Anselm Grün
Jeder Tag ein Weg
zum Glück
Herausgegeben von Rudolf Walter
Titel der Originalausgabe: Jeder Tag ein Weg zum Glück
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005
ISBN 978-3-451-28660-5

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2010
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Umschlagkonzeption und -gestaltung:
R·M·E Eschlbeck / Hanel / Gober
Umschlagmotiv: © Masterfile

 

Datenkonvertierung (E-Book): le-tex publishing services GmbH, Leipzig

 

ISBN (E-Book) 978-3-451-33617-1
ISBN (Buch) 978-3-451-07096-9

Vorwort

„Sie schauen dem lieben Gott ins Fenster“, sagt ein altes tschechisches Sprichwort von Menschen, die zufrieden sind, ihre Zeit genießen und die Muße auskosten. Für mich ist das eine der schönsten Beschreibungen des Glücks. Langsamkeit und intensive Erfahrung des Augenblicks, Herzensruhe und höchste Seligkeit, das geht zusammen. Erlebnishunger, innere Unrast und pausenlose Jagd nach Erfüllung eigener Wünsche freilich auch: oft gerade bei Menschen, die nichts heftiger wollen als ihr Glück.
Denn nach Glück sehnen sich alle. Das Leben soll gelingen, es soll glücken.
Heute gibt es viele Gurus und selbsternannte Glückspropheten, die eine heile Welt vorgaukeln und das schnelle und leichte Glück verheißen.
Doch der Weg zum Glück ist keine Schnellstraße, er führt nicht an der an der Realität unseres Alltags vorbei. Im Gegenteil: Er führt mitten durch unser alltägliches, gewöhnliches Leben.
Und es braucht auch keinen großen Aufwand, um dem Ziel unserer Sehnsucht nahe zu kommen. Wir brauchen nur in diesem Moment – hier und heute – die Augen zu öffnen für die kleinen Dinge um uns herum: für den Baum, in dessen Zweigen sich die Vögel niederlassen, für die Weite des Meeres und die Kraft des Sturmes. Glücklich ist, wer die Schönheit der Schöpfung wahrnimmt und seine Sinne öffnet für den Reichtum der Welt, in der er lebt. Glück ist nicht das Ergebnis von Anstrengung und Leistung. Es ist nicht machbar, es ist ein Geschenk.
Wenn wir die Augen aufmachen, dann werden wir jeden Tag Gottes Geschenke wahrnehmen: Wenn wir einem freundlichen Menschen begegnen; wenn wir die Schönheit einer Blume bewusst sehen oder spüren, wie die Sonne uns wärmt; in der Erfahrung der Liebe, die unser Herz erfüllt.
Der Weg zu diesem Glück ist nicht anstrengend und weit. Wir brauchen nur bewusst wahrzunehmen, was Gott uns jeden Tag an Gaben auf den Weg legt. Jeder Tag ist ein Weg zum Glück. Das Glück liegt vor unseren Füßen. Es wächst am Rand des Wegs, den wir jeden Tag gehen. Wir müssen es nur pflücken. Wer achtlos seine Wege geht, der wird es nirgends finden. Auch nicht an den Orten, an die ihn die Glückspropheten einladen möchten.
Glück – so sagen die Philosophen – ist Ausdruck erfüllten und sinnvollen Lebens. Wenn ich mit allen Sinnen lebe, wenn ich ganz im Augenblick bin, im Einklang mit mir selbst, dankbar für das Leben, das mir geschenkt ist, dann bin ich glücklich.
Dieses tägliche Glück braucht freilich eine ganze bestimmte Sichtweise. Ich muss mich selbst mit einem liebenden und milden Blick anschauen und ja sagen zu dem, der ich bin – auch mit meinen Grenzen und Schwächen. Dann bin ich im Einklang mit mir selbst. Dann bin ich glücklich.
Doch Glück kann ich nicht festhalten. Eben so wenig wie das Leben. Mein Weg wird täglich auch durchkreuzt durch das, was mir widerfährt, durch Kränkungen, Missverständnisse, Konflikte. Glück heißt nicht, dass ich in einer heilen Welt lebe. Es bedeutet nicht, über alles Dunkle hinwegzusehen. Freude und Schmerz – beides gehört zum Leben. Und beides kann eine Spur zum Glück sein.
Glück entsteht also, wenn ich mitten in dieser unvollkommenen Welt ja sage zu meiner Menschlichkeit, aber auch zu allem, was mir widerfährt. Glücklich ist, wer sich in allem, auch in Widerwärtigkeiten und Leid, von Gottes guter Hand getragen weiß. Und glücklich ist der Mensch, der sich von allem, was ihm widerfährt, auf Gott und auf seinen innersten Seelengrund verweisen lässt. Dort auf dem Grund seiner Seele wohnt das Glück. Denn da, wo Gott in ihm wohnt, ist er mit sich im Einklang. Da ist er wirklich glücklich.

1.
Wach auf –
zu neuem Glück

Warum tust du es dir jeden Morgen an, aufzustehen? Ist es nur Routine, weil es halt so sein muss, weil du dein Geld verdienen musst? Oder hast du eine tiefere Motivation?
Viele haben das Gefühl, es sei eine Zumutung, überhaupt aufzustehen. Am liebsten würden sie im warmen Bett liegen bleiben. Sie verschlafen den glücklichen Tagesanbruch, den augenblicklichen Zauber des Lebendigen. Wer morgens vom Schlaf erwacht, wer wirklich die Augen auftut, für den erwacht auch die Wirklichkeit. Für den gilt die Erfahrung des Sprichwortes: „Morgenstund hat Gold im Mund.“

 

Jeder neue Tag
ist eine Einladung.
Jeden neuen Morgen
wartet das Leben auf dich,
hell und bunt.
Es liegt an dir selbst, wie du den neuen Tag beginnst. Es liegt an dir, ob du ihn als Zumutung erlebst oder als Verheißung, ob der Tag für dich erwacht oder ob er dir schläfrig entgegenkommt, ungewaschen und ungekämmt, ohne Kraft und ohne Frische. Die Süße des Lebendigen ist da. Aber sie muss gespürt werden. Schlaftrunkene Augen werden sie nicht erkennen. Und ein Herz, das nicht aufwacht, kann die erwachte Wirklichkeit nicht wahrnehmen.

 

Wenn der Wecker klingelt, dann stehe sofort auf. Nimm dir genügend Zeit zwischen Aufstehen und Abfahrt zur Arbeit. Versuche, dich bewusst langsam zu waschen. Genieße das kalte Wasser, das dich erfrischt. Und ziehe dich langsam an. So kannst du dich bewusst freuen über die Kleider, mit denen du dich für den Tag rüstest, mit denen du dich schmückst.
Genieße die Zeit des Waschens, Anziehens und Frühstückens. Sie ist ein Freiraum, den dir jeder Tag schenkt, ein Raum zum Atemholen.

 

Entscheide dich heute für das Leben.
Danke Gott, dass du lebst.
Und versuche, den heutigen Tag so anzunehmen,
wie er ist.
Es muss nicht lauter Freude sein.
Aber wenn du dich für das Leben entscheidest,
wirst du auch mit deiner Kraft,
mit deiner Lebendigkeit
und mit deiner Freude
in Berührung kommen.

 

Nur der Wache kann den Tag gestalten. Der andere lebt wie in einem Traum. Er lebt in einer eigenen Welt, ohne Berührung mit der Wirklichkeit und ohne dass er die Wirklichkeit beeinflussen und formen kann. Träume zeigen dir Wesentliches in deiner Seele auf. Aber verwirklichen kannst du die Träume nur, wenn du bereit bist, aufzuwachen und dich der Wirklichkeit zu stellen, wie sie ist.

 

Die Morgenstunde mit ihrer Frische atmet etwas von der Neuheit Gottes. Mach dir bewusst, welcher Tag heute ist. Und stelle diesen Tag unter Gottes Segen. Jeder Tag wird dann zum Geheimnis, zur Chance, etwas von dem auszustrahlen, was dich im Innersten ausmacht.

 

Ein Morgenritual kann die Segensgebärde der erhobenen Hände sein. Stelle dir vor, dass durch deine Hände Gottes Segen hineinströmt in die Räume deiner Wohnung und in die Räume deiner Arbeit. Dann wirst du anders zur Arbeit gehen. Du hast dann nicht mehr den Eindruck, dass die Arbeitsräume voll sind von Streit und Intrigen, getrübt von negativen Emotionen und von verdrängten Schattenseiten. Du betrittst vielmehr Räume, in denen Gottes Segen wohnt.

 

Darum ginge es doch in unserem Leben,
dass wir die immer gleiche Routine durchbrechen.
Dass wir spüren,
was es bedeutet:
Ich atme, also bin ich.
Ich bin da.
Ich schmecke
den Geschmack des Lebens,
jeden Tag aufs Neue.
Kein Tag gleicht dem andern.
Jeder von uns
ist einzigartig und einmalig.
Das Glück
liegt in der Frische des Morgens,
im Zauber des Augenblicks,
in der Schönheit der aufgehenden Sonne.
Wer nicht aufwacht,
kann das Glück nicht wahrnehmen,
das ihn umgibt.

 

Die Freude über den frischen Morgen, über die Sonne, die aufgeht, über den blauen Himmel, die Freude an meiner Gesundheit, die Freude, dass die Familie sich gesund beim Frühstück trifft, die Vorfreude auf die Begegnungen, die dich heute erwarten: Wer die täglichen kleinen Freuden dankbar wahrnimmt, für den werden sie zur großen Freude.
Wenn du den Beginn des Tages bewusst so setzt, als ob heute der erste Tag deines bewussten und wachen Lebens wäre, dann wirst du achtsam und zugleich neugierig in den Tag hineingehen. Du wirst die Menschen anschauen, als ob du sie zum ersten Mal sähest. Vorurteile werden wegfallen. Was du bisher über diesen Menschen gedacht hast, ist nicht wichtig. Alle Schubladen, in die du Menschen gesteckt hast, haben sich in nichts aufgelöst. Alles wäre anders: Du würdest an deine Arbeit mit Neugier gehen. Du würdest dich freuen, Dinge so zu tun, als sei es das erste Mal. Und du würdest die ganze Schöpfung um dich herum mit neuen Augen ansehen.

 

Jeder Tag zeigt es aufs neue: Dass das Leben schön ist, muss man einem nicht erst mit Vernunftargumenten nahe bringen. Du brauchst nur deine Sinne öffnen und die Augen aufmachen für das Leben.
Brich auf in den neuen Tag.
Wer nicht immer wieder aufbricht,
dessen Leben erstarrt.

2.
Erkenne dein Ziel
und nutze den Tag

Entscheide dich