Benjamin Cors
Küstenstrich
Kriminalroman
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Benjamin Cors ist politischer Fernsehjournalist und hat viele Jahre für die ARD Tagesschau, die ARD Tagesthemen und den Weltspiegel berichtet. Heute arbeitet er für den SWR. Er ist Deutsch-Franzose und hat die Sommer seiner Kindheit in der Normandie verbracht.
Noch bevor er Bekanntschaft mit seiner Schutzperson, einem undurchsichtigen Adligen mit Kontakten zur französischen Regierung, machen kann, stößt Nicolas Guerlain auf eine Leiche: Von der Pont de Normandie führt ein Seil hinab zur Seine — und zu einem Toten. Zur gleichen Zeit, nur wenige Kilometer entfernt, findet die Polizei von Deauville eine weitere Leiche: Hinter einem Nachtclub, achtlos abgelegt zwischen Müllcontainern und leeren Gemüsekisten, liegt ein totes Mädchen, der traurige Anblick nur durchbrochen von einer Postkarte, die hier nicht hinzugehören scheint. Darauf zu sehen sind verblasst die Leuchtreklamen am Londoner Piccadilly Circus, auf der Rückseite der Karte steht eine Telefonnummer — und als die Polizisten die Nummer wählen, hebt am anderen Ende der Leitung prompt jemand ab: Nicolas ...
Sein neuer Auftrag führt den charismatischen Personenschützer Nicolas Guerlain ein weiteres Mal in seine alte Heimat, die Normandie, wo er in ein Verbrechen von ungeahntem Ausmaß gerät.
Ungekürzte Ausgabe 2017
© 2016 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook ISBN 978-3-423-42951-1 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21670-8
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ISBN (epub) 9783423429511
Für Mia und Ella
Calais, Nordfrankreich
22. September
Vor zwei Jahren
An jenem Morgen erwachte Zorah mit der Gewissheit, dass dies der schönste Tag in ihrem Leben war. Es war nicht irgendein vages Gefühl, auch nicht der verklärte Rest eines Traums, an den sie sich ohnehin nur bruchstückhaft erinnern konnte, so wie an alle anderen Träume zuvor auch.
Sie blinzelte leicht benommen, und während sich ihre Augen an das diffuse Licht des frühen Morgens gewöhnten, dachte sie darüber nach, was die Nacht ihr mit auf den Weg gegeben hatte.
Nein, eine Hoffnung war es auch nicht, denn damit kannte sie sich aus. Mit Hoffnungen, die sich in Luft auflösten, in staubige, stickige Luft, die sich auf ihre Lungen setzte, wenn wieder ein Lastwagen an irgendeinem Straßengraben vorbeidonnerte, in dem sie alle gemeinsam für ein paar Stunden Schutz gefunden hatten.
Diesmal, am Ende ihrer Reise, war es etwas anderes. Es war eine echte und wahrhaftige Gewissheit, die heimlich zu ihr in den dünnen Schlafsack gekrochen war und sich neben ihr ausgestreckt hatte, sich an sie schmiegte und lächelte.
Es war ruhig draußen, nur der Wind ließ die Blätter der Sträucher rascheln, die ihr Zelt umschlossen. Die Sonne schien. Und obwohl Zorah in den vergangenen Monaten gelernt hatte, ihre Gefühle fest verpackt in ihrem Innern zu verstauen und nicht daran zu rühren, überkam sie etwas, das sie beinahe als Freude bezeichnet hätte.
Sie lächelte. Es war das behutsame Lächeln eines zwölfjährigen Mädchens, das mehr erlebt und gesehen hatte, als andere in einem ganzen Leben. Und das fast verlernt hatte, wie es sich anfühlte, wenn die eigenen Mundwinkel sich hoben.
»Reiß dich zusammen«, murmelte sie und zog vorsichtig den Reißverschluss ihres Schlafsacks auf. Sie hatte nicht vor, ihr Innerstes aufzuschnüren, nur weil irgendeine dahergelaufene Gewissheit sich neben sie legte und versprach, sie zu wärmen.
»Immer schaust du so traurig, Zorah«, hatte ihre Mutter sie immer wieder ermahnt während der langen Reise. »Freu dich doch, alles wird gut, bald sind wir da.«
Sie lag wenige Meter neben ihr auf dem harten Sandboden, ihr Kopf lehnte an der Schulter ihres Mannes, der selbst im Schlaf zu wachen schien über seine Familie, die er fortgeführt hatte, weit weg von den ockerfarbenen Bergen ihrer Heimat.
Heute war der schönste Tag in Zorahs Leben.
Wir werden sehen, dachte sie, aber sie spürte, wie ihr Herz zu hüpfen begann und ihre schweren Glieder ganz leicht wurden. Als sie leise aus ihrem Schlafsack kroch, wirbelte etwas Staub durch die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Löcher in der Zeltplane fielen. Etwas weiter hinten lag ihr älterer Bruder Belal, er atmete gleichmäßig, und sie hatte nicht vor, ihn aufzuwecken. Zorah streckte ihren Rücken, der eine weitere Nacht auf einem weiteren harten Boden ertragen hatte. Durch Löcher in der blauen Plane erkannte sie einzelne Sträucher, dornige Büsche, die das gesamte Lager umgaben. Außerdem einige rote und blaue Wimpel, die in den Bäumen hingen, als wollte jemand der Trostlosigkeit dieses Ortes einen freundlicheren Anstrich geben.
Das Lager war wahrlich nicht der schönste Ort für einen schönsten Tag, aber Zorah war das egal. Sie merkte, wie sich in ihrem Inneren etwas zu lösen begann, das sie fest verschnürt hatte. Verwundert hielt sie inne.
Es war tatsächlich so. Sie war glücklich.
Es würde nun bald zu Ende sein.
Zorah wischte sich die klamme Nacht mit einer pechschwarzen Haarsträhne aus dem Gesicht und griff in ihren fleckigen Schlafsack. Ihre Finger suchten nach etwas, betasteten vorsichtig das feuchte Innere.
»Scheiße, wo ist sie?«, fluchte sie leise und blickte hinüber zu ihren Eltern. Schließlich sprang sie auf und durchwühlte hektisch den schmierigen Stoff.
Aber da war sie ja. Alles war gut.
»Alhamdulillah.«
Zorah berührte behutsam die einzelnen Ecken der Postkarte, so wie sie es jeden Morgen tat. Ihre Finger wanderten langsam die brüchigen Kanten entlang, fuhren liebevoll über die mittlerweile grau gewordene Innenseite, bevor sie die Karte wendete und auf das leuchtende Bild blickte, das seit einem Jahr nicht mehr leuchtete und das doch ihr Herz schneller schlagen ließ.
Zorah lächelte erneut, jetzt ganz bewusst, und atmete tief ein. Der schönste Tag in ihrem Leben hatte einen frischen, klaren Duft, die Luft schmeckte nach Salz und nach dem Ende einer Reise. Hoch oben über ihrem Zelt hörte sie einen Vogel, es war eine Möwe, aber Zorah kannte keine Möwen. In ihren Ohren klang es wie ein Lachen und sie lachte leise mit, während sie ihre verblichene Trainingsjacke überzog und ihre zu großen Turnschuhe suchte.
Sie wäre nie auf die Idee gekommen, der Vogel könnte sie auslachen.
Draußen näherten sich leise Schritte und kurz darauf drang ein Flüstern zu ihr ins Zelt.
»Zorah! Bist du schon wach?«
Zorah freute sich, Nurias Stimme an diesem Morgen zu hören. Sie würden gemeinsam das Lager erkunden, so wie sie es gestern Abend bei ihrer Ankunft in der Dunkelheit verabredet hatten.
»Nuria! Warte, ich komme!«
Sorgsam faltete sie ihre Postkarte zusammen und steckte sie in ihre Tasche, nicht jedoch, ohne vorher noch einmal auf die Schrift auf den Bildern zu schauen.
Piccadilly Circus.
Die Farben der Leuchtreklamen waren die schönsten Farben, die sie je gesehen hatte.
Sie schlüpfte leise aus dem Zelt und wartete, bis sich ihre Augen an das kalte Licht gewöhnt hatten. Dann war sie endgültig bereit für diesen Tag.
Auch Nuria schien erst vor wenigen Minuten aufgewacht zu sein. Der Wind fuhr durch die Blätter der knorrigen Bäume, zu ihren Füßen rollten schmutzige Plastiktüten und leere Konservendosen über den sandigen Boden.
»Hast du gut geschlafen?«
»Klar«, log Zorah und blinzelte in die Sonne, die hier so viel blasser war als zu Hause in Ghasni, wo die Berge orange waren und der Himmel so blau wie die Burkas der Frauen. Nuria trug wie immer ihren zu großen gelben Pullover, sie hatte die Ärmel mehrmals umgekrempelt.
Zorah hörte im Zelt ihren Vater unruhig im Schlaf murmeln.
»Lass uns schnell gehen«, flüsterte sie, »bevor sie etwas merken.«
Nuria zog sie zwischen den dreckigen Zeltplanen und den notdürftig zusammengezimmerten Verschlägen aus Pappe und Sperrholz den kleinen Hang hinunter. Immer wieder mussten sie ihre Köpfe unter Wäscheleinen durchstecken, an denen nasse Wäsche hing, die in diesem Leben nicht mehr sauber werden würde. Vor einigen Zelten brannten Feuer, vereinzelt roch es nach Kaffee und Brot. Meistens jedoch nach Urin. Zorah hatte gehört, dass einige hundert Menschen hier hausten, auf engstem Raum, eingepfercht zwischen den Dünen und dem flachen Hinterland. Dass dieser Ort bis vor kurzem noch die Müllhalde von Calais gewesen war, wusste sie nicht.
Immer wieder liefen sie an müden und abgekämpften Gesichtern vorbei. Mütter wiegten ihre Babys, Söhne sammelten Äste und Zeitungspapier. Hier und da packten einige Lagerbewohner ihre Sachen und verabschiedeten sich.
»Die wollen bestimmt durch den Tunnel«, bemerkte Nuria, und Zorah nickte nachdenklich. Auch sie würden bald aufbrechen, vielleicht schon morgen. So hatte ihr Vater es ihr gesagt. Sie lief neben ihrer Freundin den kleinen Abhang hinunter, ihrem Ziel entgegen.
Die Dünen.
Das Meer.
Und das, was dahinter lag.
Piccadilly Circus.
Plötzlich blieb Nuria stehen und blickte Zorah an.
»Hörst du das auch?«
Zorah lauschte und nach einigen Sekunden hörte auch sie die Musik, die durch die klare Luft zu ihnen getragen wurde. Sie legte den Kopf zur Seite.
»Das ist schön«, flüsterte sie, und als sie kurz darauf um einige kleinere Bäume herumliefen, sahen sie, woher die Musik kam. Auf einer Lichtung, zwischen Ginsterbüschen und schwarzen Müllcontainern, stand eine kleine Hütte. Es war kaum mehr als ein Bretterverschlag, aber im Gegensatz zu den anderen Behausungen im Lager hatte hier jemand aufgeräumt. Hier lagen keine zerfetzten Pappkartons oder Mülltüten, aus denen vergammelte Essensreste quollen. Blaue und rote Fahnen wehten auf dem Dach, weitere lagen in einer Kiste neben der Hütte.
Zorah machte Nuria ein Zeichen.
»Komm!«
Die Musik war jetzt deutlicher zu hören, sie klang in Zorahs Ohren fremd und auf eine seltsam angenehme Art traurig. Sie verstand die Sprache nicht, und doch mochte sie den Klang der Melodie. Durch ein offenes Fenster sahen sie einen jungen Mann, der an einer Kaffeemaschine hantierte und leise mitsummte. Er war offensichtlich ebenfalls gerade erst aufgestanden, er stand barfuß in der Hütte und seine Haare waren noch zerzaust. Auf einem Tisch in der Mitte des Raumes lagen Papiere und Fotos. Der Mann war gutaussehend, etwas, für das sich Zorah erst seit kurzem interessierte.
Neben ihr kicherte Nuria aufgeregt und steckte sie damit an, so dass die beiden Mädchen sich den Mund zuhalten mussten, um nicht loszuprusten.
Genauso sollte ein schönster Tag sein, dachte Zorah. Sie hatte ihre Freundin auf der Reise kennengelernt, gleich am Anfang. Nuria war genauso alt wie sie, gerade ein Teenager und ihre Eltern hatten dasselbe Ziel. Ganze Wochen hatten sie gemeinsam auf Lastwagen verbracht, auf Pritschenwagen und Eisenbahnwaggons, hatten endlose Tage und Nächte kommen und gehen sehen. Die Landschaften hatten sich verändert und auch die Menschen um sie herum. Zorah hatte irgendwann aufgehört, ihre Eltern zu fragen, wie lange die Reise dauern würde. Sie hatte bemerkt, dass ihr Vater ruhiger geworden war, mit jedem Tag, den sie von zu Hause fort waren.
Er war froh, also war sie es auch.
Nur ihr Lächeln hatte sie zeitweise verloren auf der Reise. Aber von nun an würde es nur noch schönste Tage geben, da war sich Zorah sicher. Solange sie nur Nuria bei sich hatte und ihre Postkarte mit den leuchtenden Farben und dem aufgedruckten Namen, der so verheißungsvoll klang.
»Ihr könnt ruhig reinkommen!«
Neben ihr biss sich Nuria vor Schreck auf die Lippe, als sie die Stimme des Mannes hörten. Langsam standen sie auf und gingen zögerlich zur Eingangstür der Hütte. Jetzt erst sahen sie, woher die Musik kam, in einer Ecke stand ein altes Radio auf dem Holzboden.
»Keine Angst, ich beiße nicht.«
Zorah wusste nicht, über was sie sich mehr wundern sollte. Über die beiden bunten und sauberen Plastikbecher auf dem Tisch, in die der Mann gerade einen gelblichen Saft goss. Oder über die Tatsache, dass sie ihn verstanden hatten.
»Sie sprechen ja Paschtu«, sagte sie in Richtung des Mannes, während Nuria bereits gierig nach einem der Becher griff. Zorah zögerte zuerst, dann machte sie es ihr nach, und kurz darauf explodierte etwas auf ihrer Zunge. Der frische Geschmack von Orangen wischte ihr den Dreck aus dem Hals.
»Leider nicht mehr sehr gut. Ich war lange nicht mehr in Afghanistan«, sagte der junge Mann. Er hatte blondes Haar und zahlreiche Sommersprossen im Gesicht, die zu tanzen schienen, wenn er lächelte. Zorah mochte ihn sofort, sie schätzte, dass er etwa so alt war wie ihr ältester Bruder Belal, der oben im Lager vermutlich noch immer schlief.
»Ich finde, Sie sprechen sehr gut«, sagte Nuria und wischte sich etwas Saft aus dem Gesicht. Sie strahlte.
»Ich bin Zorah. Und das ist Nuria, sie ist meine beste Freundin«
»Seid ihr gestern ins Lager gekommen?«, fragte der Mann und ging zum Radio, um es auszuschalten.
»Nein, das ist schön«, hielt Zorah ihn auf.
»Magst du das? Das ist sehr alte Musik, bestimmt vierzig Jahre. Oder noch älter. Eigentlich ein trauriges Lied. Der Sänger will wissen, was von der Liebe übrig bleibt, nach so vielen Jahren. Magst du Akkordeon?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Zorah.
»Natürlich, wie sollst du auch«, lachte der Mann. »Ich bin übrigens Christian, ich helfe hier im Lager ein bisschen aus, verteile Essen und saubere Wäsche. Leider habe ich momentan nichts, es spendet kaum noch jemand etwas.«
Zorah blickte sich in der Hütte um und deutete dann auf einen kleinen Kasten, der auf dem Tisch lag.
»Was ist das?«
Christian lächelte.
»Warte, ich zeig es euch. Stellt euch mal nebeneinander. Genau, so ist es richtig.«
Die beiden Mädchen rückten etwas näher zusammen, ihre Becher mit dem Orangensaft noch in der Hand. Christian blickte von hinten in den Kasten und winkte mit der freien Hand.
»Und jetzt: Lächeln!«
Die Mädchen zuckten zusammen, als aus dem Kasten ein greller Blitz fuhr, aber ganz offensichtlich war das normal, denn Christian zog kurz darauf ein Stück Papier heraus und wedelte einige Augenblicke damit durch die Luft.
»Das dauert jetzt noch ein bisschen, aber nicht sehr lange.«
Sie blickten sich an.
»Was ist das?«
»Ein Fotoapparat, der die Bilder gleich mit ausdruckt. Man nennt es eine Sofortbildkamera.«
Sie beugten sich alle drei über das Stück Papier, und tatsächlich konnte Zorah bald ihren eigenen Umriss erkennen. Ihr Lächeln wirkte etwas gequält, und sie begriff, dass sie für einen Augenblick Angst gehabt hatte. Vor dem Apparat, vor dem Blitz.
Dabei wusste sie doch, dass ihr an diesem Tag nichts passieren konnte.
Nuria stupste sie von der Seite an.
»Komm, wir müssen weiter. Wir wollen nämlich zum Meer«, sagte sie in Christians Richtung.
»Dann müsst ihr dahinten lang, das ist der schnellste Weg. Was wollt ihr denn am Meer?«
»Unser neues Zuhause angucken. Piccadilly Circus. Wir sind nämlich bald da«, entgegnete Zorah.
Sein Gesicht verdunkelte sich für einen kurzen Augenblick, dann räusperte er sich.
»Haben das eure Eltern gesagt?«
Zorah nickte. »Vielleicht sogar schon morgen, wir müssen nur noch durch den Tunnel, sagt mein Vater.«
Vorsichtig nippte Christian an seinem Kaffeebecher und fuhr sich etwas verlegen durch die Haare.
»Naja, ich wünsche euch jedenfalls viel Glück. Passt auf euch auf. Das Foto pinne ich hier an die Wand, dann bleibt ihr mir in Erinnerung.«
Die beiden Mädchen verließen schließlich die Hütte und rannten davon. Zorah jedoch blieb plötzlich nach ein paar Metern stehen, schien kurz zu überlegen und lief dann zurück.
»Christian, kannst du mir etwas verraten?«, fragte sie.
»Was denn?«
»Wenn ich meinen Namen sagen möchte, hier im Camp – wie heißt das in deiner Sprache?«
Er lächelte sie an und sprach schließlich langsam auf Französisch:
»Ich … heiße …«
»… Zorah!« Sie strahlte ihn an. »Das ist aber einfach. Und drüben, auf der anderen Seite des Tunnels, sagen sie das genauso?«
»Nein, dort sagen sie: »My name … is … Zorah.«
Zorah überlegte einen Augenblick.
Dann gab sie sich einen Ruck.
»Weißt du, heute ist der schönste Tag in meinem Leben!«
Christian lächelte, und in diesem Moment war sie so glücklich, dass sie die Traurigkeit in seinen Augen nicht sah. Er griff nach einem Stift, der auf dem Tisch lag.
»Hast du etwas zu schreiben, einen Zettel oder so etwas?«
Sie zog ihre Postkarte aus der Tasche und blickte sie zögerlich an. Dann lächelte sie.
»Das ist meine Glückskarte, du kannst hier was draufschreiben!«
Er nahm sie und schrieb eine Telefonnummer auf das verblichene Papier auf der Rückseite.
»Wenn dein Glück mal aufgebraucht ist, dann ruf mich an. Oder komm vorbei.«
»Ich ruf dich an, wenn wir dort sind. Versprochen!«
Wenig später war es so weit. Zorah und Nuria standen auf einer kleinen Sanddüne und blickten hinab auf das graue Wasser, das sich vor ihnen erstreckte. Zorah hatte Nurias Hand ergriffen, während sie beide die Augen zusammenkniffen, um die Konturen am Horizont besser sehen zu können.
»Ist er hoch, der Piccadilly Circus?«, fragte Nuria. »Wenn er nämlich flach ist, dann kann man ihn nicht so gut sehen von hier aus.«
»Aber die Lichter müsste man doch sehen, oder?«
»Ich weiß nicht …«
Sie suchten einige Minuten die feine Linie ab, die irgendjemand zwischen Wasser und Himmel gezeichnet hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Zorah am Rande eines großen Meeres stand, aber dieses war mit Sicherheit das graueste von allen. Und das kälteste, dessen war sie sich sicher. Sie umklammerte ihre Postkarte. Eine Möwe flog an ihnen vorbei, aber ihr Lachen wurde übertönt vom Rauschen der Brandung.
Nuria setzte sich schließlich etwas enttäuscht in den Sand und zeichnete mit ihren Fingern Kreise. Zorah hingegen hatte beschlossen, dass nichts und niemand ihr diesen schönsten Tag in ihrem Leben kaputt machen konnte.
»Mama sagt, manchmal sind Lichter auch aus. Weil es keinen Strom gibt.«
Nuria nickte.
»Das hatten wir bei uns in Herat auch manchmal.«
»Wir sogar ganz oft«, sagte Zorah und dachte an die dunklen Gassen von Ghasni, durch die der Wind aus den Bergen pfiff und dabei den Sand in ihre Augen trieb. Immerhin, es war ein warmer Wind gewesen, jetzt fror sie in ihrem viel zu großen und undichten Trainingsanzug.
Plötzlich sprang Nuria neben ihr wieder auf.
»Wo wohl der Tunnel ist?«, fragte sie aufgeregt. »Du weißt doch, der große Tunnel, durch den wir morgen fahren werden!« Sie suchten mit den Augen den Strand ab, fanden jedoch keine größere Öffnung in den Dünen.
Zorah wollte gerade sagen, dass ihr langsam kalt wurde, als hinter ihnen eine Stimme auf Paschtu ertönte.
»Der Tunnel ist weiter hinten, dort, bei der großen Straße!«
Sie drehten sich um und sahen zwei Männer zwischen den Dünen sitzen. Zorah und Nuria hatten sie vorher nicht bemerkt, weil sie sich so über das Meer gefreut hatten.
Und über den Horizont.
Der ältere der beiden winkte ihnen freundlich zu und gab ihnen zu verstehen, dass sie keine Angst zu haben brauchten. Als die beiden Mädchen näher kamen, sahen sie, dass die Männer Tee tranken und ein Würfelspiel in einem kleinen Pappkarton spielten. Der Jüngere begann, sich mit einem Klappmesser die Fingernägel zu säubern.
»Ist es ein sehr großer Tunnel?«, fragte Nuria.
»Allerdings«, sagte der ältere Mann. Er hatte einen dunklen Bart, der von grauen Strähnen durchzogen war.
»Er ist so groß, dass sogar ein ganzer Zug durchfahren kann.«
Zorah und Nuria blickten sich erstaunt an.
»So groß?«
Die Männer nickten.
»Wir werden morgen durch den Tunnel fahren. Bis nach Piccadilly Circus!«, rief Nuria aufgeregt.
»Kommt ihr auch aus Afghanistan?«, wollte Zorah von den Männern wissen. Sie blickte nach oben zu der Möwe und mit einem Mal dachte sie, dass es kein schönes Lachen war, das dort erklang.
»Ja, aus der Nähe von Baglam. Aber wir sind schon seit ein paar Wochen hier.«
»Ein paar Wochen!«, rief Nuria entsetzt. »Warum fahrt ihr denn nicht durch den Tunnel?«
»Weil das nicht so einfach ist«, sagte der Jüngere, und Zorah dachte, dass sie ihn nicht mochte. Warum, wusste sie nicht.
»Warum ist es nicht einfach?«
Der Ältere lehnte sich im Sand zurück.
»Weil sie nicht wollen, dass wir durch den Tunnel fahren.«
»Wer?«
Aber die beiden hatten offenbar beschlossen, dass es genug sei, sie tauschten den Würfelbecher aus und drehten sich eine Zigarette.
»Komm, ich hab Hunger«, sagte Nuria, und Zorah war froh, die beiden Männer loszuwerden.
»Was gibt es denn bei euch Gutes?«, fragte der Jüngere plötzlich. Zorah wollte ihre Freundin fortziehen, aber Nuria hatte bereits begonnen loszuplappern.
»Mama hat Glück gehabt, bei der Ausgabe gestern hat sie ganz viel Brot und Obst bekommen. Und sogar Zigaretten für Papa und, stellt euch vor, Schokolade! Wir hatten schon ewig keine Schokolade!«
»Nuria, komm, wir müssen gehen …«
»Schokolade, soso …«, sagte der Mann. »Da gab es doch auch Geld, oder? Bei der Ausgabe, meine ich.«
»Nuria, bitte …«
Zorah spürte mit einem Mal, wie dieser Tag ins Rutschen geriet.
»Ja, Geld gab es auch, damit wir uns etwas kaufen können. Vielleicht kriege ich einen neuen Pullover, der hier ist nämlich zu groß. Viel zu groß!«
Der Ältere hielt Nuria seinen Würfelbecher hin.
»Komm, würfel mal für mich. Dann gewinne ich bestimmt.«
Bevor Zorah etwas sagen konnte, machte Nuria einen Schritt auf die Männer zu und griff nach dem Becher.
Über ihren Köpfen lachte die Möwe laut auf.
Ohne Vorwarnung griff der Jüngere nach Nurias Handgelenk und zog sie zu sich. Zorah schrie entsetzt auf, sie war starr vor Schreck. Ihre Freundin wimmerte, als der Mann sie an sich presste, seine Augen waren zu Schlitzen geworden. Sein Messer hielt er ganz dicht an Nurias Hals.
»Keine Angst, ich tu dir nichts. Noch nicht«, zischte er, während der Ältere aufstand und sich umblickte. Aber in den Dünen war niemand zu sehen.
Zorah stand noch immer auf derselben Stelle, ihre Hand krampfte sich in ihrer Jackentasche um ihre Postkarte.
»Bitte, lasst sie los …«, flehte sie, ihre Stimme zitterte.
»Das hängt ganz von dir ab«, sagte der Mann, während er in Ruhe den Würfelbecher in dem kleinen Karton ausleerte. Er runzelte kurz die Stirn und fluchte.
Dann drehte er sich zu Zorah.
»Weißt du, wie die Menschen hier dieses Lager nennen?«
»Nein«, antwortete Zorah. Die ersten Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie spürte Salz und Dreck auf ihren Lippen.
»Sie nennen es den ›Dschungel‹. Und weißt du auch, warum?«
»Nein.« Nuria wimmerte im Griff des anderen Mannes.
»Weil hier jeder macht, was er will. Und weil niemand da ist, der die Kontrolle behält. Hier sind nur wir.«
Er lächelte Zorah an.
»Hör mir gut zu, Kleines. Du gehst jetzt zurück zu euren Zelten oder wo auch immer ihr haust. Und dann sagst du ihrem Vater, dass wir seine Tochter haben. Er kriegt sie zurück. Aber dafür wollen wir das Geld, das sie gestern bekommen haben. Und zwar alles. Hast du mich verstanden?«
Zorah nickte, ein Schluchzen arbeitete sich in ihrem Innern nach oben. Ihr war schlecht.
»Beeil dich. Wenn du zu lange brauchst, kann ich für nichts garantieren.« Er zeigte auf den anderen Mann, der Nuria festhielt. »Mein Sohn ist manchmal sehr jähzornig. Also los.«
Zorah schluckte und blickte in das verzweifelte Gesicht ihrer Freundin.
»Zorah …!«
Sie rannte los, stolperte durch das Gestrüpp am Fuße der Dünen, rannte weiter, und harte Zweige rissen ihre Haut auf. Mittlerweile weinte sie hemmungslos. Immer wieder sah sie Nurias verzweifeltes Gesicht, das Messer und den Würfelbecher vor sich.
Was war bloß aus ihrem Tag geworden?
Die ersten Zelte kamen in Sicht, der Wind hatte zugenommen, er zerrte jetzt an den Planen. Mülltüten flogen durch die Luft, und eine kleine Ratte kreuzte ihren Weg. Zorah stolperte und fiel hin, sie spürte, wie die Postkarte in ihrer Tasche einen Knick bekam.
Als sie durchs Gebüsch brach, sah sie die Hütte, in der ein Foto von ihr an der Wand hing, sie und Nuria, jeweils mit einem Becher Orangensaft in der Hand.
»Christian!«
Aber sie konnte ihn nirgendwo sehen. Einige Lagerbewohner saßen vor ihren Feuern und musterten sie gleichgültig.
Sie haben ihre eigenen Probleme, dachte Zorah. Jeder hier macht, was er will. Und keiner hat die Kontrolle.
Sie war tatsächlich im Dschungel.
»Christian!«
Keine Musik war zu hören, kein Kaffeeduft lag in der Luft. Die Tür zur Hütte war abgeschlossen.
Als sie weiterrannte, kam sie an einem kleinen Bretterverschlag vorbei, vor dem Kinder saßen und im Dreck spielten. Eine Frau deutete panisch den Hang hinauf. Während Zorah an ihr vorbeirannte, sah sie, dass vor den Feuern nach und nach auch die anderen Lagerbewohner aufstanden.
Was ist los?, dachte sie. Aber sie hatte keine Zeit, sie musste Nuria retten.
Plötzlich schrie irgendwo jemand auf, ein Eimer fiel scheppernd zu Boden. Der Hang wurde steiler, sie hatte es nicht mehr weit. Als sie einen großen Strauch umrundete, sah sie ihn.
Christian.
Zorah hielt inne, ihr Brustkorb hob und senkte sich, während sie nach Luft schnappte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Denn was sie sah, machte ihr Angst, noch mehr Angst, als der Gedanke an ihre hilflose Freundin.
Hinter ihr griffen Männer nach Holzlatten und Eisenstangen, während der Boden unter ihnen plötzlich zu zittern schien.
Christian lag etwa 30 Meter von ihr entfernt auf dem Boden, niedergestreckt von einem Gummiknüppel. Sein Hinterkopf blutete, er versuchte, sich aufzurichten, war aber offenbar zu benommen. Kraftlos schrie er die Männer an, die den Abhang herunterkamen.
Ohne Eile näherten sie sich Zorah. Um sie herum sammelten sich immer mehr Lagerbewohner, Frauen weinten und schrien nach ihren Kindern. Irgendwo hoch über dem Lager war das Geräusch eines Hubschraubers zu hören. Sie hörte Christian aufschreien, aber diesmal verstand sie seine Sprache nicht.
Die Männer hatten blaue Uniformen an und trugen schwarze Helme, einige hielten Schilde aus Plastik vor sich.
Zorah hatte aufgehört zu weinen und blickte ungläubig auf das, was vor ihren Augen geschah. Bis ein Mann sie zur Seite riss und sie auf Paschtu anbrüllte.
»Hau ab, Kleine. Die machen uns fertig!«
Frauen und Männer schrien auf, als die uniformierten Männer zu Dutzenden durch das Lager strömten und begannen, ihre Zelte und Verschläge abzureißen. Manche Lagerbewohner versuchten, sich zu wehren, aber sie hatten keine Chance.
»Ihr Schweine!«, hörte sie jemanden schreien, der kurz darauf von fünf Männern geschlagen und weggeschleppt wurde. Um sie herum brach die Hölle los, Menschen schrien, Kinder weinten, Behausungen fielen krachend zusammen. Funken flogen, als ein Feuer von schweren Stiefeln ausgetreten wurde.
»Mama!«
Zorah hatte weiter oben ihre Mutter entdeckt, die offensichtlich nach ihr suchte.
»Belal!«
Aber auch er hörte sie nicht, stattdessen griff ihr Bruder einen der Männer an und riss ihn zu Boden. Zorah schrie auf, als sie sah, wie noch mehr uniformierte Männer den Abhang hinunterrannten und Belal fortzerrten.
»Mama!«
»Zorah!«
Jemand zog sie mit sich, den Abhang hinunter, fort von den Kämpfen. Zorah stolperte voran, getragen von einer Welle der Panik. Sie rannte nach links und wollte sich gerade unter einem Busch verstecken, als der Boden sich erhob. Ein Ungetüm aus rostigem Stahl schoss aus dem Gestrüpp und verschlang mit seinem gierigen Maul alles, was sich ihm widersetzte.
Zorah schrie entsetzt auf, als der riesige Bagger begann, mit seinen Metallzähnen die Zelte und Bretterbuden um sie herum zu zerstören. Der Dschungel löste sich auf, und das Einzige, was zurückblieb, waren ihr verlorener schönster Tag und eine lachende Möwe.
Minuten vergingen, in denen Zorah jegliche Orientierung verlor. Überall ließen Polizisten Handschellen zuschnappen, führten Lagerbewohner ab und nahmen sie mit. Mütter schrien nach ihren Kindern und Männer nach ihrem allmächtigen Gott. Mittlerweile kreisten mehrere Hubschrauber über dem Lager und wirbelten überall Dreck und Müll auf.
Zorah kauerte sich hilflos hinter einen Busch. Nicht weit entfernt hörte sie Schreie, und sie presste die Augen zu, in der verzweifelten Hoffnung, all das Schreckliche ausblenden zu können, das dieser verräterische Tag ihr angetan hatte. Aber alles blieb, nichts verschwand. Um sie herum wurden die letzten Männer und Frauen abgeführt, kleine Jungen schauten mit panischem Blick auf die Männer in den dunklen Uniformen, die mittlerweile die Kontrolle über das Lager gewonnen hatten. Nach einer Weile überlegte Zorah, ob sie aus ihrem Busch herauskriechen sollte, ob es nicht besser wäre, ihre Eltern zu suchen, statt sich hier zu verstecken. Die Postkarte in ihrer Tasche war in diesem Augenblick ihr einziger Halt. Sie atmete schnell. Ihre Tränen hatten Dreck und Staub in ihren Mund gespült, und sie wischte sich mit dem Handrücken den Rotz aus dem Gesicht.
»Nuria …«
Der Gedanke an ihre Freundin drückte sie förmlich zu Boden, sie zitterte und spürte, wie jeglicher Mut sie verließ. Und erst, als sie vorsichtig die Zweige zur Seite bog, um etwas zu sehen, merkte sie es.
Es war still geworden.
Einen schrecklichen Augenblick lang war nichts zu hören, keine Befehle, keine Schreie, kein Zerbersten eines Blechdaches, das von den gelben Krallen eines Monsters hochgerissen wurde.
Alles war verstummt.
Und dann, weiter hinten, wo das Chaos sich in der salzigen Luft über dem Meer verlor, konnte sie es plötzlich sehen.
Klar und deutlich.
Piccadilly Circus.
Die Wolken waren vom Wind beiseitegeschoben worden wie ein sich öffnender Vorhang, der nun den Blick auf das freigab, was dahinter verborgen war. Farben, helle leuchtende Farben, die den Himmel beschienen und das Meer wie ein buntes Tanzparkett schimmern ließen. Zorah öffnete ihre Augen weit, um nichts von dem Schauspiel zu verpassen, von dem sie wusste, dass es eine Botschaft war.
Alles wird gut.
Dort hinten, direkt vor ihren Augen, lag das Ziel ihrer Reise, an das sie so lange geglaubt hatte. Es strahlte und funkelte, die Lichter der Reklametafeln schienen ihr zuzuwinken, die Neonanzeigen warfen ihre Botschaft an die tief hängende Wolkendecke und mit einem Mal schien es Zorah, als gebe es für all das Grausame dieses Augenblicks eine einfache Erklärung.
»Natürlich«, flüsterte sie. »So muss es sein.«
Und dann wischte sie sich den Dreck und den Staub aus dem Gesicht, und zurück blieb nur das Lächeln eines Mädchens, das begriffen hatte.
Der schönste Tag in ihrem Leben hatte sich im Datum geirrt.
Er war nicht heute.
Er war morgen.
Sie rannte einfach los, über die rutschige Erde zwischen den Dünen, vorbei an Ginsterbüschen und zerfetzten Wellblechhütten. Sie wusste nicht, wohin ihre zu großen Schuhe sie tragen würden, wo der schmale Pfad endete, den sie nur genommen hatte, weil er von diesem Ort fortführte, den sie so schnell wie möglich vergessen wollte.
Lauf, Zorah, befahl sie sich und wischte ihre Tränen fort.
Sie rannte, so schnell sie konnte, den Blick auf den Horizont gerichtet, wo die Lichter funkelten und wo dieser Tag ein gutes Ende finden würde.
Der Pfad stieß auf einen Feldweg, sie durchbrach die Büsche und rannte weiter.
Immer weiter.
Den Wagen sah sie nicht.
Das Kreischen der Bremsen hörte sie nicht.
Den Aufprall spürte sie nicht.
Da war nur Licht.
Piccadilly Circus.
Deauville, Normandie
Im September
Heute
Von Norden kommend hatte sich in der Nacht ein leichter Wind über die Stadt gelegt und in der kühlen Luft, die er mit sich brachte, hing ein Hauch von Abschied. Auf der Place Morny drehte eine Kehrmaschine geruhsam ihre Runden und sammelte dabei die ersten heruntergefallenen Blätter der Bäume vom Bordstein auf. Ein Hund, nicht besonders groß, überquerte den Platz und wärmte sich einen Moment an den wenigen, spärlichen Sonnenstrahlen, bevor er hinunter zum Hafen tippelte. Die Masten der Segelboote wiegten sich noch etwas verschlafen im Takt der Wellen, lose Seile schlugen gegen die Außenwände der Jachten, deren Besitzer längst wieder nach Paris zurückgekehrt waren. Auf der Brücke hinüber nach Trouville blickten vereinzelte Spaziergänger wehmütig hinauf in den Himmel, wo sich die Wolken versammelten und zu beraten schienen, was sie mit diesem Tag an der Küste anstellen sollten. Auf den Holzplanken der Strandpromenade säuberten zwei Möwen ihr staubiges Gefieder und beobachteten die wenigen Touristen, die an diesem frühen Morgen über den Strand spazierten. Es wurden mit jedem Tag weniger, die sich noch trauten, ihre nackten Füße in die weiße Gischt zu halten.
Die Ferien waren zu Ende, die Party vorbei.
Zu denen, die damit recht gut leben konnten, gehörte Alphonse. Zufrieden knöpfte er seine Dienstjacke zu und blickte die Rue Désiré le Hoc hinunter. Einige Boutiquen würden in den nächsten Tagen schließen, und die ersten Restaurants würden ihre Stühle und Tische reinholen.
Deauville wird endlich wieder ruhiger, dachte er, während er in sein Pain au chocolat biss und die Tür des kleinen Cafés hinter sich zuzog. Es war bereits sein zweiter Besuch im Café du Coin gewesen an diesem Morgen, und auch sein zweites Frühstück, aber Alphonse fand, dass er sich das nach einer Nachtschicht redlich verdient hatte. Nicht, dass er am Empfang des kleinen Commissariat von Deauville viel zu tun gehabt hätte, im Gegenteil.
Aber eine Nachtschicht blieb eine Nachtschicht. Und weil diese in einer Stunde endete und weil es eben endlich ruhiger wurde in Deauville, war Alphonse mit seinem zweiten Pain au chocolat in der linken Hand in diesem Augenblick ein durchaus zufriedener Mensch. Er winkte der Besitzerin des Cafés zu und wollte gerade die Straße überqueren, als sein Blick in Richtung des Pont des Belges ging. Über der Brücke, die die beiden Städte verband, kämpfte sich ein einsamer Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und es schien beinahe, als hätte der Wagen, der langsam über die Straße fuhr, genau diesen Moment abgepasst.
Er fährt nicht, er schwebt, dachte Alphonse und vergaß dabei einen Moment den Geschmack von zart schmelzender Schokolade auf seiner Zunge.
Das, was gerade majestätisch den Kreisverkehr passierte und elegant in die Rue Désiré le Hoc einbog, war schöner als Schokolade und hatte jeden Sonnenstrahl verdient. Einige Passanten waren stehen geblieben, sie blickten staunend dem Wagen hinterher, auf dessen schwarzer Kühlerhaube eine silberne Figur thronte.
»Einen Silver Shadow sieht man nicht oft, nicht wahr, Alphonse?«, bemerkte ein älterer Mann, der neben ihm stehen geblieben war.
»Salut, Gaspard. Einen Silver was?«
Der Mann seufzte.
»Ein Silver Shadow ist ein Rolls-Royce. Und das hier ist sogar ein Silver Shadow aus der ersten Baureihe, ab 1965.«
Gaspard zeigte auf das schwarze Dach und die perlmuttfarbenen Seitentüren.
»Acht Zylinder, 178 PS. Aber auch mehr als zwanzig Liter im Verbrauch. Teurer Spaß. Mach den Mund zu, Alphonse.«
Aber Alphonse brummte nur etwas Unverständliches und zeigte auf die Kühlerfigur.
»Und das da?
»Das ist Emily.«
Die beiden Männer verstummten, als der Wagen langsam und scheinbar geräuschlos die Straße entlangrollte. Alphonse wollte gerade in sein Pain au chocolat beißen, als Gaspard neben ihm auflachte.
»Ich glaube, Emily will zu dir, mein Lieber.«
Tatsächlich kam der Rolls-Royce direkt vor dem Commissariat zum Stehen. Die Beifahrertür öffnete sich langsam.
»Merde«, fluchte Alphonse, blickte auf seine linke Hand und dann wieder hinüber zu dem Wagen, aus dem in diesem Moment mit einiger Mühe ein älterer Mann stieg.
»Gib es mir«, sagte Gaspard.
Mit sichtbarem Bedauern drückte ihm Alphonse sein zweites Frühstück in die Hand. Eilig überquerte er die Straße und hielt dem alten Mann die Tür zum Commissariat auf.
»Bonjour, Monsieur«, stammelte er und umrundete den Empfangstresen, während er verstohlen zum Wagen draußen auf der Straße blickte. Der Chauffeur war ebenfalls ausgestiegen und machte sich daran, die Außenspiegel zu polieren. Alphonse fand, dass sie bereits makellos glänzten.
»Haben Sie vielen Dank«, entgegnete der alte Mann freundlich. Alphonse schätzte ihn auf etwas über siebzig Jahre. Er trug einen eleganten schwarzen Anzug mit Einstecktuch, und aus der Tasche seiner Weste hing die golden glänzende Kette einer Taschenuhr. Der Mann stützte sich auf einen braunen Gehstock mit einem silbernen Knauf, während er sich interessiert im Eingangsbereich umblickte. Dann zeigte er nach draußen auf die Straße und lächelte.
»Ich hoffe, der Wagen hat Sie nicht eingeschüchtert, Monsieur.« Er sprach leise, seine Stimme war warm und auf eine zurückhaltende Art angenehm.
Alphonse lächelte gezwungen und dachte an Gaspard.
»Es ist ein Silver Shadow, nicht wahr?«
Der Besucher zog überrascht eine Augenbraue nach oben.
»Sie kennen sich aus mit solchen Autos?«
»Ein bisschen. Er ist aus der ersten Baureihe, wenn ich mich nicht täusche?«
Gaspard hatte sich sein Pain au chocolat redlich verdient, befand Alphonse.
Der alte Mann legte den Kopf bedächtig zur Seite.
»Ehrlich gesagt, da wissen Sie mehr als ich. Es gehört mir nämlich gar nicht.«
»Ach so?«
Sein Gegenüber lächelte freundlich.
»Der Wagen gehört dem Comte de Tancarville, Sie haben sicherlich von ihm gehört. Aristide de Tancarville ist ein sehr angesehener Mann hier an der Küste und sicherlich auch darüber hinaus.«
Alphonse musste nicht lange überlegen. Tatsächlich gab es nicht viele Menschen, die einen solchen Wagen mal eben hinunter nach Deauville schicken konnten, inklusive Chauffeur und einer gewissen Emily.
»Das ist doch der Typ, der oben in den Hügeln von Honfleur in einem Schloss wohnt, oder?«, platzte es aus ihm heraus.
Der alte Mann runzelte die Stirn, seine Augen funkelten plötzlich.
»Monsieur, der Comte ist nicht irgendein Typ, wie Sie es formulieren. Sein Familienzweig geht bis zu der Zeit von Wilhelm dem Eroberer zurück. Und das Schloss, von dem Sie sprechen, ist keineswegs ein Schloss, sondern ein Anwesen, das Sie vermutlich unter dem Namen Le Lys dans la vallée kennen. Zugegeben, ein recht großes Anwesen. Und er wohnt auch nicht alleine dort, sondern mit mir und weiteren Angestellten. Sein Sohn, Cédric, ist meist in London.«
»Die Lilie im Tal, davon habe ich gehört. Und ich habe mich immer gefragt, warum das Anwesen so heißt, wenn es doch oben auf dem Berg liegt«, wunderte sich Alphonse.
Der Besucher lächelte ihn an.
»Monsieur le Comte ist ein großer Verehrer von Honoré de Balzac.«
»Aha.«
Alphonse versuchte, nicht allzu verwirrt dreinzublicken. Der Mann zog seine Handschuhe aus und stützte sich auf seinen Gehstock auf, als würde ihm sein alter Rücken wehtun.
»Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt«, sagte der Besucher, »entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Georges Dauzat.«
»Sehr angenehm, Monsieur Dauzat. Wie kann ich Ihnen denn nun weiterhelfen?«
Alphonse hörte hinter sich die Stimmen seiner Kollegen, die gerade ihre Morgensitzung abhielten. Ihm fiel ein, dass er erneut vergessen hatte, das Telefon umzustellen, bevor er ins Café gegangen war.
»Und Sie sind …«
Georges Dauzat deutete eine Verbeugung an.
»Der Butler, Sie vermuten richtig. Seit mittlerweile mehr als vierzig Jahren im Dienste der Familie de Tancarville.«
Aus den hinteren Räumen des Commissariat hörte Alphonse, wie Stühle verrückt wurden und Beamte wieder an ihre Schreibtische zurückkehrten.
Roussel hatte die Sitzung offenbar beendet.
»Also, Monsieur Dauzat, was führt Sie zu uns?«
Der Besucher griff in die Innentasche seines Anzugs und legte mehrere zusammengefaltete Blätter auf den Tresen.
»Der Comte war dagegen, dass ich zu Ihnen komme. Aber ich glaube, das hier ist Anlass genug.«
»Anlass für was?«, erklang eine tiefe Stimme von hinten.
Hinter Alphonse war Roussel aus dem Gang getreten, der zum Besprechungsraum führte.
»Monsieur Dauzat, das ist …«
»Roussel, Luc Roussel. Ich bin der Leiter des Commissariat.«
Lügner, dachte Alphonse. Roussel war nur der Chef, solange Michel Bonnet im Urlaub war. Zugegeben, er war schon sehr lange im Urlaub, und er würde demnächst ohnehin in Rente gehen. Alphonse trat einen Schritt zurück. Mit Roussel wollte er sich nicht anlegen.
»Sehr angenehm, Monsieur Roussel«, sagte der Butler. »Georges Dauzat, ich wollte Ihrem Kollegen gerade zeigen, weswegen ich hier bin.«
Er deutete auf die Blätter.
»Diese Warnungen erhält der Comte de Tancarville seit einigen Tagen«, fuhr er fort.
»Der Typ in Honfleur?«, fragte Roussel und griff nach den Blättern.
Dauzat rollte mit den Augen. Roussel faltete die Blätter auseinander. Alphonse blickte verstohlen über die Schulter seines derzeitigen Chefs und stieß dann einen anerkennenden Pfiff aus.
»Alle drei wurden innerhalb der vergangenen Tage am Zaun des Anwesens gefunden«, erklärte Dauzat. »Offenbar hat sie irgendjemand dort aufgehängt.«
Roussel blickte von einem Blatt zum anderen.
Du wirst sterben.
Du wirst bald sterben.
Du wirst sehr bald sterben.
Die Warnungen waren mit der Hand geschrieben, es sah aus, als hätte sie jemand schnell auf ein Blatt Papier gekritzelt. Sie enthielten einige Rechtschreibfehler.
»Wir haben mittlerweile eine Sicherheitsfirma engagiert«, erklärte der alte Mann. »Die schützt jetzt das Anwesen mit mehreren Männern, Tag und Nacht. Wir glauben … also, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.«
Roussel blickte ihn an.
»Immer raus damit, Monsieur.«
»Nun, wir haben ein paar Mal … nun, zwielichtige Gestalten gesehen, so möchte ich es mal sagen. Landstreicher oder etwas Ähnliches. Sie hatten für kurze Zeit ein Lager aufgeschlagen, oben in den Wäldern. Aber dann waren sie wieder weg.«
»Und Sie glauben, die Drohungen kommen von diesen … Landstreichern?«
»Das weiß ich natürlich nicht, Monsieur Roussel. Ich wollte es nur erwähnt haben.«
Der Butler blickte auf seine Taschenuhr, offenbar erwartete ihn sein Dienstherr schnell wieder zurück auf der Lilie im Tal.
Roussel runzelte die Stirn.
»Monsieur Dauzat, verstehen Sie mich nicht falsch, aber die Polizei ist nicht für die Sicherheit irgendeines stinkreichen Typen verantwortlich, der ein paar Schmierereien, noch dazu falsch geschrieben, an seinem Zaun hängen hat. Ich werde trotzdem einen Wagen vorbeischicken, falls Sie das beruhigt.«
»Monsieur, ich …«
Aber Roussel hörte ihm nicht mehr zu, sondern blickte stattdessen hinaus auf die Straße. Als er den Wagen draußen stehen sah, stieß er einen leisen Pfiff durch die Zähne.
Da musst du noch lange für Roulette spielen, Roussel, dachte Alphonse.
»Wissen Sie, wir stecken derzeit mitten in einer großangelegten Operation«, erklärte Roussel, während er sich noch mal zu dem Besucher umwandte. »Das nimmt unsere gesamte Zeit in Anspruch.«
»Aber ich bin gar nicht hier, um die Hilfe der Polizei in Anspruch zu nehmen«, erklärte der alte Mann und steckte seine Taschenuhr umständlich wieder ein.
»Ach nein? Und warum sind Sie dann hergekommen?« Roussel blickte ihn verwundert an.
Der Butler blickte sich im Empfangsraum um, als würde er nach jemandem Ausschau halten.
»Weil ich hoffte, hier die Person zu finden, die uns empfohlen wurde.«
Roussel trat wieder zurück an den Empfangstresen.
»Und wer soll das sein, Monsieur?«, fragte er leise, und Alphonse hatte mit einem Mal das Gefühl, dass ihnen die Antwort nicht gefallen könnte. Ihm nicht und Roussel noch weniger.
»Ich hatte gehofft, hier Monsieur Guerlain anzutreffen. Nicolas Guerlain.«
Draußen auf der Straße vor dem Commissariat fielen die ersten Tropfen auf den Bürgersteig, und Alphonse sah einen Hund, nicht besonders groß, der an einem Wagen mit frisch polierten Außenspiegeln vorbeilief und ihnen dabei einen mitleidigen Blick zuwarf.
Paris, Ile de la Grande Jatte
Zur gleichen Zeit
Monsieur Guerlain?«
Es waren 16 Boote. Nur drei davon hatten rote Segel, ein Umstand, der Nicolas verwundern sollte, es aber nicht tat. Vielmehr fragte er sich, warum ausgerechnet jene roten Boote allesamt abgeschlagen am Ende des Feldes lagen, während weiter draußen, wo der hellblaue Himmel das Wasser berührte, ausschließlich die übrigen schwarzen Segel lagen.
»Hören Sie mir zu, Monsieur Guerlain?«
Die Boote hatten die Porte d’Aval und die unmittelbar davor aus dem Meer ragende Felsnadel vor wenigen Minuten passiert und waren nun unterwegs zu den Fanggründen auf offener See. Es würde ein guter Tag dort draußen werden, selbst die Besatzung auf den langsamen roten Booten würde mit reichlich Fisch zurückkehren. Es war genug für alle da.
Damals.
An einem sonnigen Morgen im Jahr 1886.
Die Wellen hatten den Strand von Étretat mit einer weißen Halskrause versehen, und im Wasser spiegelte sich der leicht bewölkte Himmel über der Alabasterküste. In der Bucht war kein Mensch zu sehen, nur jene sechzehn Boote, die dem Horizont entgegeneilten.
Schwarz gewinnt, dachte Nicolas. Und er hatte meist auf Rot gesetzt.
Es war nicht so, dass er stets verlor, er hatte auch einiges gewonnen im Leben. Aber wenn es um die einfachen Entscheidungen ging, dann hatte er immer wieder und offenbar sehr zielsicher auf Rot gesetzt. Auf Ungerade, kurz bevor die Kugel mal wieder in das Fach einer geraden Zahl fiel.
Auf das falsche Boot eben.
Ihm war warm in seinem Anzug, die Sonne schien mit überraschender Kraft durch die geöffneten Fenster. Er hatte überlegt, nur ein Hemd anzuziehen, sich dann aber wie immer für einen dunklen Anzug entschieden.
»Ich habe hier etwas für Sie. Darf ich es Ihnen vorspielen? Hören Sie mir eigentlich zu?«
Die Stimme legte sich sanft aber bestimmt auf die kräuselnden Wellen, und Nicolas stellte sich vor, wie sie von der Strömung langsam um die Felsenküste herumgetragen wurde. Auf dem weißen Sand am unteren Ende der Bucht hatte jemand mit schwarzer Schrift einen Namen hinterlassen.
»Mögen sie Claude Monet, Monsieur Guerlain?«
Nicolas räusperte sich und sein Blick verließ die Bucht, löste sich zögernd von den sechzehn Booten und ihrem hastigen Aufbruch an einem Morgen vor mehr als hunderzwanzig Jahren. Der Druck des bekannten Gemäldes von Claude Monet hing an der Wand vor ihm, die in warmen Erdfarben gestrichen war und vor der ein älterer Mann in einem grauen Pullunder an seinem Schreibtisch saß und ihn freundlich anlächelte.
»Also, sind Sie so weit?«
»Die erste Antwort ist Nein. Die andere ist Ja.«
»Wie bitte?«, fragte Leon Blum.
Nicolas runzelte die Stirn und seufzte unhörbar auf. Er hatte in den vergangenen Monaten die unangenehme Eigenart entwickelt, sich über die mangelnde Geschwindigkeit seiner Gesprächspartner zu ärgern.
Nicht, dass er in den vergangenen Monaten viele Gesprächspartner gehabt hätte.
»Monet. Ich mag ihn nicht besonders. Und ja, ich bin so weit. Entschuldigen Sie, ich war kurz abgelenkt.«
Nicolas richtete sich in seinem Stuhl etwas auf und überprüfte den Knoten seiner Krawatte. Er fühlte sich unwohl und wünschte sich für einen Augenblick, an einem Strand zu stehen und die salzige Luft zu riechen, die über einer menschenleeren Bucht hing.
»Sie tragen Anzug, obwohl Sie derzeit nicht im Dienst sind.«
»Und jetzt wollen Sie wissen, was das über mich aussagt?«
»Will ich das?«
Leon Blum ordnete einige Stifte auf seinem Schreibtisch und legte sie in exakt abgemessenen Abständen zueinander auf eine braune Ablage.