reinhardt

Dipl.-Theol. Hildegard Wörz-Strauß, Augsburg, ist ausgebildete Klinikseelsorgerin und begleitet seit 2002 Eltern, die eine Fehl- oder Totgeburt erlitten haben. Ihr erstes Kind hat sie bei der Geburt verloren. Mittlerweile ist sie Mutter dreier Kinder.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-02810-8 (Print)
ISBN 978-3-497-61036-5 (PDF-E-Book)
ISBN 978-3-497-61038-9 (EPUB)

© 2018 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany
Covermotiv: Carla Brobst, Augsburg
Fotos im Innenteil: Hildegard Wörz-Strauß, Augsburg
Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München
Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser

Vom Wunder unseres Daseins

Tod am Beginn des Lebens

Der unfassbare Tod

Das schmerzliche Ende der Schwangerschaft

Das tote Kind begrüßen

Würdigung des toten Kindes

Die Bestattung

Rechte und Gesetze

Sprachregelungen

Beurkundung

Bestattungspflicht und Bestattungsrecht

Regelungen zum Mutterschutz

Wie sich Trauer zeigt

Vom Ausmaß der Trauer

Erstreaktionen

Erscheinungsformen der Trauer

Traueraufgaben

Trauern im Beziehungsgefüge

Partnerschaft – Mütter und Väter

Geschwisterkinder

Die Eltern der verwaisten Eltern

Die Welt drum herum

Trauern in erschwerten Situationen

Mehrfachbelastung

Mehrlingsschwangerschaft

Abbruch der Schwangerschaft

Frieden finden

Im Streit mit dem Schicksal – Ärger, Wut und Aggressivität

Gut für sich sorgen

Klärung von Schuld und Schuldgefühlen

Loslassen müssen und behalten dürfen

Erinnern und Gedenken

Welchen Sinn soll das machen?

Frieden finden – mein eigener Weg

Die Schwangerschaft danach

Entscheidung für eine weitere Schwangerschaft

Schwangerschaft und Trauer

Angst während einer neuen Schwangerschaft

Wirkungen auf die nachgeborenen Kinder

Hineingeboren in die Verfassung der Eltern

Hineingeboren in die Geschwisterlichkeit

Leben mit einem Geheimnis

Klärung von Verstrickungen

Entwicklungen

Nachgeborene Persönlichkeiten

Verschiedene Entwicklungswege

Berühmte Nachgeborene

Begegnungen

Danksagung

Informations- und Beratungsmöglichkeiten

Trauernde Eltern

Beratungsstellen für Schwangerschaftsfragen

Hinweise auf die Gesetzeslage in Österreich

Hinweise auf die Gesetzeslage in der Schweiz

Literatur

Register

Übungen zur Selbststärkung

Innere Beobachtung

Sich selber trösten

Einzigartig sein

Hilfreiche Wesen

Momentaufnahme

Erinnerung an Gelungenes

Hinter die Wut schauen

Erfüllte und unerfüllte Bedürfnisse

Bitte um Vergebung

Sich der Barmherzigkeit anvertrauen

Mit dem Herzen ein- und ausatmen

Loslassen

Liebevolles Erinnern

Das entscheidende Bedürfnis

Selbstberuhigung

Liebevolle Gefühle jetzt leben

Der Angst freundlich begegnen

Beschützt sein

Heilsame Wunschbitte

Wie ein Baum

Um Segen bitten

Gepäck ablegen

Liebe Leserin, lieber Leser

Die Zaubernuss ist ein Strauch, der vor dem Frühling blüht, eigentlich noch während des Winters. Rot oder gelb leuchten die zarten Blütenblätterfäden in der Sonne, voller Mut und Vertrauen inmitten von Reif und Schnee. Als damals die Trauerweide am Grab unseres Kindes verdorrte, pflanzten wir dort einen Strauch, der an seinem Geburtstag Anfang März blühen sollte: Das war eine gelbblühende Zaubernuss.

Inzwischen ist sie für mich zum Zeichen für die innere Kraft von Eltern, sich auch nach dem Tod eines Kindes wieder auf das Wagnis des Lebens, insbesondere eine erneute Schwangerschaft einzulassen, geworden. Sie ist für mich auch ein Symbol für die Kinder, die nach dem Tod ihres Geschwisterchens geboren sind: ein Aufbruch des Lebendigen, eine Ankündigung des Frühlings, ein gelbes oder rotes Leuchten in einer Zeit, in der die Temperaturen noch winterlich sind.

Deshalb werden Fotos der Zaubernuss Sie durch das Buch begleiten. Mit ihrer Zartheit, ihrer Kraft und Eigenwilligkeit, ihrem Charme, ihrem gelben und roten Leuchten und ihrer Blätter-Farbigkeit möge die Zaubernuss Ihre Zuversicht und Lebenskraft bestärken. Möge dieser „Segen der Zaubernuss“ Sie immer begleiten!

Eine Zaubernuss pflanzen

Als die Zeit der Trauer
zu Ende gehen wollte,
verdorrte die Trauerweide,
die auf seinem Grab stand.
Es wurde Zeit,
eine Zaubernuss
zu pflanzen.

Unser Dasein ist ein einziges, nie wirklich verstehbares Wunder: dass die Erde entstand in der Geschichte des Weltalls, wo Sterne geboren werden und sterben, Galaxien und schwarze Löcher; dass auf der Erde Gestein entstand und das Wasser; dass sich organisches Leben entwickelte, die unzählbaren Arten von Pflanzen und Tieren und irgendwann auch wir Menschen (Nilsson/Hamberger 2003)! Unser Dasein ist voller Zauber von Schönheit, Glück, Charme, Stärke und Zärtlichkeit und gleichzeitig bedroht von Zerbrechlichkeit, Schmerz, Angst und Erschrecken – von der Vergänglichkeit.

Das Buch, das Sie gerade aufgeschlagen haben, erzählt von einem besonderen Geheimnis unseres Lebens: von Menschenwesen, die sterben, noch bevor sie geboren sind; die in den Tod hinein geboren werden oder schon bald nach ihrer Geburt sterben. In allen Momenten unseres Daseins ist das Leben ein erstaunliches Wunder und unverfügbares Geheimnis. Aber in der Erfahrung, dass ein Kind stirbt, das doch gerade erst sein Leben hätte beginnen sollen, spitzt es sich noch zu. In der Begegnung mit diesen zerbrechlichen Menschenwesen ist „das Geheimnishafte“ zarter und machtvoller – provokativer – spürbar als in üblichen Alltagssituationen.

Das Buch beschreibt die Trauer um diese früh Gestorbenen, ebenso das Wagnis, sich erneut auf das Kommen eines Menschenwesens einzulassen, und die Freude und das Glück an ihrem Dasein. Darüber hinaus berichtet es von Erfahrungen von Menschen, die nach einem toten Geschwisterchen zur Welt gekommen sind. Durch ihre Erzählungen wurde mir bewusst, wie bedeutsam auch ein so kurzes Menschenleben für die gesamte Familie werden kann.

Ich habe selbst ein Kind verloren. Inzwischen sind viele Jahre vergangen, seit mein Mann und ich unser erstes Kind begraben mussten. Jakob war ein Mensch mit Trisomie 18, einer Chromosomen-Konstellation, die laut ärztlicher Diagnose „mit dem Leben des Kindes nicht vereinbar“ ist. Jakob starb Anfang März 1992 am Ende der Schwangerschaft und ich habe ihn tot geboren. Später hatten wir das Glück, drei Kinder zu bekommen, mit denen wir all die Jahre leben dürfen und die inzwischen erwachsen sind. Doch nach dem Tod unseres ersten Kindes konnten wir nicht mehr die Eltern sein, die wir ohne diese Erfahrung vielleicht geworden wären. Durch Jakobs Tod wurden unsere nachfolgenden Kinder in eine schwerere, traurigere und besorgtere Lebensstimmung hinein geboren. „Zu ihrem Schutz“ durften sie manches nicht tun, was für andere Kinder ganz selbstverständlich war. Und immer noch vermute ich, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Tod unseres ersten Kindes und der schwer behandelbaren Neurodermitis, die unsere Kinder seit den ersten Lebensmonaten über viele Jahre hinweg quälte. Andererseits sind wir bewusster und dankbarer für das Glück unserer später geborenen Kinder, für die Freude, dass sie da sind und genauso sind, wie sie sind, mit allen Reibereien und Sorgen, die es in unseren Beziehungen natürlich auch gibt.

Für meinen eigenen beruflichen Weg bewirkte Jakobs Tod eine Weichenstellung: Seit 2003 arbeite ich als Klinikseelsorgerin in einer großen Klinik. Ohne den Tod unseres Kindes hätte ich mich sicher nie um diese Stelle beworben. Jetzt begleite ich Eltern, die ihr Kind sehr früh verlieren, entweder während der Schwangerschaft oder kurz danach. Die meisten erlebe ich mitten im ersten Schmerz. Einige begegnen mir später wieder, z. B. bei einem Gedenkgottesdienst für das tote Kind, manchmal dann bereits mit nachgeborenen Geschwisterkindern. Manche Mütter und Väter nehmen oder nahmen auch an der Selbsthilfegruppe teil, die ich begleite.

All diese Begegnungen sowie meine eigene Erfahrung bilden die Grundlage für dieses Buch. Ich habe sie nicht statistisch erfasst und ausgewertet, sondern schreibe aufgrund der Spuren, die sie in meiner Erinnerung und in meinem Lebensverständnis hinterlassen haben. Bei den vielen Besuchen im Kreißsaal und im Krankenzimmer habe ich wertvolle Erfahrungen gemacht, und jede Begegnung war unvorhersehbar und einmalig, weil die betroffenen Eltern und ihre Lebenssituationen immer anders waren: wie sehr sie sich ein Kind gewünscht, wie lange sie schon darauf gewartet haben, ab wann sie das entstehende Wesen als ihr Kind verstanden und eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben, wie lange sie Gelegenheit hatten, diese Beziehung zu leben u.v.m. Alle diese Faktoren haben Einfluss darauf, wie sie den Tod ihres werdenden Kindes erleben.

Dementsprechend bedeutet für die einen der Tod ihres Kindes eine seelische Katastrophe, von der sie sich nur schwer erholen, für andere dagegen eher eine begrenzte Traurigkeit, „weil sicher etwas nicht gestimmt hat und es deshalb so besser ist“. Für manche Eltern, deren Lebensumstände voller Widrigkeiten gegen ein Leben mit einem Kind sind, kann der Tod sogar eine – wenn auch traurige – Erleichterung sein. Ich hoffe, ich kann mit meinem Buch zu einem besseren Verständnis beitragen, wie verschieden sich die Trauer um ein früh verstorbenes Kind äußern kann, vor allem aber für die mögliche Schwere dieser Trauer, die oft nicht gesehen und gewürdigt wird.

Als Seelsorgerin habe ich eher wenig Kontakt zu Eltern, die ihr Kind bereits in den allerersten Schwangerschaftswochen verlieren, dafür häufig einen intensiven Kontakt zu den Eltern, denen der Tod ihres Kindes oder auch ihrer Kinder schwer zusetzt. Die letzteren Begegnungen sowie meine eigene Geschichte prägen daher den Grundton des Buches. Wer es liest, muss damit rechnen, Schmerz und großer Trauer zu begegnen, kann aber gleichzeitig die Kraft, Zartheit und Liebe spüren, zu der wir Menschen fähig sind und die genau in diesen Erfahrungen zum Vorschein kommen kann.

In Gesprächen mit Eltern, die nach dem Tod ihres Kindes erneut ein Baby bekommen haben, erlebe ich häufig die gleiche Situation: Mütter und Väter erzählen mir von ihrem lebenden Kind, ihrer Angst und ihrer Freude. Doch gleichzeitig sind sie auch froh über die Gelegenheit, über ihr totes Kind sprechen zu können und ein offenes Ohr dafür zu finden, „wie das damals war“. Sie vergleichen den Verlauf der Schwangerschaften und der Geburten, erzählen, was ihnen damals wichtig war, was heute wichtig ist und was sie genau gleich oder auch ganz anders machen wollen.

In all diesen Begegnungen wird mir immer deutlich, dass die lebenden Kinder mit den toten verbunden sind und dass es bedeutsam ist, wie wir mit den toten Kleinen und mit unserer Trauer um sie umgehen. Wollen wir den Lebenden ihren Platz und ihr Einmaligsein ermöglichen, müssen wir dies auch den Verstorbenen zugestehen. Wollen wir frei sein für die Liebe zu unseren lebenden Kindern, müssen wir auch die Liebe zu unseren toten Kindern leben dürfen.

Ich berichte auch über Menschen, die erst nach einem toten Geschwisterchen zur Welt gekommen sind. Diese nachgeborenen Geschwisterkinder brauchen ebenso die Erfahrung, selbst geliebt zu sein, wie auch die Gewissheit, dass ihr totes Geschwisterchen von den Eltern geliebt wurde und immer noch wird. Manche solcher Begegnungen habe ich bewusst gesucht, manche Gespräche haben sich zufällig in der Klinik oder im Bekanntenkreis ergeben. Von Freunden erhielt ich Hinweise auf bekannte Persönlichkeiten, die ebenfalls „Nachgeborene“ nach einem früh verstorbenen Geschwisterchen waren, wie Vincent van Gogh, Salvador Dalí und Rainer Maria Rilke. Nachhaltig beeindruckt – eigentlich muss ich eher sagen: erschreckt – hat mich vor allem die Geschichte des Malers Vincent van Gogh, der am ersten Geburtstag seines totgeborenen Bruders zur Welt kam und den gleichen Namen erhielt. Sein Leben war tief überschattet von der Erfahrung, ein „Nachgeborener“ zu sein (Nagera 1973).

Wenn wir besser verstehen, welche Auswirkungen die Trauer selbst um ein sehr kleines Kind auf das Familiensystem und damit auch auf danach geborene Kinder haben kann, können wir nachvollziehen, wie wichtig es ist, dass die verwaisten Eltern auf eine möglichst hilfreiche Weise ihren Weg mit ihrer Trauer gehen können. Das ist die beste Voraussetzung für die heutigen Nachgeborenen, freier in ihr eigenes Leben eintreten zu können, als es Vincent van Gogh damals möglich war.

Inzwischen gibt es in der Gesellschaft ein Bewusstsein dafür, dass vergangene Familienerfahrungen sich prägend auf das Leben von späteren Familienmitgliedern auswirken können. Für Erwachsene, die nach einem toten Geschwisterchen zur Welt gekommen sind, mag es eventuell erleichternd sein, belastende oder schwierige Situationen ihres Lebens unter der Perspektive zu betrachten, ob diese Probleme etwas mit dem Tod ihres Geschwisterchens zu tun haben könnten. Denn wenn wir in die Wirren unserer Lebensgeschichte verstrickt sind, haben wir unsere Lebensenergie und Aufmerksamkeit nicht vollständig verfügbar für unser Leben hier und heute. Für diese Nachgeborenen schreibe ich in der Hoffnung, dass eine Klärung ihrer Lebensgeschichte und ein mögliches Verständnis ihrer Prägung ihnen helfen können, entlasteter, befreiter und froher zu leben.

Im Verlauf dieses Buches werden Sie einige Übungen zur Selbststärkung finden. Ich möchte Sie damit einladen, sorgsam mit sich selbst zu sein. Ob Sie nun dieses Buch als direkt Betroffene oder „nur“ als interessierte, freundschaftlich verbundene oder auch als fachlich damit befasste Person lesen: Das Thema wird Ihnen vermutlich zu Herzen gehen. Mit den Übungen können Sie etwas Erleichterndes und Unterstützendes für sich selbst tun, ohne Ihr Herz – zu Ihrem eigenen Schutz – verschließen zu müssen.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Beschreibung eines inneren Bildes, das ich in einem Zeitraum von zwanzig Jahren wie in einem Tagtraum sah und erlebte. Sie sind persönlich und intim, doch sie waren für mich so tröstlich, dass ich sie hier mit Ihnen teilen möchte. Diese inneren Bilder haben in mir den Eindruck hinterlassen, als erzählten sie etwas von einem „Dahinter“ oder „Darin“, das nicht nur für mich allein bedeutsam ist.

Ich widme dieses Buch unseren Kindern Jakob, Hannah, Theresa und Lukas.

Innere Beobachtung (in Anlehnung an Reddemann 2003, 39f.)

Wenn Sie vom Tod kleiner Kinder und der Trauer um sie lesen, sind Sie vielleicht sehr berührt von dem, was andere Menschen erlebt haben. Womöglich haben Sie selbst ein Kind verloren und es tauchen jetzt auch Ihre eigenen schmerzlichen Gefühle wieder auf. Es kann heilsam sein, sie noch einmal zu durchleben und dabei liebevoll mit sich selbst zu sein. Es ist aber auch möglich, dass Ihnen das Erleben dieser Gefühle im Moment zu heftig ist. Deshalb möchte ich Ihnen folgende Übung des „inneren Beobachters“ vorschlagen. Sie können diese „Beobachter-Fähigkeit“ für sich nutzen, um die Distanz zu schaffen, die Ihnen guttut.

Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst: Nehmen Sie wahr, wo Ihr Körper Kontakt zum Boden, zu Ihrem Sitzplatz hat … Lassen Sie sich Zeit dafür …

Gehen Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit durch Ihren Körper – vom Scheitel bis zu den Fußsohlen – und nehmen Sie dabei wahr, wo Verspannung und wo Entspannung ist … Lassen Sie sich wieder Zeit dafür … Sie müssen nichts verändern, nur mit Ihrer ganzen Aufmerksamkeit wahrnehmen …

Machen Sie sich bewusst, dass Sie damit die Fähigkeit besitzen, Ihren Körper zu beobachten … Sie sind also mehr als Ihr Körper …

Richten Sie nun Ihre Aufmerksamkeit auf Ihre Gedanken … Nehmen sie einfach nur wahr, welche Gedanken kommen und gehen …

Indem Sie Ihre Gedanken beobachten können, wissen Sie also auch, dass Sie mehr sind als Ihre Gedanken …

Nun achten Sie darauf, welche Gefühle im Moment in Ihnen sind … und wo und wie Sie sie spüren …

Weil Sie Ihre Gefühle beobachten können, sind Sie also auch mehr als Ihre Gefühle …

Nehmen Sie noch einmal bewusst wahr, dass Sie Ihren Körper, Ihre Gedanken und Ihre Gefühle beobachten können, dass Sie also nicht identisch sind mit ihnen und deshalb auch einen – vermutlich beruhigenden – Abstand herstellen können.

Kommen Sie dann mit der vollen Aufmerksamkeit zurück in den Raum.

Zum Weiterlesen

Nilsson/Hamberger 2003: Das Buch bildet fotografisch das Werden eines Menschen ab, vom ersten Kuss der Eltern bis zur ersten Zeit nach der Geburt.

Reddemann 2003: Für Reddemann ist die Vorstellungskraft die entscheidende Fähigkeit, unabhängig von den äußeren Bedingungen sich selbst zu trösten und zu stärken.

Der Vogel

I

Mein Mann und ich sitzen im Gang der Klinik und warten. Als die Ärztin aus dem Untersuchungszimmer herauskommt und ihre Kollegin nach dem Professor fragt, denke ich noch: „Bloß kein Fall für den Professor werden!“ Als wir dann aber dran sind, stehen plötzlich mehrere Ärzte samt dem Professor im Raum. Sie machen ernste Gesichter und raten uns wegen der fortgeschrittenen Zeit – es ist die 31. Schwangerschaftswoche – zu einer Nabelschnur-Punktion: Verdacht auf eine Chromosomen-Anomalie, die „mit dem Leben des Kindes nicht vereinbar“ sei. Gott sei Dank sind wir zu zweit hingefahren!

II

Es ist das Bild von seinen Fußsohlen, weswegen ich weiß, dass der Verdacht sich bestätigen wird. Als wir abends ins Bett gehen, sitzt da dieser große schwarze Vogel am Kopfende des Bettes. Er ist ganz deutlich zu spüren. Er sitzt einfach da und wartet, wartet auf unser Kind. Er zeigt keine Unruhe, keine Drohung. Er ist einfach da, um unser Kind mit sich zu nehmen, wenn es sterben wird.

III

Der Vogel bleibt da, und der Verdacht bestätigt sich: „Er wird die Geburt nicht überleben.“ Die Frauenärztin muss es mir mehrere Male sagen. Wahrhaben kann ich es nicht. Doch ich passe meine Wünsche immer mehr der Realitätsprognose an, nur ein Wunsch bleibt bis zum Schluss: „Einmal wenigstens möchte ich dich lebend im Arm halten.“ Ein Tag folgt dem anderen, jeden Morgen wird uns wieder ein Tag vergönnt. Zehn Wochen lang weiß ich: „Es kann jeden Tag sein, dass er stirbt.“ Es sind zehn geschenkte Wochen voller Zärtlichkeit, Angst, Hoffnung, Beklemmung, Liebe, Schmerz – zehn Wochen Leben. Die ganze Zeit sitzt der Vogel ruhig am Kopfende meines Bettes. Nur manchmal schüttelt er seine Flügel wieder zurecht. Fast kann ich es hören, die Bewegung spüren; es weht kühl von ihm her.

IV

Diese Hoffnung, ihn lebend zu sehen und im Arm zu halten! Falls er noch bis zur Geburt leben wird, will ich versuchen, ihm – so gut ich kann – die Geburt möglichst einfach zu machen. Ich will ihn nicht festhalten, sondern gehen lassen. Doch wie soll ich das schaffen? Mein Kind loslassen, wenn ich weiß, dass ich es in den Tod hineingehen lassen muss?

V

Das ist die Abmachung, die wir drei – mein Mann, ich und Jakob – miteinander getroffen haben: Wir unterlassen alles, was seine Lebensmöglichkeiten gefährden könnte. Das Kind ist es, das die letzte Entscheidung zu treffen hat. Und Jakob hat sich entschieden, vor seiner Geburt zu sterben. Es ist eine einfache Geburt, alles geht gut. Nur sehr still ist alles. Draußen scheint die Sonne und die Vögel zwitschern, und als er gerade geboren wird, läuten die Kirchenglocken. Am Abend nach seiner Geburt ist der Vogel an meinem Bett verschwunden.

VI

In den nächsten Tagen sehe ich die beiden immer wieder zusammen auf einer Wiese unter einer Birke. Jakob liegt im Gras und schläft. Der Vogel wacht aufmerksam und liebevoll neben ihm, damit niemand ihn stören kann. Das tröstet mich.

VII

Immer wenn ich jetzt irgendwo einen großen schwarzen Vogel sitzen sehe, gebe ich ihm Grüße mit. Wo die zwei jetzt wohl sind?

Der unfassbare Tod

„Unser Dasein ist ein einzigartiges, nie wirklich verstehbares Wunder“. Das bleibt für mich auch wahr angesichts des Todes dieser kleinen Menschenwesen, die noch nie einen eigenen Schritt getan, noch nie die Sonne, Blumen oder das Gesicht ihrer Eltern gesehen und noch nie ein eigenes Wort gesprochen haben. Für sie fallen Geboren- und Begrabenwerden zeitlich fast zusammen.

Zwar ist der Tod immer gegenwärtig – das wissen wir, wenn wir mit offenen Augen durch die Welt gehen. In den Nachrichten erfahren wir, dass täglich auch Kinder durch Kriege, Hunger, Unfälle und Krankheiten sterben, und meist erschrecken wir uns darüber. Hin und wieder hören wir von „glücklosen Schwangerschaften“, von Fehl- oder Totgeburten, von plötzlichem Kindstod, und vielleicht spüren wir ein mitfühlendes Bedauern. Doch letztlich bleibt der Tod uns fremd, solange er noch keine Lücke in unser eigenes Leben gerissen hat und sich das Fehlen des verstorbenen Menschen nicht auf unseren persönlichen Alltag auswirkt. Daraus entsteht oft eine Fremdheit, ein Unverständnis in den Beziehungen zwischen den Trauernden und „den anderen“.

Beispiel

Schon bald, nachdem ich in der Klinik zu arbeiten begonnen hatte, wurde ich zu einer Frau gerufen, die in der 20. Schwangerschaftswoche (SSW) ihr Kind tot geboren hatte. Als ich abends zu ihr ins Zimmer kam, ließ sie mir nur so viel Zeit, dass ich mich kurz vorstellen konnte. Bevor ich einen weiteren Satz sagen konnte, fragte sie mich: „Haben Sie so etwas auch schon mal erlebt?“ In dieser Situation war ich froh über meine eigene Erfahrung. Vermutlich hätte ich gleich wieder gehen können, wenn ich hätte „Nein“ sagen müssen. Für sie war klar, dass nur jemand mit einer vergleichbaren Erfahrung wirkliches Verständnis haben kann.

Solange wir nicht selbst erlebt haben, wie es ist, einen Elternteil, eine Schwester, einen Bruder oder ein eigenes Kind zu verlieren, können wir nicht wissen, wie es sich anfühlt, und uns nur sehr begrenzt vorstellen, was es tatsächlich bedeutet. Je näher der Tod aber an uns heranrückt, je näher wir uns mit der verstorbenen Person verbunden fühlen, umso deutlicher spüren wir, welche Bedeutung deren Tod für unser Leben hat.

Beispiele

Ein verwaister Vater sagte einmal: „Vor kurzem noch, wenn ich so etwas gehört habe, habe ich gedacht: ‚Oh, das muss ja schlimm sein!‘ Aber wenn ich es heute höre, trifft es mich ganz anders. Nun weiß ich, wie sich das anfühlt.“

Zu Beginn meiner ersten Schwangerschaft erhielt ich die Nachricht, dass das Kind eines befreundeten Paares schwer erkrankt war und beinahe gestorben wäre. Das machte mich sehr betroffen. Ein paar Monate später starb in dem Dorf, in dem wir wohnten, ein Kind kurz vor dem Entbindungstermin. Wieder war ich sehr bedrückt. Die Wucht aber, mit der mich der Tod unseres eigenen Kindes traf, war überhaupt nicht mit meiner damaligen Betroffenheit zu vergleichen.

Je realer die verstorbene Person für uns ist, je konkreter die Erfahrungen und Erinnerungen sind, die wir mit der verstorbenen Person verbinden, umso realer ist für uns auch ihr Fehlen, umso mehr spüren wir den Verlustschmerz oder können die Trauer eines anderen nachvollziehen.

Doch bei einem Tod während der Schwangerschaft besitzt das kleine sterbende Menschenwesen für die meisten Menschen noch keine Realität. Zwar haben vielleicht Familienangehörige die Nachricht vom „Zuwachs in der Familie“ erhalten oder bei der Arbeit wurde eine Kollegin eventuell als Schwangere wahrgenommen, doch niemand hat das Kind gesehen oder als eigenständige Persönlichkeit erfahren. Da das werdende Kind selbst für sie noch nicht „wirklich“ ist, können sie die Bedeutung seines Todes nur schwer nachvollziehen (Lothrop 2001); er bleibt für sie ungreifbar. Darum können viele Menschen nicht verstehen, wie radikal diese Erfahrung Müttern und Vätern den Boden unter den Füßen wegziehen und wie schwierig und langwierig es sein kann, sich wieder zu stabilisieren. Wenn sich ein Baby ankündigt, verändern die Eltern ihre innere Welt und stellen sich innerlich auf den Nachwuchs ein. Mit seinem Tod aber zerbricht diese neue, bereits begonnene Welt (Verwaiste Eltern e.V. 2000). Doch für die Außenstehenden hat sich noch nichts verändert, das jetzt zerbrechen könnte.

Beispiel

Eine trauernde Mutter klagt: „Vor der Schwangerschaft waren wir zu zweit. Während der Schwangerschaft sahen alle Leute auch einfach uns beide – mich halt mit dickem Bauch. Nach dem Tod unseres kleinen Sohnes sind wir jetzt auch weiterhin zu zweit unterwegs. Für die Leute hat sich äußerlich nichts verändert, aber unsere Welt ist nicht mehr die gleiche.“

Der frühkindliche Tod ist deshalb so unbegreiflich, weil er unserem Lebensverständnis, unseren Hoffnungen, Wünschen und Vorstellungen fundamental widerspricht. Normalerweise gehen wir von der Selbstverständlichkeit aus: „Bei der Geburt hat man das ganze Leben noch vor sich und erst als alter Mensch den Tod.“ Und auch wenn es schmerzen mag, finden wir es „in Ordnung“, wenn ein Mensch in hohem Alter, vielleicht sogar gebrechlich oder krank, nach einem erfüllten Leben dahinscheidet. Dass aber ein Mensch sein Leben gerade erst beginnt und bereits sterben muss, bevor oder während er geboren wird, dass diesem kleinen Wesen sein ganzes Leben einfach so weggenommen wird, erleben wir als besonders ungerecht und sinnlos – ja, als Bedrohung unseres Lebensverständnisses, Sicherheitsbedürfnisses und unseres Vertrauens ins Leben. Das kann doch nicht „in Ordnung“ sein. Was ist das für eine „Lebensordnung“? (Kast 2002)

Beispiele

Als wir die Diagnose erhielten, dass unser Kind voraussichtlich die Geburt nicht überleben wird, dachte ich oft: „Für alle, die mich jetzt hochschwanger mit meinem dicken Bauch sehen, bin ich ein Inbegriff des Lebens, aber in Wirklichkeit trage ich den Tod in mir.“

„Daheim hatten wir den Stubenwagen und das ganze Kinderzimmer schon für unser Kind hergerichtet. Es wollte nicht in meinen Kopf, dass unser Kind dort nicht liegen sollte! Es war einfach verrückt zu denken, dass ich es auf dem Friedhof in die kalte Erde legen soll.“

Das schmerzliche Ende der Schwangerschaft

Die Umstände, unter denen eine Schwangerschaft „glücklos endet“, sind sehr verschieden (Lothrop 2001). Manche Eltern müssen schon während der Schwangerschaft erleben, dass das Kind im Mutterleib tot ist und deshalb die Schwangerschaft beendet werden muss. Auch kommt es vor, dass die Geburt durch Blutungen, vorzeitige Wehen oder einen Blasensprung viel zu früh einsetzt und trotz aller Bemühungen nicht mehr aufzuhalten ist. Manchmal geschieht es auch, dass ein gefährdetes Kind trotz vollem medizinischen Einsatz (z. B. Notkaiserschnitt) und bester Intensivversorgung nicht mehr zu retten ist. Und einige Eltern entscheiden sich aufgrund schwerwiegender Gründe für einen Abbruch der Schwangerschaft.

Bei einer Eileiterschwangerschaft – wenn sich die befruchtete Eizelle versehentlich nicht in der Gebärmutter, sondern bereits im Eileiter eingenistet hat – muss der sich entwickelnde Embryo zum Schutz der Frau operativ entfernt werden. Bei einer Fehlgeburt oder einem Abbruch der Schwangerschaft bis zur 13./14. Schwangerschaftswoche (SSW) wird durch eine Ausschabung (Kürettage) oder durch eine Absaugung der Embryo mit Futtersack und Gebärmutterschleimhaut in einer kurzen Vollnarkose aus der Gebärmutter geholt. Wird der Tod des Kindes erst nach der 12./13. Schwangerschaftswoche festgestellt oder soll dann erst die Schwangerschaft abgebrochen werden, wird mit der Gabe von Medikamenten eine normale Geburt eingeleitet. Wiegt das Kind dabei weniger als 500 Gramm, spricht man in diesem Fall auch manchmal von einer „kleinen Geburt“. Von der ersten Medikamentengabe bis zur Geburt kann es einige Stunden, aber auch einige Tage dauern. Für die Geburt selbst wird den Frauen in der Regel eine lokale Narkose über das Rückenmark (PDA, Peridural-Anästhesie) angeboten, damit sie nicht das gesamte Ausmaß der Geburtsschmerzen spüren müssen. Ist das Kind oder die Mutter gefährdet, macht man etwa ab der 23./24. Schwangerschaftswoche einen Notkaiserschnitt in der Hoffnung, beide noch retten zu können.

Sobald der Tod des Kindes festgestellt oder die Entscheidung für einen Abbruch getroffen ist, entsteht auf ärztlicher und auch auf elterlicher Seite oft ein „Sog“, alles möglichst schnell hinter sich zu bringen. Im Nachhinein erzählen andererseits viele, dass ihnen alles viel zu schnell gegangen ist. In den meisten Fällen besteht medizinisch keine Notwendigkeit, ein in der Gebärmutter verstorbenes Kind sofort zu entfernen oder zu gebären. Es ist meistens durchaus möglich, wenn es die Eltern wünschen, noch eine Weile abzuwarten, ob der Körper der Mutter von sich aus die Geburt des toten Babys beginnt oder doch eine Ausschabung oder Geburtseinleitung stattfinden muss. In dieser Zeit könnten die Eltern das Gespräch mit anderen suchen, um die Realität der Diagnose zu realisieren und um nach dem ersten Schock klarer denken und spüren können, was ihnen wichtig ist (Funk 2017).

Vielen Eltern erscheint es als Zumutung, wenn das tote Kind nicht per Kaiserschnitt, sondern durch die Einleitung einer normalen Geburt zur Welt kommen soll. Ja, es ist eine Zumutung, doch sind die Belastungen eines Kaiserschnitts nach der Geburt und für eventuell folgende Schwangerschaften im Vergleich zu einer Spontangeburt wesentlich höher. Viele Frauen sind im Nachhinein froh, eine normale Geburt gehabt zu haben.

Das tote Kind begrüßen

Sobald die Schwangerschaft bekannt ist, bauen die Eltern – auch schon die älteren Geschwister und Großeltern – eine Beziehung zum werdenden Kind auf und fangen an, Vorstellungen und innere Bilder zu entwickeln und sich auszumalen, „wie es einmal sein wird, wenn das Baby dann da ist“. Mit dem Tod des Kindes verlieren sie ihr kleines Kind, ihr Geschwisterchen, ihr Enkelkind und ihre Zukunftsvorstellungen und -hoffnungen. Sie müssen sich von ihrem Kind verabschieden, bevor sie sich kennenlernen durften, und von ihren Vorstellungen, bevor sie etwas davon leben durften. Damit dieser Abschied gelingt, ist es hilfreich, das Kind zunächst liebevoll zu begrüßen und als eigenes – wenn auch totes – Kind anzuerkennen: „Ja. Du bist mein kleines Kind, mit dem ich leben wollte.“ – oder, bei einem Abbruch der Schwangerschaft: „Ja. Du bist mein kleines Kind. Es tut mir leid, dass ich nicht mit dir leben kann.“ (Goldmann-Posch 1988; Lothrop 2001)

Beweise seiner Existenz

Unser Anliegen in der Klinik ist es, ein kleines totes Kind nach seiner Geburt mit der gleichen Wertschätzung zu behandeln, die auch einem lebenden zusteht (Bernhard et al. 2003). Genauso wie ein lebendes Baby wiegen und messen die Hebammen das winzige Wesen, legen es je nach seiner Größe in ein buntes Seidentuch oder betten es in einen kleinen Schlafsack oder kleiden es an. Die Eltern erhalten eine Karte mit dem Namen des Kindes und der Aufschrift „Still geboren“. Darauf sind Datum und Uhrzeit der Geburt, Größe und Gewicht des Kindes eingetragen. Soweit möglich werden auch Fuß- und Handabdrücke des kleinen Menschen gemacht. Bevor das tote Kind in die Pathologie gebracht wird, fotografieren es die Hebammen und die Eltern können diese Fotos nach Hause mitnehmen. Wenn sie das nicht wollen, werden die Bilder zehn Jahre lang im Archiv der Klinik aufbewahrt.

Diese kleinen Dinge sind wichtige Beweisstücke für die Wirklichkeit des Kindes in einer Situation, in der alles wie ein Alptraum erscheint und in der – außer den Eltern und dem Klinikpersonal – niemand das verstorbene Kind tatsächlich gesehen hat. Es mag seltsam erscheinen, Fotos von einem toten Menschen zu machen, und sicher hätten die Eltern ihr Kind lieber als lebendes fotografiert. Doch sie haben nur diese eine Gelegenheit, wenn sie ihre Erinnerung wachhalten oder einem anderen Menschen sagen wollen: „Schau, das war mein Kind! So hat unser Baby ausgesehen.“ Es bleibt ihnen so wenig Greif- und Sichtbares von ihrem Kind, dass diese wenigen Dinge aus dem Kreißsaal später zu kostbaren Erinnerungsstücken an die – allzu kurze – Zeit mit ihrem Baby werden können (Lothrop 2001; Wolter 2012).

Beispiel

Als ich damals unseren toten Jakob betrachtete, dachte ich, ich würde es nie vergessen, wie er aussieht. Wie erschrocken, beschämt und traurig war ich, als ich zwei Wochen später merkte, dass ich mich nicht mehr deutlich an seine Gesichtszüge erinnern konnte! Es war zu wenig Zeit gewesen, um mir sein Gesicht dauerhaft einzuprägen. Wie froh war ich, dass mein Mann Fotos gemacht hatte, und wie bangte ich, dass im Fotolabor alles gut ging!

Begrüßung durch die Eltern

Ist das tote Kind geboren, stehen die Eltern vor einer schwierigen Entscheidung: Ist es besser, das tote Kind zu sehen oder lieber nicht? Was unterstützt durch die Trauer hindurch, was hilft beim Weiterleben? Was gibt Kraft für die eigene Lebendigkeit? Manche wollen ihr totgeborenes oder bald nach der Geburt gestorbenes Kind gar nicht erst sehen. Sie haben Angst davor, den Anblick des toten Kindes nicht ertragen zu können. Oder sie befürchten, dass damit alles nur noch schlimmer wird, dass sie schreckliche Bilder im Kopf behalten oder das tote Kind erst recht nicht mehr weggeben wollen. Es gibt Situationen, in denen das die bessere Entscheidung ist. Doch soweit es irgend möglich ist, raten begleitende Hebammen, Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte sowie Seelsorgerinnen und Seelsorger den Eltern, ihr totes Kind zu sehen und „wahr“ zu nehmen, es wirklich als ihr Kind zu sich zu nehmen und dann zu verabschieden – auch bei einem Schwangerschaftsabbruch.

In dem Moment, in dem wir von der Schwangerschaft erfahren, fangen wir bereits an, Vater oder Mutter zu sein. Fantasien über das wachsende Kind und unser künftiges Leben miteinander entstehen und eine gedankliche und emotionale Beziehung beginnt sich zu entwickeln. Ich glaube, dass dies für beide, für Mütter und Väter gilt, auch wenn es für die Väter lange Zeit nur beim Wissen bleibt, während Schwangere die Veränderungen in ihrem Körper und später die Bewegungen des Kindes viel früher und intensiver spüren.

Beispiele

Eine Schwangere, die einige Zeit stationär in der Klinik bleiben muss, sagt zu mir: „Ich musste jetzt so lange hier liegen. Da hab ich Zeit gehabt für mich und unser Baby. Mein Mann muss zur Arbeit und sich daheim um alles kümmern. Daher habe ich eine ganz andere Verbindung mit unserem Baby als er.“

„Für meine Frau ist alles viel schlimmer als für mich, denn sie hat das Baby ja in sich getragen und es schon gespürt.“

Das höre ich öfter von Männern. Das kann gut genau so sein, doch ich vermute, dass auch ein Mann, der sich ein Kind wünscht, mit dem Beginn der Schwangerschaft auf seine Weise – vielleicht schon ganz früh – eine Beziehung zu seinem Kind aufbaut.

Nach der Geburt das zarte stille Baby zu betrachten, es vielleicht zu berühren oder zu streicheln, wie man auch ein lebendiges Kind streicheln möchte, ist eine einmalige Gelegenheit, die Realität seines Daseins wirklich zu begreifen und die Bindung wirklich zu leben, die während der Schwangerschaft begonnen hat. Es ist ein einzigartiger Augenblick, dieses kleine Wunderwesen zu bestaunen, als eigenes Kind zu erkennen und wenigstens für eine kurze Weile bei sich zu haben:

Beispiele

„Da ist ja schon alles da, sogar die Fingernägelchen.“
„Schau mal die Zehen, genau wie deine!“
„Er schaut aus, wie sein Bruder ausgeschaut hat, nur viel kleiner!“
„So ein hübsches Kind! – Kein Wunder bei den Eltern!“

Natürlich bleibt es immer die alleinige Entscheidung der Eltern, sich dieser Erfahrung auszusetzen oder auch nicht, denn wir wissen nichts von ihrer Vorgeschichte und nichts von der Kultur, die ihre Entscheidung beeinflusst. Auch ist die Angst vor dem Schmerz natürlich begründet. Doch ich habe so oft erlebt, dass Eltern, die ihr totes Kind angeschaut und zu sich genommen haben, hinterher erleichtert waren. Für eine kurze Zeit konnten sie tatsächlich Mama oder Papa ihres Kindes, konnten sie eine gemeinsame Familie sein.

Beispiele

„Ich bin so froh, dass ich es getan habe! Es war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.“
„Es klingt vielleicht komisch, aber es war auch schön.“

Eine Mutter erzählt mir Jahre nach dem Tod ihrer kleinen Tochter: „Ich hätte sie küssen sollen, als ich sie im Arm bei mir hatte! Aber weil sie tot war, habe ich es aus Scheu nicht getan.“

Diese Situationen bergen nicht nur Schmerz und Traurigkeit, sondern auch eine wunderbare Schönheit. Meist sind die Angstfantasien viel schrecklicher als die Wirklichkeit: Sobald wir uns daran gewöhnt haben, dass ein kleines totes Kind anders aussieht als ein lebendes Neugeborenes, erkennen wir seine einzigartige Schönheit, und sobald die anfängliche Angst vor dem Schmerz überstanden ist, spüren wir auch Wohltuendes: Nähe, Zärtlichkeit und ein Gefühl des Zusammen-da-Seins.

Ich habe Eltern bei ihrem gestorbenen Kind schmerzlich weinend, staunend, flüsternd, aber auch scherzend erlebt. In solchen Momenten verhalten sich Menschen oft gänzlich anders als in ihren alltäglichen Verhaltensmustern, Verstrickungen oder Prägungen. Es ist, als offenbare sich in genau dieser Situation, mitten im Schmerz, die wahre innere Schönheit dieser Menschen: ihre wirkliche Gabe zu lieben.

Beispiel

So flüstert eine Mutter, die von der schweren Krankheit ihres Babys weiß und die sichtbaren Zeichen dieser Krankheit an seinem Körper auch wahrnimmt, ihrem toten Kind zu: „Für mich bist du vollkommen.“

In diesen außergewöhnlichen Momenten kann etwas Wertschätzendes, Inneres, Heiliges, Zartes und – erstaunlicherweise – sogar Lebendiges sichtbar werden, das für die bevorstehende Zukunft besänftigend, hilfreich und tröstlich werden kann. Ohne das Zusammensein mit dem toten Kind könnte man es nicht so deutlich spüren. Nicht nur für die Eltern allein, sondern für die ganze Familie kann es eine wertvolle Erfahrung sein, das zierliche kleine Enkelkind, das still daliegende Schwesterchen zu begrüßen, zu bestaunen, zu berühren, zu beweinen und zu verabschieden. Und für die Eltern kann die Gemeinschaft, die sie in dieser außergewöhnlichen Situation erleben, Trost und Stärkung für die kommende Zeit sein.

Solch ein erstes Kennenlernen und Schon-wieder-verabschieden-Müssen braucht manchmal eine Viertelstunde, manchmal einen ganzen Tag, und einen geschützten Rahmen im Kreißsaal, im Zimmer auf der Station oder im Abschiedsraum der Klinik. Für manche Eltern ist es genug, wenn sie ihr totes kleines Kind einmal gesehen haben, anderen tut es gut, wenn sie mehrmals die Gelegenheit haben, es bei sich zu haben. Auch innerhalb des Elternpaares kann das Bedürfnis verschieden sein.

Begrüßung durch die älteren Geschwister

Gibt es bereits ältere Kinder in der Familie, werde ich häufig gefragt, ob es besser wäre, wenn sie ihr totes Geschwisterchen sehen oder ob man sie davon verschonen sollte (Lothrop 2001). Wenn die Kinder vom Kommen eines kleinen Bruders oder einer kleinen Schwester wussten, raten wir in der Regel dazu, dass sie es anschauen dürfen, vorausgesetzt, sie sind damit einverstanden und die Eltern haben ihr totes Kind bereits selbst gesehen. Es gibt allerdings Situationen, in denen es besser ist, die Kinder nicht mitzunehmen: wenn zum Beispiel das Baby schon länger tot und seine Haut daher verletzt ist oder wenn stark ausgeprägte Missbildungen sichtbar sind. Doch die Eltern kennen ihre Kinder am besten und sollten nach ihrem Gefühl entscheiden, ob sie ihnen diesen Vorschlag machen. Manche Kinder wollen ihr totes Geschwisterchen sofort sehen, noch ehe man sie fragt, andere entscheiden sich dagegen. Hier gibt es kein Richtig oder Falsch, es geht vielmehr darum, eine in diesem Moment lebbare Entscheidung zu treffen.

Alle Kinder, die ich bisher mit einem toten Geschwisterchen erleben konnte, habe ich als sehr kompetent wahrgenommen. Wenn die Erwachsenen die Situation nicht zu einer schrecklichen machen, können die Kinder ihren selbstverständlichen, direkten, neugierigen, liebevollen, ehrlichen und alltäglichen Umgang als „große Schwester“ oder „großer Bruder“ ausleben. Meist wollen sie das stille Baby genauer anschauen, es vielleicht streicheln oder auf dem Arm halten oder ihm etwas mitgeben. Die einen gehen dabei ganz selbständig vor, die anderen wollen ganz nah bei Mama sein oder auf dem Arm von Papa. Ich weiß, dass man sich darauf verlassen kann, dass die Kinder selbst am besten wissen, was gut für sie ist (Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland e.V./Knöll 2003).

Beispiele