Handlungen, Orte und Personen dieses Romans sind frei erfunden. Alle, die Ihnen weismachen wollen, sie würden in diesem Buch vorkommen, lügen wie gedruckt. Maik gibt’s natürlich. Das wäre zu krass, sich so etwas auszudenken. Bei Mirko ist sich der Autor leider selbst nicht so sicher.

André Herrmann ist Fernsehautor und Comedian aus Leipzig. Er arbeitete u.a. für Jan Böhmermanns ZDF »Neo Magazin Royale«, Olaf Schuberts ARD-Show »Olaf macht Mut« sowie Klaas Heufer-Umlaufs »Late Night Berlin«. Wöchentlich veröffentlicht er seinen »Roast der Woche« auf Comedy Central sowie den Podcast namens »Team Totale Zerredung«. Er ist Mitautor der Sitcom »Nix Festes« auf ZDFneo. Sein erster Roman erschien im März 2015 und heißt »Klassenkampf«.

Taschenbuchausgabe, 1. Auflage, August 2020

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin, Dresden, Leipzig 2018

Umschlaggestaltung: BTSA

Umschlagfoto: Enrico Meyer

Korrektorat: Annegret Schenkel

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: PBtisk, Přibram, Czech Republic

eISBN: 978-3-86391-226-0

www.voland-quist.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Hörbuch

Hörproben

Danke

1.

Es war April.

Die Sonne schien, vorm Fenster blühten die Magnolienbäume. Wir saßen zu viert in einem viel zu großen Seminarraum.

»Okay«, sagte die Kursleiterin, »schön, dass Sie das Angebot Ihrer Fallmanager angenommen haben. Dann würde ich sagen, wir stellen uns erst mal alle vor. Wir sagen unseren Namen und dann, in welchem Beruf wir gern mal arbeiten würden.«

»Also, ich bin die Martina«, sagte eine Frau mit blonden, violetten und grünen Strähnen in den schwarzen Haaren. »Und ich würde gern in einem Friseursalon arbeiten.«

Ich musste grinsen. Los, frag mich, frag mich, dachte ich. Ich hab die perfekte Antwort: Ich bin André, und ich würde gerne an Martinas Geschmack arbeiten.

»Sehr gut«, erklärte die Kursleiterin und grinste.

»Heinz«, sagte ein Mann im karierten Hemd, das wegen seines immensen Bierbauchs straff gespannt war. »Ich war zwölf Jahre lang Fensterbauer. Joa … Des fand ich eijentlich janz jut.«

»Schön!«, sagte die Kurstante.

»Michael«, sagte ein großer, dürrer Typ. »Ich wär gern … pff … Hauptsache, die Kasse stimmt.«

Die Kursleiterin schaute mich an.

»Öööh, André«, sagte ich und knetete meine Hände. »Und, äh, ich muss jetzt eigentlich nicht … unbedingt … irgendwas … arbeiten.«

Stille.

»Ehehehe«, machte die Kursleiterin. »Wie jetzt, nichts arbeiten?«

»Naja, so halt«, sagte ich. »Ich glaub, ich kann mich auch so gut beschäftigen.«

»Okay. Haben Sie einen Traumberuf?«

»Mhm, nöö.«

»Was wollten Sie denn früher mal werden?«

Ich überlegte.

»Rechtsanwalt.«

»Na, das ist doch was!«

»Ja«, bremste ich, »aber nur, weil mein Opa immer gesagt hat, ein Rechtsanwalt muss nur die Türklinke anfassen und schon hat er 100 Mark verdient. Und da dachte ich: Paar Türklinken am Tag anfassen, das krieg ich hin, und dann hab ich frei.«

Die Kursleiterin blätterte in einem Hefter.

»Hier steeeeeht, Sie haben Politikwissenschaft studiert!«

»Jup.«

»Warum machen Sie denn nicht damit was?«

»Och, hat sich nicht so ergeben.«

»Aber da stehen einem doch alle Türen offen!«

»Welche denn?«

»Naaaa, in der Politiiiiik. Uuuuund in der Wissenschaaaaaft!«

»So sehen das meine Eltern auch«, sagte ich. »Aber wissen Sie, was mich an Politik stört?«

»Was denn?«

»Fraktionszwang zum Beispiel.«

»Frak… was?«

»Egal. Was mich viel mehr stört, ist, dass es keine menschelnden Politikerinnen und Politiker mehr gibt.«

»Menschelnd?«

»Ja, menschelnd«, sagte ich. »Dass die einfach mal ehrlich sind, mein ich. Wenn man da im Bundestag sitzt und der de Maiziere erzählt wieder irgendwas von wegen ›Aaaah, konkrete Informationen dazu würden Sie verunsichern‹ und solchen Schwachsinn, wieso steht da niemand auf und ruft: ›Ach komm, Thomas! Halt doch einfach mal die Fresse. Oder gib einfach zu, dass du’s verbockt hast, du Gulaschkobold!‹«

Der Mann im Karohemd begann zu kichern.

»Aber neeeein«, rief ich, »da muss man applaudieren und warten, bis man dran ist, und dann sagen: ›Ich stimme mit der Einschätzung des Kollegen de Maiziere nicht überein.‹ Obwohl der eigentlich ein weltfremdes Arschloch ist. Das ist doch scheiße.«

Ich blickte in die Runde. Alle sahen mich gebannt an. Die Friseurin nickte mir aufmunternd zu.

»Ich meine, ich könnt mich da jedenfalls nicht zurückhalten«, sagte ich.

»Kann ich mir gut vorstellen«, knurrte die Kurstante. Sie schaute wieder in ihren Hefter.

»Ein Buch haben Sie auch geschrieben!«

»Ja.«

»Na hörn Sie mal! Ein echtes Buch! Das ist doch eine Leistung!«

»Klar. Hat sich sogar so gut verkauft, dass ich jetzt hier sitzen muss!«

Die Kursfrau seufzte.

»Passen Sie auf, Herr Herrmann.« Sie schlug sich beherzt auf die Schenkel. »Wir machen mal ein Rollenspiel. Sie sind jetzt bei mir zum Vorstellungsgespräch.«

»Na gut«, sagte ich. »Für welchen Job?«

»Dürfen Sie sich aussuchen.«

»Okay, dann Lehrer!«

»Interessant. Wieso Lehrer?«

»Würd ich mich nie drauf bewerben.«

Alle kicherten.

Die Kursfrau räusperte sich. »Also, Herr Herrmann, Sie haben da eine ganz schöne Lücke im Lebenslauf. Was haben Sie denn von 2005 bis 2007 gemacht?«

»Mhm«, sagte ich, »kennen Sie Jumanji?«, und beglückwünschte mich innerlich zu dieser gelungenen Pointe.

»Ju… was? Kenn ich nich’.«

»Nicht so wichtig.«

»Okay. Herr Herrmann, wo sehen Sie sich in fünf Jahren?«

»In fünf Jahren? Auf Ihrer Seite des Tischs!«

»Nee, nee, das geht nicht.«

»Challenge accepted.«

»Na gut, Herr Herrmann, ich könnte Ihnen ein unbezahltes Praktikum anbieten.«

»Nee«, sagte ich.

»Aber Herr Herrmann, wir sind ein multinationales Unternehmen!«, rief die Kursfrau. »Wir sind an der Börse! Bei uns haben Sie Aufstiegschancen! Es ist gut möglich, dass wir Sie nach dem Praktikum übernehmen.«

»Ach herrje!«, rief ich. »Und ich Idiot hab mich hier als Lehrer beworben!«

Der dürre Mann musste lachen.

Die Kursfrau hüstelte: »Dann müssen Sie vielleicht mal in den sauren Apfel beißen?! Ein Praktikum, das geht doch auch vorbei.«

»Nee, danke.«

»Warum denn nicht?«

»Weil ich, wenn’s danach geht, schon körbeweise saure Äpfel gegessen habe. Und selbst wenn es für mich funktioniert, löst es ja nicht das Problem an sich!«

»Na, aber denken Sie doch mal an sich!«

»Ich will aber nicht bei irgendwas mitmachen, was ich kacke finde!«, rief ich. »Wenn alle dagegen sind, aber trotzdem mitmachen, dann ändert sich doch nichts. Also muss doch wenigstens mal jemand anfangen!«

»Ja, aber doch nich’ Sie!«

»Unbezahlte Praktika, so was gibt es doch nur, weil es genug Dumme gibt, die den Quatsch tatsächlich mitmachen!«

»Und viele werden dann am Ende übernommen!«

»Meinetwegen, aber es ändert nichts daran, dass es auch einen Teil gibt, der nicht übernommen wird. Und einen noch größeren Teil, der es sich nicht mal leisten kann, ein halbes Jahr unbezahlt zu arbeiten! Wer ist überhaupt auf den Unsinn gekommen? Ich geh doch auch nicht zu ’nem Auftragsmörder und sag: ›Also, Geld haben wir erst mal nicht eingeplant, aber es ist ja auch ’ne fantastische Erfahrung für Sie! Da können Sie Ihr Gewehr mal in einem großen Unternehmen ausprobieren!‹«

Die Friseurin und der dürre Typ applaudierten.

»Genau!«, rief der Fensterbauer.

Einen Moment herrschte Ruhe.

»Sie fühlen sich hier ganz schön überlegen, oder?«, fragte die Kurstante.

»Ehrlich gesagt fühle ich mich hier eher minderwertig«, sagte ich.

Die anderen nickten.

»Herr Herrmann, ich versuche doch nur, Ihnen zu helfen.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Und Sie persönlich sind ja auch nicht schuld! Aber Sie reproduzieren ein System von Geld, Macht und Arbeit, mit dem ich nicht einfach einverstanden sein will. Und irgendwo muss ich ja schließlich mal anfangen, nicht mitzumachen.«

Zufrieden lehnte ich mich zurück. Der Fensterbauer, die Friseurin und der dürre Typ nickten mir anerkennend zu.

Die Kursfrau verzog das Gesicht. »Herr Herrmann, was erwarten Sie sich eigentlich von diesem Seminar?«

Ich zog einen Zettel aus meinem Hefter und hielt ihn in die Luft: »Eine Unterschrift würde mir reichen.«

Eine Stunde später stand ich vor meinem Haus, in der Hand die unterschriebene Teilnahmebescheinigung für meine Fallmanagerin. Und noch einen Zettel, der besagte, dass meine Bezüge für drei Monate um 30 Prozent gekürzt würden.

Ich wollte gerade aufschließen, als ein kleiner, runder Mann neben mir auftauchte, hinter ihm standen vier Polizisten.

»Tach«, sagte er, »Beitragsservice.«

»Sie meinen GEZ? Gebühreneinzugszentrale?«

»Wir haben das umgedreht«, sagte er. »Klang alles zu negativ. Service klingt viel positiver!«

»Aber zahlen muss man trotzdem?«

»Jaaa«, sagte er. »Aber jetzt dürfen Sie müssen. Service!«

»Na, herzlichen Glückwunsch.«

»Kennen wir uns nicht irgendwoher?«

»Nee«, log ich.

»Wir wollen zu Herrn Herrmann«, sagte einer der Polizisten und hielt einen Zettel in die Luft.

»Pfändungsbescheid«, sagte ein anderer.

Ich schluckte.

»Na, der wird sich freuen«, sagte ich.

»Und Sie?«, fragte der runde Mann.

»Ich, öh, ich komm gar nicht aus Leipzig«, log ich, grüßte und lief zur Straßenbahn.

2.

»Aaaalso, wenn ich hier sitze«, meine Mutter rannte aufgeregt um den Tisch herum, »ähm, dann könntest du ja da sitzen, und der Antreh da drüben, und dann wär hier frei für …«

»Nee, nee«, rief meine Tante. »Ich könnte ja hier, du da, und hier wär dann noch …«

Ich seufzte. Alle im Restaurant hatten längst aufgehört zu essen und folgten stattdessen gebannt der neuesten Folge der Familie-Herrmann-Comedyshow mit dem Titel »Familie Herrmann versucht, sich beim Osteressen ganz normal zu benehmen«. Wahrscheinlich würden die Leute sogar Eintritt dafür bezahlen, sich Jahr für Jahr immer am Ostersonntag die Premiere unseres neuen Stücks anzuschauen.

»Neeee«, rief meine Tante, als sich meine Mutter direkt neben sie setzte, »du musst noch zwee rücken!«

Entnervt zog ich einfach den nächstbesten Stuhl heran und setzte mich.

»Antreh!«, brüllte meine Mutter. »Du bringst alles durcheinander, lass mich mal da hin!«

»Nee, ich könnt ooch«, sagte meine Tante. »Oder die Oma!«

Meine Mutter, meine Tante und meine Oma Emma rannten wie angestochen um den Esstisch herum und versuchten, den optimalen Sitzplatz für sich zu finden. Dieser zeichnete sich dadurch aus, dass neben ihm zufällig zwei Plätze frei blieben, auf denen, so ihrer aller Hofnung, meine Cousine und ihr anderthalbjähriger Sohn würden sitzen können.

»Ist doch scheißegal, wo wir sitzen!«, knurrte ich. »Wir sind doch eh nur kurz zum Essen hier. Dann sitzt ihr halt mal nicht neben dem Kleinen.«

»Es geht nicht immer alles nur um den Kleenen«, rief meine Tante, während sie versuchte, den feixenden Leuten am Nachbartisch einen freien Stuhl wegzunehmen.

»Braucht ihr noch ’n bissl Musik? Wollmer Stuhltanz machen?«, entgegnete ich entnervt.

»Du, Antreh, wir sind hier im Restorong, du kannst dich ruhig ma’ benehmen!«, sagte meine Mutter.

An den Nachbartischen wurden die ersten Handys gezückt, um dieses Spektakel für die Ewigkeit oder wenigstens den Quatsch Comedy Club festzuhalten.

»Sie kommen!«, kreischte meine Tante und drängelte sich an meiner Mutter vorbei, sodass zwischen ihr und mir die ersehnten zwei Plätze frei blieben.

»Eyyyy!«, rief meine Mutter.

»Mutter, wir sind hier im Restaurant!«

Seit der Geburt meines Großcousins hatte sich alles verändert. 28 Jahre nach meiner Geburt hatten meine Cousine und ihr Freund meinen Plan vom langsamen Aussterben unserer Familie heimtückisch durchkreuzt, und es schien, als würde sich in den Reihen meiner Verwandten mit einem Mal ein schier unendliches Potenzial an aufgestauter Kindersehnsucht entladen. Meine Tante schien längst die menschliche Sprache verlernt zu haben und rief stattdessen fast ausschließlich »BUBUBU«, meine Mutter hatte sich in den Kopf gesetzt, alle Wolle der Welt zu kaufen und daraus jedes nur erdenkliche Kleidungsstück zu filzen, auf dass der kleine Mensch schon von Geburt an wie ein elender Hippie herumlaufen möge.

Naja, und die Sache mit meinem Opa Ludwig eben.

»Ihr Lieben«, sagte meine Oma. »Wie schön, dass wir alle noch mal zusammengekommen sind, auch wenn der Opa …«

»BUBUBUBUBU!«, schrie meine Tante das völlig entsetzt blickende Kind an.

Das darf doch wohl nicht wahr sein, dachte ich.

»JA, WO ISSER DENN? WO ISSER DENN?«, bläkte meine Mutter quer über den Esstisch.

»Wenn du die Hände vor deinen Augen wegnehmen würdest, dann wüsstest du auch, dass er direkt vor dir sitzt!«, rief ich und zeigte auf das Kleinkind.

»GUCK MAL, WAS ICH DIR FÜR EINE FEINE FILZMÜTZE GEFILZT HABE!«, meine Mutter zerrte einen grün-gelb-blauen Spitzhut aus ihrer Tasche, den sie offenbar auf einem ganz fiesen LSD-Trip gebastelt hatte.

»HIER«, kreischte sie, »SETZE MA’ OFF!«

Meine Cousine grinste entschuldigend und stülpte dem Kind den viel zu großen Hut über.

Sofort begann es zu weinen.

»UIUIUIUIUI, WER WEINT DENN DA?«, bläkten sie alle gleichzeitig.

Meine Güte, dachte ich. Was war mit diesen Menschen bloß los? Hatten sie das alles auch bei mir gemacht? Hatte ich mich nur deshalb zu dieser lebensbejahenden, von Glückseligkeit getränkten Persönlichkeit entwickelt, weil man mich als Kleinkind wie einen Vollidioten behandelt hatte?

»Aaaah, die Familie Herrmann!«, freute sich die Kellnerin, als sie unser Essen brachte und wandte sich an den Kleinen: »Na, hier is’ ja jemand Neues am Tisch! Och ja, is’ immer schön, wenn die Familie größer wird, hö?«

»Naja, der Opa …«, sagte ich und bekam unterm Tisch sofort einen Tritt von meiner Mutter.

Meine Oma sah betreten auf ihren Teller. Mit einem Mal sah sie sehr klein aus, so als hätte sie der Gedanke an meinen Opa in sich zusammensinken lassen. Sie blickte wortlos auf ihren Teller. Der Kleine fing an zu schreien.

»Was hatter denn?«, fragte die Kellnerin.

»Soweit ich weiß, müssen Sie BUBUBU machen, sonst versteht er das nicht!«

»BABABABABA!«, schrie meine Tante.

»Antreh, gibst du der Oma mal ein Taschentuch?«, sagte mein Vater.

»BUBUBU?«, fragte ich.

»Kannst du dich nich’ eenma’ normal benehmen?«, zeterte meine Mutter, die sich den Filzhut mittlerweile einfach selbst aufgesetzt hatte.

»Könnt ihr euch nicht einmal normal mit dem Kleinen unterhalten?«, fragte ich.

»Halt mal eben«, sagte meine Cousine und reichte mir den Jungen.

»Nee, nee«, sagte ich abwehrend. »Aber er kann sich ja bei mir melden, sobald er 17 ist, dann können wir gern mal ’n Bier trinken gehen.«

Meine Oma hatte Tränen in den Augen.

»OCH OMA, GUCKE MA’! WIE SÜSS ER SEIN HAPSI PAPSI ISST!«, schrie meine Mutter, während der Kleine mit der flachen Hand auf seinen Teller schlug und ihrer Bluse eine Ladung Brei verpasste.

Eilig hantierte meine Tante auf ihrem Teller herum.

»BUBUBUBU!«, machte sie und reckte ein monströses Stück Fleisch über den Tisch.

»Nee, nee«, sagte meine Cousine. »Der kann das noch gar nicht kauen.«

»Ach, das macht nichts«, erklärte meine Mutter und steckte sich ein Stück Fleisch in den Mund. »Das könnwer vorkauen!«

»Untersteht euch!«, kreischte ich. »Hier wird überhaupt nichts vorgekaut!«

»BRRRRRR«, machte meine Tante und ließ ihre Gabel durch die Luft gleiten, »GLEICH KOMMT DAS FLIEGERCHEN!«

»Nee, nee, lieber nich’«, sagte meine Cousine.

»Ach was, das hamm wir beim Antreh früher ooch immer so gemacht«, sagte meine Mutter.

»IHR HABT WAS?!«, brüllte ich.

»Naaaa, ist da jemand ein bisschen eingeschnappt, weil er jetzt nicht mehr der Jüngste in der Familie ist, hä?«, flüsterte meine Tante mir zu.

NEEEEIIIIN!, dachte ich und antworte: »Quatsch!«

»Was machst du jetzt eigentlich so, Antreh?«, schaltete sich meine Cousine ein.

»Dies, das«, sagte ich und rollte mit den Augen.

»Der Antreh ist noch in der Orientierungsphase«, sagte meine Mutter, die noch immer den Filzhut trug.

»Mal gucken«, sagte ich. »Der Maik hat letztens irgendwas erzählt. Vielleicht schau ich mir das mal an.«

»Und dann arbeitest du hier?«, fragte meine Tante.

»Hoffentlich nicht«, sagte ich und deutete auf meine Oma, die zum wiederholten Male in ihr Taschentuch schnäuzte. »Ich find das übrigens richtig scheiße, was ihr hier macht.«

»Was machen wir denn?«, fragte meine Tante mit einem Schulterzucken.

»Ihr tut so, als ob überhaupt nichts wär!«

»Ja, was is’ denn auch?«

»Genau das is’!«, erwiderte ich und stand auf, um zu gehen. »Hier, Oma, du musst BUBUBUBUBU machen«, sagte jemand hinter mir.

Ich drehte mich um. Meine Oma versuchte zu lächeln. »Gebt mir mal Geld«, sagte ich. »Ich geh schon mal zahlen.«

»Orrr is’ das schön mit so’m Kleenen, hä, Herr Herrmann?«, sagte die Kellnerin. »So wenn die Familie größer wird, schön is’ das, na?«

»Naja, sagen wir, sie ist wenigstens gleich groß geblieben.«

Verständnislos sah mich die Kellnerin an, dann sah sie zum Tisch, zählte kurz durch und schaute wieder auf mich.

»Ha!«, machte sie, als sie begriffen hatte. »Der Opa?« Sie deutete eine Kopf-ab-Geste an.

»Nee«, sagte ich und überlegte, wie ich ihr am unkompliziertesten den Platzwechsel erklären konnte, der sich in meiner Familie vollzogen hatte. Wie seltsam gleichzeitig das passiert war. Der eine kam neu dazu, und der andere vergaß von einem Tag auf den anderen, wer er war. Der eine wuchs und wurde von den Verwandten mit »BUBUBUBU!« angebrüllt, der andere durfte neuerdings nicht mal mehr aus dem Heim, weil er auf halbem Weg vergaß, mit wem er überhaupt unterwegs war, und es deshalb für eine spontane Entführung hielt. Und wie gleichzeitig meine komplette Familie versuchte, sich mit übertriebener Kinderliebe über den Fakt hinwegzutrösten, dass es sich absolut beschissen anfühlte, was hier gerade passierte.

Mit großen Augen sah mich die Kellnerin an. Ach, dachte ich, sie wird’s eh nicht kapieren.

»Okay, ja«, sagte ich und machte ebenfalls die Kopf-ab-Geste.

»Ha! Sein Se nich’ traurich, Herr Herrmann. Wissen Se, meine Oma wurde damals als unsere Katze wiedergeboren.« Na prima, dachte ich, jetzt hamm wir auch noch die örtliche Esoterik-Tante erwischt. Wahrscheinlich holt sie gleich noch ein paar Räucherstäbchen und Energiesteine, und dann geht’s ab.

»Willkommen in diesem neuen Leben!«, verkündete die Kellnerin, nachdem wir zurück am Tisch waren und sie den Kopf des Kindes mit ihren Händen umschlossen hatte.

»Was’ denn mit der los?«, fragte meine Mutter, noch immer den Filzhut tragend.

»Das sollte niemand fragen, der herumläuft wie Professor Dumbledore«, sagte ich mürrisch.

»Hä?«, machte meine Mutter, aber ich war schon auf dem Weg zum Auto.

3.

Die ganze Fahrt über hatten meine Oma, meine Tante und meine Mutter von nichts anderem als dem Kind gesprochen.

Langsam gingen wir den Gang entlang. Die Türen der meisten Zimmer standen offen. Darin saßen grauhaarige, zusammengekauerte Menschenhäufchen, meist vor dem Fernseher oder mindestens genauso starr vor dem Fenster. So oder so war das Programm ähnlich langweilig.

Schon als wir aus dem Aufzug gestiegen waren, hatte ich von Nase- auf Mundatmung umgestellt.

Als wir noch im Neubaublock gewohnt hatten, da hatte in der Wohnung direkt neben dem Eingang eine alte Frau gewohnt, an deren Wohnungstür ich wegen des unendlich beißenden Geruchs auch immer nur durch den Mund geatmet hatte. Der Nachbarsjunge hatte gesagt, dass so der Tod riechen würde und dass dagegen nur Durch-den-Mund-Atmen helfen könne.

Wir kamen vorbei am Aufenthaltsraum, in dem ein paar Schwestern damit beschäftigt waren, mit ein paar Patienten irgendwelche Kartenspiele zu spielen, vorbei an der alten Frau im Rollstuhl, deren Rücken so krumm war, dass ihr Kopf fast auf den Oberschenkeln lag, und die sich mit ihren dünnen Armen ausschließlich rückwärts durch den Gang zog.

Die Tür von Zimmer 15 war nur angelehnt, ich klopfte.

»Herein!«, rief mein Opa.

Meine Eltern, meine Tante, meine Cousine und die anderen zögerten.

»Frohe Ostern!«, sagte ich, als ich hineinging.

Mein Opa saß im Anzug auf seinem Bett. Vor ihm lag ein mit einem Gürtel fest verschnürtes Bündel Hemden, davor stand ein gepackter Koffer.

»Gut, dass Sie mich abholen«, sagte mein Opa und sah auf sein Handgelenk. »Die sind alle völlig verrückt hier!«

»Ich weiß nicht, ob das draußen so viel anders is’«, sagte ich und dachte an unser Mittagessen.

Wie immer war mein Opa total overdressed und blickte mich freundlich an.

»Na, Opa Ludwig?«, sagte ich, um ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen.

»Ach, ihr, ja! Tach schön, Tach schön!«, sagte er und wollte mir die Hand reichen, aber ich umarmte ihn stattdessen.

»Guten Tag«, sagte mein Opa zu dem kleinen Jungen und streckte ihm seine Hand hin.

Er reagierte nicht.

»Is’ aber nich’ sehr freundlich, das Kind«, sagte er kopfschüttelnd.

Ich nickte. »Endlich jemand, der mich versteht.«

»Ja, das ist wichtig«, sagte er und sah wieder auf sein Handgelenk. »Sag mal, wann werd ich eigentlich abgeholt?«

Ich seufzte. »Das dauert noch.«

»Ach so, na klar«, sagte er, und ich konnte sehen, dass er schon nicht mehr wusste, was er überhaupt gefragt hatte.

Meine Oma trat einen Schritt auf ihn zu. Sie legte eine Hand auf seine Schulter und fuhr ihm mit der anderen übers Gesicht. Dann gab sie ihm einen Kuss auf die Wange.

»Uiuiui«, lachte er. »Guten Tag, junge Frau. Schön, Sie kennenzulernen. Herrmann mein Name, Ludwig.«

Sofort standen meiner Oma die Tränen in den Augen.

»Komm, Oma, wir gehen mal kurz raus«, sagte meine Tante und sie verschwanden auf dem Gang.

»Was hatse denn?«, fragte mein Opa.

»Nichts«, sagte ich und hängte meinen Mantel auf. »Alles gut.«

Sein Zimmer war vollkommen kahl. Kein Bild, keine Blume, die Schränke leer. Natürlich hatten alle versucht, es so wohnlich wie möglich zu gestalten, aber es nützte nichts, denn über Nacht wurde alles immer ordentlich in den Koffer verfrachtet oder mit einem Gürtel zusammengebunden, weil mein Opa fest davon überzeugt war, bald abgeholt zu werden.

»Sooo«, sagte er, »jetzt müsste eigentlich auch gleich der andere kommen.«

»Welcher andere?«, fragte meine Mutter.

»Na, der hier mit im Zimmer wohnt! Da hängt doch sein Mantel!«

»Ach Opa, das is’ Antrehs Mantel!«, sagte meine Mutter und lachte.

Mein Opa verzog das Gesicht, und ich bemerkte, wie unangenehm es ihm war, schon wieder, ohne es zu wollen, Quatsch erzählt zu haben.

»Ja, ich hätte ja auch mal fragen können, bevor ich da einfach so meinen Mantel hinhänge«, sagte ich.

Ich ging ins Bad, um mir die Hände zu waschen. Die Zahnbürste, der Rasierer und das Parfum landeten komischerweise nie im Koffer. Dafür prüfte er beinahe minütlich, ob sein Ausweis noch in seiner Brusttasche steckte und ob sich in seinem Portemonnaie noch genügend Geld befand. Das Allerwichtigste jedoch war die Uhrzeit. Wenn ihm schon alles durch die Finger rann, so musste er wenigstens immer wissen, wie spät es war. Mein Vater lehnte neben der Badtür, starrte an die Decke und blinzelte seine Tränen weg.

»Hast Glück«, sagte ich, als ich zurück ins Zimmer kam. »Sind alle vorbeigekommen, wegen Ostern.«

Der Blick meines Opas hatte sich völlig verändert. Seine Augen irrten umher und es sah aus, als wäre er ganz plötzlich Jahrzehnte jünger und würde all das zum ersten Mal sehen.

»Ich muss dann auch mal langsam zum Bus«, sagte er. »Meine Eltern warten bestimmt schon, und ich muss doch noch die Hühner füttern.«

»Is’ Feiertag«, sagte ich. »Heute kommt kein Bus.«

»Ja, klar«, sagte er. »Wie sieht denn unser Haus jetzt aus?«

»Das weiß ich nicht«, sagte ich.

»Warst schon lange nicht mehr da, hm?«

»Hmm.«

Er sah sich um.

»Is’ aber leer. Wie lang bin ich hier schon?«

»Noch nich’ so lang«, log ich und überschlug im Kopf, dass es jetzt ungefähr drei Monate waren. Die Schwestern sagten, er wäre einer von denen, die nie ankommen würden. Einer, der immer annehmen würde, irgendwohin zu müssen. Zuerst war es die Wohnung meiner Großeltern gewesen, doch bald schon wollte er nur noch zurück in sein Elternhaus, das es schon seit 50 Jahren nicht mehr gab.

»Ich hab heute noch gar nicht«, nuschelte er.

»Was hast du heute noch nich’?«, fragte ich, während meine Mutter begann, die Klamotten zurück in den Schrank zu sortieren.

Er dachte nach.

»Ich hab heute noch gar nich’ geschaukelt«, flüsterte er.

»Ist Ostern, da macht die Schaukel-Liga grad Pause.«

Er nickte. »Stimmt, klar!«

Er sah mich an. Das heißt, eigentlich untersuchte er mich. Stück für Stück fuhren seine Augen über jeden Zentimeter meines Gesichts, immer in der Hoffnung, es würde sich in seinem Kopf doch noch irgendeine passende Erinnerung an meine Nase, meinen Mund oder meine Augen heften lassen. Er suchte und suchte, aber er fand nichts und verließ sich deshalb auf eine der Fragen, von denen er instinktiv wusste, dass beinahe jeder eine Antwort auf sie hatte.

»Wie läuft’s mit der Arbeit?«, fragte er.

»Ja, wie immer«, antwortete ich.

»Wird nich’ alle, oder?«

»Nee.«

»Ach, ich würd ooch gern was arbeiten. Mir is’ immer so langweilig.«

»Kein Problem. Du kannst für mich arbeiten. Montag geht’s los, acht bis 17 Uhr, eine Stunde Mittagspause, ich zahl sogar Mindestlohn.«

Wieder begann er zu grinsen.

»Nee, nee«, sagte er. »Ich meinte, ich brauch Beschäftigung. Gearbeitet hab ich lang genug!«

»Was hast’n gearbeitet?«, fragte ich.

Er überlegte, tastete nach seinem Portemonnaie und sah mich an, ohne zu wissen, dass ich ihm gerade eine Frage gestellt hatte.

»Was hast du gearbeitet?«, fragte ich noch mal.

»Hm. Ich glaube, hauptsächlich zu viel!«

Er schob den Ärmel seines Jacketts ein Stück zurück und sah auf sein Hangelenk. Erst jetzt bemerkte ich, dass er gar keine Uhr mehr trug.

»Was ist denn mit der Uhr passiert?«, fragte ich.

»Ja«, sagte er. »Das is’n Ding.«

»Du brauchst doch ’ne Uhr. Guck mal in deine Tasche!«

Er blickte an sich herab und versuchte herauszufinden, was ich gerade gesagt hatte.

»Guck mal da in die Tasche«, sagte ich und zeigte auf seine Hosentasche.

»Ja«, sagte er und zog seine Uhr heraus. Das Armband war sauber durchgeschnitten.

»Was ist denn da passiert?«, rief ich.

»Tjo«, sagte er und sah mich mit großen Augen an, so als ob ihm bereits dämmerte, dass er es vermutlich selbst gewesen war, der in irgendeiner Rage mal wieder das Armband zerschnitten hatte. So wie er manchmal alles zerschnitt, was ihm in die Finger kam. Meist hatte ich ein neues Portemonnaie dabei, das ich im Zweifelsfall gegen sein zerfleddertes tauschen konnte.

»War das wieder der andere?«, fragte ich.

Mein Opa sah mich an. Sein Blick war vollkommen klar geworden. Er sah auf seine Hände, so als sei er nach einer langen Nacht gerade wieder zu sich gekommen.

»Ach, André«, sagte er. »Ich weeß manchmal gar nich’ mehr, was los is’. Ich steh morgens auf, und mittags weeß ich nich’ mehr, was es zum Frühstück gab. Ich les fünfmal dieselbe Seite in der Zeitung und dann … is’ alles weg.«

»Hier«, sagte ich, während ich meine Uhr vom Handgelenk löste. »Gib mal deinen Arm her. Jetzt weißt du wenigstens wieder, wie spät es is’.«

»Wie geht’s eigentlich meiner Emma?«, fragte er. »Ich würd sie so gern mal wieder sehen.«

»Das glaub ich.« Ich traute mich nicht, ihn anzulügen und ihm zu sagen, dass es bestimmt bald so weit sein würde.

»Na, Herr Herrmann? Wie geht’s uns denn heute?«, kam es plötzlich von der Tür ins Zimmer.

Eine Schwester kam hereingetippelt und stellte sich direkt vor meinen Opa.

»Na, da hat aber jemand viel Besuch! Hat da jemand viel Besuch? Hat da jemand viel Besuch?«

Mein Opa sah sie verwirrt an.

»Können Sie damit bitte aufhören? Mein Opa ist kein Idiot.«

»Das freut mich, wenn Ihr Opa kein Idiot ist«, sagte mein Opa.

»Ich hab ihm ’ne neue Uhr gegeben«, erklärte ich der Schwester.

»Schneidet er eh durch«, gab sie schulterzuckend zurück.

»Na und? Dann kriegt er noch eine.«

»Na, wenn Sie meinen.«

»Passen Se mal off«, rief meine Mutter. »Und wenn ich dem fuffzig Uhren hier hinlege und Ihnen sage, dass Sie ihm ’ne neue ummachen, wenn er eine zerschnitten hat, dann machen Sie ihm gefälligst ’ne neue um. Hammwerunsdaverstanden?«

Die Schwester schluckte. »Natürlich«, antwortete sie kleinlaut und wandte sich zum Gehen. »Frohe Ostern.«

»Das hilft mir ooch nich’«, rief meine Mutter.

Mein Opa lächelte. »Alle verrückt hier.«

»Jup«, sagte ich, »aber Mutter regelt das schon.«

»Naja, mach’s hübsch«, sagte mein Opa, als wir wenig später vor dem Fahrstuhl standen, der uns wieder nach unten bringen würde.

»Mach’s gut, Opa«, sagte ich.

Meine Oma war schon längst wieder unten. Es würde vermutlich noch eine ganze Weile dauern, ehe sie es verkraften würde, dass die Krankheit zwar nicht seine Liebe zu ihr, dafür aber ihr Bild in ihm ausgelöscht hatte.

Der Aufzug pingte, alle stiegen ein.

»Moment«, rief mein Opa, als ich gerade die Türen-schließen-Taste drücken wollte.

»Ja?«

»Wann werd ich eigentlich abgeholt?«

»Heute noch nich’«, sagte ich.

4.

Es war Dienstag.

Ich lag auf der Couch im Haus meiner Eltern und blätterte in einem der Bücher, die meine Mutter zufällig im Schrank gefunden und die, wie sie mir nach dem Osteressen mehrmals versichert hatte, auf gar keinen Fall eine Anspielung auf mich sein sollten, auch wenn sie so tolle Titel trugen wie: Von der Berufung zum Beruf – Finde den Job, der dich glücklich macht oder Der Seelen-Navigator – In sieben Schritten zu deinem wahren Lebensplan.

Ich sah auf die Uhr. Es war noch über eine Stunde, bis Maik kommen würde, um mich zu diesem Bauernhof zu fahren, auf dem er angeblich einen Job für mich klargemacht hatte. Oder so ähnlich. Meine Katze saß vorm Fernseher und schaute hoch konzentriert eine Sendung über Zugvögel, als plötzlich das Telefon klingelte.

»Ja, Herrmann?«, sagte ich.

»Harald?«, brüllte meine Oma Traudel.

»Nee, Oma, hier ist André.«

»Ach Junge, du klingst ja am Telefon wie dein Vater.«

»Ein Wunder der Genetik«, sagte ich. »Was gibt’s denn?«

»Und ich wundere mich schon, wieso dein Vater zu Hause is’!«

»Ja, Oma, was gibt’s denn?«

»Ich hab’s sogar schon bei deiner Mutter auf Arbeit probiert! Bist du zu Hause?«

»Nee, ich steh mit dem Festnetztelefon im Supermarkt.«

»Das geht?«

»Nee, das geht nich’!«, rief ich. »Oma, ich muss eigentlich gleich los. Was gibt’s denn?«

»Ach, nüscht«, sagte sie. »Ich wollt nur mal horchen!«

»Wegen Abholen«, hörte ich eine Frauenstimme im Hintergrund.

»Wie Abholen?«, fragte meine Oma.

»Darf ich mal?«, sagte die Stimme, und es knisterte in der Leitung.

»Praxis Dr. Mumm hier. Herr Herrmann?«

»Ja.«

»Das ist ja ein Zufall, dass wir Sie tagsüber zu Hause erwischen.«

»Der Junge hat keene Arbeit!«, rief meine Oma im Hintergrund.

»Selbstständig«, sagte ich.

»Können Sie ja nichts für«, sagte die Frau.

»Aber wie soll er ooch was finden, das geht ja alles sofort an de Ausländer!«, hörte ich meine Oma ihr Lieblingsthema erörtern: den Untergang des Abendlandes.

»Und, was gibt’s?«, fragte ich.

»Die Frau Weiß, also Ihre Oma, lässt fragen, ob Sie sie vielleicht abholen könnten.«

»Naja«, sagte ich, »eigentlich muss ich bald los und …«

»Und de Merkeln schmeißt denen das Geld entgegen!«, rief meine Oma.

»So isses!«, »Ja, genau!«, hörte ich einige Stimmen im Hintergrund.

»Und ’s Bargeld wollnse uns wegnehmen, damit mer nich’ mehr nachzählen können!«, rief meine Oma.

»Ich dachte, Sie haben keine Arbeit?«, sagte die Frau und legte auf.

Frechheit, dachte ich und zog mich an.

Zehn Minuten später hielt ich vor der Arztpraxis. Auf der Treppe stand meine Oma Traudel, die Handtasche in fester Umklammerung.

»Na, Oma, wie geht’s?«, rief ich und hielt ihr die Autotür auf.

»Ach Junge«, meine Oma winkte ab, »unsereins wartet doch nur noch, bis es vorbei is’.«

»Ja, mir geht’s auch ganz gut«, sagte ich. »Einfach nach Hause?«

Meine Oma stieg ein. »Du kannst nachher, wenn se den Opa vom Orthopäden bringen, da kannste mit Schweinemedaillons essen! Von heute früh!

»Ach, ich muss eh nach Hause. Ich hol mir einfach bei euch gegenüber ’n Döner.«

»Haaaaaaaaaaah!«, machte meine Oma. »Du weißt aber schon, dass die da in die Soße …«

»Dass die da was?!«

»Jaaajaaa«, sagte sie, »das is’ Fakt!«

»Mann, Oma«, seufzte ich. »Der Dönerladen is’ da schon seit 20 Jahren! Da war das Gesundheitsamt bestimmt schon tausendmal.«

»Naja«, sagte meine Oma, »ich weeß ja nich’, wie der sein Geld verdient!«

»Mit Döner vielleicht?«

»Ja-ha, das denkst du! Hasch!«

»Wie, Hasch?«

»Jaaaaa!«

»Ja, was ja?«

»Jaaaaaja! Des wissen die schon, wie das geht!«

»Ja, und wenn du das weißt, dass die Hasch machen, dann zeig sie halt an!«

»Pah! Damit die mir die Wohnung anzünden!«

»So’n Quatsch.«

»Na klar! Die kommen doch jetzt alle. Und alle kriegense ’s Geld von uns!«

In diesem Moment klingelte mein Handy.

»Ja, Herrmann?«, sagte ich.

»Harald?«

»Nee, hier ist André.«

»Ach, Antreh!«, rief meine Mutter.

»Ja, wessen Handy haste denn angerufen?«

»Du klingst am Telefon wie dein Vater!«

»Hör ich zum ersten Mal.«

»Du, kannst du mal deine Oma Traudel anrufen?«

»Wieso?«

»Die hat mich grad angerufen.«

»Das is’ ja interessant!«, sagte ich. »Die Oma Traudel sitzt neben mir.«

»Die lassen’s sich hier gut gehen und schicken die Hunderter nach Hause!«, rief meine Oma.

»Ah ja«, sagte meine Mutter, »ich hör’s.«

»Und unsereins«, rief meine Oma, »der kriegt nüscht vom Staat!«

»Du kriegst doch Rente, Oma«, sagte ich.

»DU KRIEGST DOCH RENTE, OMA!«, brüllte meine Mutter.

»Mutter, die Oma hört dich nich’!«

»Mach mich ma’ off laut!«

»Nee, komm, is’ doch egal.«

»Mach mich ma’ off laut!«

»Die hassen Deutschland!«, rief meine Oma.

»Du hasst doch ooch Deutschland!«, rief meine Mutter. »Mutti, das sind alles Menschen, die da kommen. Meinst du, die machen das aus Spaß?!«

»Na, die Terroristen off jeden Fall!«, rief meine Oma. »Die sprengen sich aus Spaß!«

»Können wir mal bitte damit aufhören?«, schrie ich. »Ist ja furchtbar.«

»Ja, aber die Oma will’s ooch nich’ verstehen!«, brüllte meine Mutter.

»Ich versteh mehr, als euch lieb is’!«

»Mutti, überleg doch mal! Ihr musstet nach’m Krieg auch von zu Hause fliehen. Und eure eigenen Leute, wie hammse euch empfangen?«

»Wie Dreck hammse uns behandelt. Angespuckt hammse uns.«

»Siehste«, sagte meine Mutter. »Und nur, weil das hier alles Idioten waren, willst du nicht einen Funken besser sein.«

»Ja«, sagte meine Oma.

»Na, vielen Dank auch«, schrie meine Mutter und legte auf.

Ein paar Sekunden lang herrschte Ruhe.

»Könnwer los?«, fragte ich, ohne eine Antwort zu erwarten.

Da klingelte mein Handy erneut.

»Mutter, is’ gut jetz’!«, knurrte ich.

»Hallo?«

»Es rei-heicht!«

»Hier ist Hübscher aus der Schulstraße!«

»Ach, hallo Herr Hübscher.«

»Ist das der Harald?«

»Nee, André!«, rief ich.

»Ach, Antreh! Mensch, Junge! Du klingst ja am Telefon wie dein Vater!«

»Ja-ha! Was ist denn?«

»Und ich dachte, ich sprech mit’m Harald!«

»Ja«, seufzte ich, »was gibt’s denn?«

»Du, ich wollte dich ma’ was fraren!«

»Ja, was denn?«

»Sare ma’, du weißt doch, wo deine Oma wohnt!«

»Ja, ich weiß, wo meine Oma wohnt.«

»Gut.«

»Und?«

»Was und?«

»Ja, war das jetzt die Frage?«

»Welche Frage?«

»Na wegen der Sie angerufen haben!«

»Ach so, nee. Also, was ich fraren wollte.«

»Ja, was denn?«

»Sare ma’, hast du ’n Schlüssel für die Wohnung von der Oma?«

»Ja, wieso? Die sitzt auch hier neben mir.«

»Wer is’n dran?«, rief meine Oma.

»Der Herr Hübscher«, sagte ich.

»Och, Hans, das ist aber schön!«

»Traudel, hallo!«, rief Herr Hübscher.

»Herr Hübscher«, sagte ich. »Ja?«

»Ich hab ’n Schlüssel.«

»Ja, na weil wir bräuchten den ma’!«

»Ja, aber wieso denn?«

»Ja, na weil’s brennt.«

»Wie, es brennt?«

»Es brennt?«, rief meine Oma.

»Na, Feuer!«, rief Herr Hübscher.

»Ja, warum sagen Sie das nich’ gleich?«

»Jetz’ isses so weit!«, rief meine Oma und schlug die Hände überm Kopf zusammen. »Jetz’ greifense an!«

»Geben Se ma’ her«, hörte ich plötzlich eine andere Stimme, und das Telefon wurde weitergegeben. »Hier, also, beeilen brauchen Se sich jetz’ mit dem Schlüssel ooch nich mehr. Wir brechen die Tür so oder so off!«