Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
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  30. 28
  31. 29
  32. 30
  33. 31
  34. 32
  35. Epilog
  36. Die Autorin
  37. Maya Banks bei LYX
  38. Impressum

MAYA BANKS

Slow Burn

EINE EINZIGE BERÜHRUNG

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Ralph Sander

Zu diesem Buch

Special Agent Isaac Washington hat in seiner Zeit bei der Deveraux Security schon viel gesehen. Die engelhafte, blutüberströmte Frau, die sein Auto stehlen will, bringt ihn jedoch gehörig aus der Fassung. Die Angst, die aus ihren großen blauen Augen spricht, weckt sofort seinen Beschützerinstinkt. Doch bevor er auch nur ein Wort äußern kann, wird er aus dem Hinterhalt angeschossen. Ohne zu zögern, rettet ihm die Fremde das Leben und verschwindet dann mit seinem Wagen. Isaac gelingt es jedoch, sie aufzuspüren. Jenna wurde jahrelang von einer Sekte gefangen gehalten und ist nun auf der Flucht. Während sie gemeinsam versuchen, ihren Häschern zu entkommen, entbrennt zwischen ihnen eine tiefe Leidenschaft, und Isaac weiß, dass er sein Leben opfern würde, um Jenna vor weiterem Leid zu bewahren.

1

Sie rannte durch den Wald, vorbei an alten, knorrigen Bäumen, und die Angst ließ sie nur angestrengt nach Luft schnappen, während sie versuchte, den kostbaren Sauerstoff einzuatmen. Wieder wurde sie von einem Zweig schmerzhaft im Gesicht getroffen, sodass sie reflexartig schützend beide Hände hochriss und vor dem gesenkten Kopf kreuzte, da sie in der pechschwarzen Nacht nichts sehen konnte. Denn immer wieder verdeckten dichte Wolken den Halbmond, sodass sie völlig blind durch den Wald hetzte.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand ihr Fehlen bemerkte, und dann würde man nicht erst noch eine Stunde bis Sonnenaufgang warten, ehe man die Hunde laufen ließ, um sie aufzuspüren. Die hatten alle Vorteile auf ihrer Seite, und sie hatte dem nichts entgegenzusetzen.

Plötzlich blieb sie an einer freiliegenden Wurzel hängen und landete mit dem Gesicht voran auf dem Waldboden. Alle Luft wurde ihr brutal aus der Lunge gepresst, sodass sie keuchend versuchte, wieder zu Atem zu kommen, während ihr Tränen in den Augen brannten. Entschlossen biss sie die Zähne zusammen, kam hoch und lief weiter. Dabei ignorierte sie die fast lähmenden Schmerzen, die ihren ganzen Körper erfasst hatten.

Man würde sie finden. Man würde keine Ruhe geben, bis man sie wieder geschnappt hatte. Sie durfte nicht anhalten. Sie durfte nicht aufgeben. Lieber würde sie sterben, ehe sie dahin zurückging.

Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie in weiter Ferne einen Kojoten heulen hörte. Abrupt blieb sie stehen, als sie zwei weitere Tiere hörte, die beide viel näher waren als der erste. Das Winseln und Bellen des Rudels, das in ein langgezogenes, unheimliches Heulen überging, jagte ihr einen Schauer über den Rücken, sodass sie nicht mehr nur vor Kälte, sondern auch vor Angst zitterte.

Sie waren irgendwo vor ihr und stellten das einzige Hindernis auf dem Weg aus dem Wald ins weite, flache Land dar, welches ihr die Freiheit verhieß. Vielleicht die Freiheit verhieß. Doch dann wurde ihr bewusst, dass die Spürhunde vielleicht nicht gewillt wären, sie weiter zu verfolgen, wenn die Kojoten in ihrer Nähe waren.

Ihre Chance zu entkommen würde in der Nähe des Rudels um ein Vielfaches höher sein, und was sie dort auch erwartete, war immer noch ein milderes Schicksal als das, was sie ertragen musste, wenn man sie zurück in die Anlage brachte. Im Osten wurde der Himmel zwar schon ein wenig heller, doch das genügte noch lange nicht, um den Weg sicheren Fußes zu bewältigen. Aber sie wusste, sie musste um jeden Preis weiterlaufen, also stürmte sie rücksichtslos voran und drückte dichte Büsche zur Seite, um sich einen Weg durch die geschlossene Vegetation zu bahnen.

In ihren bloßen Füßen hatte sie längst kein Gefühl mehr. Die Kälte und zahllose Kratzer und Schnittwunden hatten sie taub werden lassen, wofür sie sogar dankbar war. Sie wusste, wenn erst das Gefühl in ihre Füße zurückkehrte, würde sie vor Schmerzen hilflos sein.

Wie weit noch? Sie hatte sich die Landkarten genau angesehen, für die sie sich in die verbotenen Bereiche der Anlage gewagt und dabei der Gefahr ausgesetzt hatte, entdeckt zu werden. Sie wusste, in nördlicher Richtung war der Weg durch den dichten Wald rings um die Anlage am kürzesten. Sie hatte sich die Strecke genau eingeprägt und war am nördlichen Rand der Anlage nach Norden gerannt.

Aber wenn sie nun nicht geradeaus gelaufen war, sondern bloß im Kreis? Ein Schluchzer wollte über ihre blutverschmierten Lippen kommen, doch sie hielt ihn zurück, indem sie sich selbst absichtlich Schmerzen zufügte und die Zähne fest in die Unterlippe bohrte.

Dann nahm sie ein anderes Geräusch wahr, das sie erneut vor Schreck erstarren ließ. Panik überkam sie und machte es ihr unmöglich, sich zu rühren. Hunde. Noch weit entfernt, doch das Bellen war unverkennbar. Sie kannte es nur zu gut. Bluthunde. Bestimmt hatte sie bei ihrer Flucht durch den Wald überall Spuren von ihrem Blut hinterlassen und damit eine Fährte gelegt, der die Hunde mit Leichtigkeit folgen konnten.

Schluchzend setzte sie sich wieder in Bewegung und rannte jetzt noch panischer weiter. Sie sprang über Baumstümpfe und abgebrochene Äste und stürzte dabei mehrmals. Doch Verzweiflung und die Aussicht auf ein Leben voller Kummer und Elend trieben sie voran.

Ein Muskelkrampf befiel ihren Oberschenkel, sie schnappte angestrengt nach Luft, ignorierte aber die Schmerzen. Dann kam der nächste Krampf am Rücken. O Gott! Sie presste die Hand in die Seite, um den angespannten Muskel zu drücken und zu massieren. Dabei legte sie den Kopf in den Nacken und richtete das tränenüberströmte Gesicht hinauf zum Himmel.

Bitte, hilf mir, Gott. Ich will nicht glauben, dass ich das widerwärtige Wesen sein soll, als das sie mich bezeichnet haben. Und ich lasse mich nicht für etwas bestrafen, was ich gar nicht entscheiden konnte. Diese Leute vollbringen nicht dein Werk. Ich kann und will das nicht glauben. Bitte, hab Erbarmen mit mir und schenk mir deine Gnade.

Die Hunde schienen noch näher gekommen zu sein, während sie von den Kojoten keinen Laut mehr hörte. Vielleicht hatte das Gebell sie vertrieben, weil sie annehmen mussten, dass ihr eine ganze Meute auf den Fersen war. Ein weiterer Krampf ließ sie um ein Haar in die Knie gehen, und ihr wurde klar, dass sie bald nicht mehr in der Lage sein würde zu rennen.

»Warum, Gott?«, flüsterte sie. »Welche Sünde habe ich begangen?«

Dann brach sie durch die letzten Büsche und war einen Moment lang vor Schreck ganz starr, als sich ihr mit einem Mal keine Hindernisse mehr in den Weg stellten. Das kam so plötzlich, dass sie stolperte und wieder lang hinschlug … auf einen Schotterweg?

Sie legte die Hände flach auf den Boden und bohrte die Fingerspitzen in Erde und Kies. Blut tropfte auf den Boden und wurde gierig aufgesaugt, weshalb sie sich mit dem Ärmel ihres ramponierten Kapuzenpullis über Mund und Nase fuhr.

Vor Erleichterung wurde ihr fast schwindlig. Sie hatte es geschafft!

Dann sprang sie auf und wies sich selbst zurecht. Sie hatte noch gar nichts geschafft. Sie hatte lediglich den Wald hinter sich gelassen und war jetzt noch viel leichter auszumachen. Aber zumindest wusste sie jetzt, welche Richtung sie einschlagen musste.

Zumindest hoffte sie das.

Sie eilte den Weg entlang und wich aber rasch auf den Streifen am Straßenrand aus, als der Schotter sich zu sehr in ihre empfindlichen Fußsohlen bohrte. Der mit Gras bewachsene Streifen war zwar nicht viel besser, aber zumindest hinterließ sie da keine sichtbare Blutspur wie auf der Straße.

Und dann traf sie fast der Schlag, als sie in vielleicht hundert Metern Entfernung etwas entdeckte, das wie eine kleine Tankstelle mit einem Obststand aussah. Sie lief schneller und sah immer wieder über die Schulter, denn sie fürchtete, die Hunde könnten ihr auf den Fersen sein.

Und – schlimmer noch – die Ältesten.

Doch nichts und niemand war zu sehen, als sie weiter in Richtung Tankstelle rannte, ohne zu wissen, was sie eigentlich tun sollte, wenn sie dort ankam. Über die moderne Welt hier draußen wusste sie nur wenig, abgesehen von dem, was sie mitbekommen hatte, wenn es ihr gelungen war, einen heimlichen Blick in Bücher, Magazine oder Tageszeitungen zu erhaschen. Alles hatte so sonderbar und beängstigend gewirkt, so gigantisch, dass es ihre kühnsten Vorstellungen übertraf. Dennoch hatte sie sich als Vorbereitung auf diesen Tag mit so viel Wissen wie nur möglich bewaffnet.

Es war eigentlich ihre Freiheit, auf die sie sich vorbereitet hatte.

Als sie bei der Tankstelle ankam, bemerkte sie davor einen alten Lastwagen, dessen Ladefläche vollständig mit einer Plane bedeckt wurde. Sie sah nach links und rechts, dann wieder zur Tankstelle, während sie überlegte, welche Möglichkeiten ihr zur Verfügung standen.

Dann hörte sie auf einmal Stimmen.

Sofort ging sie hinter dem Lastwagen in die Hocke, das Herz schlug ihr bis zum Hals und jeder schmerzhafte Atemzug wurde von einem pfeifenden Keuchen begleitet.

»Ich muss die Ware zu unserem Stand nach Houston bringen. Ich schätze, heute Nachmittag um zwei bin ich wieder zurück. Brauchst du was aus der Stadt, Roy?«

»Heute nicht, Carl. Aber pass auf dich auf. Ich habe gehört, dass der Berufsverkehr heute Morgen besonders übel sein soll. Da war von einem Stau auf der 610 die Rede.«

»Ich halte die Augen offen. Pass du aber auch auf dich auf. Bis später.«

Sofort stand ihre Entscheidung fest. Sie hob die Plane an, sah die offene Klappe der Ladefläche und stellte erfreut fest, dass zwischen den Kisten mit Obst und Gemüse gerade genug Platz war, um sich dazwischen zu zwängen. So leise und so schnell wie nur möglich kletterte sie auf die Ladefläche, wobei ihr Körper bei jeder Bewegung mit stechenden Schmerzen reagierte. Sie zog die Plane wieder herunter und hoffte, dass sie nun wieder so aussah wie in dem Moment, bevor sie sie hochgehoben hatte. Dann robbte sie so weit wie möglich nach vorn, um nicht während der Fahrt herauszufallen.

Der ältere Mann wollte in die Stadt fahren. Die Vorstellung versetzte sie in Panik. Der bloße Gedanke, von einer so großen Stadt wie Houston regelrecht geschluckt zu werden, lähmte sie förmlich. Aber es würde auch zu ihrem Vorteil sein.

Die Ältesten würden in einer Stadt, in der das Leben pulsierte, viel mehr Mühe haben, sie ausfindig zu machen. Ganz zu schweigen davon, dass sie sie wohl kaum am helllichten Tag entführen würden. Hier dagegen – in der abgeschiedenen ländlichen Gegend nördlich von Houston – würde beides für sie kein Problem sein, wenn sie sich noch länger hier aufhielt.

Gebannt hielt sie den Atem an, als der Wagen leicht schaukelte, während der Fahrer einstieg und die Tür zuwarf. Dann wurde der Motor angelassen, und der kleine Laster fuhr rückwärts. Sie presste die Faust gegen die geschwollenen Lippen und biss auf ihren Knöchel, als das Fahrzeug abrupt zum Stehen kam. Aber nicht einmal eine Sekunde später setzte er sich wieder in Bewegung, und dann merkte sie, dass sie auf dem Schotterweg fuhren.

Danke, Gott. Danke, dass du mich nicht vergessen hast. Danke, dass du mich wissen lässt, dass ich nicht das bin, als was sie mich bezeichnen, und dass du nicht der rachsüchtige Gott bist, als den sie dich beschrieben haben.

2

Isaac Washington nahm den Kaffee und die beiden Bagels und verließ das kleine Einkaufszentrum, das nur ein paar Blocks von den Räumen des Devereaux Sicherheitsdienstes entfernt lag. Da der Coffeeshop samt Bäckerei keiner Kette angehörte, so beliebt war und in Houston gerade der morgendliche Berufsverkehr herrschte, hatte er seinen Wagen auf dem weitläufigen Parkplatz auf der anderen Seite des Highway’ abstellen müssen.

Zum Glück war Winter – oder zumindest das, was für Houstoner Wetterverhältnisse als Winter galt. So schwitzte er sich auf dem langen Weg zurück zu seinem Wagen wenigstens nicht zu Tode. Tatsächlich konnte man die Luft sogar schon fast als frostig bezeichnen, was der in der letzten Nacht aufgezogenen Kaltfront zu verdanken war. Es war eine angenehme Abwechslung, nachdem die Stadt den ganzen Sommer und Herbst hindurch unter der drückenden Hitze gelitten hatte.

Er hatte seinen SUV fast erreicht, als er bemerkte, dass die Fahrertür offen stand. Verdammt noch mal! Ständig vergaß er, den Wagen abzuschließen, und allzu oft hatte er auch schon den Schlüssel stecken lassen, wenn er nur mal kurz anhielt, um irgendeine Besorgung zu erledigen.

Er warf den Kaffeebecher und die Tüte mit den Bagels zur Seite, zog seine Waffe und ging geduckt zwischen zwei Wagen hindurch, um sich seinem SUV zu nähern. Schritt für Schritt umrundete er die anderen Fahrzeuge, bis er beim letzten anlangte. Er kam hinter dem Heck hervor, um den Kerl von hinten zu überraschen, der doch tatsächlich gerade versuchte, seinen SUV zu kapern. Er wollte den Dreckskerl so stellen, dass der die offene Wagentür im Rücken hatte und in die schussbereite Pistole sehen musste.

Vorsichtig richtete er sich gerade weit genug auf, um einen ungehinderten Blick auf den Dieb zu werfen. Er stutzte, als er die schmale Gestalt erblickte, die einen löcherigen Pulli mit Kapuze trug. Die Jeans sah nicht viel besser aus, aber vom Kopf war nichts zu erkennen, weil die Kapuze hochgezogen war. Nach Größe und Statur zu urteilen, konnte es nur ein Teenager sein, der mit dem Wagen eine Spritztour unternehmen wollte.

Aber wer der Typ auch sein mochte, er hatte auf jeden Fall keine Ahnung von Autodiebstahl. Er vergewisserte sich noch nicht einmal ab und zu, ob sich der Besitzer oder sonst jemand näherte. Als er einsteigen wollte, wusste Isaac, dass er nicht länger warten durfte. Er konnte nur hoffen, dass der Typ nicht sofort das Feuer auf ihn eröffnete.

»Keine Bewegung, Freundchen«, rief Isaac, kam näher und hielt dabei die Waffe weiter auf den Rücken des Jungen gerichtet.

Der erstarrte mitten in der Bewegung und drehte sich langsam zu Isaac um. Ihm verschlug es den Atem, als er endlich das Gesicht des »Jungen« sah, der ihm den Wagen hatte stehlen wollen.

Denn der »Junge« war eine junge Frau, die ihn mit vor Angst weit aufgerissenen Augen anstarrte. Sie war so kreidebleich, dass die geschwollenen Bereiche rund um Nase und Mund umso deutlicher hervortraten. Trotz ihrer Kleidung und ihrer körperlichen Verfassung kam ihm nur noch ein Gedanke in den Sinn. Er meinte, einen Engel vor sich zu haben.

Ein paar hellblonde Strähnen lugten unter der Kapuze hervor und umrahmten ein zartes Gesicht, das abgesehen von den blutigen Stellen einen makellosen Teint wie Porzellan aufwies. Als sein Blick über die zerfetzte Kleidung nach unten wanderte, fiel ihm auf, dass sie nicht einmal Schuhe trug. Es herrschte zwar kein Bodenfrost, aber für die Wetterverhältnisse war sie viel zu dünn angezogen und dann auch noch barfuß!

»Bitte, tun Sie mir nichts«, flüsterte sie mit bebenden Lippen.

Sie zitterte am ganzen Leib und hielt die Hände flehend hoch. Seine anfängliche Verärgerung darüber, dass jemand seinen Wagen hatte stehlen wollen, war mit einem Mal verflogen und machte dem intensiven Gefühl Platz, diese Frau beschützen zu wollen. Außerdem regte sich Wut in ihm, die demjenigen galt, der einer so zierlichen und unschuldig dreinschauenden Frau etwas antun wollte.

»Wie heißen Sie?«, fragte er mit leiser Stimme, während er die Waffe sinken ließ und zurück ins Halfter schob.

Entsetzen flackerte in ihren kristallklaren blauen Augen auf. Noch nie hatte er einen Menschen mit Augen in diesem ungewöhnlichen Blauton gesehen. Zusammen mit dem seidig blonden Haar und der zarten, hellen Haut verstärkte dies bei ihm den Eindruck, das Abbild eines Engels vor sich zu haben.

»D-das k-kann ich Ihnen n-nicht sa-sagen«, stammelte sie.

Er sah sie mit sanfter Miene an. »Stecken Sie in Schwierigkeiten? Ich kann Ihnen helfen. Es gehört zu meinem Job, Menschen zu helfen, die in Schwierigkeiten stecken.«

Nachdrücklich schüttelte sie den Kopf. »Bitte, lassen Sie mich einfach gehen. Es tut mir leid wegen …« Sie verstummte und deutete mit einer fahrigen Geste auf seinen Wagen. »Ich wusste nur nicht, was ich sonst machen sollte.«

»Honey, ich glaube, Sie haben sich noch nicht im Spiegel gesehen«, gab er sanft zurück. »Sie haben Prellungen und Platzwunden, und für dieses Wetter sind Sie alles andere als richtig angezogen. Sie tragen ja nicht mal Schuhe.«

»Ich muss weg«, flüsterte sie. »Ich muss unbedingt weg.«

Isaac machte einen Schritt auf sie zu, da er spürte, dass sie kurz davorstand, die Flucht zu ergreifen. Er wusste selbst nicht recht, warum es ihm so wichtig war, sie nicht einfach gehen zu lassen. Aber könnte er überhaupt jemanden gehen lassen, der sich in einer körperlich so erbärmlichen Verfassung wie diese rätselhafte Frau befand?

Sie wich zurück und schien sich förmlich in sich selbst zu verkriechen – eine Schutzmaßnahme, die wahrscheinlich instinktiv und ganz ohne bewusstes Zutun ablief. Er spürte, wie sich seine Miene bei dem Gedanken verfinsterte, dass die Frau das Gefühl hatte, sie müsste sich vor einem Fremden fürchten. Andererseits konnte er sich auch in ihre Situation hineinversetzen. Sie hatten einander nicht gerade unter optimalen Umständen kennengelernt, schließlich hatte er gleich mit seiner Pistole auf sie gezielt.

»Kommen Sie, ich kaufe Ihnen was zu essen. Ich bin zwar gerade im Coffeeshop in der Mall da drüben gewesen, aber als ich sah, dass die Wagentür offensteht, habe ich meinen Kaffee und die Bagels irgendwo dahinten zurückgelassen. Ich glaube, Sie könnten was zum Aufwärmen gebrauchen.«

Er bemerkte den sehnsüchtigen Ausdruck in ihren Augen, als er von Essen und Kaffee redete. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie dünn die Frau tatsächlich war. Die schwarzen Ränder unter den Augen deuteten nicht nur auf zu wenig Schlaf hin, sondern auch auf einen Mangel an Nahrung.

Verdammt noch mal, sie wies alle Anzeichen eines Opfers häuslicher Gewalt auf. War ihr Freund dafür verantwortlich? Ihr Ehemann? Vielleicht war es gar ihr Vater. Sie wirkte jung genug, um noch ein Teenager zu sein. Nur ihre Augen ließen sie älter erscheinen. Augen, die zu viel gesehen hatten, sodass sie vorzeitig erwachsen geworden war, weil das Leben sie auf die harte Tour hatte lernen lassen, wie viel Kummer es in der Welt gab.

»Ich schwöre Ihnen, ich werde Ihnen nichts tun«, redete er so beschwichtigend auf sie ein, wie man es mit einem wilden Tier tat, damit es nicht in Panik geriet. »Ich werde ganz sicher nicht die Polizei rufen, und ich werde Sie auch nicht wegen Autodiebstahls anzeigen.«

Als er das Wort Polizei aussprach, wurde sie noch etwas bleicher, und er bereute sofort seine unbedachten Worte.

Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch in dem Moment hörte Isaac schon das allzu vertraute Sirren einer Kugel, die auf sie abgefeuert worden war. In der nächsten Sekunde bohrte sich das Geschoss in den Reifen des Wagens gleich neben ihnen, während der Nachhall etwas länger brauchte und aus einiger Entfernung zu kommen schien.

»Runter!«, brüllte er und warf sich auf die Frau.

Er legte die Arme um ihre Taille und drehte sich mit ihr, um sie zu Boden zu stoßen, wo er sie mit seinem Körper decken könnte. Gerade wollte er seine Waffe ziehen, als eine ganze Salve seinen SUV und den Wagen daneben durchsiebte, und dann breitete sich plötzlich ein unerträglich stechender Schmerz in seiner Brust aus.

Ein stummer Schrei ließ ihn den Mund aufreißen, und sekundenlang war er nicht in der Lage, sich zu rühren. Dann wich alle Kraft aus seinen Beinen, und er sank wie ein Ballon zu Boden, aus dem auf einen Schlag alle Luft entwichen war. Mit einem dumpfen Knall landete er neben der Frau auf dem Boden, die keinen halben Meter von ihm entfernt lag.

»Nein. Nein!«, krächzte die Frau heiser. »Nein, nein, nein

Angst und Qual hatten ihr Gesicht noch mehr erstarren lassen. Entsetzen erfasste ihn – und das Gefühl versagt zu haben –, als er spürte, wie das Leben langsam seinen Körper verließ. Nach allem, was er in den letzten Jahren geleistet hatte, sollte es tatsächlich so mit ihm zu Ende gehen?

»Hören Sie«, brachte er mühsam heraus und erschrak, dass seine Stimme kaum lauter als ein Flüstern war. »Steigen Sie in meinen SUV. Der Schlüssel steckt. Machen Sie, dass Sie von hier wegkommen. Bringen Sie sich in Sicherheit. Mir ist nicht mehr zu helfen. Mein Leben ist zu Ende.«

»Nein!«, widersprach sie ihm energisch. »Das lasse ich nicht zu! Ich lasse Sie nicht sterben!«

Sie robbte zu ihm, und auf einmal befand sich ihr Gesicht direkt über ihm. Ihre blauen Augen blitzten fast silbern auf, als sie die Kapuze nach hinten schob und ihr lockiges, blassblondes Haar befreite, das um ihre Schultern wallte, als sie mit den Händen hektisch über seine blutige Brust strich.

»Gehen Sie«, krächzte er hustend. Er begann zu würgen, als er auf der Zunge den metallischen Geschmack von Blut bemerkte.

Sie schloss die Augen, und ihr Gesicht verzog sich vor schmerzhafter Qual. Als sie beide Hände fest auf seine Brust drückte, schnappte Isaac keuchend nach Luft.

Er hatte das Gefühl, als wäre er von einem Blitz getroffen worden, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Sein Herz geriet aus dem Takt, dann setzte es aus, und vor seinen Augen begann alles zu verschwimmen. Das zart geschnittene Gesicht der jungen Frau wurde immer undeutlicher.

Er hörte auf, gegen das Unabwendbare – den Tod – anzukämpfen. Stattdessen entspannte er sich und rechnete jeden Moment mit dem Ende, als eisige Kälte sein Innerstes zu vereinnahmen begann. Doch dann ging ein Ruck durch ihn, und er spürte etwas Wundervolles, ein noch nie erlebtes Gefühl. Wärme. Die allerschönste Wärme, die er je erfahren hatte, breitete sich in seinen Gliedern aus und ging mit einem hoffnungsvollen Raunen einher, das einen Neuanfang verhieß.

Er wollte etwas sagen, wollte protestieren, wollte fragen, ob dies das Ende wäre, aber er konnte nur nach Luft schnappen, da er plötzlich wieder in der Lage war, alles klar und deutlich zu erkennen. So deutlich, dass ihm auch nicht die schier unerträgliche Anstrengung entging, die förmlich in jede Facette ihres Gesichts eingebrannt war.

Niemals hatte er etwas Wundervolleres gespürt als in diesem Moment. Sein Körper wurde von innen heraus gewärmt. Sein angestrengt pumpendes Herz und die nach Luft ringende Lunge schienen sich zu entspannen und zur Ruhe zu kommen. Da war kein Schmerz, da war nur ein … ein Wiederauftauchen.

Als hätte ein Chirurg die Hände in Isaacs Brustkasten getaucht und mit größter Sorgfalt die tödliche Verletzung repariert, die die Kugel ihm zugefügt hatte.

Er hob eine Hand und war fast schockiert, dass er die Kraft dazu besaß. Gierig saugte er die wundervolle, lebenspendende Luft tief ein und wunderte sich nicht nur darüber, dass er keine Schmerzen hatte, sondern auch, dass man das, was er spürte, nicht beschreiben konnte. Keine Droge, kein Betäubungs- oder Schmerzmittel wäre jemals in der Lage, solch eine Empfindung hervorzurufen.

Er streckte den Arm aus und legte die Finger um ihr Handgelenk, denn obwohl er nicht wusste, was sie da eigentlich tat, war ihm klar, dass sie damit aufhören musste. Sie war in Gefahr. Die Angreifer waren immer noch da und rückten vielleicht bereits an, um sie zu holen.

Blinzelnd öffnete sie die Augen, als er sie berührte, und er sah einen Wirbel aus blitzenden Farben, hinter denen das ursprüngliche, blasse Blau verschwunden war.

»Nicht«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich bin noch nicht fertig. Sie müssen mich gewähren lassen, denn ich werde Sie nicht sterben lassen.«

Er nahm seine Hand weg und war wie betäubt von dem, was er da sah … nein, was er am eigenen Leib erfuhr. Er hatte gedacht, ihn könnte nichts mehr erschüttern oder in Erstaunen versetzen. Dass es nichts Unglaubliches mehr gäbe in dieser Welt, in der er lebte und arbeitete. Daher wäre er auch nie auf die Idee gekommen, jemand könnte eine derartige Macht, eine derartige Fähigkeit besitzen. Denn nur Gott besaß die Macht über Leben und Tod, oder etwa nicht?

Nein, das stimmte so nicht. Jeden Tag brachten sich überall auf der Welt Menschen gegenseitig um. Menschen entschieden weitaus häufiger über den Tod als über das Leben. Und trotzdem hatte diese Frau …

Plötzlich zitterte er am ganzen Leib, sein Oberkörper zuckte hoch, als hätte man einen Defibrillator eingesetzt. Er spürte die Kälte des Asphalts durch seine blutgetränkte Jacke, und er merkte, dass sein Körper warm war, nicht kalt wie der Tod. Er lebte, er atmete. Er war zurück.

Ehrfürchtig starrte er sie an, aber in ihren seelenvollen Augen war nur abgrundtiefe Verzweiflung zu erkennen. Sie nahm die Hände weg und zog die Knie an die Brust, während sie langsam vor und zurück wippte. Tränen liefen ihr über die Wangen.

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Indem sie ihn gerettet – geheilt – hatte, war sie um die Gelegenheit gebracht worden, wegzulaufen und sich in Sicherheit zu bringen. Ihr resignierter Gesichtsausdruck brach ihm das Herz, noch während er dalag und sich darüber wunderte, dass er lebte. Vorsichtig strich er über seine Brust und sah das Blut, das an seiner Handfläche klebte. Aber das Blut war nur an seiner Kleidung, er selbst blutete nicht mehr, denn die klaffende Wunde war verschwunden. Er fühlte sich noch ein bisschen schwach, aber das war wahrscheinlich nur eine Folge des Schocks. Wer würde schließlich in so einer Situation keinen Schock erleiden? Jedenfalls war er nicht in der Verfassung, aufzustehen und sich zusammen mit der Frau in seinen Wagen zu hieven, um die Flucht zu ergreifen. Am Ende würden sie noch beide seinetwegen sterben, oder besser gesagt, er aufs Neue sterben. Ihre einzige Chance bestand darin, sofort von hier zu verschwinden und ihn sich selbst zu überlassen.

Er streckte die Hand nach ihrem Knöchel aus und schüttelte sie leicht, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Mit matten Augen sah sie ihn an, als er auf den SUV deutete.

»Schnell, bevor die hier auftauchen! Der Schlüssel steckt! Los!«

Aber sie schüttelte den Kopf, während ihr noch mehr Tränen übers Gesicht liefen.

»Verdammt noch mal, verschwinden Sie endlich! Verstärkung ist schon unterwegs, außerdem habe ich noch meine Waffe. In ein paar Minuten wird jemand hier sein und mir helfen. Um Himmels willen, jetzt machen Sie schon!«

Zum ersten Mal flammte Hoffnung in ihrem Blick auf, auch wenn ihre Miene Entsetzen erkennen ließ. Er wollte sich gerade aufrichten, als sie sich auch schon auf ihn warf und zu Boden presste, während wieder eine ganze Salve Kugeln abgefeuert wurde, die ein Dutzend Löcher in das Blech des SUV schlug.

Unendlicher Schmerz, abgrundtiefer Kummer und völliges Entsetzen bildeten einen tosenden Wirbel in ihren weit aufgerissenen Augen. Er konnte spüren, wie ihr Blick sich in ihn hineinbohrte und ihn mit sich in die turbulenten Untiefen zog, in denen sie sich bewegte. Mit jeder Faser ihres Seins flehte sie ihn an, und als sie zu reden begann, zuckte er zusammen, weil in ihren Worten eine so ungeheure Qual mitschwang.

»Sie müssen sich verstecken. Die dürfen nicht erfahren, was ich getan habe. Niemand darf das erfahren. Erzählen Sie niemandem etwas von mir. Bitte!«, flehte sie ihn an und schlang ihre zierlichen Hände um seine, um sie hochzuziehen und an die Brust zu drücken. Er spürte ihren rasenden Herzschlag, und dann fiel ihm auf, wie heftig sie zitterte.

Er wagte nicht, sie darauf aufmerksam zu machen, wie verräterisch die Blutlache war, in der er lag. Wenn er das tat, würde sie vermutlich endgültig die Fassung verlieren. Sie bewegte sich schon jetzt allzu dicht am Rand eines Zusammenbruchs. Als er sie losließ und ihre Berührung ein jähes Ende nahm, kam es ihm so vor, als wäre ein Teil von ihm gestorben. Dennoch schob er sie zu seinem Wagen, wobei er absichtlich schroff im Befehlston auf sie einredete und das mit seinem strengsten Blick noch unterstrich.

»Hauen Sie ab, solange Sie noch können, verdammt noch mal. Ich habe doch gesagt, dass jeden Moment jemand kommt, der sich um mich kümmert. Wehe, wenn diese Dreckskerle Sie in die Finger bekommen.«

Er konnte nur hoffen, dass er ihr keine Lüge erzählt hatte, was die Verstärkung anging. Es war ihm noch gelungen, den »Oh, shit«-Knopf zu betätigen, wie seine Kollegin Eliza den Transponder bezeichnete, den sie alle bei sich trugen. Er war nicht weit vom Hauptquartier entfernt. Eigentlich hätte längst jemand da sein müssen.

»Verdammte Scheiße, jetzt hören Sie mir doch endlich zu«, herrschte er die Frau an. »Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind oder was Sie mit mir gemacht haben, Lady, aber ich werde nicht zulassen, dass jemand abgeknallt wird, der mir gerade eben das Leben gerettet hat.«

Sie rappelte sich auf, huschte in gebückter Haltung zum Wagen und schlüpfte hinein. Isaac hätte schwören können, dass sie ihn mit dem letzten Blick, den sie ihm zuwarf, um Vergebung bat. Sie schlug die Tür zu und ließ den Motor an. Er zuckte zusammen, als der SUV einen Satz nach vorn machte und dann mit quietschenden Reifen zum Stehen kam.

Verfluchter Mist. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, sie wegzuschicken. Wie es schien, wusste sie gar nicht, wie man ein Auto fuhr. Genau genommen sah sie nicht mal so aus, als ob sie alt genug wäre, um hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen. Frustriert, dass er ihr nicht den Schutz geben konnte, den sie so dringend benötigte, presste er die Lippen fest aufeinander und konnte nur hoffen, dass er das Richtige getan hatte.

Er wollte wissen, wie weit sein Körper ihm wieder gehorchte, drehte sich auf den Bauch und kroch um den verbliebenen Wagen herum, wobei seine Knöchel weiß hervortraten, weil er die Pistole so fest umklammerte. Er ließ sich schwer gegen den Kühlergrill sinken und wartete, während er mit einer Hand immer noch ungläubig seine Brust rieb.

»Isaac«, rief jemand leise aus etwas größerer Entfernung. »Bericht.«

Erleichtert atmete er auf, als er Zekes Stimme hörte. Er war erst seit relativ kurzer Zeit beim Devereaux Sicherheitsdienst.

»Hast du Verstärkung mitgebracht?«, entgegnete Isaac gerade eben laut genug, um einige Meter weiter noch gehört zu werden.

»Dex ist bei mir. Was ist los, Mann?«

»Angreifer mit Schusswaffen. Wo die sich aufhalten, kann ich nicht sagen, aber beim ersten Schuss waren sie noch nicht sehr nahe. Keine Ahnung, ob sie inzwischen vorgerückt sind oder vielleicht längst das Weite gesucht haben. Passt auf euch auf. Ich hoffe, ihr habt ordentlich was an Munition dabei.«

Das Schnauben, mit dem Dex antwortete, deutete er als Bestätigung.

»Bist du getroffen worden?«, wollte Zeke wissen.

Isaac setzte zu einer Antwort an und machte den Mund gleich wieder zu. Was sollte er darauf antworten? O ja, und wie er getroffen worden war … tödlich sogar. Er sollte längst auf dem Weg zum Leichenschauhaus sein, wo man ihm einen Zettel an den großen Zeh band. Aber jetzt sah es so aus, als hätte es die Schusswunde nie gegeben. Als wären Herz und Lunge niemals tödlich verletzt worden. Wie sollte er das seinen Partnern erklären.

»Jetzt ist nicht der Moment, Fragen zu beantworten. Das kann ich später immer noch. Holt mich hier raus, aber passt auf, dass ihr nicht getroffen werdet!«

»So sieht der Plan aus, Mann«, meinte Dex und hielt kurz inne »Brauchst du einen Sanitäter?«

»Nein, nur einen Satz Räder.«

»Shadow ist jetzt auch da und sucht nach den Angreifern. Wenn die noch da sind, wird er sich um sie kümmern«, sagte Dex.

Das stimmte sogar ohne jede Einschränkung. Shadow hatte seinen Codenamen dem Umstand zu verdanken, dass er wirklich wie ein Schatten war. Ein Schatten, den niemand sah. Und wenn man ihn bemerkte, war es bereits zu spät.

»Gute Idee«, murmelte Isaac. »Aber sag ihm, er soll auf sich aufpassen. Das waren mehrere Angreifer. Die Schüsse wurden aus mindestens drei verschiedenen Richtungen abgefeuert.«

»Er wird schon auf sich achtgeben«, erklärte Dex zuversichtlich. »Ich mache mir mehr Sorgen um dich.«

»Alles in Ordnung«, beteuerte Isaac. »Ich mag nur nicht auf dem Präsentierteller sitzen.«

»Wir holen dich da raus. Bewahr einfach nur die Ruhe und behalt die Umgebung im Auge. Zeke und ich geben dir Deckung, und Shadow wird sich um den Rest kümmern.«

Doch da war noch etwas anderes, was Isaac Sorge bereitete – man hatte es gar nicht auf ihn abgesehen. Bei dem Gedanken erstarrte er mit einem Mal. Oder … etwa doch? Auf die Frau war kein einziger Schuss abgegeben worden, und nicht eine Kugel war in den Wagen eingeschlagen, neben dem sie sich aufgehalten hatte. Er dagegen konnte von Glück reden, dass er noch in einem Stück war. Es war keineswegs um ihn gegangen, und sie waren auch nicht das zufällige Opfer eines dämlichen Amateurschützen geworden. Der Plan war eine Entführung gewesen, bei der er – beinahe – als Kollateralschaden geendet hätte. Zumindest hatten die ihren Plan nur teilweise in die Tat umsetzen können.

Nichtsdestotrotz steckte der geheimnisvolle Engel in ernsthaften Schwierigkeiten, und er würde alles daransetzen, damit die Frau nicht weiter hilflos den Mistkerlen ausgeliefert war, vor denen sie floh und die keinen Zweifel daran ließen, dass sie nichts Nettes im Sinn hatten. Was sie von ihr wollten, wusste er nicht, doch während er über mögliche Gründe nachdachte, rieb er mit einer Hand über die Brust – über die vollständig verheilte Brust, die keinen Hinweis mehr darauf gab, dass er tödlich getroffen worden war. Diese Brust, die nicht mal einen Kratzer aufwies, musste der Grund sein, warum ihr ein Rudel Attentäter auf den Fersen war und sie vor Angst nicht mehr klar denken konnte.

Wer immer von ihren Fähigkeiten wusste – und er hätte seinen letzten Dollar verwettet, dass mindestens einer ihre wundersame Gabe kannte –, würde sie haben wollen. Es gab immer welche, die alles tun würden, um diese Frau in ihre Gewalt zu bringen.

Verfluchter Mist.

Sie hatte ihm das Leben gerettet, und selbst wenn es nicht so gewesen wäre – ein Blick in das aufgeschlagene, blutige Gesicht der viel zu zierlichen Frau hatte genügt. Nichts würde ihn bremsen, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, damit sie nichts mehr zu befürchten hatte. Das war etwas Persönliches. Das war kein Einsatz des Devereaux Sicherheitsdienstes, bei dem man sie einem Team oder einem anderen Mann zugeteilt hatte. Es war seine Sache, sie zu beschützen. Falls Caleb, Beau oder Dane damit ein Problem hatten, sollten sie sich zum Teufel scheren. Notfalls würde er seine Kündigung einreichen, um sich höchstpersönlich um sie kümmern zu können.

»Verdammt!«, knurrte Zeke, als er und Dex Isaac erreichten. »Du hattest doch gesagt, du wärst nicht getroffen worden. Himmel, da ist ja alles voller Blut. Du brauchst einen Rettungswagen, damit man dich sofort ins Krankenhaus bringt.«

Isaac seufzte und zog das blutgetränkte Hemd auseinander, damit sie seine unversehrte Brust sehen konnten.

»Passt auf, Jungs, ich weiß, wie das aussieht. Aber wenn ich euch erzählen würde, was passiert ist, würdet ihr mich sofort in die Geschlossene bringen, auch wenn ihr im Rahmen eurer Arbeit für den Devereaux Sicherheitsdienst schon alles Mögliche gesehen habt.«

»Versuch’s doch erst mal«, gab Dex ruhig zurück.

Isaac holte tief Luft und dann berichtete er alles, was geschehen war: von dem Moment, als er die offen stehende Tür seines Wagens sah, über den tödlichen Treffer in die Brust bis hin zur wundersamen Heilung durch die geheimnisvolle Frau. Man musste ihnen zugutehalten, dass beide nur mit einem Hochziehen der Augenbrauen reagierten.

»Und dann hast du sie gehen lassen? Ohne Schutz? Damit diese Arschlöcher noch mal auf sie schießen können?«, fragte Zeke fassungslos.

»Ich habe sie dazu bringen können, meinen Wagen zu nehmen«, gab Isaac zurück und sah Zeke wütend an. »Ich war ja nicht mal in der Lage, mich selbst zu beschützen. Außerdem konnte ich ein so großes Risiko für sie nicht rechtfertigen, wenn mir klar war, dass meine Verstärkung innerhalb von ein paar Minuten hier sein würde.«

Scheinbar aus dem Nichts tauchte in dem Moment Shadow auf und stellte sich zu ihnen. Seine finstere Miene verriet, dass er Isaacs Ausführungen mitbekommen haben musste, was Isaac nur recht sein konnte, da er keine Lust hatte, alles Gesagte zu wiederholen.

»Und inwiefern soll ihr das jetzt helfen?«, fragte Zeke hartnäckig.

Isaac schüttelte ungläubig den Kopf, weil er nicht fassen konnte, wie begriffsstutzig Zeke manchmal war. Er sah ihn noch wütender an und schnaubte förmlich. »Sie hat meinen Dienstwagen genommen.«

Seine Kollegen begriffen sofort die Bedeutung dieser Worte.

»Machst du dich auf die Suche nach ihr?«, wollte Shadow wissen und lenkte damit Isaacs Verärgerung prompt auf sich.

»Was für eine bescheuerte Frage ist das denn?«, knurrte er.

»Okay, wann machen wir uns auf die Suche nach ihr?«, hakte Dex nach.

»Sofort«, antwortete Isaac ungeduldig. »Himmel, es sah nicht danach aus, als wüsste sie, wie man ein Auto fährt. Es dürfte also nicht allzu schwer sein, ihr zu folgen. Und während wir hier rumstehen und irgendwelchen Mist durchkauen, der Zeit bis sonst wann hat, könnten die Killer ihr jetzt schon dicht auf den Fersen sein.«

Zeke musterte ihn besorgt. »Solltest du nicht eine Notfallambulanz oder die vom Devereaux Sicherheitsdienst genutzte Privatklinik aufsuchen, um dich untersuchen zu lassen?«

»Und was soll ich denen erzählen?« Isaacs Geduld hing nur noch an einem seidenen Faden. »Dass mir in die Brust geschossen worden ist? Herz und Lunge getroffen wurden? Dass ich wie Sau geblutet habe und schon merken konnte, wie ich sterbe, bis eine geheimnisvolle Frau die Hände auf mich legte und mich heilte? Ich konnte spüren, wie die Schäden am Gewebe von innen heraus geheilt wurden. Glaub mir, wenn mich ein Arzt untersuchen würde, er könnte keinen Hinweis auf eine Schussverletzung feststellen.«

Dex stieß einen leisen Pfiff aus. »Das ist ja völlig irre.«

Isaac schnaubte missbilligend. »Seit du weißt, was Ramie, Ari und Gracie alles können, sollte dich eigentlich gar nichts mehr überraschen.«

»Das schon, Mann. Aber das hier ist anders«, gab Shadow leise zurück. »Sie heilt Leute. Sie zieht dich von der Schwelle des Todes zurück. Du hast es ja selbst gesagt: Du hast gefühlt, wie du stirbst, wie sich dein Körper Stück für Stück löste, und trotzdem könnte niemand bei dir auch nur den Hauch einer Verletzung feststellen. Das geht über die übersinnlichen Fähigkeiten hinaus, die unsere Frauen besitzen.«

»Ja.« Isaac atmete tief durch. »Jetzt verstehst du, was ich meine. Und deshalb muss ich sie so schnell wie möglich aufspüren, bevor die anderen sie zu fassen bekommen. Sie wird für den Rest ihres Lebens mit einer Zielscheibe auf dem Rücken herumlaufen. Wahrscheinlich tut sie das schon längst. Jetzt ergibt auch alles einen Sinn … jetzt, wo ich ihre Fähigkeiten kenne und weiß, warum sie meinen Wagen stehlen wollte, warum ihr Gesicht so übel zugerichtet war und sie so schäbige Klamotten anhatte. Verfluchter Mist, sie hatte ja nicht mal Schuhe an!«

Zekes Miene verfinsterte sich so sehr, dass sie einen mörderischen Zug annahm. »Du hast kein Wort davon gesagt, dass sie von irgendeinem Arschloch verprügelt worden ist.«

»Helft mir hoch, damit wir uns verdammt noch mal auf den Weg machen können. Wir müssen den Peilsender an meinem SUV aktivieren, damit wir wissen, wie weit sie gefahren ist oder ob sie immer noch unterwegs ist.«

Zwar sprach es niemand aus, doch an den düsteren Mienen war deutlich abzulesen, dass die Frau sich längst in den Händen ihrer Verfolger befinden könnte.