Über dieses Buch

Cover

Das Mädchen Imani muss einen portugiesischen Offizier unterstützen, der den Vormarsch des großen Herrschers Ngungunyane in Mosambik gegen die Kolonialherren aufhalten soll. Ihr Dorf wird vom Krieg der Männer heimgesucht, zu einer Zeit, in der das Wort einer Frau nicht zählt. Doch die Frauen nutzen eigene Mächte, um die Pfade der Männer zu lenken.

Mia Couto

Mia Couto (*1955) gehört zu den herausragenden Schriftstellern des portugiesischsprachigen Afrika. Mehrere Jahre war er als Journalist und Chefredakteur tätig. Für sein Werk wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2013 mit dem Prémio Camões und mit dem renommierten Neustadt-Literaturpreis 2014.

Karin von Schweder-Schreiner

Karin von Schweder-Schreiner (*1943) hat in Deutschland und Portugal studiert und mehrere Jahre in Brasilien gelebt. Zu den von ihr übersetzten Autoren aus dem portugiesischen Sprachraum zählen Jorge Amado, Antonio Callado, Bernardo Carvalho, Mia Couto, Rubem Fonseca, Lídia Jorge und Moacyr Scliar.

Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

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Mia Couto

Imani

Roman

Aus dem Portugiesischen von Karin von Schweder-Schreiner

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Dieses E-Book enthält als Bonusmaterial im Anhang 1 Dokument

Die Originalausgabe erschien 2015 bei Editorial Caminho, Alfragide.

Deutsche Erstausgabe

Erster Band der Trilogie As Areias do Imperador.

Die Übersetzung aus dem Portugiesischen wurde vom SüdkulturFonds in Zusammenarbeit mit LITPROM e.V. unterstützt.

Der Auszug aus dem Gedicht Der Neger spricht von Strömen von Langston Hughes wurde von Eva Hesse aus dem Englischen übersetzt.

Originaltitel: Mulheres de Cinza

© by Mia Couto 2015

Diese Ausgabe erscheint in Vereinbarung mit Literarische Agentur Mertin Inh. Nicole Witt e. K., Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Peter Löffelholz

ISBN 978-3-293-30957-9

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Version vom 01.08.2020, 23:51h

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In einer Zeit, in der Ängste geschürt und Mauern
und Grenzen errichtet wurden, waren das Leben und das Werk von Henning Mankell eine Reise durch die Vielfalt der Menschen und Kulturen. Er sagte gern, er stehe mit einem Bein am Strand und mit dem anderen im Schnee.
In Wirklichkeit schuf er eine Brücke zwischen verschiedenen Welten. Dieses Buch ist diesem Mann gewidmet, der in bewundernswerter Weise Träume umsetzen konnte.

MIA COUTO

»Doch scheint es, dass Gott wegen unserer Sünden oder aus einem unerforschlichen Ratschluss in sämtliche Einfahrten zu diesem großen Äthiopien, in die wir segeln könnten, einen Engel mit dem flammenden Schwert todbringenden Fiebers gesetzt hat, der uns daran hindert, in die Gefilde seiner Gärten vorzudringen, aus denen die Flüsse von Gold entspringen und zum Meer hin fließen …«

JOÃO DE BARROS

Die Landstraße ist ein Schwert. Wie eine Klinge zerschneidet sie den Leib der Erde. Bald schon wird unsere Nation ein einziges Geflecht von Narben sein, eine Landkarte von so vielen Schnitten, dass wir auf die Wunden stolzer sein werden als auf den Leib, den wir unversehrt noch werden retten können.

Vorbemerkung

Dies ist der erste Band einer Trilogie über die letzten Tage des sogenannten Gaza-Reiches, des zweitgrößten afrikanischen Staates unter der Führung eines Afrikaners. Ngungunyane (oder Gungunhane, wie die Portugiesen ihn nannten) war der letzte Regent, der über die gesamte Südhälfte des Territoriums von Mosambik herrschte. 1895 von den portugiesischen Streitkräften unter Mouzinho de Albuquerque besiegt, wurde Ngungunyane auf die Azoren deportiert, wo er 1906 starb. Seine sterblichen Überreste wurden angeblich 1985 nach Mosambik überführt. Anderen Versionen zufolge waren es jedoch nicht die Gebeine des Herrschers, die in der Urne zurückkehrten. Sondern Sandklumpen. Übrig geblieben von dem großen Gegner Portugals ist Sand von portugiesischem Boden.

Dieses Werk ist eine durch reale Personen und Fakten inspirierte belletristische Nachschöpfung. Als Informationsquelle dienten eine umfangreiche, in Mosambik und Portugal erstellte Dokumentation und – wichtiger noch – zahlreiche in Maputo und Inhambane geführte Interviews. Von allen Gesprächspartnern verdient besondere Erwähnung Afonso Silva Dambila, dem ich zutiefst dankbar bin.

Ausgegrabene Gestirne

Sagt die Mutter: Das Leben gestaltet sich wie ein Seil. Man muss so lange flechten, bis man die Fäden nicht mehr von den Fingern unterscheidet.

Jeden Morgen gingen über der Ebene von Inharrime sieben Sonnen auf. Damals war das Firmament wesentlich größer, alle Gestirne hatten darin Platz, die lebenden und die schon gestorbenen. So nackt, wie sie geschlafen hatte, ging unsere Mutter mit einem Korbsieb in der Hand aus dem Haus. Sie wollte für den Tag die schönste Sonne aussuchen. Die anderen sechs Sonnen sammelte sie in dem Sieb, nahm sie mit ins Dorf und begrub sie beim Termitenhügel hinter unserem Haus. Das war unser Friedhof für himmlische Geschöpfe. Eines Tages würden wir, falls wir sie brauchten, Sterne ausgraben können. Dank diesem Schatz waren wir nicht arm. Das sagte unsere Mutter, Chikazi Makwakwa. Oder einfach mame, in unserer Muttersprache.

Wer uns besuchte, konnte einen weiteren Grund dafür erfahren, dass wir dies glaubten. Denn beim Termitenhügel wurde auch die Plazenta der Neugeborenen vergraben. Über dem Termitenhügel war ein Mahagonibaum gewachsen. An seinem Stamm banden wir weiße Tücher fest. Dort sprachen wir zu unseren Toten.

Der Termitenhügel war jedoch keineswegs ein Friedhof. Er war der Hüter des Regens, in ihm lebte unsere Ewigkeit.

Einmal, nachdem der Morgen bereits gesiebt war, trat ein Stiefel auf die Sonne, genau jene Sonne, die unsere Mutter ausgesucht hatte. Es war ein Soldatenstiefel, wie die Portugiesen sie trugen. Doch dieser Stiefel saß am Fuß eines Nguni-Soldaten. Der Soldat kam auf Befehl des Herrschers Ngungunyane.

Die Herrscher haben Hunger auf Land, und ihre Soldaten sind Mäuler, die das Land verschlingen. Dieser Stiefel zertrat die Sonne in tausend Scherben. Und der helle Tag wurde dunkel. Alle anderen Tage auch. Die sieben Sonnen starben unter den Soldatenstiefeln. Unser Land wurde aufgefressen. Ohne Sterne als Nahrung für unsere Träume lernten wir, arm zu sein. Und wir gingen der Ewigkeit verloren. Wissend, dass Ewigkeit nur ein anderes Wort für das Leben ist.

Ich heiße Imani. Dieser Name, den sie mir gegeben haben, ist kein Name. In meiner Muttersprache bedeutet Imani so viel wie Wer ist da?. Man klopft an eine Tür, und von drinnen fragt jemand: »Imani?«

Ja, diese Frage habe ich als Namen bekommen. Als wäre ich ein Geist ohne Körper, das ewige Warten auf eine Antwort.

In Nkokolani, unserem Dorf, heißt es, der Name eines Neugeborenen kommt von einem Flüstern, das man vor seiner Geburt hört. Im Mutterleib entsteht nicht nur ein neuer Körper. Es formt sich auch die Seele, der moya. Noch im Halbdunkel des Bauches entwickelt sich dieser moya aus den Stimmen der schon Verstorbenen. Einer der Vorfahren bittet das neue Lebewesen, seinen Namen anzunehmen. In meinem Fall wurde mir Layeluane, der Name von meiner Großmutter väterlicherseits, eingeflüstert.

Wie es die Tradition verlangt, befragte unser Vater einen Zauberkundigen. Er wollte wissen, ob wir den Willen des Geistes richtig verstanden hatten. Es geschah, was er nicht erwartet hatte: Der Seher bestätigte die Rechtmäßigkeit der Namensgebung nicht. Es musste ein zweiter Wahrsager befragt werden. Dieser versicherte ihm freundlich und gegen Zahlung eines Pfunds Sterling, dass alles seine Ordnung habe. Dennoch, da ich in den ersten Monaten meines Lebens ohne Unterlass weinte, kam die Familie zu dem Schluss, dass man mir den falschen Namen gegeben hatte. Man befragte Tante Rosi, die Seherin der Familie. Nachdem sie die Wahrsagerknochen geworfen hatte, verkündete unsere Tante: »Nicht ihr Name ist falsch, ihr Leben muss auf den richtigen Weg gebracht werden.«

Vater hielt sich aus meiner Erziehung heraus. Meine Mutter sollte sich um mich kümmern. Was sie dann auch tat, als sie mich »Cinza« nannte, »Asche«. Warum sie mir diesen Namen gab, verstand niemand, aber es blieb auch nicht lange dabei. Nachdem meine Schwestern in den großen Überschwemmungen umgekommen waren, wurde ich »die Lebende« genannt. So sprachen sie von mir, als wäre die Tatsache, dass ich überlebt hatte, das einzig Besondere an mir. Unsere Eltern schickten meine Brüder immer auf die Suche nach »der Lebenden«. Es war kein Name. Es war ihre Art, nicht zu sagen, dass die anderen Töchter tot waren.

Der Rest der Geschichte ist noch eigenartiger. Irgendwann überdachte mein Vater die ganze Sache und sprach ein Machtwort. Ich sollte einen Namen bekommen, der überhaupt kein Name ist: Imani. Endlich herrschte wieder Ordnung in der Welt. Einen Namen verleihen heißt Macht ausüben, es ist die erste und endgültige Inbesitzname eines fremden Territoriums. Mein Vater, der so sehr gegen die Herrschaft der anderen protestierte, benahm sich erneut wie ein kleiner Herrscher.

Ich weiß nicht, warum ich mich so lange mit diesen Erklärungen aufhalte. Denn ich bin nicht dafür geboren, eine Person zu sein. Ich bin eine Rasse, ein Volk, ein Geschlecht, ich bin alles, was mich daran hindert, ich selbst zu sein. Ich bin schwarz, ich bin von den VaChopi, einem kleinen Volk an der Küste von Mosambik. Meine Leute haben es gewagt, sich den eindringenden VaNguni zu widersetzen, diesen Kriegern, die aus dem Süden gekommen sind und sich breitgemacht haben, als wären sie die Herren des Universums. In Nkokolani sagt man, die Welt ist so groß, dass darin für einen einzigen Herrn kein Platz ist.

Um unsere Heimat aber stritten sich zwei angebliche Besitzer: die VaNguni und die Portugiesen. Sie hassten sich so sehr und führten Krieg gegeneinander, weil sie sich in ihren Absichten so sehr ähnelten. Das Heer der VaNguni war wesentlich größer und mächtiger. Viel stärker waren auch seine Geister, die auf beiden Seiten der Grenze herrschten, die unser Land in der Mitte zerschnitt. Auf der einen Seite das Gaza-Reich unter dem Führer der VaNguni, dem Herrscher Ngungunyane. Auf der anderen Seite die Ländereien der Krone, wo ein Monarch regierte, den kein Afrikaner jemals zu Gesicht bekommen sollte: Dom Carlos I., König von Portugal.

Die anderen Völker, unsere Nachbarn, hatten die Sprache und Sitten der schwarzen Invasoren aus dem Süden übernommen. Wir, die VaChopi, zählen zu den wenigen, die auf dem Gebiet der Krone leben und sich mit den Portugiesen gegen das Gaza-Reich verbündeten. Wir sind wenige, geschützt durch den Wall unseres Stolzes und die kokholos, die Palisaden, die wir um unsere Dörfer bauen. Durch diesen Schutz war unser Dorf so klein geworden, dass sogar die Steine einen Namen trugen. In Nkokolani tranken wir alle aus demselben Brunnen, ein einziger Tropfen Gift hätte genügt, um das ganze Dorf zu töten.

Unzählige Male wurden wir von den Schreien unserer Mutter geweckt. Schreiend wankte sie wie eine Schlafwandlerin durch das Haus. In ihren nächtlichen Wahnvorstellungen führte sie die Familie auf einer endlosen Reise, überwand Sümpfe, Wasserläufe und Schimären. Und kehrte in unser früheres Dorf am Meer zurück, wo wir zur Welt gekommen waren.

In Nkokolani gibt es ein Sprichwort: Willst du einen Ort kennenlernen, sprich mit den Abwesenden; willst du einen Menschen kennenlernen, frag ihn nach seinen Träumen. Der einzige Traum unserer Mutter war, dorthin zurückzukehren, wo wir glücklich gewesen waren und in Frieden gelebt hatten. Ihre Sehnsucht kannte keine Grenzen. Gibt es überhaupt eine Sehnsucht, die nicht grenzenlos ist?

Meine Wahnvorstellung ist ganz anders. Ich schreie nicht und schlafwandle auch nicht durch das Haus. Aber es vergeht keine Nacht, in der ich nicht träume, Mutter zu werden. Heute habe ich wieder geträumt, ich sei schwanger. Die Wölbung meines Bauches wetteiferte mit der Rundung des Mondes. Doch was dieses Mal geschah, war die Umkehrung einer Entbindung: Mein Kind trieb mich aus. Vielleicht ist es dies, was die Kinder bei der Geburt tun – sie befreien sich von der Mutter, trennen sich ab von dem unterschiedslosen, einheitlichen Körper. Denn mein geträumtes Kind, dieses gesichts- und namenlose Geschöpf, befreite sich in heftigen und schmerzhaften Krämpfen von mir. Ich wachte schweißgebadet und mit furchtbaren Schmerzen in den Beinen und im Rücken auf.

Dann begriff ich. Es war kein Traum. Es war ein Besuch meiner Vorfahren. Mit einer Botschaft – sie machten mich darauf aufmerksam, dass ich mit meinen fünfzehn Jahren längst Mutter sein müsste. Alle Mädchen meines Alters in Nkokolani waren schon schwanger geworden. Nur mir war anscheinend Fruchtlosigkeit bestimmt. Ich war also nicht nur eine Frau ohne Namen. Ich war auch ein Name ohne Mensch. Eine Hülse. Leer wie mein Leib.

Wenn in unserer Familie ein Kind geboren wird, schließen wir die Fenster nicht. Das ist das Gegenteil von dem, was das übrige Dorf macht. Selbst in der größten Hitze wickeln die anderen Mütter ihre Babys in dicke Tücher und sperren sich im dunklen Zimmer ein. Nicht so bei uns, Türen und Fenster bleiben weit geöffnet, bis das Neugeborene zum ersten Mal gebadet wird. Indem man es so brutal allem aussetzt, wird das Kind letztlich geschützt, denn es wird von Lichtern, Klängen und Schatten durchdrungen. So ist es seit Anbeginn der Zeit. Nur das Leben schützt uns vor dem Leben.

An jenem Januarmorgen im Jahr 1895 weckten die Fenster, die ich offen gelassen hatte, den Eindruck, ein Kind sei geboren. Zum wiederholten Male hatte ich geträumt, ich sei Mutter, und das ganze Haus rieche nach einem Neugeborenen. Nach einer Weile hörte ich das rhythmische Scharren eines Besens. Nicht nur ich wurde wach. Das leise Geräusch weckte das ganze Haus. Es war unsere Mutter, die für Sauberkeit im Hof sorgte. Ich ging an die Tür und betrachtete sie, wie sie sich, schlank und elegant, leicht nach vorn gebeugt wiegte, als tanzte sie und würde so selbst zu Staub.

Die Portugiesen verstehen nicht, warum wir rund ums Haus so sorgfältig fegen. Für sie ist es nur sinnvoll, innerhalb der Häuser zu kehren. Sie kämen nie auf die Idee, den losen Sand auf dem Grundstück zu fegen. Die Europäer verstehen das nicht. Für uns ist draußen auch drinnen. Unser Zuhause ist nicht das Gebäude. Unser Zuhause ist der Ort, den die Toten gesegnet haben, für sie gibt es weder Türen noch Wände. Deshalb fegen wir das Grundstück.

Mein Vater war mit dieser Erklärung nie einverstanden, er fand sie zu übertrieben. »Wir fegen den Sand aus einem anderen, viel praktischeren Grund. Wir wollen wissen, wer in der Nacht gekommen und gegangen ist.«

An diesem Morgen fand sich als einzige Spur die Fährte eines simba. Diese Raubkatzen wittern nachts unseren Hühnerstall. Mutter schaute sofort nach. Keine Henne fehlte. Zum Misserfolg der Wildkatze kam unser Versagen, denn wäre sie gesehen worden, hätte man sie sofort erjagt. Das gefleckte Fell der Wildkatzen galt als Zeichen für hohes Ansehen und war deshalb sehr begehrt. Mit keinem Geschenk konnte man die großen Herrscher mehr erfreuen. Vor allem die Befehlshaber des feindlichen Heeres, die sich schmückten, bis sie ihre menschliche Gestalt verloren. Das ist der Zweck von Uniformen – sie sollen den Soldaten von seinem Menschsein abbringen.

Der Besen beseitigte energisch die Spur des nächtlichen Besuchs. Die Erinnerung an die Wildkatze wurde sekundenschnell gelöscht. Dann ging unsere Mutter auf den Pfad zur Wasserstelle. Ich sah ihr nach, wie sie schwungvoll und aufrecht in ihren bunten Tüchern im Wald verschwand. Meine Mutter und ich waren die einzigen Frauen, die keine sivanyula trugen, Stoffe aus Baumrinde. Unsere Bekleidung, in der Ladenkneipe des Portugiesen gekauft, bedeckte unseren Körper, weckte aber in anderen Frauen Neid und in Männern Begierde.

Als Mutter den Fluss erreichte, klatschte sie in die Hände, womit sie um Erlaubnis bat, näher treten zu dürfen. In den Flüssen wohnen die Geister. Über das Ufer gebeugt, blickte sie prüfend entlang der Böschung, ob da ein Krokodil lauerte. Alle im Dorf glauben, dass die großen Echsen »Herren« haben und nur deren Befehl gehorchen. Mutter schöpfte Wasser, die Öffnung des Kruges zur Flussmündung hin gewandt, um sich nicht der Strömung zu widersetzen. Als sie sich auf den Heimweg machen wollte, schenkte ein Fischer ihr einen schönen Fisch. Sie wickelte ihn in ein Tuch, das sie um die Hüfte geschlungen hatte.

Sie war schon fast zu Hause, da geschah es. Aus dem dichten Busch stürmten Soldaten der VaNguni. Chikazi wich ein paar Schritte zurück und dachte: Den Krokodilen bin ich entkommen, dafür schnappen mich jetzt noch grausamere Ungeheuer. Seit dem Krieg von 1889 hatten sich Ngungunyanes Truppen nicht mehr in unserem Gebiet herumgetrieben. Ein halbes Dutzend Jahre hatten wir den Frieden genossen und geglaubt, er würde für immer währen. Aber Frieden ist ein Schatten auf Elendsboden, die Zeit braucht nur zu kommen, schon verschwindet er.

Die Soldaten umringten unsere Mutter und merkten schnell, dass sie sie verstand, wenn sie xizulu sprachen. Chikazi Makwakwa war im Süden geboren. Die Sprache ihrer Kindheit war der Sprache der Invasoren sehr ähnlich. Ihre Mutter war eine mabuingela, also eine von denen, die vorangehen, um das Steppengras vom Tau zu säubern. So nannten die Invasoren die Leute, von denen sie sich die Pfade in der Savanne schlagen ließen. In meinen Geschwistern und mir mischten sich diese Geschichten und Kulturen.

Nach vielen Jahren waren die Invasoren zurück, genauso bedrohlich und überheblich wie zuvor. Alte Ängste lebten wieder auf, als die Männer meine Mutter umringten, so seltsam machtberauscht wie alle jungen Männer, sobald sie viele sind. Mit gestrecktem Rücken, kraftvoll und geschmeidig, trug Chikazi den Wasserkrug auf dem Kopf. Damit bewies sie ihre Würde angesichts der Bedrohung durch die Fremden. Die Soldaten verstanden die Herausforderung, und ihr Bedürfnis, sie zu demütigen, wuchs. Sie stießen ihr den Krug vom Kopf und johlten vor Freude, als er auf dem Boden zerschellte. Sie lachten, weil das Wasser über ihren schlanken Körper lief. Danach brauchten die Soldaten keine Gewalt anzuwenden, um ihre abgewetzte und längst durchsichtige Kleidung zu zerreißen.

»Bitte tut mir nichts«, flehte sie. »Ich bin schwanger.«

»Schwanger? In deinem Alter?« Sie starrten auf die kleine Erhebung unter den Tüchern, wo sie den Fisch versteckt hatte. Und wieder wurde ihr die Frage ins Gesicht geschleudert: »Schwanger? Du? Im wievielten Monat?«

»Ich bin im zwanzigsten Jahr.«

Am liebsten hätte sie gesagt, dass die Kinder niemals aus ihr herausgekommen seien. Dass sie noch alle ihre fünf Kinder im Leib habe. Aber sie beherrschte sich. Stattdessen schob sie die Hände unauffällig zwischen den Tüchern zu dem eingewickelten Fisch. Die Soldaten sahen zu, wie sie sich unter der capulana über ihre Scham strich. Von den Soldaten unbemerkt, nahm sie die Rückenflosse des Fischs in die linke Hand und schnitt sich damit die Ader der rechten Hand auf. Sie ließ das Blut laufen und spreizte leicht die Beine, als wollte sie gebären. Dann zog sie den Fisch unter den Tüchern hervor, hielt ihn auf ihren blutbeschmierten Armen hoch und rief: »Hier ist mein Kind! Jetzt ist mein Kind geboren!«

Die VaNguni-Soldaten wichen entsetzt zurück. Das war keine normale Frau, das war eine noyi, eine Zauberkundige. Und sie hatte das Unheilvollste hervorgebracht, was man sich denken konnte. Ein Fisch war für die Invasoren tabu. Zu dem verbotenen Tier kam gleichzeitig die schlimmste Unreinheit: Frauenblut, dieser Schmutz, der das Universum besudelt. Die dicke, dunkle Flüssigkeit rann ihr die Beine hinunter, bis der Erdboden ringsum dunkel verfärbt war.

Der Bericht über diesen Vorfall verunsicherte die Streitkräfte der Feinde. Viele Soldaten sollen desertiert sein, aus Angst vor der Zauberkundigen, die Fische gebar.

Mit zerfetzter Kleidung und verletztem Herzen kam Chikazi Makwakwa gegen Mittag nach Hause. In der Tür berichtete sie unaufgeregt und ohne Tränen, was geschehen war. Das Blut troff ihr vom Handgelenk, als würde ihr Bericht Tropfen für Tropfen buchstabiert. Mein Vater und ich hörten ihr ratlos zu. Schließlich murmelte meine Mutter, während sie sich die Hände wusch, mit nicht wiederzuerkennender Stimme: »Man muss etwas tun.«

Mein Vater Katini Nsambe runzelte die Stirn und entgegnete, nichts tun und nichts sagen sei die beste Reaktion. Wir seien ein besetztes Volk, und da sei es am klügsten, sich nicht bemerkbar zu machen. Wir, die VaChopi, hätten das Land verloren, das uns und unseren Vorfahren gehörte. Bald schon würden die Invasoren auf dem Friedhof stehen, wo wir Plazentas und Sterne begruben.

Unsere Mutter erwiderte entschieden: »Im Dunkeln lebt der Maulwurf.«

Mein Vater schüttelte den Kopf und gab kleinlaut zurück: »Ich mag die Dunkelheit. Im Dunkeln sieht man die Mängel der Welt nicht. Ein Maulwurf sein, davon habe ich immer geträumt. So wie die Welt ist, können wir Gott nur dafür danken, dass wir blind sind.«

Verärgert seufzte Mutter geräuschvoll, während sie sich über die Feuerstelle beugte und in der ushua rührte. Damit es so aussah, als wollte sie überprüfen, ob der Kochtopf heiß genug war, tauchte sie die Fingerspitze hinein.

»Eines Tages werde ich wie der Maulwurf sein. Dann liegt die ganze Erde über mir«, flüsterte mein Vater, schon im Voraus bekümmert über sein künftiges Schicksal.

»Richtig, so ergeht es uns dann allen«, sagte Mutter.

»Bald mache ich mich auf zu den Minen. Ich mache es wie mein Vater, ich geh weg von hier, ich gehe nach Südafrika. Ja, das mache ich.«

Das war keine Ankündigung. Es war eine Drohung. Er holte eine Prise Tabak und ein altes Zigarettenpapier aus der Tasche. Akkurat wie ein Chirurg drehte er sich eine Zigarette. Kein Schwarzer im ganzen Dorf konnte sich damit brüsten, dass er sich seine Zigaretten selbst fabrizieren konnte. Nur er. Mit geschwellter Brust ging er zur Feuerstelle und nahm ein Scheit heraus, um die Zigarette anzuzünden.

Dann, aufgerichtet und mit hochgerecktem Kinn, blies er den Rauch seiner gleichmütigen Frau ins Gesicht. »Du, meine liebe Chikazi, beleidigst die Maulwürfe, aber weißt genau, dass du damit meinen verstorbenen Vater triffst.«

Meine Mutter summte ein altes Lied, einen traditionellen ngodo. Das Klagelied einer Frau, die beweint, dass sie schon als Witwe zur Welt gekommen ist.

Missgelaunt verzog sich mein Vater. »Ich gehe weg von hier«, erklärte er. Er wollte zeigen, dass er verletzt war, dass nicht nur seine Frau blutete. Er trennte sich von seinem eigenen Schatten und begab sich zu dem großen Termitenhügel, wo er glaubte, in seiner Abwesenheit sichtbarer zu werden.

Dann sahen wir noch, wie er einmal rund um das Haus ging und sich schließlich auf den Weg ins Tal machte. Der kleine Glutfleck seiner Zigarette tanzte in der Dunkelheit, als wäre es das letzte Glühwürmchen dieser Welt.

Wir, meine Mutter und ich, blieben sitzen und schwiegen miteinander, wie nur Frauen es können. Ihre schlanken Finger scharrten im Sand, als wollten sie sich vergewissern, dass ihnen der Boden vertraut war. Ihre Stimme hatte einen erdigen Klang, als sie fragte: »Hast du Wein mitgebracht, da vom Portugiesen?«

»Es waren noch ein paar Flaschen da. Hast du Angst, dass Vater dich schlägt?«

»Du weißt doch, wie es ist. Wenn er trinkt, schlägt er.«

Ein unbegreifliches Rätsel – wie konnte Vater so gegensätzliche Seelen in sich vereinen? Nüchtern war er von engelsgleicher Sanftmut. Im Alkoholnebel verwandelte er sich in das bösartigste aller Geschöpfe.

»Es ist unglaublich, dass Vater niemals Verdacht geschöpft hat, dass du lügst.«

»Lüge ich denn?«

»Natürlich lügst du, Mutter. Wenn er dich schlägt und du vor Schmerzen weinst. Ist das nicht gelogen?«

»Diese Krankheit ist ein Geheimnis, dein Vater darf nichts davon ahnen. Wenn er mich schlägt, glaubt er, dass meine Tränen echt sind.«

Die Krankheit war angeboren. Chikazi Makwakwa spürte keinen Schmerz. Ihr Mann wunderte sich über die Narben von zahlreichen Verbrennungen auf ihren Händen und Armen. Trotzdem glaubte er, ihre Unempfindlichkeit beruhe auf Amuletten, die sie sich von ihrer Schwägerin Rosi hatte geben lassen. Nur ich wusste, dass es ein angeborener Fehler war.

»Und der andere Schmerz, Mutter?«

»Welcher andere?«

»Der Schmerz in der Seele.«

Sie lachte und zuckte die Achseln. Welche Seele? Was war ihr denn als Seele geblieben, nachdem ihre beiden Töchter umgekommen und die beiden Söhne ausgezogen waren?

»Wurde deine Mutter auch geschlagen?«

»Ja, deine Großmutter, deine Urgroßmutter und deine Ururgroßmutter. Das ist so, seit es Frauen gibt. Mach dich darauf gefasst, dass du auch geschlagen wirst.«

Eine Tochter stellt die Überzeugungen der Älteren nicht infrage. Ich tat es ihr gleich, füllte die Handmuschel mit Sand und ließ ihn nach einer Weile wie einen Wasserfall hinunterrieseln. Dieser rote Sand war nach alter Sitte unseres Volkes Nahrung für Schwangere. Die Vergeudung meines Daseins zerrann mir zwischen den Fingern.

Chikazi Makwakwa unterbrach mich in meinen Gedanken: »Weißt du, wie deine Großmutter gestorben ist?« Sie wartete keine Antwort ab. »Vom Blitz getroffen. So ist sie gestorben.«

»Und warum denkst du jetzt daran?«

»Weil ich auch so sterben möchte.«

So ein Ende war ihr am liebsten: kein Körper, kein Gewicht, nichts zu beerdigen. Als könnte ein schmerzloser Tod die Schmerzen eines ganzen Lebens auslöschen.

Immer wenn ein Gewitter niederging, lief unsere Mutter hinaus auf die Felder und stellte sich mit hochgereckten Armen hin, als wäre sie ein trockener Baum. Sie wartete auf den vernichtenden Blitz. Zu Asche, Staub und Ruß zu werden, davon träumte sie. Feines, leichtes Pulver, so leicht, dass der Wind es um die Welt tragen würde. Auf diesem Wunsch beruhte mein früherer Name. Und daran hatte meine Mutter mich erinnern wollen.

»Asche gefällt mir«, sagte ich. »Ich denke dabei an Engel, warum, weiß ich nicht.«

»Ich habe dir diesen Namen gegeben, um dich zu beschützen. Wer Asche ist, den kann nichts schmerzen.«

Die Männer konnten mich schlagen, aber keiner würde mir jemals Schmerz zufügen. Das hatte sie mit diesem Namen beabsichtigt.

Ihre Hände scharrten auf dem Erdboden, vier Sandbäche rannen zwischen ihren Fingern herab. Ich blieb stumm, unter dem Staub begraben, der von ihren Händen aufstieg.

»Jetzt geh deinen Vater holen. Er ist auf uns eifersüchtig.«

»Eifersüchtig?«

»Auf mich, weil ich ihm nicht alle Aufmerksamkeit schenke; auf dich, weil du bei den Priestern in der Schule warst. Du gehörst zu einer Welt, zu der er niemals Zugang finden wird.«

So sind die Männer, erklärte sie, sie haben Angst vor den Frauen, wenn diese sprechen, und noch mehr, wenn sie schweigen. Ich müsse verstehen, mein Vater sei ein guter Mann. Er habe nur Angst, nicht die Größe der anderen Männer zu haben.

»Dein Vater ist verärgert weggegangen. Merk dir eins, mein Kind. Das Schlimmste, was eine Frau zu einem Mann sagen kann, ist, dass er etwas tun soll.«

»Ich gehe jetzt Vater holen.«

»Denk an den Wein.«

»Keine Sorge, Mutter. Ich habe die Flaschen schon versteckt.«

»Umgekehrt, meine Tochter. Nimm eine Flasche für ihn mit.«

»Hast du keine Angst, dass er dich dann schlägt?«

»Der alte Dickkopf darf nicht draußen im Busch schlafen. Hol ihn zurück, egal, ob nüchtern oder betrunken. Alles andere sehen wir dann.«

Danach versank meine Mutter wieder in Traurigkeit, wie ein Haustier, das in den Stall zurückkehrt. Ich war schon auf dem Weg, da sagte sie noch: »Bitte ihn, mit uns nach Makomani zu ziehen, bitte ihn, mit uns wieder ans Meer zu ziehen. Auf dich hört er. Bitte ihn, Imani, um Gottes willen!«

Erster Brief des Sargento

Lourenço Marques, 21. November 1894

Sehr geehrter Senhor
Conselheiro José d’Almeida

Der Verfasser dieses Berichts ist Ihr unbedeutender Untergebener Sargento Germano de Melo, abgeordnet, den Posten Nkokolani zu befehligen und an dieser Grenze zu dem verfeindeten Gaza-Reich die portugiesischen Interessen zu vertreten. Dies ist mein erster Bericht an Sie. Ich werde Sorge tragen, Sie nicht zu belästigen, und mich auf Tatsachen beschränken, von denen ich glaube, dass Sie davon Kenntnis haben sollten.

Ich bin am Vorabend der Angriffe der Landim-Rebellen in Lourenço Marques eingetroffen. Es geschah in der Nacht. Es fielen Schüsse, und in der Stadt gerieten Schwarze, Inder und Weiße in Aufregung. Ich befand mich in der Pension einer Italienerin, genau im Zentrum der Ortschaft. Die Pensionsgäste klopften an meine Zimmertür und verlangten schreiend und jammernd, ich solle sie am Eingang zur Pension verteidigen. Sie hatten mich am Abend bewaffnet und in Uniform ankommen sehen. Für sie war ich ein vom Himmel gesandter Schutzengel.

Die Pensionswirtin, eine Italienerin, die auf den Namen Dona Bianca hört, übernahm das Kommando, schickte die erschrockenen Gäste alle zusammen auf einen Dachboden und schloss sie dort ein. Dann ließ sie sich von mir auf eine Terrasse begleiten, von der man den größten Teil der Stadt überblickt. Hier und da stiegen Rauchsäulen auf, in der Nähe der Bucht gab es Schüsse und Detonationen. Es war zu erkennen, dass dem Überfall durch die Eingeborenen von unserer Seite kaum Widerstand entgegengebracht wurde.

Binnen kurzer Zeit war der einzige Ort, an dem Gegenwehr geleistet wurde, die Festung. Die Angreifer – es waren Landins und nicht Vátuas, wie behauptet wird – bewegten sich ungehindert in den Straßen. Nachdem sie sämtliche Verteidigungslinien der Stadt durchbrochen hatten, überfielen sie Geschäfte, plünderten die Marktstände und töteten nur deshalb nicht noch mehr Menschen, weil dies nicht in ihrer Absicht lag. Wir in dem Gasthaus entgingen der Raserei der Kaffern, weil sie glaubten, alle Portugiesen hätten in der Festung Zuflucht gesucht.

Von der Terrasse aus, wo wir unserem Ende entgegensahen, war ich Zeuge einer Szene, die mich tief beeindruckte. Aus den dichten Rauchschwaden tauchten zwei galoppierende Pferde auf. Geritten wurden sie von zwei Portugiesen, der eine in Uniform, der andere in Zivil. Vor allem der Zweite weckte meine Neugier, denn da ihm ein Arm fehlte, hielt er sich lediglich mit der Kraft seiner Beine auf dem Pferd. In seiner einzigen Hand hielt er die Zügel und eine Waffe, mit der er mehr oder weniger zufällig schoss. Die Pensionswirtin identifizierte ihn als Silva Maneta, Einarm-Silva, der nach Transvaal desertiert war und dort beim Hantieren mit einer Dynamitladung einen Unfall gehabt hatte. Dann war er nach Mosambik zurückgekehrt, und aufgrund erwiesener Tapferkeit war ihm die Desertion vergeben worden.

Hinter besagtem Silva ritt der Soldat auf einem Schimmel, der wesentlich vorschriftsmäßiger galoppierte. Kaum war zwischen den beiden Reitern eine Lücke entstanden, wurde der stattliche Soldat von einer Horde Schwarzer umzingelt, die ihre Schilde und Lanzen schwenkte. Verzweifelt gab der Soldat etliche Schüsse ab, bis ihm die Munition ausging. Da er immer enger eingekreist wurde und ahnte, welches Ende ihm bevorstand, schoss der Reiter sich in den Kopf. Von dem Schuss erschrocken, ging das Pferd durch und jagte davon. Ein Stück weiter verfiel es in Schritt, wodurch der Reiter praktisch kopflos im Sattel sitzen bleiben konnte, während sein Blut wie aus einem kräftigen Brunnen sprudelte. So lief das Pferd weiter, bis es in den Rauchschwaden verschwand. Mir kam der Gedanke, dass dieser Todesritt aus der Stadt hinaus in den afrikanischen Busch fortdauern kann, bis der Leichnam des Selbstmörders nur noch als Skelett im Sattel des einsamen Tieres wankt.

Kanonenschüsse weckten mich aus diesen finsteren Gedankenspielen. Es waren unsere Schiffe, die von der Espírito-Santo-Bucht aus die Stadt bombardierten. Das war unsere letzte Verteidigung. Und sie war erfolgreich, Gott sei es gedankt. Schließlich traten die Kaffern den Rückzug an und hinterließen Chaos und eine Spur der Verwüstung.

Doch sei der Widersinn vermerkt: Um einen Feind abzuwehren, mussten wir unsere eigene Stadt bombardieren, eine der größten Siedlungen an der portugiesischen Ostküste. Die Pension, in der ich mich befand, wurde von einer Kanonenkugel getroffen. Angesichts der zerstörten Mauer weinte die Pensionswirtin verzweifelt, denn sie wusste, dass sie für diesen Schaden von niemandem Ersatz verlangen konnte. Bianca weinte so bitterlich, dass sie die Leiche eines portugiesischen Soldaten an der zerstörten Mauer gar nicht wahrnahm. Ich kniete mich neben den Toten, um ihn mit einem Tuch zu bedecken. Da sah ich das auf seinen Unterarm tätowierte Herz und quer darüber das Wort: »Mutterliebe!« Das war für mich bewegender als der Anblick des Toten.

Sie werden über präzisere Berichte über dieses Unglück verfügen, das Lourenço Marques getroffen hat. Ich schlage vor, zu versuchen, die wahren Gründe in Erfahrung zu bringen, die zu dem Aufstand der Stammesgebiete im Umkreis der Stadt geführt haben. Doch sollten Sie sich nicht an die üblichen Quellen halten. Ich habe auf Umwegen erfahren, dass der Königliche Kommissar von einem Schweizer Missionar namens Henri Junod einen Bericht angefordert hat. Dieser Bericht basiert auf Aussagen von christlichen Schwarzen, in denen als Keim für den Aufstand Gründe angeführt werden, die für uns nicht sehr angenehm sind. Ich schlage Ihnen vor, diesen Bericht zu konsultieren.

Wie auch immer die wahre Erklärung lauten mag, Tatsache ist, dass mein Aufenthalt in Afrika den denkbar schlechtesten Anfang genommen hat. Auf der Terrasse des Gasthauses führte die Italienerin mir binnen Minuten vor Augen, was ich bereits vermutet hatte: Unsere Besitzungen, die wir so großartig als »Ländereien der Krone« bezeichnen, sind Misswirtschaft und Sittenlosigkeit geweiht. In der Mehrzahl dieser Gebiete haben wir im Laufe der Jahrhunderte niemals wirklich Präsenz gezeigt. Und dort, wo wir präsent waren, war es noch schlimmer, denn fast immer haben wir uns von Verbannten und Kriminellen vertreten lassen. Unter unseren Offizieren besteht keinerlei Glaube daran, dass wir in der Lage wären, Gungunhane und sein Gaza-Reich zu besiegen.

Der neue Königliche Kommissar António Enes hat eine äußerst schwierige Mission, er ist umringt von Widersachern und Widrigkeiten. Der Kommissar ist bei der Mehrheit der Militärangehörigen unbeliebt, sie sehen in ihm lediglich die Fähigkeiten eines Zivilisten, noch dazu ist er Schriftsteller und Journalist. Obendrein wird unser Kommissar seitens des Palastes weder Unterstützung noch eine Reaktion erwirken. Die Monarchisten sind viel zu sehr um ihr Überleben besorgt. Und die Militärberater, die ihm vom Ministerium der Marine und der Kolonien zugeteilt wurden, wissen nichts über Afrika. Für uns ist von Wert, dass es Personen wie Sie gibt, mit langjähriger Erfahrung in Mosambik, Angola und Guinea. Ich bitte in aller Bescheidenheit darum, mir stets Ihre wertvollen Ratschläge zu gewähren.

Wegen all dieser Sorgen begebe ich mich klammen Herzens nach Nkokolani, fünfhundert Meilen von hier in dem riesigen Buschland von Inhambane. Ich hoffe, dass die Zusagen, den provisorischen Posten zu einer richtigen Kaserne auszubauen, auch eingehalten werden. Ich vertraue darauf, dass man mir ein Kontingent angolas schickt, damit ich meinen Auftrag erschöpfend erfüllen kann.

Die Italienerin, die viele unserer Offiziere persönlich kennt, hat mir gesagt, ich solle vergessen, was man mir versprochen hat. Denn ihr zufolge bin ich nur äußerlich ein Militär. Um zu dieser Überzeugung zu gelangen, hat ihr, wie sie sagte, die Ernsthaftigkeit meines Blicks genügt. Von der Leichtfertigkeit dieses Urteils einmal abgesehen, hat Dona Bianca noch weitere Gründe für ihre schnelle Einschätzung genannt. Sie hat gefragt, wem gegenüber ich verantwortlich sei, und ich habe mir erlaubt zu sagen, dass Sie, der Conselheiro José d’Almeida, der Vorgesetzte sind, dem ich Rechenschaft ablegen müsse. Sie lachte. Und dann bemerkte sie leicht zynisch: »Sie werden keinen einzigen Schuss abgeben. Und von Glück sagen können, wenn man nicht auf Sie schießt!«

Dann fuhr sie fort, sie kenne andere Fälle, da habe man ewig auf den versprochenen Militärposten gewartet. Beim Abschied versprach die Italienerin, sie werde mich in Nkokolani besuchen. Sie will die Reise unternehmen, weil sie erfahren hat, dass Mouzinho zu dem Regiment von Inhambane versetzt worden ist. Sie will den Reiter wiedersehen, als hätte sie in ihrem Leben kein anderes Ziel.

Ich habe über Biancas Prophezeiung nachgedacht und fürchte, dass sie zum Teil begründet ist. Alle hier wissen von meiner Republikanervergangenheit, alle wissen, warum ich mich hier auf afrikanischem Boden befinde. Dass ich an der Revolte vom 31. Januar in Porto beteiligt war, dürfte auch für Dona Bianca kein Geheimnis sein. Ich kann mich nicht darüber beklagen, was mir als Strafe auferlegt wurde, angesichts der Verurteilung der meisten Aufständischen zu Kerkerhaft von unbestimmter Dauer. In meinem Fall entschied man sich für die Verbannung in die ferne Wildnis von Inhambane. Man ließ sich dabei von der Hoffnung leiten, ich würde dort ein Gefängnis vorfinden, das keine Gitter habe und deshalb weit erdrückender als jeder Kerker sei. Doch hatte man vorsichtshalber daran gedacht, mich mit einer vorgeblich militärischen Mission zu beauftragen. Die Italienerin hat vollkommen recht – in dieser Uniform steckt kein Soldat. Darin steckt ein Verbannter, der trotz alledem seinen Auftrag ernst nimmt. Doch habe ich keinerlei Absicht, mein Leben für dieses armselige, verstaubte Portugal zu geben. Für dieses Portugal, das mich aus Portugal verbannt hat. Mein Vaterland ist ein anderes, doch das muss erst noch entstehen. Ich weiß, meine Klagen gehen weit über den Ton hinaus, der diesen Bericht leiten sollte. Doch hoffe ich, dass Sie verstehen, in welch absoluter Einsamkeit ich mich befinde, und dass diese Abgeschiedenheit mir allmählich den Verstand raubt.

Nur als abschließende Anmerkung: Heute früh wurde ich zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch vom Königlichen Kommissar empfangen. Zwar äußerte der Kommissar António Enes sich knapp, doch gestand er, dass er sich auf zwei Offiziere seines Vertrauens stütze, die er für die Arbeit in Mosambik ausgewählt habe: den Hauptmann Freire de Andrade und den Leutnant Paiva Couceiro. Des Weiteren kündigte er an, gleich nach unserer Begegnung würden er und seine getreuen Berater den sogenannten Aktionsplan für die südlichen Verwaltungsbezirke der Kolonie ausarbeiten. Weder Ayres de Ornelas noch Eduardo Costa waren dazu eingeladen. Mir schien dieses Detail etwas zu sein, das ich Ihnen zur Kenntnis bringen sollte.

Trotz seiner Sorgen leuchtete auf António Enes’ Gesicht für einen Moment Freude auf, ein sehr kurzes Funkeln hinter der Brille, die das leichte Schielen seiner Augen nicht verbirgt. Diese Freude trat zutage, als er ein Telegramm von Paiva Couceiro präsentierte, aus dem hervorging, dass die Ortschaft Marracuene zu Ehren der geliebten Tochter des Kommissars auf den Namen Vila Luiza umbenannt worden ist. Das gleiche Leuchten entflammte sein Herz, als er davon sprach, dass wir weiter im Norden eine Siedlung mit dem Namen der Königin Dona Amélia gegründet haben. Dem Vernehmen nach denkt von allen Persönlichkeiten in Lissabon einzig die Königin daran, dem im Stich gelassenen Kommissar Mut zuzusprechen. Von unserem König und anderen Lissabonner Würdenträgern kommt kein einziges Wort des Trostes. Unsere arme Herrschaft, die weder hier noch in Portugal herrscht. Armes Portugal.

Ich bitte, Exzellenz, diese lange, traurige Anreihung von Mitteilungen persönlicher Natur zu entschuldigen. Doch glaube ich, Sie werden verstehen, dass ich in Ihnen die beschützende Gestalt eines Vaters sehe, der, ich gebe es zu, mir immer gefehlt hat.