Der Autor

Prof. Dr. phil. Ralf T. Vogel ist Psychologischer Psychotherapeut, Verhaltenstherapeut und Psychoanalytiker, Lehranalytiker und Supervisor an Ausbildungsinstituten unterschiedlicher therapeutischer Schulrichtungen und Honorarprofessor für Psychotherapie und Psychoanalyse an der HfBK in Dresden. Er ist Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gremien, Herausgeber der Schriftenreihe »Analytische Psychologie C. G. Jungs in der Psychotherapie« bei Kohlhammer und Redaktionsmitglied der Zeitschrift »Analytische Psychologie«. Von ihm liegen zahlreiche Fachbücher vor. Dabei liegt sein wissenschaftlicher Schwerpunkt neben der Analytischen Psychologie vorwiegend auf der therapeutischen Arbeit im Umfeld von Tod und Sterben sowie dem Verhältnis der therapeutischen Schulrichtungen. In Ingolstadt ist er in privater Praxis für Psychotherapie und Supervision tätig.

Ralf T. Vogel

Existenzielle Themen in der Psychotherapie

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., aktualisierte Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

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ISBN 978-3-17-036547-6

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Inhalt

 

 

 

  1. Vorbemerkungen
  2. 1. Vorlesung Begriffsbestimmungen
  3. Die Existenz als Grundlage
  4. Psychotherapie als existenzielle Praxis?
  5. 2. Vorlesung Die Therapieschulen und ihre Berücksichtigung des Existenziellen
  6. Verhaltenstherapie und das Existenzielle
  7. Klassische Psychoanalyse und das Existenzielle
  8. Die Spezialisten
  9. 3. Vorlesung Existenzielle Themen … und was die Therapieschulen uns dazu zu sagen haben
  10. Freiheit – Die Voraussetzung von Therapie und authentischem Leben
  11. Sinn – Die Frage nach dem Warum und Wozu
  12. Einsamkeit – Das letztendliche Getrennt-Sein
  13. Tod – Das alles Existenzielle enthaltende Menschheitsthema
  14. 4. Vorlesung Generelle Konsequenzen für die Therapie
  15. Allgemeine Überlegungen zum Existenziellen in der Psychotherapie
  16. Unlösbarkeit und Aporetik
  17. Die »existenzialisierende Einstellung«
  18. Die Wertschätzung der Krise
  19. Die Sicherheit
  20. Die »existenzielle Anamnese«
  21. Das existenzielle Lebensalter – Psychotherapie im höheren Alter
  22. Das existenzielle Paar – Aspekte der Paartherapie
  23. 5. Vorlesung Therapeutische Methoden
  24. Vorbemerkungen
  25. Die drei grundlegenden Haltungen
  26. »Die Vor-Therapie«
  27. Die Konsequenz aus der Wertschätzung des Existenziellen – Finalität (als therapeutische) Prozesstheorie
  28. Spezifische Methoden
  29. Schlusswort
  30. Anhang
  31. Anglo-amerikanische Ansätze
  32. Existenzielles im Netz
  33. Literatur
  34. Stichwortverzeichnis
  35. Personenverzeichnis

Vorbemerkungen

 

 

 

Psychotherapie wird im modernen akademischen Diskurs bestimmt von quantitativ-statistischen Forschungsdesigns und neuropsychologischen Überlegungen. Aus dem Auge gerät hierbei nicht selten der reiche Wissensfundus kultur- und geisteswissenschaftlicher, vor allem aber auch philosophischer Disziplinen, die sich oft seit Jahrtausenden mit genau den Themen auseinandersetzen, denen auch die Psychotherapeuten in ihrer Praxis begegnen. Der »Gegenstand« psychotherapeutischer Bemühungen ist unter dieser Perspektive eben nicht eine umgrenzte Symptomkonstellation und ihr Niederschlag im Gehirn, sondern Psychotherapie befasst sich mit einem leidenden menschlichen Individuum, das als Ganzes in seiner Not gesehen werden will und sich der Reduktion seines Leidens auf operationalisierbare Symptome immer wieder widersetzt.1 Gleichzeitig beeinflusst »eine erhöhte Sensibilität für existenzielle Fragen (…) das Wesen der Beziehung zwischen Therapeut und Patient enorm und wirkt sich auf jede einzelne therapeutische Sitzung aus«2, ist also hochrelevant für die in der modernen Psychotherapieforschung (wieder) an prominente Stelle gerückte Reflexion der therapeutischen Beziehungsanalyse. Auch innerhalb der Psychiatrie gibt es inzwischen Bestrebungen, die prinzipiell in helfenden Berufen nicht mehr zu ignorierende Omnipräsenz existenzieller Fragestellungen anzuerkennen. So meint etwa der Züricher Psychiatrieprofessor Daniel Hell, er habe erkannt, »dass es zwar gelingt mit Medikamenten und psychotherapeutischen Techniken bestimmte Krankheitssymptome wie Depression oder Panik zu lindern. Mit diesen Verfahren allein sehe ich mich aber außerstande, existenziellen Nöten meiner Patienten zu begegnen.«3

In einer eigenen Studie aus dem Jahr 2011 geben nur 25 % der befragten Psychotherapeuten auf Palliativstationen an, sich durch ihre Ausbildung sehr gut oder gut auf die dort anstehenden Aufgaben vorbereitet zu fühlen. Hier wird ein auch durch die überblickshafte Sichtung der Curricula anerkannter psychotherapeutischer Ausbildungsinstitute eindrücklicher »Neglect« existenzieller Themen, hier vor allem des Todesthemas, deutlich. Diesem Trend möchte das vorliegende Buch entgegenwirken.

Im Rahmen der zur Debatte stehenden existenziellen Themen sind es im modernen Denken nicht nur, aber hauptsächlich die Existenzialisten, die sich diese, den Menschen konstituierenden Seinsbereiche zum Thema machten. Dieser Denkschule gilt daher die besondere Aufmerksamkeit, ohne dass die »Lösungen«, die der Existenzialismus für die Grundthemen des Menschseins vorschlägt, damit propagiert werden sollen. Trotzdem werden diese immer wieder aufgezeigt, um sie dem vorherrschenden Denkduktus der modernen Psychotherapie entgegenzusetzen oder auch kompensierend hinzuzufügen. Die Grundthesen des Existenzialismus widersetzten sich schon immer dem vorherrschenden Zeitgeist, wurden von den Kommunisten verfemt und von der katholischen Kirche auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. So eignen sie sich in der Psychotherapie ebenfalls zur Infragestellung überlieferter und aktuell nunmehr wenig reflektierter Ansichten. Vor allem der französische Existenzialismus entwickelte nicht nur abstrakte philosophische Ideen, sondern bemühte sich beständig auch um deren Umsetzung in Theorien der konkreten Handlung. Eben diese Eigenschaft macht ihn zu einer wertvollen Fundgrube nützlicher Einsichten auch für Psychotherapeuten.

Dieses Buch ist aus dem inzwischen bereits seit mehreren Jahren anlässlich der Lindauer Psychotherapiewochen gehaltenen Seminar zum gleichen Thema hervorgegangen4. Der Inhalt des Seminars wurde nur unwesentlich an einigen Stellen erweitert, und die Literaturangaben wurden ergänzt. Die durchgehend männliche Schreibweise ist der leichteren Lesbarkeit geschuldet und wird hoffentlich verziehen. Das Schreiben und Sprechen über philosophische Themen wird, auch im Bereich der Psychotherapie, leicht zu abstrakt und entfernt sich dann vom direkten Erleben hinein in rein kognitiv-intellektuelle Betrachtungen. Den vier hier in den Vordergrund gestellten grundlegenden existenziellen Themenbereichen wird, um dem vorzubeugen, jeweils eine kleine Übung zur Selbstexploration hinzugefügt.

Seit dem Erscheinen der ersten Auflage dieses Bandes hat sich in Bezug auf die Beachtung existenzieller Themen in Psychiatrie und Psychotherapie einiges getan. Die Themen finden glücklicherweise zunehmend Eingang in Aus- und Weiterbildungspläne und auch einige beachtenswerte Veröffentlichungen sind hinzugekommen, Letzteres übrigens therapieschulübergreifend und interessanterweise oft in Verbindung mit Arbeiten über die Rolle von Spiritualitäten im therapeutischen Handeln.5

Im Aufbau folgt das Buch weitgehend der fünftätigen Lindauer Seminarreihe, wobei die jeweiligen Vorlesungen sich ergänzen, durchaus aber auch einzeln herausgegriffen werden können. Am Ende des entsprechenden Kapitels finden sich einige Literaturvorschläge, wenn eines der gerade angerissenen Themen und das damit verbundene »… existenzielle Schwindelgefühl durch die unabweisbare Einsicht in die Ungewissheit des Lebens …« (Woody Allen) einer weiteren persönlichen Vertiefung bedarf.

Literatur zum Weiterlesen

Wallace DF (2012) Das hier ist Wasser. Anstiftung zum Denken

1  Vogel, 2009, S. 593

2  Yalom, 2002, S. 11

3  Hell, 2013, S. 130

4  Dieses Buch stellt eine grundlegend überarbeitete und erweiterte Fassung der Vorlesungen dar, die der Autor zum gleichen Thema im Rahmen der Lindauer Psychotherapiewochen 2012 gehalten hat (www.auditorium-netzwerk.de).

5  Utsch u. a., 2018

1. Vorlesung Begriffsbestimmungen

 

 

 

In diesem Eingangskapitel sollen abrissartig die im Titel des Buches angeführten Kerntermini, Existenz und Psychotherapie, nacheinander in ihren zentralen Bestimmungsbereichen dargestellt werden, um einen ersten vereinigenden Zugang vorzubereiten.

 

 

Die Existenz als Grundlage

Schon die Begriffsbestimmung der zentralen und in der Alltagssprache so unbedarft benutzten Termini »Existenz« bzw. »existenziell« gestaltet sich bei genauer Betrachtung als nicht gerade einfach. Alltagssprachlich meint existenziell etwas wie finanzielle Not, Obdachlosigkeit etc. Die Krankenschwester und »Mutter der Pflegewissenschaften«, Monika Krohwinkel, formulierte 1984 die »Aktivitäten und existenziellen Erfahrungen des Lebens (ABDEL) und fasste darunter Bereiche wie »Sich bewegen können, »Sich pflegen können«, »Sich beschäftigen können« oder Soziale Bereiche des Lebens sichern können«6. Philosophisch, und hier betreten wir dann auch den engeren Bereich der Psychotherapie, ist an dieser Stelle vor allem die Abgrenzung des lateinischen »existe« vom Komplementärbegriff »esse«anzuführen. Im 4. Jahrhundert unterschied der Philosoph Marius Victorinus das Wesen der Dinge, das er »Essentia« nannte, vom Vorhandensein der Dinge, das er mit »Existentia« bezeichnete. Seitdem bestimmt diese Dichotomie die abendländische Philosophie maßgeblich mit, nicht ohne dass es auch zu Vermischungen der beiden Begriffe gekommen wäre. Vor diese Zeitperiode fällt bereits das Leben des bisweilen als »proto-existenziellen Psychotherapeuten«7 bezeichneten Philosophen Epikur (341–270 v. Chr.), der wichtige Grundlagen der späteren existenzialistischen Philosophie vorwegnahm.

Die der deutschen Sprache zugehörigen schwierigen Begriffe wie das »Seiende« (als das zeitlich und räumlich bestimmbare) oder das (auf sich selbst bezügliche) Sein oder »Dasein« tragen nicht unbedingt zu einer Begriffsklärung bei, werden sie doch von den einzelnen Philosophen höchst unterschiedlich gefasst und z. T. komplex verklausuliert. Wir können also zusammenfassen, dass es notwendig ist, zunächst den vom jeweiligen Autor mit dem Begriff Existenz gemeinten Bedeutungsraum zu erfassen, um seine Gedanken nachvollziehen zu können, und wir auf keine allgemeingültige und von allen philosophischen und wissenschaftlichen Denkrichtungen akzeptierte Definition zurückgreifen können. Am breitesten und für den Anfang ausreichend, meint der jüdisch-katholisch-existenzialistische Philosoph Landsberg, sei »… die existenzielle Philosophie, … die Philosophie, in der der Mensch sein eigenes Menschsein zu begreifen sucht«8.

Auch die sich in den Lehrbüchern der abendländischen Philosophie unter dem Begriff Existenzialismus versammelnden Denker sind nicht leicht unter sie alle gleichermaßen charakterisierende Überschriften zu fassen. Viel zu heterogen ist ihre Art zu denken und zu schreiben, teilweise äußerst kompliziert und teilweise auch widersprüchlich ist der Aufbau ihrer Denkgebäude, und enorm unterschiedlich sind die einzelnen Persönlichkeiten. Vor allem aber eint sie eine fast pathetische, manchmal gar messianische Sicherheit, sich nun endlich mit dem zu befassen, was den Menschen erst wirklich zum Menschen macht. »Mit dem Titel ›Philosophie der Existenz‹ wird im 20. Jahrhundert das Denken von Philosophen bezeichnet, die nur das eine gemeinsam haben, dass es ihnen um den Menschen, und zwar als Individuum, und um sein Leben, sein ›Dasein‹ geht und dass sie diesem Vorrang vor allem anderen geben. Die Existenz, also dass etwas ist, geht der Essenz, dem Wesen der Dinge (was etwas ist), grundsätzlich voraus, wie Sartre in seinem Grundwerk ›Der Existenzialismus ist ein Humanismus‹ darlegt9. Dabei gilt es, nicht das, was allen Menschen gemeinsam ist, zu bestimmen, sondern das Individuum, der Einzelne, steht im Mittelpunkt des Interesses, denn diesem geht es um sich selbst in seiner Einmaligkeit, Unvergleichlichkeit und Unverwechselbarkeit«.10 Wir hören hieraus schon das Credo aller idiosynkratisch, d. h. auf das jeweils einzelne Individuum bezogenen Erkenntnistheorien heraus (Idiosynkrasie = Selbst-Eigenheit) und stellen so bereits zu Beginn die Weichen in Richtung einer bestimmten, eben nicht primär am Gruppenvergleich interessierten Psychologie. Denn »Die Existenzphilosophie ist emphatische Philosophie des Einzelnen … Nur wer gelernt hat, ein Einzelner zu sein, hat gelernt zu leben.«11

Überhaupt bedeutet die Orientierung am Existenziellen auch eine erkenntnistheoretische Vorentscheidung: Martin Heidegger hat vor allem in seinen in den 20er Jahren gehaltenen Vorlesungen die Hermeneutik als grundlegend für den Zugang zum Menschlichen, ja als ein »Existenzial« gesehen. Das Dasein ist per se hermeneutisch, ist ein eigentliches Verstehen-Wollen und gehört unauflösbar zur »sorgenden« Grundverfasstheit des Menschen. Deutung sieht er als der Erntearbeit analoge »Auslese«-Arbeit. Diese sehr spezielle und differenzierte Betrachtung von Hermeneutik, aber auch die anderen im philosophischen Diskurs entstandenen Hermeneutiken bilden sowohl das erkenntnistheoretische als auch das methodologische Grundgerüst einer wirklichen Zugangsweise zum Individuum. Ihnen wird die Nomothetik bzw. Numerik (die manchmal wie eine Numerologie anmutet), also der Versuch des Vermessens und mathematischen Zugangs zum Wesen des Menschen, maximal als Hilfswissenschaft zugeordnet.

Die folgende Auflistung nennt die wichtigsten Denker der existenzialistischen philosophischen Schulrichtung:

•  Sören Kierkegaard (1813–1855),

•  Karl Jaspers (1883–1969),

•  Martin Heidegger (1889–1976),

•  Jean-Paul Sartre (1905–1980),

•  Simone de Beauvoir (1908–1986),

•  Albert Camus (1913–1969).

Dabei ist der Erstgenannte, der dänische Philosoph Sören Kierkegaard, zum einen als »Urvater« der zentralen existenzialistischen Ideen – er führte den Begriff der »Existenz« in die neuere Philosophie über –, zum anderen aber gleichzeitig als Sonderfall zu betrachten, sieht er doch viele christliche Glaubensinhalte keinesfalls im Widerspruch zu seinen Gedanken. In dieser Nachfolge steht für die katholische Seite vor allem der französische Philosoph und Theaterautor Gabriel Marcel (1889–1973) und als evangelischer Theologe der deutsche, 1933 nach Amerika emigrierte Paul Tillich (1886–1965).

Vergleichen wir die Lebensdaten der Existenzphilosophen mit denen der ersten großen Psychoanalytiker, Sigmund Freud (1856–1939) und Carl Gustav Jung (1875–1961), so sehen wir, dass Psychoanalyse und Existenzialismus durchaus der gleichen abendländischen Denkepoche entspringen und schon allein deshalb aufeinander bezogen werden müssen.

Es gibt eine lange Geschichte der »Ikonographie des Leidens«12 im künstlerischen Schaffen. Existenzialistische Ideen finden sich in allen möglichen Kulturbereichen, etwa in der Literatur oder den Bildenden Künsten. Sartre selbst nutzte die Darstellung des Kunstschaffens, um sein zentrales Prinzip der freien Wahl zu erläutern13 und weist auf den existenziellen »Appellcharakter« des Kunstwerks hin14. Hier sind z. B. der bayrische Maler und Bildhauer Franz von Stuck (1863–1928) ( Abb. 1) oder der Leipziger »Universalkünstler« Max Beckmann (1884–1950) oder auch Edward Munch zu nennen (eine gewisse Verbindung zwischen Expressionismus und Existenzialismus ist nicht zu leugnen), in deren Werken Grundthemen einer existenzialistischen Weltbetrachtung deutlich werden. Überhaupt eignet sich eine »rezeptive Kunsttherapie«, also das Betrachten von Bildern, sehr, um die oft schwierig versprachlichbaren existenziellen Themen und erst recht die mit ihnen verbundenen Gefühlsschattierungen kommunikabel zu machen. Dazu gehört auch das Finden gemeinsamer Kommunikationsmittel, etwa in der Kommunikation über das Kunstwerk.

Abb. 1: »Sisyphus«, 1920, Gemälde von Franz von Stuck (1863–1928), Privatsammlung.

Viele existenzialistische Philosophen, vor allem Sartre und Heidegger (Letzterer wird zwar allgemein der Existenzialphilosophie zugerechnet, setzte sich selbst allerdings davon immer wieder ab), in einiger Weise aber auch Jaspers, beziehen sich auf die Phänomenologie (griech. phainómenon »Sichtbares, Erscheinung«; lógos »Rede, Lehre«) als Grundlage und Ausgangspunkt ihres eigenen Denkens. Dies meint einen Ansatz, der »in den Kategorien der Weltlichkeit, der Räumlichkeit, der Intersubjektivität und des In-der-Welt-Seins die grundlegenden Weisen der Existenz«15 erkennt. Er steht bekanntlich auch Pate für psychologische und vor allem psychoanalytische Erkenntnisgrundlagen und soll daher hier kurz genannt werden. Die Phänomenologie wurde von Edmund Husserl (1859–1938) begründet, und sie postuliert, echte Erkenntnisse könnten nur aus den unmittelbaren Erscheinungen entwickelt werden. Eine interessante Weiterentwicklung finden wir u. a. bei dem jüdischen Philosophen V. Flusser und seiner »existenziellen Phänomenologie« (2011).

Der Psychiater, Philosoph und Psychoanalysekritiker Karl Jaspers beschreibt eine »Psychopathologische Phänomenologie«, in der er die Phänomenologie sowohl als grundlegende Erkenntnistheorie in der forscherischen Betrachtung des Psychischen, aber auch als konkrete Methodik darstellt, die nah am sichtbaren Phänomen selbst bleibt und Interpretationen und Theorien vorsichtig einsetzt. Viele der philosophischen Erkenntnisse von Jaspers können unmittelbar auf psychotherapeutische Belange »heruntergebrochen« werden, wie etwa der Psychologe und Logotherapeut F. A. Gebler in seinem einschlägigen Buch zur »existenziellen Perspektive in der Psychotherapie« eindrücklich aufzeigt.16

»Der Analytiker muss sich dem Patienten auf phänomenologische Weise nähern; d. h. er oder sie muss in die Erfahrungswelt des Patienten eintreten und auf die Phänomene in dieser Welt, ohne die Vorannahmen, die das Verständnis verzerren, achten«, meint folgerichtig der »existenzielle Psychotherapeut« Irvin Yalom17, auf den später noch zurückzukommen sein wird, und auch C. G. Jung ist in dieser Hinsicht eindeutig, wenn er meint, »Theorien gehören im Gebiete der Psychologie zum Allerverheerendsten. Wir bedürfen zwar gewisser theoretischer Gesichtspunkte um deren orientierenden und heuristischen Wertes willen. Aber sie sollen stets als bloße Hilfsvorstellungen gelten, die man jederzeit zur Seite legen kann«18. Ähnliche phänomenologisch-behandlungstechnische Grundideen finden wir z. B. auch bei Sigmund Freuds »Gleichschwebender Aufmerksamkeit« oder Winfried Bions »No memory no desire«-Forderung. Auch die erwähnte Betonung des Hermeneutischen, etwa bei Heidegger zu einer ganzen Theorie der Auslegung avanciert, stellt eine wichtige theoretische Grundlage für die psychotherapeutische Forschung und Praxis dar.19 Wir sehen bei diesen einzelnen Themen bereits eine große erkenntnistheoretische Nähe zwischen weiten Teilen existenzialistischer Philosophie und wichtigen Ansätzen der Psychotherapie. Überhaupt ist von einer Reihe sehr psychotherapierelevanter Einsichten der existenzialistischen Denkweise auszugehen ( Kasten 1), die, wie wir sehen werden, von den verschiedenen therapeutischen Schulrichtungen in unterschiedlichem Maße und in verschiedener Art und Weise aufgegriffen und umgesetzt werden. Die dazu in Beziehung stehenden psychologischen Begriffe wären vor allem Ich, Ichkomplex, Ichfunktion, Identität, aber auch Selbst oder gar »Ganzheit«.

Zentrale Bestandteile psychischen Leids, wie etwa das Grübeln über den, wie die Existenzialisten meinen, eigentlich nicht auffindbaren Sinn des Lebens, oder diverse spezifische und unspezifische Ängste werden hier als Konsequenz der schonungslosen Betrachtung der eigenen Existenz aufgefasst und so quasi »philosophiert«. Auf die konstituierende Bedeutung der menschlichen Wahlfreiheit weisen Jean Paul Sartre und seinen Denkduktus weiterentwickelnd dann vor allem seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir (1908–1986) ( Abb. 2) hin. Diese schreibt sein Werk u. a. in Richtung auf die freie oder eben unfreie Wahl der (weiblichen) Geschlechterrolle innerhalb der vorherrschenden Gesellschaftsordnung fort. In ihrem Monumentalwerk, der oft als »Bibel des Feminismus« bezeichneten Schrift »Das andere Geschlecht«20, nimmt sie gleichsam die Geschlechtsrollenwahl der Frau zum Prototyp freier Entscheidung.

Kasten 1: Psychotherapierelevante Einsichten des Existenzialismus

•  Das menschliche Dasein ist ein Seiendes (Seiendes: Tatsachen, Gegenstände, zeitlich und räumlich bestimmbar), das sich immer auch zu sich selbst verhält (Heidegger).

•  Existenzielle Themen können nicht gelöst, sondern müssen getragen werden.

•  Der Mensch ist stets in Sorge um sein Sein und dessen Zeitlichkeit bzw. Endlichkeit (Sartre).

•  Der Mensch beherrscht das »Sich-Vorausdenken-Können«, das »sorgende« Fertigen eines Zukunftsentwurfes von sich mit Einbeziehung der Endlichkeit (Heidegger).

•  Durch die vorweggenommene Endlichkeit drohen Angst (Existenzangst) und Sinnlosigkeit

•  Nichts ist vorbestimmt, alles ist Folge meiner eigenen Wahl. Aber wähle ich eine Alternative (Sartres »Seinsentwurf«), vernichte ich die anderen.

•  Meine Identität ist unbestimmt und frei flottierend wählbar.

•  Der Mensch ist einerseits »zur Freiheit verurteilt« (Sartre), andererseits in sein konkretes Dasein »geworfen« (Heidegger).

•  Wir sind nur oder zumindest vor allem durch den Blick des anderen existent (Sartre), dieser lenkt unseren Seinsentwurf und führt u. U. zur Neurose.

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