Inhalt

  1. Cover
  2. Über die Autorin
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Namen und Leute
  6. Dramatis Personae
  7. Karte
  8. 1. BUCH
    1. Helmsby, März 1064
    2. Helmsby, April 1064
    3. Bosham, April 1064
    4. Rouen, Mai 1064
    5. Rouen, Juni 1064
    6. Helmsby, September 1065
    7. Ely, September 1065
    8. York, Oktober 1065
    9. Rouen, Januar 1066
    10. London, September 1066
    11. St. Valéry, September 1066
    12. Hastings, Oktober 1066
    13. Helmsb, Oktober 1066
    14. Berkhamstead, Dezember 1066
  9. 2. BUCH
    1. Winchester, Mai 1069
    2. Helmsby, Mai 1069
    3. Helmsby, August 1069
    4. York, September 1069
    5. Penistone, Oktober 1069
    6. Salby, November 1069
    7. Metcombe, Dezember 1069
    8. Helmsby, Dezember 1069
    9. Rouen, Dezember 1069
    10. Winchester, April 1070
    11. Helmsby, Juni 1070
    12. Ely, Juni 1070
    13. Dover, Juli 1070
    14. Winchester, Juli 1070
    15. Winchester, September 1070
    16. Helmsby, September 1070
    17. Winchester, Oktober 1070
    18. Westminster, Februar 1071
    19. Belsar’s Hills, Juni 1071
  10. 3. BUCH
    1. Exning, August 1075
    2. Canterbury, September 1075
    3. Winchester, März 1076
    4. Dover, Mai 1076
    5. Dover, Juli 1076
    6. Dover, April 1077
    7. Rouen, Juni 1077
    8. Laigle, Oktober 1077
    9. Rouen, Dezember 1078
    10. Gerberoi, Januar 1079
    11. Rouen, April 1079
    12. Caen, Juni 1079
    13. Helmsby, Juni 1079
    14. Helmsby Juli 1079
    15. Helmsby, März 1080
    16. Helmsby, Juli 1080
    17. Winchester, Juli 1080
    18. Gloucester, Januar 1081
    19. Dover, März 1081
    20. Dover, März 1082
    21. Carisbrooke, Mai 1082
  11. 4. BUCH
    1. Helmsby, Januar 1086
    2. Winchester, Juli 1086
    3. Helmsby, August 1086
    4. Helmsby, Januar 1087
    5. Rouen, Juli 1087
    6. Mantes, Juli 1087
    7. St. Gervais, September 1087
    8. Winchester, Oktober 1087
    9. Helmsby, Oktober 1087
  12. Nachbemerkung und Danksagungen

Über die Autorin

Rebecca Gablé Jahrgang 1964, studierte Literaturwissenschaft, Sprachgeschichte und Mediävistik in Düsseldorf, wo sie anschließend als Dozentin für mittelalterliche englische Literatur tätig war. Heute arbeitet sie als freie Autorin. Sie lebt mit ihrem Mann in einer ländlichen Kleinstadt am Niederrhein.

Homepage: www.gable.de

REBECCA GABLÉ

DAS ZWEITE
KÖNIGREICH

Historischer Roman

Namen und Leute

Das »æ« in Namen wie Cædmon, Ælfric etc. ist ein Buchstabe runischen Ursprungs, der in der angelsächsischen Sprache häufig vorkam und wie das deutsche »ä« ausgesprochen wird.

William müßte natürlich eigentlich Guillaume heißen, zumal alle anderen Normannen in diesem Roman Namen in französischer Schreibweise haben. Da dieser König aber nun einmal als »William« in die englische Geschichte eingegangen ist, habe ich ihn hier ebenfalls so genannt.

Nachnamen im heutigen Sinne gab es im 11. Jahrhundert nicht. Ich habe Namen wie Godwinson, fitz Osbern oder Montgomery trotzdem als solche verwendet, damit bei der Vielzahl der Personen noch erkennbar bleibt, wer wessen Sohn oder Tochter ist.

Eine Aufstellung der wichtigsten Figuren – historische wie fiktive – findet sich im Anhang.

DRAMATIS PERSONAE

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.

HELMSBY

Cædmon of Helmsby

Dunstan, Guthric und Eadwig, seine Brüder

Hyld, seine Schwester

Ælfric of Helmsby, sein Vater

Marie de Falaise, seine Mutter

Erik, ein dänischer Pirat

Athelstan, Ælfrics trinkfreudiger Bruder

Alfred, sein Sohn

ENGLÄNDER

Edward* »der Bekenner«, König von England

Harold Godwinson*, Earl of Wessex und König von England

Wulfnoth Godwinson*, sein Bruder

Tostig Godwinson*, ebenfalls sein Bruder, Earl of Northumbria

Edwin*, Earl of Mercia

Morcar*, sein Bruder, Earl of Northumbria

Edgar Ætheling*, ein angelsächsischer Prinz

Hereward* »der Wächter«, ein Rebell

Waltheof of Huntingdon*, Earl of Northumbria

Toki Wigotson*, ein königstreuer Ritter

NORMANNEN

William* »der Bastard«, Herzog der Normandie und König von England

Matilda*, seine Gemahlin

Robert*, Richard*, William* »Rufus« und Henry*, ihre Söhne

Guy de Ponthieu*, ein wankelmütiger Vasall

Lucien, sein Sohn

Aliesa, seine Tochter

Jehan de Bellême, ein Veteran

Guillaume fitz Osbern*, König Williams Cousin, Seneschall, Earl of Hereford und Regent von England

Guillaume* und Roger*, sein erst- und zweitgeborener Sohn, beide Verräter

Emma*, seine Tochter, auch eine Verräterin

Etienne, sein jüngster Sohn, Cædmons Freund und kein Verräter

Robert de Mortain*, König Williams Halbbruder, Earl of Cornwall Ralph Baynard*, Befehlshaber der Londoner Miliz

Roland, sein Sohn

Beatrice, seine Tochter

Guillaume de Warenne*, ein normannischer Adliger

Roger Montgomery*, Earl of Shrewsbury

KIRCHENMÄNNER

Bruder Oswald, ein reiselustiger Mönch

Odo*, König Williams Halbbruder, Bischof von Bayeux, Earl of Kent, Regent von England

Aldred*, Erzbischof von York

Stigand*, mehrfach exkommunizierter Erzbischof von Canterbury

Lanfranc*, Abt von St. Etienne in Caen, später Erzbischof von Canterbury, Regent von England

1. BUCH

Dann erschien in ganz England ein Zeichen am Himmel, wie man es nie zuvor gesehen hatte. Manche sagten, es sei der Stern Comet, den man den »langhaarigen« Stern nennt, und er leuchtete eine ganze Woche lang Nacht für Nacht.

Angelsachsenchronik, 1066

Helmsby, März 1064

»Bei Gott, was für ein Treffer, Cædmon! Wer so mit einer Schleuder umgehen kann wie du, kann seinen Bogen getrost verfeuern.« Dunstan klopfte seinem jüngeren Bruder so kräftig auf den Rücken, daß dieser sich unauffällig mit der Linken auf den Sattelknauf stützte.

Cædmon strahlte, glitt aus dem Sattel und lief die fünfzig oder sechzig Schritte, die ihn von seiner erlegten Beute trennten. Es war ein einjähriger Rehbock. Er lag reglos auf der Seite, auch die Vorderläufe zuckten nicht mehr. Sein braunes Auge starrte in den weißgrauen Himmel hinauf, der noch weitaus mehr nach Winter denn nach Frühling aussah. Auch der Waldboden unter Cædmons dünnen, knöchelhohen Lederschuhen fühlte sich noch hart an. Die alten, dicht stehenden Bäume zeigten nicht den leisesten Hauch von Grün, aber die ersten verwegenen Narzissen blühten im struppigen Gras des Vorjahres.

Dunstan war ebenfalls abgesessen und trat zu seinem Bruder. »Meisterhaft«, wiederholte er und nickte nachdrücklich. »Mitten zwischen die Augen. Ich wette, er war schon tot, ehe er umfiel. Wie machst du das nur?«

Der Junge hob unbehaglich die Schultern und winkte verlegen ab. Dunstan war sechzehn, zwei Jahre älter als er, und für gewöhnlich sehr sparsam mit seinem Lob. »Ich weiß nicht. Ich … seh’ auf den Punkt, den ich treffen will, und hör’ auf das Singen der Schleuder über meinem Kopf. Und dann …«

Dunstan verpaßte ihm eine Kopfnuß der eher sanften Sorte. »Ja, ja. Erspar mir den lehrreichen Vortrag.«

Aber du hast gefragt, dachte Cædmon verständnislos.

»Jetzt ist jedenfalls endlich Schluß mit dem verfluchten Pökelfleisch«, bemerkte Dunstan zufrieden, beugte sich über den Bock und band ihm mit einer dünnen Lederschnur die Läufe zusammen. Dann sah er stirnrunzelnd auf. »Was ist? Hilfst du mir, oder hast du Angst, daß dir schlecht wird, wenn du Blut siehst?«

Cædmon seufzte verstohlen, zückte sein Jagdmesser und setzte es dem Bock an die Halsschlagader. Er vermied es, in das tote braune Rehauge zu sehen.

Wenig später waren sie auf dem Heimweg. Der ausgeblutete Bock lag vor Cædmon über dem Sattel, und das stämmige, gedrungene Pferd trug die doppelte Last ohne erkennbare Mühe. Eine fahle Märzsonne glitzerte auf dem Wasser des Ouse, an dessen östlichem Ufer sie entlangritten. Der Nebel, der sich den ganzen Tag über nicht so recht hatte lichten wollen, war hier am Ufer dichter. Ein paar Eisschollen trieben noch auf dem Wasser, aber der Fluß war schon wieder befahrbar. Ein Lastkahn tauchte vor ihnen aus den dichten Schwaden auf, beladen mit Fässern und Holzkohle. Der Schiffer hielt sein Gefährt mit einer langen Stange in der Strommitte und ließ sich flußabwärts treiben. Als er die beiden Reiter auf dem Uferpfad entdeckte, hob er eine Hand von seiner Ruderstange und winkte ihnen zu. Cædmon winkte zurück.

»Das war Godric«, murmelte er.

»Ich habe Augen«, erwiderte Dunstan trocken.

»Ich hab ihn den ganzen Winter nicht gesehen.«

»Nein, weil er sich den Winter über in seiner Hütte verkriecht wie ein Bär in seiner Höhle, sich von früh bis spät mit Bier vollaufen läßt oder eine seiner zahllosen Schwestern bespringt, bis das Tauwetter kommt und er wieder hinausfahren kann.«

»Dunstan!« rief Cædmon schockiert aus.

Sein Bruder schnitt eine verächtliche Grimasse. »Entschuldige, Schwesterchen …«

Cædmon schwieg beleidigt. Der Uferpfad verengte sich, so daß sie hintereinander reiten mußten, und das war ihm nur recht. Dunstan sollte nicht sehen, wie ihm das Blut in die Wangen geschossen war, und Cædmon drückte seinem struppigen Kaltblüter die Fersen in die Seiten und zog eine Länge vor. Laß ihn nur reden, dachte er. Aber ich war es, der den Bock erlegt hat.

»Sag, Cædmon, jetzt mal ganz ehrlich. Bist du noch Jungfrau?« fragte Dunstan mit vermeintlichem brüderlichem Wohlwollen. Doch Cædmon hörte das mutwillige Grinsen in seiner Stimme, er brauchte sich nicht einmal umzuwenden, um es zu sehen.

Er errötete schon wieder. Das schien ihm in letzter Zeit ganz besonders häufig zu passieren. Über den Winter hatte sein Körper begonnen, sich auf geradezu bestürzende Weise zu verändern. Er hatte einen ordentlichen Schuß getan und war jetzt ebenso groß wie Dunstan und sein Vater, aber das war es nicht allein. Sein Bartwuchs hatte eingesetzt, seine Stimme veränderte sich, er wurde von Träumen geplagt, an die er nicht denken konnte, ohne wieder aufs neue rot anzulaufen, und all das erschien ihm fremd, machte ihn so unsicher, daß es ihm manchmal vorkam, als lebe er im Körper eines Fremden.

»Antworte, Cædmon«, befahl Dunstan mit der befehlsgewohnten Stimme des Älteren. »Wenn es so ist, wüßte ich, wie wir Abhilfe schaffen könnten. Ehe du auf die Idee kommst, dich an den Schafen zu versuchen.«

Ein neuerliches, empörtes »Dunstan!« lag Cædmon auf der Zunge, aber er besann sich und wandte lediglich den Kopf, um seinem Bruder einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Doch statt dessen weiteten sich seine Augen vor Entsetzen.

»Heiliger Edmund, steh uns bei … Reite, Dunstan! Los, komm schon!« Dunstans Miene zeigte eine Mischung aus Verwunderung und gönnerhafter Belustigung, und statt dem guten Rat zu folgen, wandte er den Blick ebenfalls zum Fluß. »Oh, mein Gott … Ein Drache!«

Damit hatte er genug gesehen. Er rammte seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Cædmon war schon angaloppiert. Er hörte ein seltsam surrendes Geräusch, wie das Summen einer Hornisse, und zog den Kopf ein. Im nächsten Moment spürte er einen stechenden Schmerz im linken Bein und schrie entsetzt auf. Sein sonst so gleichmütiges Pferd bäumte sich plötzlich auf, legte die Ohren an und bockte. Cædmon warf sich nach vorn, um im Sattel zu bleiben, doch das Tier wieherte angstvoll, stieg, und dann pflügte Dunstans Pferd in seine Seite. Sie stürzten in einem wirren Durcheinander aus Hufen, Armen und Beinen. Ein harter Stoß traf Cædmon in den Rücken, und er lag einen Moment still, unfähig zu atmen oder sich zu rühren. Wieder erklang das unheilvolle Surren, und er überwand seine Schwäche und kroch auf dem Bauch in das dichte Unterholz neben dem Pfad. Dann lag er still, hielt sein Bein umklammert und lauschte.

Es kam ihm vor, als habe er Stunden so gelegen. Die Stille war beinah vollkommen, nur ganz leise war das Plätschern des Flusses zu vernehmen.

Schließlich sammelte Cædmon seinen Mut und hob den Kopf. »Dunstan?«

Sein Pferd stand nur wenige Schritte entfernt auf dem Pfad. Offenbar war es ein Stück gerannt und dann zurückgekehrt; der Rehbock schleifte am Boden. Dunstans Brauner war hingegen nirgendwo zu sehen, doch sein Bruder selbst lag gleich neben ihm, halb auf dem Uferpfad, halb im Dickicht. Sein Gesicht war Cædmon zugewandt, und was durch die wirren, blonden Haare hindurch davon erkennbar war, wirkte todesbleich. Dunstan lag vollkommen reglos.

»Nein …« Cædmon richtete sich halb auf. Ein neuerlicher Schmerz zuckte durch sein Bein, und er sah es zum erstenmal an. Ein kurzer, hellgefiederter Pfeil steckte seitlich in seinem Oberschenkel. »Gott verflucht. Dunstan?«

Sein Bruder regte sich nicht. Cædmon robbte zu ihm hinüber und strich die Haare aus Dunstans Stirn. Dann legte er ihm furchtsam eine Hand auf die Brust. Das Herz schlug gleichmäßig und kräftig. Ein wenig erleichtert untersuchte er den Kopf des Bruders. Unter dem Haaransatz fand er eine anschwellende Beule. Anscheinend hatte Dunstan einen Huftritt vor die Stirn bekommen. Cædmon rüttelte ihn zaghaft an der Schulter. Nichts.

»Gott, was tu’ ich denn jetzt nur?«

Er sah auf den Fluß hinaus. Der Drache war verschwunden, zweifellos weiter flußaufwärts gezogen. Cædmon wußte, er mußte nach Hause reiten. Seinen Vater und die anderen warnen.

»Und je länger du hier herumsitzt, um so dunkler und kälter wird es werden«, murmelte er. Unbewußt versuchte er, Dunstans Stimme zu imitieren, denn nichts konnte ihn so dazu anspornen, über sich hinauszuwachsen, wie die Herablassung seines Bruders.

Cædmon zog das gesunde Bein an, biß die Zähne zusammen und stand auf. Doch sobald er das angeschossene Bein mit seinem Gewicht belastete, zuckte der Schmerz bis in die Hüfte hinauf. Als er die wenigen Schritte zu seinem Pferd zurückgelegt hatte, weinte er.

Er umfaßte den Sattelknauf mit beiden Händen und sah im schwindenden Licht an seinem linken Bein hinab. Blut tränkte seine Hosen aus dunklem Wollstoff, der Fleck hatte beinah die gekreuzten Lederbänder erreicht, die seine Waden bis zum Knie umschlossen, und breitete sich weiter aus. Besser nicht hinsehen, dachte er. Er nahm sein geduldiges Reittier am Zügel. »Komm, Beorn. Wir müssen Dunstan nach Hause schaffen.«

Der stämmige Grauschimmel ließ sich willig führen, aber nach drei Schritten mußte Cædmon anhalten. Er hatte bis heute nicht gewußt, daß einem übel werden konnte vor Schmerz. Der Nachmittag war weit fortgeschritten, und es wurde schnell kälter. Trotzdem erschien sein Gesicht ihm heiß. Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, legte dem Pferd den rechten Arm um den Hals und hüpfte auf einem Bein neben ihm her.

Dunstan war nach wie vor besinnungslos. Cædmon beugte sich über ihn und fühlte wieder seinen Herzschlag. Unverändert.

»Oh, Dunstan, werd wach. Bitte, wach doch auf, du verdammter Mistkerl …«

Aber Dunstan war nicht gerade dafür bekannt, daß er sich nach den Wünschen seiner Brüder richtete. Er zeigte nicht die leiseste Regung. Cædmon sah zum Himmel auf. Er war nicht mehr weiß, sondern dunkelgrau. Ein scharfer Wind hatte sich mit der Dämmerung erhoben und trieb schwere Wolken heran.

»Ja, warum nicht«, murmelte Cædmon bissig. »Das macht jetzt keinen großen Unterschied.«

Er wußte genau, was er tun mußte. Aber im Augenblick fühlte er sich seiner Aufgabe nicht gewachsen. Fast war es, als könne er den mörderischen Schmerz schon jetzt spüren, und er schauderte unwillkürlich. »Gott, Dunstan, das werde ich dir niemals verzeihen«, drohte er an. Er betrachtete das Gesicht seines Bruders, um noch einen kleinen Aufschub herauszuschinden. Es war kein übles Gesicht. Eingerahmt von flachsblonden Locken, eine hohe Stirn, helle Brauen und dichte Wimpern, eine gerade, fast zu schmale Nase über einem noch recht dünnen Schnurrbart und einem um so breiteren Mund, der von Natur aus, sogar jetzt in tiefer Bewußtlosigkeit, zu einem Lächeln neigte, das manchmal gutmütig, öfter aber höhnisch war. Cædmon legte den Kopf zur Seite, seine eigenen, dunkleren Locken fielen ihm dabei ins Gesicht, und er rief sich die eisblaue Farbe der Augen ins Gedächtnis.

»Komm, Bruder«, murmelte er seufzend. »Laß uns nach Hause reiten.« Er schätzte, sie waren noch etwa drei Meilen von Helmsby entfernt. Ausgeschlossen, den ganzen Weg zu laufen. Schon bei dem Gedanken brach ihm der Schweiß aus. Hoffnungsvoll spähte er den Uferpfad entlang, doch von Dunstans Pferd war nirgends eine Spur zu entdecken. Schweren Herzens löste er die Stricke, mit denen sie den Rehbock festgebunden hatten. Mit einem dumpfen Laut fiel der schwere Kadaver zu Boden.

»Die Füchse werden ein Fest feiern«, murmelte Cædmon. Er schwang den Strick in der Linken und sah auf seinen Bruder hinab. »Statt dessen werde ich dich heimbringen.«

Er erinnerte sich später nur vage. Er wußte noch, daß er mehrere Anläufe gebraucht hatte, um den schweren, leblosen Körper seines Bruders auf den Rücken des Pferdes zu hieven. Er vergaß, daß er zwischendurch verzweifelte, daß er beinah der Versuchung erlegen wäre, Dunstan liegenzulassen und Hilfe zu holen. Aber das durfte er nicht. Es wurde dunkel und kalt. Der Wald wimmelte von hungrigen Räubern auf zwei und vier Beinen, selbst der Drache mochte zurückkommen. Cædmon wußte, wenn er Dunstan zurückließ und allein heimritt, würden sie seinen Bruder vermutlich nur noch tot wiederfinden.

Als er den großen Körper schließlich aufs Pferd gehoben hatte, hatte Cædmon das Gefühl, daß seine Kräfte aufgezehrt waren. Er weinte wieder. Er konnte nichts dagegen tun, der Schmerz in seinem Bein war übermächtig. Seine Finger erschienen ihm ungeschickt und klamm, als er Dunstans Hände und Füße zusammenband. Dann führte er das Pferd zu einem nahen Baumstumpf, kletterte ungeschickt hinauf und saß auf. Als er den linken Fuß in den Steigbügel stellte und mit seinem gesamten Gewicht belastete, wurde ihm schwarz vor Augen. Hastig schwang er das rechte Bein über den Sattel, nahm die Zügel auf und ritt an.

Inzwischen war es dunkel. Cædmon ließ die Zügel lang und hoffte darauf, daß das Pferd von allein nach Hause finden würde. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Er saß zusammengekrümmt im Sattel, eine Hand auf der Schulter seines Bruders, und es dauerte nicht lange, bis eisige Regentropfen ihn in den Nacken trafen wie Nadelstiche. Die Welt wurde finster.

»Je zwei Mann Richtung Fluß und nach Norden. Der Rest folgt mir. Aufsitzen!« Die tragende Stimme übertönte den prasselnden Regen ohne besondere Mühe. »Worauf wartet ihr, na los!«

»Da kommt jemand, Thane«, rief eine junge Stimme aus der Finsternis. Die Männer, die sich vor dem Pferdestall nahe der Halle versammelt hatten, nahmen die Füße aus den Steigbügeln und horchten hoffnungsvoll. Jetzt konnten sie alle den dumpfen Hufschlag im Morast hören. Eine schemenhafte Pferdegestalt hob sich plötzlich als schwarzer Schatten vor der nächtlichen Dunkelheit ab.

»Wo ist mein Vater?«

»Thane, es ist Cædmon!«

Ælfric, der Thane of Helmsby, ließ die Zügel seines kräftigen Wallachs los und trat auf den Reiter zu.

»Cædmon?«

Der Junge richtete sich im Sattel auf. »Wir hatten einen Rehbock erlegt. Aber dann … kam ein Drache und …«

»Cædmon, wo ist Dunstan?« Ælfric legte ihm die Hand auf das linke Bein, und Cædmon wurde ohnmächtig.

Er erwachte mit einem Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit, wie er es aus den Träumen kannte, in denen er fliegen konnte. Er kostete das Erlebnis aus, und erst als er auf weichem Grund landete, schlug er die Augen auf.

Sein Vater stand über ihn gebeugt. Er hatte ihn getragen, erkannte Cædmon, und sah sich verwirrt um: Er lag auf einem breiten Bett mit Vorhängen aus rauhem, bräunlichem Wollstoff – kein Zweifel, er lag im Bett seiner Eltern. Einen Moment fragte er sich verwirrt, was in aller Welt er hier verloren hatte, doch als er sich regte, spürte er das Bein wieder, und die Erinnerung kam zurück.

»Dunstan …«

»Es geht ihm gut«, sagte Ælfric beschwichtigend. »Er ist aufgewacht.« »Vater, es waren die Dänen. Ein Drache kam den Fluß hinauf, und sie haben auf uns geschossen.«

Ælfric betrachtete ihn skeptisch. »Das hat dein Bruder auch behauptet. Ich dachte, er phantasiert. Ein Drachenschiff, Cædmon? Die Dänen haben unsere Küsten schon seit langem verschont, Gott und seinen Heiligen sei Dank, aber wenn sie kommen, dann wenigstens mit zehn Schiffen. Oder mit Hunderten. Es muß König Knuts Geisterschiff gewesen sein, das ihr gesehen habt.«

Cædmon wies auf sein abgewinkeltes Bein. »Und nennst du das einen Geisterpfeil?«

Ælfric sah besorgt auf den blutgetränkten Schaft hinab. »Keineswegs. Deine Mutter wird sich darum kümmern. Ich denke, es ist das beste, ich mache mich mit den Männern auf den Weg, um euren Drachen zu erlegen. Wenn das Schiff die Vorhut einer Invasion ist, sollten wir das wissen. Wahrscheinlicher ist, daß es nur Piraten sind.«

»Auf jeden Fall schießen sie gut.«

Ælfric lächelte. »Dunstan sagt, du hattest einen Bock?«

Cædmon nickte. »Ich mußte ihn zurücklassen, um Dunstan nach Hause zu bringen. Dabei hatte er sich so auf den Rehbraten gefreut.«

Sein Vater legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Er war kein Mann, der dazu neigte, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Niemand hätte ahnen können, welche Ängste er ausgestanden hatte, nachdem Dunstans Pferd allein nach Hause gekommen war. Er suchte einen Moment nach Worten, um seinem Zweitältesten zu zeigen, wie dankbar er ihm war. »Du hast es trotzdem richtig gemacht. Wir werden sehen, ob wir deinen Bock auf dem Rückweg finden. Sonst schicke ich Wulfric und Cynewulf in den Wald. Auf keinen Fall können wir zulassen, daß du um deinen Braten betrogen wirst.«

Cædmon verzog einen Mundwinkel zu einem müden Lächeln, und Ælfric wandte sich ab und ging mit langen Schritten zur Tür. Der Junge schloß die Augen und bat Gott, er möge nochmals eine schützende Hand über seine Familie halten und seinen Vater unversehrt nach Hause kommen lassen.

All seine Vorfahren hatten gegen die Dänen gekämpft – die Dänen hatte Gott sich ausgesucht, um die Engländer zu prüfen. Vor langer Zeit hatte der große König Alfred mit den Dänen Frieden geschlossen und ihnen beinah die Hälfte von England überlassen. Die Nachfahren König Alfreds eroberten diese Hälfte Englands, die bis auf den heutigen Tag Danelaw genannt wurde, zurück. Über die Generationen waren die dänischen und englischen Nachbarn miteinander verschmolzen, ihre Sprachen wurden einander immer ähnlicher, so daß die Unterscheidung zwischen Dänen und Angelsachsen nach und nach in Vergessenheit geriet. Es hätte Frieden im Land herrschen können, wären nicht immer wieder neue Dänen gekommen, Wikinger, die nicht auf Land aus waren, das sie besiedeln konnten, sondern auf Beute. Auf Mord und Totschlag.

Doch in den letzten Jahren war es ruhig geworden um die Wikinger. Seit Ælfric seinem Vater als Thane of Helmsby gefolgt war, hatte es keine größeren Überfälle mehr gegeben, weder hier in East Anglia noch anderswo. Und das sei ein Glück, hatte Cædmon seinen Vater sagen hören, denn König Edward sei ein Heiliger, kein Krieger. Cædmon hoffte, das Drachenschiff, das den Ouse hinaufgesegelt war, kündigte nicht das Ende der ruhigen Jahre an. Er hatte keine Zweifel, daß sein Vater und die Housecarls, die in seinem Dienst standen, in der Lage waren, Haus und Hof zu verteidigen. Und auch er selbst und seine Brüder hatten gelernt, ein Schwert, eine Streitaxt und eine Pike zu führen. Von der Bandschleuder ganz zu schweigen. Trotzdem flößte die Vorstellung von einem neuen Däneneinfall ihm Angst ein. Genaugenommen, mußte er feststellen, erfüllte der Gedanke ihn mit Grauen. Die hölzerne Tür zu der kleinen Kammer hinter der Halle öffnete sich geräuschlos, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau trat ein. In einer Hand hielt sie eine Wasserschüssel. Sie stellte sie neben dem Bett ab und beugte sich über ihn.

»Comment vas tu, mon fils?«

Sie legte ihm die Hand auf die Stirn, und Cædmon lehnte den Kopf in die Kissen zurück. »Na ja. Wie soll es einem Mann gehen, der gerade mit der Erkenntnis ringt, daß er ein Feigling ist?«

Sie lachte ihr leises, warmes Lachen. »Ein Feigling? Du? Das wäre mir ganz neu. Nein, nein, Cædmon. Du hast ein Herz so groß wie Beowulfs.« Sie sah kurz auf den gefiederten Schaft in seinem Oberschenkel. »Und das wirst du auch brauchen.«

Cædmon schnitt eine Grimasse und wechselte das Thema. »Was macht Dunstan?«

»Oh, Dunstan ist schon wieder ganz der Alte. Er sitzt drüben in der Halle, einen beeindruckenden Verband um die Stirn und einen vollen Becher vor sich und erfreut die Dienerschaft mit der Geschichte, wie er dich vor den Dänen errettet hat.«

»Ganz falsch«, tönte Dunstans laute Stimme von der Tür. »Er hat sich besonnen und ist gekommen, um euch zu helfen.«

Cædmon hob abwehrend die Rechte. »Verschwinde …«

Ehe Dunstan widersprechen konnte, öffnete die Tür sich erneut, und die drei übrigen Geschwister schlüpften herein.

»Wir wollten nur kurz nach ihm sehen«, sagte der dreizehnjährige Guthric hastig, um den Vorhaltungen seiner Mutter zuvorzukommen. Zögernd, ein bißchen ängstlich traten sie auf das breite Bett zu. Als sie den Pfeil und den großen Blutfleck auf dem Bein ihres Bruders sahen, wandte der kleine Eadwig sich abrupt ab und vergrub das Gesicht in den Röcken seiner Schwester.

Hyld legte ihm die Hand auf den Kopf. »Wird es gehen?« fragte sie Cædmon besorgt.

Er rang sich ein Lächeln ab. »Noch besteht jedenfalls kein Grund, die Totenwache zu halten. Schert euch raus.«

Alle vier wandten sich ab, doch seine Mutter rief ihren Ältesten zurück. »Dunstan, dich werde ich brauchen.«

Dunstan blieb stehen, aber Cædmon schüttelte den Kopf. »Ich will Guthric.«

Niemand erhob Einwände. Dunstan führte seine Schwester und seinen jüngsten Bruder hinaus, zog die Tür hinter sich zu, und sie hörten ihn lachen, eine Spur nervös vielleicht.

Guthric war der einzige der fünf Geschwister, der seiner normannischen Mutter wirklich glich. Seine Haare waren glatt und so dunkelbraun, daß sie bei schwachem Licht schwarz wirkten, ebenso dunkel waren seine Augen. Wäre diese offenkundige Ähnlichkeit nicht gewesen, hätte es gewiß Spekulationen über Guthric gegeben. Auch so konnte man die Köchin gelegentlich raunen hören, Guthric sei ein Wechselbalg, ein Feenkind. Er war still, ein Träumer; stundenlang konnte er manchmal draußen im Hof sitzen und den Vögeln lauschen, so als verstünde er ihre Sprache. Vor einiger Zeit hatte Guthric den Wunsch geäußert, nach Ely ins Kloster zu gehen und lesen zu lernen. Sein Vater hatte ihn ausgelacht, und danach war die Angelegenheit nie wieder erwähnt worden.

Cædmon liebte seine Geschwister ausnahmslos, aber alle auf andere Weise. Er bewunderte Dunstans unbekümmerte Verwegenheit, so sehr, daß er ihm seine Derbheit meist verzeihen konnte. Er mochte Hylds Scharfsinn und ihre Großzügigkeit, und wie jeder in der Familie vergötterte er seinen kleinen Bruder Eadwig. Aber Guthric stand ihm näher als jeder andere Mensch auf der Welt. Guthric konnte er Dinge anvertrauen, die ihn beschämten, denn Guthric urteilte nie nach allgemeingültigen Grundsätzen. Er hatte ein ganz eigenes Bild von der Welt, ein Bild, das Cædmon nie so recht begreifen konnte, aber das spielte keine Rolle. Mit einem schwachen Lächeln stieg Guthric auf das hohe Bett, richtete Cædmon ein wenig auf und glitt hinter ihn. »Ich dachte, du wolltest zur Jagd. Mir war nicht klar, daß du dabei an die Rolle des Hirschs gedacht hast«, bemerkte er. Dann griff er unter Cædmons Achseln hindurch und umschloß seine Brust mit beiden Armen. »Fertig.«

Cædmon sank zurück in die knochige und doch so tröstliche brüderliche Umarmung, blickte starr in den durchhängenden Baldachin hinauf und konzentrierte sich darauf, die Zähne fest zusammenzubeißen.

So sah er nicht, daß seine Mutter die Hände hob und die Linke um den kurzen Schaft legte. Dieses Mal zuckte der tückische Schmerz bis in die Schulter, und Cædmon schrie auf.

Marie de Falaise war in kriegerischen Zeiten in der Normandie aufgewachsen und hatte schon als junges Mädchen die Kunst ihres Vaters, der Wundarzt gewesen war, erlernt. Was in der Normandie als ausgesprochen unweiblich galt, hatte hier in England keine besondere Aufmerksamkeit erregt, als Ælfric of Helmsby schließlich mit König Edward aus dem normannischen Exil heimgekehrt war und seine Frau mitgebracht hatte. Ihre Heilkünste hatten dem einen oder anderen in Helmsby das Leben gerettet – Marie hatte sogar einmal einem altgedienten Housecarl nach einem bösen Sturz beim Pferderennen den zertrümmerten Arm abgenommen. Aber bei ihrem eigenen Sohn wurde sie plötzlich zimperlich.

Als Cædmon sah, daß sie den Mut verloren hatte, kehrte seine eigene Entschlossenheit zurück. Er atmete tief durch. »Tu es. Und gebt mir irgendwas, worauf ich beißen kann, sonst stürzt die Halle ein.«

Guthric lachte leise, zog sein Messer aus der Hülle am Gürtel und steckte Cædmon den hölzernen Schaft zwischen die Zähne. Dann verschränkte er die Hände wieder vor dessen Brustkorb.

Marie legte beide Hände übereinander an den Pfeil und zog. Sie drehte nicht, um die Wunde nicht zu vergrößern, ruckte beinah sanft, und der Pfeil gab ein wenig nach. Dann griffen seine Widerhaken erneut in das Muskelfleisch.

Der Pfeil muß raus, betete Cædmon sich vor. Er klammerte sich an den Satz, hob ihn wie einen Schild vor sein Bewußtsein. Der Pfeil muß raus, es wird nicht lange dauern, gleich ist es vorbei … Gott, mach, daß es bald vorbei ist …

Seine Zähne gruben sich in das Holz des Messergriffs, er krallte die Hände in Guthrics Unterarm, und sein Blick wurde unscharf. Er hörte seine eigenen Schreie nur wie aus weiter Ferne, aber er wurde nicht bewußtlos. Seine Schultern spannten sich, und Guthric preßte sich dagegen und hielt ihn und versuchte stumm, seine eigene Kraft in den Bruder überfließen zu lassen.

Dann zog Marie mit einem letzten Ruck die Pfeilspitze aus der Wunde, und es war vorbei.

»Gut gemacht, Cædmon. Jetzt gib mir das Messer.« Marie faßte die scharfe Klinge vorsichtig mit zwei Fingern, legte die andere Hand unter sein Kinn und half ihm, den Mund zu öffnen. »Hier, trink das.«

Er spürte einen Becher an den Lippen und schluckte. Es war starker Wein. Den Geschmack war er nicht gewöhnt, und er öffnete verblüfft die Augen. Als sie den Becher absetzte, keuchte er.

Marie gab den restlichen Wein auf ein reines Tuch und drückte es behutsam auf die Wunde. Der Alkohol brannte, aber das war nichts im Vergleich zu dem höllischen Schmerz, den er hinter sich hatte. Er fand das Brennen fast leicht zu ertragen. Sein Körper entspannte sich. Während seine Mutter ihm einen Verband anlegte, ließ er sich zurücksinken und löste seinen Klammergriff um Guthrics Unterarm. Seine Nägel hatten blutige Halbmonde hinterlassen.

»Entschuldige, Bruder …«

Guthric lächelte und stand vom Bett auf. »Komm. Laß uns nachsehen, was die anderen uns vom Essen übriggelassen haben.«

Aber Marie schüttelte den Kopf. »Cædmon bleibt hier und rührt sich bis morgen früh nicht vom Fleck. Das Bein muß ruhig liegen, hörst du?«

Cædmon sah verwundert auf. »Und willst du mit Vater statt dessen in der Halle schlafen?« erkundigte er sich. Dieses war das einzige Privatgemach. Nur der Thane und die Dame der Halle genossen das Privileg, sich zurückziehen zu können. Ihre Kinder schliefen, sobald sie dem Kleinkindalter entwachsen waren, mit den Housecarls und deren Familien, den Mägden und dem übrigen Gesinde im Stroh auf dem Fußboden der großen Halle.

Marie bedachte Cædmon ob seiner respektlosen Bemerkung mit einem mißfälligen Stirnrunzeln. »Ich denke nicht, daß dein Vater vor morgen früh heimkommt. Und selbst wenn. Für eine Nacht ist hier Platz genug für drei.«

»Dann lasse ich euch etwas zu essen bringen«, erbot sich Guthric.

Cædmon hätte keinen Bissen hinunterbringen können. Aber alle weiteren Debatten blieben ihm erspart, denn er war fest eingeschlafen, als die Magd mit Bier und Eintopf kam.

Leise Stimmen weckten ihn. Es war finster.

»… haben Metcombe niedergebrannt und große Verwüstung angerichtet«, hörte er seinen Vater wispern. »Vier Männer sind tot, sieben verletzt, Gott allein weiß, wie viele Frauen geschändet. Das Dorf liegt in Schutt und Asche. Es ist furchtbar.«

»Aber wieviel furchtbarer wäre es geworden, wenn Dunstan und Cædmon sie nicht entdeckt hätten und ihr nicht hingeritten wäret«, erwiderte Marie ebenso leise.

»Das ist wahr.«

»Und du bist sicher, es waren Piraten?«

»Ja. Wir haben einen der Anführer lebend erwischt, und er hat beim Blute Christi geschworen, daß sie auf eigene Faust handelten und ihr König Sven nichts damit zu tun hat.«

Marie schnaubte leise. »Ein fragwürdiger Schwur. Diese gottverfluchten Wikinger sind doch in Wahrheit allesamt Heiden.«

Ælfric lachte leise. »Und das sagst ausgerechnet du? Es ist nicht viel länger als hundert Jahre her, daß ihr Normannen heidnische Wikinger wart.« Er wurde wieder ernst. »Er hat die Wahrheit gesagt, ich bin sicher.«

»Dann sei Gott gepriesen. Sind sie geflohen?«

»Nein. Ich habe fünf Gefangene. Gesunde, kräftige Kerle, wir können sie gut gebrauchen. Sobald sie handzahm sind, schicke ich sie nach Metcombe. Dann können sie wenigstens einen Teil des Schadens wiedergutmachen, den sie angerichtet haben. Die anderen sind tot. Das Schiff haben die Leute von Metcombe in Brand gesteckt.«

»Und unsere Männer?«

»Alle unversehrt, bis auf ein paar Kratzer. Wir hatten leichtes Spiel, die Dänen waren vollkommen überrascht, so schnell auf Widerstand zu stoßen. Und jetzt sag mir, wie steht es mit Cædmon?«

Plötzlich ging dem Jungen auf, daß er lauschte, und er schämte sich, aber jetzt war es zu spät, um sich bemerkbar zu machen. Er wünschte, er wäre nicht aufgewacht, auch wenn es ihn beruhigt hatte, der Stimme des Vaters zu lauschen.

Durch die geschlossenen Bettvorhänge hörte er seine Mutter antworten: »Das wissen wir morgen oder übermorgen. Wenn er Fieber bekommt …« Sie beendete den Satz nicht.

»Aber der Pfeil ist heraus?«

»Ja.«

Cædmon fand, man konnte ihrer Stimme mühelos anhören, daß sie nicht mehr darüber sagen wollte, aber sein Vater schien nicht den gleichen Respekt vor diesen Warnsignalen zu haben wie er selbst.

»Sag es mir.«

»Der Pfeil saß direkt auf dem Knochen. Ich habe versucht, es nicht schlimmer zu machen und ihn auf dem gleichen Weg herauszuziehen, auf dem er eingedrungen ist. Gott helfe mir, ich habe getan, was ich konnte, Ælfric. Aber welchen Schaden er angerichtet haben mag …« »Wird er ein Krüppel sein, Marie?«

Zu Cædmons größter Bestürzung begann seine Mutter zu weinen.

Die Wunde oberhalb des Knies entzündete sich nicht, sondern begann schnell zu heilen. Cædmon bekam kein Fieber und befand nach einem Tag, daß er das Bett jetzt lange genug gehütet hatte. Seine Mutter machte aus ihrer Erleichterung keinen Hehl. Sie gestattete ihm aufzustehen, allerdings mit der Ermahnung, es sie sofort wissen zu lassen, falls der Wundschmerz sich verschlimmerte. Der Schmerz nahm jedoch mit jedem Tag ab, nur fühlte das Bein sich zunehmend taub an. Selbst nach zwei Wochen konnte Cædmon nur mit Hilfe eines Krückstocks laufen und zog den linken Fuß nach. Nach drei Wochen stellte er immer noch keine Besserung fest, und das gab ihm zu denken. Er fragte seine Mutter, was sie von der Sache hielt, und sie riet ihm, sich in Geduld zu fassen.

»Herrgott noch mal, Cædmon, du kommst einhergehinkt wie ein Tattergreis.« Dunstan lehnte neben dem Tor zum Pferdestall und sah dem Bruder ungehalten entgegen. »Ich meine, du solltest dich langsam mal ein bißchen zusammenreißen.«

Cædmon hielt entrüstet vor ihm an. »Und was willst du damit sagen?« »Daß du dich gehen läßt und ein Riesengetue um die Geschichte machst, damit alle dich bedauern und du dich vor der Arbeit drücken kannst.«

Cædmon verzog sarkastisch den Mund. »Zu schade, daß der Pfeil nicht dich getroffen hat, Dunstan. Ich bin sicher, du würdest viel besser damit fertig und könntest wieder einmal unter Beweis stellen, was für ein Kerl du bist.«

Dunstan machte mit erhobener Faust einen drohenden Schritt auf ihn zu. »Du …«

Ihr Vater war unbemerkt hinzugetreten und riß seinen Ältesten am Ellbogen zurück. »Schluß damit! Was fällt dir ein?«

»Entschuldige«, brummte Dunstan unwirsch.

Ælfric bedachte ihn mit einem Kopfschütteln. »Wo sind die Pferde? Wozu, glaubst du, hab ich dich vorausgeschickt? Um jetzt hier in der Kälte zu stehen und zu warten?«

Dunstan wollte sich rechtfertigen, er war sehr erfindungsreich im Ersinnen von Ausreden, aber Ælfric winkte ab.

»Ich weiß genau, wo du dich rumgetrieben hast.« Mit einem ungehaltenen Seufzer trat er in den Stall, zog gewohnheitsgemäß den Kopf ein, um durch die niedrige Tür des verwitterten Holzgebäudes zu passen, und fand im dämmrigen Innern einen vielleicht achtjährigen Jungen, der auf Zehenspitzen neben dem großen Wallach stand und versuchte, diesem den Sattel aufzulegen.

»Guten Morgen, Ine. Wo ist dein Vater?« Ælfric nahm dem kleinen Kerl den schweren hölzernen Sattel aus den Händen und legte ihn seinem Pferd auf den Rücken.

Ine lächelte scheu. »Krank, Thane.« Dankbar ließ er sich auch die Trense abnehmen und machte sich statt dessen daran, den Sattelgurt festzuschnallen, eine Aufgabe, die seiner Körpergröße eher entsprach. »Dunstan, Cædmon«, rief der Thane über die Schulter. »Kommt rein und sattelt selbst, wenn das nicht zuviel verlangt ist!« Dann wandte er sich wieder an den kleinen Jungen. »Was fehlt ihm denn?«

Ine senkte den Blick und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Er hat Fieber. Er brennt, sagt Mutter.«

Ælfric klopfte seinem Pferd den Hals und wandte sich zu der steilen, wackeligen Stiege, die zum Heuboden hinaufführte, wo der Stallknecht mit Frau und Kindern lebte. Oben angekommen, mußte er nicht nur den Kopf einziehen, sondern sich vornüberbeugen, um stehen zu können, selbst unmittelbar unter dem First.

Der Dachboden über dem Stall bildete eine kleine Kammer, die fast zur Hälfte mit Heu und Hafersäcken gefüllt war. Der verbleibende Raum dahinter war nicht viel größer als eine Pferdebox. Auch ohne Feuer wurde es hier oben nie wirklich eisig, weil die Körperwärme der Pferde aufstieg und die Kammer einigermaßen warmhielt, aber der scharfe Märzwind pfiff durch die Ritzen zwischen den Holzlatten der Wände, und es war sehr feucht.

Der winzige Raum war unmöbliert bis auf ein paar Strohlager am Boden. Der Stallknecht und seine Familie nahmen ihre Mahlzeiten genau wie alle anderen Angehörigen des Guts in der Halle ein und schliefen nur deswegen auf dem Heuboden, weil es Ælfric lieber war, wenn auch nachts jemand bei den Pferden blieb. Für gewöhnlich hielt sich tagsüber niemand hier oben auf, Ine und sein Vater kümmerten sich um die Reittiere, während seine Mutter und die beiden Schwestern mit anderen zusammen die Kühe versorgten, molken und Butter und Käse herstellten. Die beiden Mädchen waren auch heute zur Arbeit gegangen, doch als Ælfric nähertrat, entdeckte er eine rundliche Frau, die sich über eine reglose Gestalt auf einer der Strohmatratzen beugte.

»Mildred«, sagte er leise.

Die Frau fuhr erschrocken zusammen und kam eilig auf die Füße. »Thane …«

»Was ist mit ihm?«

Sie schüttelte den Kopf und fuhr sich mit dem Ärmel über ihr reizloses, gerötetes Gesicht. »Ich weiß nicht … Ich glaube, er stirbt.« Ihre Stimme drohte zu kippen.

Ælfric sah auf den Kranken hinab, der bedenklich reglos auf seinem Strohbett lag. Im Dämmerlicht konnte man das Gesicht nicht deutlich erkennen, aber es schien ihm wächsern und tatsächlich todesbleich. »Warum habt ihr nicht nach meiner Frau geschickt?« fragte er, gedämpft, aber ärgerlich.

Mildred schüttelte stumm den Kopf und preßte eine Hand auf den Mund, um ihr Schluchzen zu unterdrücken.

»Aber das haben wir doch«, protestierte Ine.

»Still, Junge«, fuhr seine Mutter ihn an.

Ælfric wandte sich zu dem kleinen Kerl um. »Was soll das heißen, ihr habt nach ihr geschickt?«

Ine überlegte einen Augenblick, was das kleinere Übel war, seiner Mutter oder dem Thane nicht zu gehorchen. Noch ehe er eine Entscheidung getroffen hatte, regte sein Vater sich plötzlich, stöhnte heiser und krümmte sich zusammen wie im Krampf. Mildred hockte sich neben ihn, nahm einen Lappen aus einem Ledereimer und versuchte, ihm die Stirn abzutupfen.

»Ich warte, Junge«, sagte Ælfric.

Ine biß sich auf die Unterlippe und hob dann den Kopf. »Mutter hat mich gestern abend zur Halle rübergeschickt, ich solle die Lady Marie holen. Und ich hab’s ausgerichtet.«

»Wem?«

Ine verließ der Mut. »Ich … ich weiß nicht mehr, Thane.« Er sah mit großen Augen auf seinen Vater hinab, der sich stöhnend im Fieberkrampf wälzte, und Tränen begannen seine schmutzigen Wangen hinabzurinnen.

Ælfric vergeudete keine Zeit mehr. Er hastete die Stiege hinab und ins Freie. Vor dem Tor warteten seine Söhne mit den Pferden. »Dunstan, hol deine Mutter. Schnell. Und dann finde heraus, wem Ine gestern abend gesagt hat, sein Vater sei krank.«

Dunstan drückte Cædmon die Zügel in die Hand, wandte sich ab und rannte über den Hof zur Halle hinüber.

»Was ist mit Edgar?« fragte Cædmon.

Ælfric seufzte leise. »Ich glaube nicht, daß deine Mutter ihm noch helfen kann. Wo ist Guthric?«

»Ich weiß nicht, Vater«, log Cædmon.

Guthric hatte ihm während des Frühstücks eröffnet, daß er nicht die Absicht habe, mit nach Metcombe zu reiten, und war kurz darauf mit dem kleinen Eadwig an der Hand ins Dorf aufgebrochen, wo er, so vermutete Cædmon, Vater Cuthbert heimsuchen und so lange beschwatzen würde, bis der Dorfpriester sich bereitfand, ihm ein paar neue Buchstaben beizubringen. Helmsby war eine ärmliche Gemeinde mit einer zugigen, schäbigen kleinen Holzkirche, und der Priester und seine Frau lebten in einer ebenso zugigen, schäbigen kleinen Kate. Vater Cuthbert bewirtschaftete kein Land, er und seine Familie lebten von den kärglichen Erträgen ihres Gemüsegartens und dem, was die Gemeindemitglieder an Kirchenabgabe erübrigen konnten. Aber der Priester besaß einen Schatz von großer Seltenheit: ein dickes, in Leder gebundenes Buch voll brüchiger Pergamentseiten, die Auszüge aus der Bibel und einige Heiligengeschichten enthielten. Sein Latein war so schlecht, daß er kaum in dem kostbaren Buch lesen konnte, aber er kannte die Buchstaben und hatte auf Guthrics hartnäckiges Drängen hin begonnen, ihn zu unterrichten.

»Ich kann mir schon vorstellen, wo er steckt«, knurrte Ælfric.

Cædmon fuhr seinem struppigen Kaltblüter über die lange Stirnlocke und sah mit vorgetäuschtem Interesse zum Himmel auf. »Wird Regen geben.«

»Um so besser. Die Erde ist zu hart zum Pflügen.«

»Ja.«

Ælfric betrachtete Cædmon einen Augenblick, der unbewußt sein ganzes Gewicht auf den Stock gestützt hatte. »Wirst du es schaffen bis Metcombe?«

Cædmon sah verlegen zu Boden. »Natürlich.«

»Das Bein immer noch taub?«

Der Junge nickte.

Ælfric zeigte sein seltenes Lächeln. »Das vergeht schon wieder.«

»Ja. Bestimmt.«

»Verdammt, wo bleibt deine Mutter …«

Wie aufs Stichwort erschien Marie an der Tür zur Halle, hastete die Stufen hinab und überquerte den Hof. Dunstan folgte ihr. Ohne anzuhalten trat sie durch das Stalltor, und gleich darauf hörten sie die Stiege knarren. Ælfric nickte seinen Söhnen zu. »Also. Höchste Zeit, daß wir uns auf den Weg machen.«

Cædmon klemmte sich seinen Stock unter den Arm und packte den Sattel mit beiden Händen. Er konnte nicht aufsitzen, indem er den linken Fuß in den Steigbügel stellte, weil der Fuß sofort wegknickte, wenn er ihn mit seinem Körpergewicht belastete. Also sprang er mit dem gesunden Fuß ab, stemmte sich hoch und schwang sich in den Sattel.

Ælfric war ebenfalls aufgesessen, aber Dunstan stand noch mit dem Zügel in der Hand, er hielt den Kopf untypisch gesenkt und räusperte sich nervös. »Vater …«

Ælfric sah ihn wortlos an.

»Ine ist zu mir gekommen gestern abend«, gestand Dunstan. »Ich wollte es Mutter auch sofort sagen, aber …« Er brach kopfschüttelnd ab. »Du hast es einfach vergessen«, beendete sein Vater den Satz für ihn. Dunstan nickte.

Ælfric sah zum Himmel auf, als wolle er Gott fragen, was er denn verbrochen habe, um mit so einem Nichtsnutz von Sohn geschlagen zu sein. »Herrgott, Dunstan …«

»Ich weiß.« Dunstan hob den Blick und sah den Vater offen an. »Wenn er stirbt, ist es vielleicht meine Schuld, und gute Sklaven sind teuer.« »Und darüber hinaus schwer zu finden. Vielleicht sollten wir dich ein paar Monate seine Arbeit tun lassen, damit du endlich lernst, Verantwortung zu tragen.«

Dunstan starrte den Vater entsetzt an. »Aber …«

Ælfric schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Warten wir ab, wie die Sache ausgeht und was deine Mutter sagt. Für heute kannst du deine Bußfertigkeit unter Beweis stellen, indem du hierbleibst und mit Wulfric zusammen das Pflügen überwachst.«

Dunstan war alles andere als begeistert, aber er hütete sich, seinen Unwillen zu zeigen. Er fand, er war ausgesprochen gut davongekommen. Vorerst. Er wäre tausendmal lieber mit seinem Vater und Cædmon in das von den dänischen Piraten verwüstete Dorf geritten, als die langweilige Feldarbeit der Sklaven und dienstpflichtigen Bauern zu überwachen, aber er wußte selbst, daß er zu wenig Interesse an der Landwirtschaft zeigte.

»Natürlich, Vater.«

Ælfric nickte Cædmon zu, und nebeneinander ritten sie durch den Torbogen der hohen Hecke, die die Halle umgab, und auf die Felder hinaus.

»Was werden wir in Metcombe vorfinden, Vater?« fragte Cædmon, als sie nach einer guten Stunde aus dem Schatten des kleinen Waldes kamen und wieder zwischen frisch gepflügten Feldern einherritten. Ælfric antwortete nicht gleich. Er sah zu dem Gespann aus acht dunkelbraunen Ochsen hinüber, das einen langen, schmalen Feldstreifen entlangtrottete. Ein junger Bauer führte den Pflug, den sie zogen; seine hochschwangere Frau, die kaum älter als Hyld schien, hatte die Hand auf das Joch gelegt und lenkte die Tiere. Es waren unfreie Pächter, die einen ihrer drei Feldstreifen bestellten, und Cædmon wußte, daß höchstens einer der acht Ochsen dem jungen Paar gehörte. Die ärmeren Bauern liehen sich gegenseitig ihre Ochsen aus, so daß ein jeder das notwendige Achtergespann hatte, um seine Felder zu pflügen.

Cædmon glaubte schon, sein Vater habe ihn nicht gehört. Aber schließlich riß Ælfric sich von ihrem Anblick los und sagte: »Ich habe keine Worte dafür. Vermutlich wirst du niemals vergessen, was du heute in Metcombe siehst.«

Der Junge schwieg beklommen. Bald tauchten sie wieder in ein Waldstück ein, und nach einer Weile nahm Cædmon einen schwachen, aber durchdringenden Geruch wahr, ein eigentümliches Gemisch aus brennendem Holz, Nässe und Fäulnis.