichts Interessantes, doch dann tauchte auf dem Fußweg direkt unterm Fenster plötzlich der Schuldirektor auf. Mit Hut. Das war nicht auszuhalten, und Vikont (damals nur Kikon oder Kikonja) spuckte sogleich auf diesen Hut, und natürlich traf er.

Alles war wie in einem schweren Albtraum. Wie in Zeitlupe blieb der Direktor stehen ... nahm sorgfältig den Hut ab ... musterte aufmerksam, was da herabhing ... und begann – unbeschreiblich, quälend, zermürbend langsam – den Kopf zu heben ...

Schlagartig waren sie vom Fensterbrett verschwunden. Wie zwei Torpedos schossen sie auf den Flur, und da schien es Stanislaw, als habe Kikon vor Angst vollends den Verstand verloren: Er sprang plötzlich von hinten an Papascha heran – den schlimmsten, gnadenlosesten und kräftigsten Rowdy der 5a  – und haute ihm in die Fresse!

Papascha war baff. Er war zwei Köpfe größer als Kikon und glotzte ihn von oben herab mit irrem Blick an; offensichtlich hatte er jeden Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Und da haute ihm Kikon zum zweiten Mal eine runter ... Und los ging es!

»Kikonja hat Papascha auf die Schnauze gehauen!« Die Nachricht schien sich in der ganzen Schule zu verbreiten. Augenblicklich versammelte sich eine Menge begieriger Zuschauer und Anhänger. Papascha hatte inzwischen mitgekriegt, was ihm passiert war, und stürzte sich mit bösem Gebrüll auf den Frechling, wobei er mit allen seinen vier gigantischen Extremitäten gleichzeitig arbeitete ... Sodass, als schließlich der Direktor mit dem Hut und allem, was daran hing, auf dem Flur erschien, er zunächst nicht einmal beachtet wurde.

»Wer war das?«, donnerte der Direktor und hielt den Hut in die Höhe, doch niemand sah oder hörte ihn. »Aufhören!«, donnerte der Direktor, doch das war schon keine Prügelei mehr, sondern Erziehungsarbeit, eine Sonderbehandlung, und da konnte man nicht einfach so aufhören ... Und als endlich die Ordnung wiederhergestellt war und der Direktor in der eingetretenen unterwürfigen Stille seine entscheidende Frage stellte: »Wer ist der Diensthabende?!«, meldete sich Kikonja freudig: »Ich!« – mit blutender Nase, einem angeschlagenen Auge und bis zum Nabel aufgerissenen Hemd –, und sofort war klar, dass nicht er der verbrecherische Übeltäter sein konnte, dass er nicht dort war, er war hier, wer aber dort war, wusste er nicht und konnte es unmöglich wissen ...

»Wo würde ein Weiser ein Blatt verbergen? – Im Walde.« Chesterton lasen sie zwei, drei Jahre später, und damals schätzten sie ihn nicht besonders – nach Conan Doyle, Louis Boussenard und Ponson du Terrail.

Im Sommer fünfundvierzig verunglückte Kikon mit einem Zünder. Er war wieder einmal mit den Lausejungen vor die Stadt gegangen, wo auf den Schlachtfeldern noch unbeerdigte Leichen verwesten und Tausende und Abertausende Stück der vielfältigsten Waffen sinnlos verkamen. Von diesem Ausflug, seinem letzten, brachte Kikonja einen Sack voller Schätze mit, größtenteils Bündel von gelblichen Makkaroni rauchlosen Pulvers, dazu Rollen von Zündschnur, dazu eine Vielzahl von Patronen verschiedenen Kalibers für Schusswaffen aller Art ... Die Schätze versteckte er im Keller seines Hauses, in sein Zimmer nahm er nur einen schönen bunten Metallgegenstand von Bleistiftgröße mit. Und in diesem Bleistift begann er mit einem Federmesser herumzustochern, um das schöne Ding in seine Einzelteile auseinanderzuschrauben. Das Ding ging hoch.

Zum Glück war die Großmutter daheim, sie rief einen Bekannten, der Arzt in der Militärmedizinischen war, und Kikon wurde ins Krankenhaus gebracht – ganz in der Nähe, in die Militärmedizinische Akademie ... Drei Finger der linken Hand mussten amputiert werden, der kleine und der Ringfinger blieben übrig. Im linken Auge blieb für immer ein kleiner Splitter stecken – er war aus Kupfer und konnte deshalb nicht mit einem Magneten herausgeholt werden. Aus der rechten Handfläche war ein großes Stück Fleisch und Haut herausgerissen worden. Um den Verlust auszugleichen, ließen die Ärzte Kikonjas rechte Hand am Bauch festwachsen, und die so entstandene Fleischbrücke wurde jeden Tag mit glühenden Zangen bearbeitet, um sie allmählich wieder abzulösen. (Solche Operationen waren damals anscheinend in Mode. Bei Kikonja im Krankenzimmer lag ein Soldat, dem die Äskulape auf ebendiese Weise die in den Kämpfen verlorene Schönheit nachwachsen ließen: Er lief mit dem linken Arm herum, der durch eine Haut-Fleisch-Brücke mit der Stelle verbunden war, wo er früher, vor der Verwundung im Gesicht, die Nase gehabt hatte. Nach Kikonjas Worten war der Soldat in jeder anderen Beziehung ein gesunder und sogar kräftiger Kerl. Jeden halben Monat entfernte er sich regelmäßig unerlaubt aus der Klinik, zu den Weibern, dort geriet er unausweichlich betrunken in eine Schlägerei, und dabei wurde ihm unausweichlich diese Brücke zerrissen. Morgens kehrte er blutüberstömt und reumütig ins Krankenzimmer zurück, und die Ärzte begannen von vorn.)

Kikonja blieb über ein halbes Jahr im Krankenhaus, und als er wieder in der Klasse auftauchte, war er schon ein ganz anderer Mensch. In ihm kam plötzlich der Intellektuelle zum Vorschein. Es stellte sich heraus, dass er belesen war, gut Schach spielte und ziemlich fließend Deutsch und Englisch las. Es war interessant geworden, sich mit ihm zu unterhalten. Über Bücher. Über Filme. Über Briefmarken. Er war imstande, mit ausgesuchter Nonchalance über das Mato Grosso zu sprechen, über die Gran Sabana oder die geheimnisvollen Mesas, die als Vorbild für die Verlorene Welt gedient hatten. Ohne zu stocken zählte er die Namen der Urmonster auf, die in den Sümpfen des Kongo und des Ubangi lauerten: Ldau, Schipekwe, Lipata, Mokele-Mbembe, Ailali, Ba-di-gui, Ngakuola-Ngou ... Stanislaw entdeckte das alles mit einigem Staunen, und sie begannen sich regelmäßig zu treffen. Zumal sich herausstellte, dass Kikon mit Großmutter und Großvater, einem Generalleutnant des medizinischen Dienstes, Professor an der Militärmedizinischen Akademie, just gegenüber von Stanislaws Haus wohnte, sodass sie über die Straße hinweg vereinbarte Gesten austauschen und einander sogar mit Taschenlampen nach dem Morsesystem Signale geben konnten.

2

Sein Manuskript begann Stanislaw wie folgt:

»Mein Haupttheorem könnte ich sofort formulieren, doch das wäre sicherlich nicht richtig. Richtig wird es sicherlich sein, wenn sich dieses Theorem im Laufe der Lektüre als notwendige Schlussfolgerung aus dem Text ergibt, als die absolut logische und die einzig mögliche.

Der Umstand, dass ich überlebt und mein gegenwärtiges Alter von nahezu vierzig Jahren erreicht habe, ist an sich schon fast ein Wunder. (Denn was ist ein Wunder? Die Überlagerung von Ereignissen mit geringer Wahrscheinlichkeit, und weiter nichts.)

Im Jahre siebenunddreißig wurde mein Vater aus der Partei ausgeschlossen. Er kam kurz nach Mitternacht nach Hause, setzte sich an den Tisch, legte die leblosen Hände zu beiden Seiten des Tellers mit Borschtsch und saß still da – dunkel, mit toten Augen, selber tot, er atmete nicht einmal –, so kam es zumindest der Mutter vor, die ihm gegenübersaß, auf der anderen Seite des Tisches, alles schon begriffen hatte und leise weinte. Dann, es war gewiss schon zwei Uhr, schellte plötzlich kurz das Telefon. Der Vater stürzte hin. Aus dem Hörer drang eine undeutliche unbekannte Stimme : ›Sinowi. Geh sofort, wie du bist, zum Bahnhof und fahr nach Moskau. Sofort, hast du verstanden? Nimm eine Fahrkarte vom Block des Gebietskomitees ...‹ Und dann quengelnd das Freizeichen.

Eine Stunde später saß Vater schon im Zug. Nach Stalingrad kam er nie mehr zurück – er lebte bis zum Krieg in Pieter und kämpfte um seine Rehabilitation –, übrigens ganz unzweckmäßig und ohne jeden Nutzen.

Doch wie mir jetzt klar ist, sollte er in jener Nacht verhaftet werden. Und höchstwahrscheinlich erschossen. Das hieß damals: ›zehn Jahre ohne Recht auf Korrespondenz‹. Ebendies ist Anfang siebenunddreißig mit seinem Bruder Afanassi passiert: zehn Jahre ohne Recht auf Korrespondenz. Und seine Frau (seine Witwe?) wurde mit sämtlichen Kindern binnen vierundzwanzig Stunden nach Sterlitamak verbannt. Die älteren Kinder haben überlebt, doch die beiden kleinsten starben unterwegs an der Ruhr. Sonja war sechs und Wowa fünf.

Ich war damals vier. Ich war ein blutarmes, schwächliches, skrofulöses Kind. Natürlich war ich dem Tode geweiht.

Doch Vater kam davon, und deshalb blieb ich am Leben. Vorläufig. Bis zum nächsten Ereignis, wie ein Spezialist für Wahrscheinlichkeitstheorie sagen würde ...«

Sein Haupttheorem konnte ungefähr so lauten: »In den über dreißig Jahren meines Lebens habe ich so oft am Rande des Abgrunds gestanden, um Haaresbreite vom Tode entfernt, ganz nahe vor der letzten Grenze, dass jeder Versuch, die Tatsache meines Überlebens an sich durch puren Zufall zu erklären, des gesunden Menschenverstandes spottet ...«

Doch wenn er nicht zufällig überlebt hatte, dann gab es also eine Gesetzmäßigkeit, dann gab es in der Welt etwas, was ihn rettete, beschützte, aufsparte? ...

Was? Und – wofür?

Er bemühte sich redlich, sich an alle Umstände zu erinnern, die ihn bis hart an den Rand des Abgrunds geführt hatten, und er versuchte redlich zu verstehen, was ihn jedes Mal am Rande zurückgehalten hatte. Er suchte eine Gesetzmäßigkeit und fand keine. Das wurde für ihn zu einem Spiel, und dieses Spiel spielte er mehrere Tage lang voller Genugtuung mit sich selbst. Natürlich glaubte er an keine Gesetzmäßigkeit, doch nachdem er dreiundzwanzig Fälle zusammenbekommen hatte, wo er sich kurz vor dem Tode befunden hatte, dreiundzwanzig Situationen, von denen jede ihm mit einem unweigerlichen und oft schrecklichen Tode drohte, konnte er als Mathematiker nicht umhin, darin die Hand des Schicksals zu spüren ...

»Wenn Sie die Straße überqueren, blicken Sie erst nach rechts, und in der Mitte der Straße nach links.« Ob jemand, der diese einfache Regel hartnäckig befolgte, in einer Großstadt wohl lange am Leben bliebe? Manchmal kam er sich wie solch ein Mensch vor, mit dem einzigen Unterschied, dass er sich nicht bewusst war, irgendwelche Regeln zu verletzen, weder einfache noch komplizierte ... Doch was wissen wir schon von den Regeln, die zu kennen uns nicht gegeben ist und die wir vielleicht tagtäglich verletzen?

Vikont hörte sich diese Überlegungen durchaus wohlwollend an (das war natürlich nicht mehr in jener historischen Nacht, sondern eine Woche später), doch er reagierte zunächst nur mit einem Witz aus dem Repertoire der Dozenten für marxistische Philosophie: »Was ist Zufall, und was, Genossen, ist Gesetzmäßigkeit? Wenn jemand aus dem Haus tritt, und ihm fällt ein Balkon auf den Kopf, und er bleibt trotzdem am Leben – was ist das? Richtig, ein Zufall. Und wenn er am nächsten Tag wieder aus dem Haus geht, und wieder fällt ein Balkon auf ihn, und er bleibt wieder am Leben? Nein, das ist keine Gesetzmäßigkeit, Genossen, das ist eine Gewohnheit. Und wenn am dritten Tag das Gleiche passiert? Dann ist es schon eine gute Tradition ...«

Dann dachte er ein Weilchen nach, bewegte dabei lautlos seine dicken Afrikanerlippen und sagte plötzlich: »Weißt du was, mein Stak – das ist doch ein Sujet! Findest du nicht?«

Tags darauf begann Stanislaw zu schreiben.

In der Tat schrieben sie beide schon ewig hin und wieder etwas. »Bruillons«, pflegte Vikont zu sagen, der Tynjanow vergötterte. Sie hatten mehrere gemeinsame Romane und Erzählungen angefangen, für jedes Werk eine besondere Mappe angelegt, und in jeder lagen jetzt drei, vier bekritzelte Seiten. Die von ihnen verfassten – sogar fertigen! – Gedichte zählten schon nach Dutzenden. Die meisten davon waren vertont. Von den Autoren selbst.

Das war freilich alles nichts Ernstes. Als das beste Stück in Vikonts literarischem Nachlass galt ein Werk mit dem Titel »Experiment an fremdem Leben«. Es handelte sich um die authentischen Tagebuchaufzeichnungen von Beobachtungen, die der von Langeweile geplagte Schüler der neunten Klasse Viktor Kikonin, wegen einer Erkältung ins Bett gepackt, an einer seiner heimischen Schaben durchgeführt hatte (von denen es in der Wohnung von Generalleutnant Professor Kikonin dem Ältesten reichlich gab):

»12.03 Uhr – Habe das Schabenvieh in eine Büchse ohne Luftzufuhr gesetzt. Die Büchse ist ungefähr 50 Mal so groß wie die Schabe. Sehen wir, was draus wird.

13.34 Uhr – Lebt, das Mistvieh!

14.10 Uhr – Habe ihr Brotkrümel reingestreut – sie frisst.

14.55 Uhr – Habe das Mistvieh laufen lassen!«

Stanislaw erfuhr nie, was mit Vikonts Eltern geschehen war, wo sie sich befanden, ob sie noch lebten, und wenn ja, warum dann Vikont immer bei den Großeltern wohnte. Zu der Zeit, da keine Frage als taktlos gilt, interessierte es ihn nicht, und später spürte er hinter alledem ein unangenehmes Geheimnis und wagte nicht zu fragen.

Zuerst starb die Großmutter, und zum ersten Mal im Leben sah Stanislaw Vikont weinen. Zum ersten und letzten Mal.

Der Großvater machte es allein noch fünf, sechs Monate. Er war sehr berühmt – in gewissen Kreisen. Er befasste sich mit Militär-Mikrobiologie. Vikont nannte ihn einmal (offensichtlich hatte er es von einem der Erwachsenen gehört) den »Pestgeneral«. Stanislaw hielt das für eine unverdiente Kränkung, und erst viele Jahre später ahnte er, wie das eigentlich zu verstehen war.

(Vikont sagte, sein Großvater habe über zweitausend Publikationen verfasst, doch Stanislaw hatte nur eine zu lesen bekommen. Sie hatte seine Vorstellungskraft aufgewühlt, denn Professor Kikonin bewies darin eine bemerkenswert paradoxe Behauptung: Je schrecklicher und gefährlicher eine Krankheit ist, um so eher verschwindet sie vom Antlitz der Erde. So war es mit der alten Syphilis, so geschah es mit den mittelalterlichen Stämmen von Pestbakterien. Je tödlicher ein Stamm, um so sicherer bringt er seinen Wirt um – und sich selbst mit ihm. Ein tödlicher Stamm hat keine Zukunft. Es überleben nur diejenigen Krankheiten, die eine einigermaßen nennenswerte Anzahl der Erkrankten am Leben lassen. Eine Bakterie, die alle tötet, tötet auch sich selbst ... Fürwahr: Wenn du leben willst, dann lass auch die anderen leben.)

Vikonts Eltern waren weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Begräbnis. Vikont (Student des Vierten Medizinischen Instituts im vierten Studienjahr) blieb alleiniger Besitzer der Fünf-Zimmer-Wohnung des Generals. Jetzt konnten sie die »Stimme Amerikas« zu jeder beliebigen Tages- und Nachtzeit voll aufdrehen. Und ihre Lieder zur Gitarre grölen. Und im Suff die Gläser von Großvaters Service zerschlagen ... Und Weiber mitbringen. Doch Weiber brachten sie in diese Wohnung nie mit. Und sie nutzten nie mehr als Vikonts eigenes Zimmerchen – zweimal zwei Meter, ein Bett, ein Tisch, ein Bücherregal und ein vor Altersschwäche fortwährend auseinanderfallender teilgepolsterter Stuhl, Artikel-Nr. AZ-123/47.

Das Zeitungstischchen mit der Pfeifensammlung stand am Fußende des Betts. Vikont saß (oder lag) für gewöhnlich auf diesem Bett, Stanislaw am Tisch auf dem todkranken Stuhl. So tranken sie zusammen. So dichteten sie. So diskutierten sie. Hinter der Tür (die gewohnheitsmäßig immer geschlossen wurde) lebte die riesige leere Wohnung, von strenger Eleganz und sogar altmodischem Luxus, still ihr Schattendasein. Ein Gefäß der Vergangenheit. Ein Tempel. Eine Gruft. Vikont weigerte sich kategorisch, irgendetwas zu verändern. Nur Großvaters Sammlung alter Münzen hatte er zu sich ins Zimmer geholt und bewahrte sie im rechten Schubfach des Tisches auf, wo er sie ab und zu zur Betrachtung herausnahm.

Stanislaw empfand alle diese unpraktischen Eigenheiten als selbstverständlich. Obwohl hier kaum etwas selbstverständlich war. Wieso war Vikont eigentlich nicht aus der Wohnung gesetzt worden? Schließlich war es eine Dienstwohnung. Warum hatte man ihn nicht wenigstens in eine Einraumwohnung umgesiedelt? In eine Zweiraumwohnung? Als – schon in neuerer Zeit – der neugierige Senja Mirlin Stanislaw diese Fragen stellte, wusste er nichts Vernünftiges zu antworten, und Senja hielt ihm in seiner klassischen Manier eine Rede zu dem Thema: Nur romantische Esel wie Stanislaw suchen Rätsel, Geheimnisse, Sujets und Wunder in der Welt des Unerforschten und Unerklärlichen; dabei gibt es nichts Geheimnisvolleres, Rätselhafteres und die Phantasie Fesselnderes als die Welt der sowjetischen Gesetze und Verordnungen ... Darauf hatte Stanislaw nichts zu erwidern, doch die bürokratischen Geheimnisse des Wohnungsmieters Vikont-Kikonja wollte er auch nicht ergründen.

Recht bald wurde ihm klar, dass er in Wahrheit keinerlei literarische Erfahrung besaß. Wie sich zeigte, hatten ihre früheren Beschäftigungen absolut nichts mit richtiger literarischer Arbeit gemein gehabt.

Früher hatten sie etwas erfunden, und darum waren sie frei gewesen – das heißt, sie hatten das geglaubt –, und alles war ihnen leicht von der Hand gegangen, solange es nicht Zeit wurde, das Erfundene zu organisieren. Und sobald es so weit war, hatten sie solch einen Widerstand des Stoffes gespürt, dass sie die Arbeit sofort hingeworfen hatten: Es war schwer geworden.

Jetzt dagegen brauchte er nichts zu erfinden. Es war alles schon da. Er brauchte sich nur zu erinnern und die Erinnerungen richtig anzuordnen. Das hieß, sie organisieren. Das erwies sich als unbeschreiblich und unerklärlich schwierig. Mehrmals warf er die Arbeit hin, scheinbar endgültig. Wozu sich quälen?, fragte er sich entnervt. Wer hat etwas davon? ... Er blätterte in den vollgeschriebenen Seiten, las den fertigen Text durch – alles wirkte gestelzt, unnatürlich und stumpf. Und alles zusammen war widerwärtig wenig im Vergleich zu dem, was er noch schreiben musste.

Ein paar Absätze gab es immerhin, die er gern wieder las. Er lernte sie sogar auswendig – unwillkürlich, ganz ohne Absicht.

Doch während er die Entwürfe wieder und wieder durchsah, hatte er die heftige Empfindung, einen Sieg errungen zu haben. Etwas presste ihm plötzlich die Kehle zusammen, und ihm kamen die Tränen. In solchen Augenblicken schämte er sich vor sich selbst, konnte aber nichts machen. Und wollte es auch nicht. Immerhin war er ein Mann der Wissenschaft, und er verstand vielleicht nicht viel von Literatur, doch er hatte ein deutliches Gespür für die Neuheit – sowohl des Stoffes als auch der eigentlichen Grundidee. So was war noch nie dagewesen. Er war der Erste, der diesen Weg beschritten hatte. Also musste er ihn bis zum Ende gehen.

Überdies tauchte gerade um diese Zeit im Hause eine Schreibmaschine auf, eine altertümliche, seltsame, von senkrechter Konstruktion mit erstaunlich weichen, wunderbar austarierten Tasten. Und mit Staunen stellte er fest, dass das Schreiben interessant geworden war: Der Schreibvorgang selbst erfüllte ihn mit einer widernatürlichen (das war ihm bewusst) Befriedigung. Früher hatte er so etwas nur empfinden können, wenn er Formeln ableitete und Diagramme zeichnete. »Weiß Gott, wie ohne jede Scham Gedichte wachsen und aus welchem Müll ...« Heilige Worte! Doch aus welchem Müll wächst die Inspiration!

Dann begriff er, dass er in Szenen schreiben musste, in Episoden, kleinen Bildern, ohne im Geringsten an die Verbindungen und die Übergänge von einer Episode zur anderen zu denken. Sogleich ging es viel leichter. Leichter, ja, aber nicht leicht.

Am schwierigsten war es mit den Wörtern.

Wie heißt dieses Hautstück, diese Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, hol sie der Teufel? Er wusste es nicht, und keiner von seinen Bekannten wusste es, sodass er, verdammt, auf die Episode mit dem Schluckspiel verzichten musste ...

Wie heißt der Raum zwischen zwei Türen – der Außentür, die ins Treppenhaus führt, und der inneren zur Wohnung? ... Flur? Nein. Plattform? ... Bei Eisenbahnwagen hieß er Plattform ...

Er nannte diesen dunklen Raum »Vorraum« und versuchte ihn zu beschreiben. Im Vorraum war es völlig dunkel und ziemlich kalt – natürlich nicht so kalt wie im Treppenhaus, wo die erbarmungslose Kälte von Straße und Hof herrschte, aber doch kälter als im Flur. Links standen dort Regale, auf denen vor dem Kriege Speisevorräte gelagert wurden und auf denen längst nichts mehr lag außer zerhacktem Feuerholz. Und es roch in dem Vorraum – nach Feuerholz.

Der Junge stand angezogen im Vorraum. Ein langer Pelzmantel mit hochgeschlagenem Kragen, eine warme Mütze mit heruntergeklappten Ohrenklappen, ein wollenes Tuch über der Mütze, Filzstiefel, Fausthandschuhe. Er zog sich immer so an, wenn er nachmittags nach zwei hinausging, um im Vorraum zu stehen.

Der Junge war klein, gerade mal acht Jahre, dünn, schwächlich und schmutzig. Er hatte schon seit Monaten nicht gelacht, nicht einmal gelächelt. Seit Monaten hatte er sich nicht mit warmem Wasser gewaschen, er hatte Läuse gekriegt ...

Seit vielen Tagen hatte er sich nicht satt gegessen, und während der letzten beiden Monate – es war Winter – war er einfach allmählich am Verhungern, doch er wusste das nicht und ahnte es nicht einmal – er verspürte überhaupt keinen Hunger. Er hatte keine Lust zu essen. Er hatte große Lust zu kauen. Egal was. Nahrung. Irgendwelche. Lange, sorgfältig, selbstvergessen, mit Genuss, ohne an etwas zu denken ... Und dabei zu schmatzen. Manchmal überkam ihn plötzlich die Vorstellung, dass man ja letzten Endes alles kauen konnte: den Rand vom Wachstuch ... ein Papierkügelchen ... eine Schachfigur ... Ach, wie süß, wie appetitlich die lackierten Schachfiguren rochen! Doch beim Kauen waren sie hart und unangenehm, sogar widerwärtig ... Und wenn man dran leckte, bitter ...

Es war sehr wichtig, den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass dieser Junge in jedem Fall dem baldigen und unausweichlichen Tode geweiht war. Ihm blieb in jedem Fall nur noch ein Monat zu leben, allerhöchstens zwei.

Bis Ende Januar hatte er nur durchgehalten, weil sie den ganzen Herbst über Katzenfleisch gegessen hatten, und weil die Mutti die Angewohnheit hatte, sich schon im Frühling mit Feuerholz zu bevorraten, und nicht erst auf den Winter zu wie die meisten Leningrader. Darum war es bei ihnen zu Hause warm. Doch die Katzen waren in der Stadt längst aufgegessen, und alles Essbare, was sich in einer Stadtwohnung finden ließ (alter Tischlerleim, eingetrockneter Tapetenkleister, Bibergeil, getrockneter Meerkohl – Vaters Herzmittel aus der Vorkriegszeit) – das alles war schon gefunden und gegessen, und jetzt kam nichts mehr als der Tod. Natürlich verstand der Junge das nicht, es kam ihm nicht einmal in den Sinn, daran zu denken, doch die Lage der Dinge hing überhaupt nicht davon ab, was er verstand und was nicht ...

Außerordentlich wichtig war es jedoch, dafür zu sorgen, dass der Leser (der satt, gesund, sauber gewaschen mit diesem Text in der Hand nicht weit vom warmen Heizungskörper saß) das Wesen der Situation gut verstand. Und dazu musste sehr viel beschrieben werden, und zwar irgendwie geschickt, unaufdringlich, möglichst natürlich und ungezwungen.

Zuerst versuchte er so zu schreiben, dass sich der Junge bestimmte Szenen und Bilder vorstellte, die rein informativen Charakter hatten. Wie die Treppe aussah, von einer dicken Schicht aus gefrorenem Wasser und Unrat überzogen ... Warum in der Wohnung nur noch das Zimmerchen mit den Fenstern zum engen Hof und die Küche mit dem Herd und der Flur bewohnbar waren ... Wer sonst noch im Hause wohnte – wie viele Menschen und in welchen Wohnungen ... Diese ganze Information beschwor nicht nur das Milieu und die allgemeine Atmosphäre des bevorstehenden Todes herauf, sie war auch wichtig für das folgende, für den Beweis des Haupttheorems.

Doch das alles musste er gnadenlos ausstreichen. Der Junge konnte sich nichts davon vorstellen, ebenso wenig es sich ausdenken oder sich daran erinnern ... Er dachte nur dies: »Mutti ... warum kommst du nicht ... ich warte auf dich ... komm bald ... warum kommst du nicht, Mutti ... Mutti ... Mutti ...« Er wiederholte es in Gedanken, dreihundert und tausend Mal – die ganze Zeit ein und dasselbe, mit ganz geringen Variationen, und manchmal begann er plötzlich, dasselbe laut zu sagen, und er sagte es lauter und lauter und immer lauter, wiederholte immer dasselbe auf dieselbe Art – bis er durch den Lärm der eigenen Stimme hindurch plötzlich das Knarren der Haustür zu hören glaubte, die weit unten geöffnet wurde, und dann verstummte er und hielt den Atem an – lauschte reglos, bereit, vor Glück zu vergehen ... Doch im Treppenhaus war steinerne, eisige Totenstille, und der Junge holte leise Luft und begann von vorn, doch nun schon auf einer höheren Stufe der Verzweiflung: »... Mutti ... warum kommst du nicht ... Mutti ... du sollst kommen ... schnell ... Mutti ...«