Meinen Kindern Anne und Pierre Walter

„Eine Quelle des Kummers ist, wenn du dich selbst verkünstelst und dich gegen niemand in deinem natürlichen Wesen zeigst, wie denn das Leben so mancher verstellt und darauf angelegt ist, wie sie sich sehen lassen wollen.“

(Seneca)

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© 2021 Meißner, Dirk

Lektorat und Korrektorat:

Intelligenz System Transfer Dreilinden

Coverfoto: Rolf Esser

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7534-7031-3

Inhaltsverzeichnis

  1. Kapitel
  2. Kapitel
  3. Kapitel
  4. Kapitel
  5. Kapitel
  6. Kapitel
  7. Kapitel
  8. Kapitel
  9. Kapitel
  10. Kapitel
  11. Kapitel
  12. Kapitel
  13. Kapitel
  14. Kapitel
  15. Kapitel
  16. Kapitel

1. Kapitel

(Sommer 1984)

Schattenhaft heben sich Bäume und Sträucher im Silberlicht ab. Der Mond hängt wie eine Laterne darüber. Wiesenteppiche bespannen den Hügel, der gleich zur Kulisse dramatischer Ereignisse wird. Noch beseelt nachtschlafendes Durchatmen die Natur. Aber von fern ist deutlich das Schlagen einer Nachtigall zu hören.

Die hintergründige Stille ist eine Falle und dazu da, die Absicht des Mannes, der langsam den Hügel erklimmt und den Schauplatz betritt, zu erahnen. Er spürt seine Herzschläge bis zum Hals und fürchtet, sie könnten ihn verraten. Der Mann schleicht vornübergebeugt und zwingt sich, unauffällig zu gehen. Durch Hast in dem vom Mondlicht behexten Gelände könnte er leicht zur Beute werden.

Auf dem Hang verharrt er, dann wirft er sich ins Gras und späht über das sich sanft ausbreitende Tal. Er kann die Silhouette des vorderen Signalzauns erkennen und ist beunruhigt, weil der Zaun weiter entfernt ist als er dachte. Angst zehrt an seinen Kräften. Auf den umliegenden Höhen könnten Grenzposten stehen und die Gegend mit Feldstechern absuchen.

Tatsächlich hat in der Nähe ein Grenzaufklärer mit Motorrad Stellung bezogen. Regungslos wie ein Uhu hockt er auf der schweren Maschine. Er scheint nur auf Gelegenheiten zu warten wie diese. Er kennt jeden Strauch, liest jede Fährte und weiß wie ein Pfadfinder, auf welche Tiere man als Beobachter trifft und welche Lebewesen nicht hier hingehören.

Wenn Rehe zur Brunftzeit über Signalzäune springen und dabei Grenzalarm auslösen, hat er das meistens vorhergesehen und ebenso schnell im Griff wie das auf Bucheckern gezielte Wildschweinwühlen auf dem frisch gepflügten Spurenstreifen.

Der Aufklärer schiebt die Pistolentasche zur Seite. Sein kritischer Blick streift über den Hügel. Dann konzentriert er sich auf seine Thermoskanne. Während er langsam den Becher abschraubt und darauf achtet, sich nicht zu verbrühen, erhebt sich zeitgleich der Mann und legt bis zu einer geeigneten Senke, die ihm Deckung bietet, wieder ein paar Meter Richtung Staatsgrenze zurück. Der Aufklärer mit dem Raubvogelblick schlürft an dem schwarzen Gebräu ohne Milchzusatz und Zucker, das ihn wachhalten soll. Aus der Tasche zieht er eine Leberwurst-Stulle, entfernt das Butterbrotpapier und beißt herzhaft hinein.

Da sieht er über der Wiese einen Vogel auffliegen.

„Den hat sicher etwas gestört“, denkt der Leberwurstesser. Er kaut lange und versucht, die Vogelart zu bestimmen. Ein Bodenbrüter könnte das sein. Sorgfältig legt er das Butterbrotpapier beiseite.

Das Brot schmeckt ausgezeichnet.

„Man muss es unter freiem Himmel genießen“, denkt der Naturfreund zufrieden. Sein Grenzgebiet ist weitgehend vor Unbefugten geschützt und in der Sperrzone umzäunt. Sogar Grenzposten müssen sich an Kolonnenwege und die vorgeschriebenen Wege halten. Radikaler kann Naturschutz nicht sein. Manche Stellen erreicht kein menschlicher Fuß, sie sind schon lange unberührtes Terrain. Es ist ein Privileg der Grenzaufklärer, auf jede Bauminsel, sogar ins Niemandsland vor dem vorderen Zaun, zur Überwachung und Kontrolle vorzudringen.

Seine Augen schweifen, während er Kaffee mit spitzem Mund schlürft, erneut über die Senke, ja im Umkreis dieser Bodenwelle scheinen sie länger zu verweilen.

Würde sich der Mann jetzt bewegen, der ausgerechnet da Zuflucht gesucht hat, hätte ihn der Grenzaufklärer mit bloßem Auge entdeckt. Aber der Flüchtling hält still wie eine Maus und rührt sich nicht. Er kämpft mit einer Panikattacke, versucht mühsam, sich unter Kontrolle zu halten. Denn der auffliegende Vogel hat ihn fast zu Tode erschreckt. Langsam beruhigt er sich wieder.

„Ich kann immer noch zurück“, denkt er, „und die Flucht in den Westen verschieben.“

Einerseits ist ihm der Mond zur Orientierung ein guter Begleiter, andererseits zieht ihn die Klarheit der Nacht für die Jäger ins Licht.

„Weiter!“, sagt er und bezwingt die Angst, die sich um seine Brust schließt. Er drückt seine Nase ins Gras. Es riecht nach Erde und er wird es ausprobieren, ob Erde im Westen genauso gut riecht. Der Gedanke soll ihn, so einfältig er ist, von seiner Angstumklammerung lösen. Deshalb überlegt er einen weiteren Augenblick, ob es vielleicht sinnvoll wäre, ein paar Krümel Heimaterde mit in den Westen zu nehmen.

Heimat? Nun melden sich andere Gefühle, denn er ist dabei, seine Heimat zu verlassen und ihr vermutlich für immer den Rücken zu kehren. Ein paar Zeugnisse, lieb gewordene Erinnerungsfotos und ein Personalausweis sind alles, was er drüben vorweisen kann. Den Bolzenschneider, den er mitführt, um Signaldrähte zu zerschneiden, wird er fallenlassen, sobald er das schwere Ding nicht mehr benötigt. Jetzt umklammert er ihn fest zu seiner Beruhigung.

Vom Signalzaun zum Ufer, vorher muss er noch das vordere Sperrelement überwinden, sind es vielleicht achthundert Meter. Sie werden ihn auf Leben und Tod verfolgen, ihre Posten am Elbufer zusammenziehen und versuchen, seinen Fluchtweg abzuschneiden.

Es sind die Wochen eines historischen Niedrigwassers der Elbe zu Beginn der achtziger Jahre und noch nie war der Druck auf die Staatsgrenze so groß. Den Schnellbooten der Grenztruppen fehlt Wasser unter dem Kiel, sie liegen auf Grund. Man kann ohne Schwierigkeiten durch den sonst so gefährlichen Fluss waten. Das Wasser steht kniehoch, in der Flussmitte reicht es kaum bis zum Hals. Der Fluss hat wenig Kraft und zieht träge seinen Verlauf. Er kann niemand abschrecken. Es ist leicht, das natürliche Hindernis zu überwinden.

Die Erbauer der Sperranlagen am Ostufer hatten sich auf Hochwasser eingestellt. Deshalb fehlen in diesem Elbabschnitt gänzlich die vor dem letzten Sperrelement eingegrabenen Minen oder die neueren Selbstschussanlagen, die direkt am vorderen Zaun montiert sind. Man kann ohne weiteres den „Eisernen Vorhang“ mit der Leiter und einem Seil bezwingen und muss wegen des niedrigen Pegels auch keine Verfolgung zu Wasser befürchten. Der Rundfunk im Westen meldet beinahe täglich: „Und wieder gelang heute Nacht an der Elbe einigen Menschen die Flucht!“

Er ist gut informiert. Nachher, wenn er Signalzaun und „Eisernen Vorhang“ bezwungen und den Fluss erreicht hat, wird er durchs flache Wasser schwimmen, tauchen und waten.

Während der Grenzaufklärer seine Thermoskanne verstaut, erhebt sich der Mann aus der Senke und huscht wie ein Wiesel zum Zaun. Es gehört zu den unglaublichen Zufällen, der geschärften Wachsamkeit eines solchen Jägers im entscheidenden Moment zu entgehen. Das Gelände ist frei, als der Aufklärer ein paar Schwierigkeiten hat, den richtigen Platz für die Thermoskanne in seiner Motorradtasche zu finden.

Der Mann erreicht den Signalzaun und wartet erneut, bevor er den Bolzenschneider gebraucht. Er kauert auf der Erde im Spurengraben, wo manchmal Wildschweine nach Bucheckern wühlen, und lauscht. Die Drähte sind nun deutlich zu sehen und er sucht für den Durchbruch eine geeignete Stelle.

Nach einer Weile springt ein Motorrad an und wirft einen Lichtkegel über die Wiese. Der Mann zuckt zusammen und bangt, dass er entdeckt worden ist. Sitzt er nun in der Falle? Wieder schnürt Angst seine Zuversicht ab. Dann sieht er mit großer Erleichterung, wie sich das Motorrad, ohne das Tempo zu erhöhen, auf der Landstraße entfernt.

Die Stille holt sich die Szene zurück. Nur eine Nachtigall, die näher gekommen ist, möchte noch seufzen. Vom Motorradfahrer hat der Mann jetzt nichts zu befürchten.

„Sobald der Vogel noch einmal zwitschert“, denkt er, „gehe ich meinen Weg.“

Endlich hören seine Gefühle auf, Achterbahn mit ihm zu fahren. Für den Moment ist er ruhig und zur Tat entschlossen.

Die Nachtigall lässt auch nicht lange auf sich warten.

Er hebt den Bolzenschneider und kappt die unteren Drähte, damit er hindurchkriechen kann. Dabei bleibt er für eine kostbare Minute zwischen den Drähten wie in einem Spinnennetz hängen. Er zappelt, flucht und kann sich mühsam befreien. Dann wirft er in hohem Bogen das Werkzeug wie sein früheres Leben weit von sich fort und rennt, von allem tatsächlichen und ideellen Ballast befreit, in eine andere Zukunft, aber erst einmal um sein Leben. Er muss das Ufer erreichen, sich vorher noch über den drei Meter hohen Zaun schwingen, und kämpft mit langen und energischen Schritten.

Nun gibt es auch von der anderen Seite, da sein Bolzenschneider Alarm ausgelöst hat, kein Pardon.

Die Posten sind nicht zu Fuß, sondern mit Krad und Kübelwagen gerüstet. In großer Verzweiflung wird der Republikflüchtling gewahr, dass sie bereits reagieren und schneller sind als er. Man kann es an den Scheinwerfern der Fahrzeuge erkennen, die sich auf dem Kolonnenweg bewegen. Eine Leuchtpistole wird abgefeuert. Der Stern brennt sich zum Zeichen, dass die Flucht abgeriegelt ist, blutrot in den nächtlichen Himmel.

Er blickt zurück und sieht, dass das Motorrad zurückkehrt und den Signalzaun erreicht. Mit einer Spurenlampe sucht der Grenzaufklärer die durchbrochene Stelle. Auch der Rückweg ist nun versperrt.

Sie werden die Schlinge enger ziehen, hinter dem überwundenen Signalzaun mit Grenzsoldaten einer rückwärtigen Einheit abriegeln und auch am Elbufer vor dem letzten Sperrelement die Postenkette verstärken. Dafür reißen sie eine Grenzkompanie aus dem Schlaf und werden bei Tagesanbruch mit einer Hundestaffel das Gelände durchkämmen.

Der Mann könnte sich nun ergeben. Stattdessen gräbt er mit bloßen Händen ein Loch. Manchmal, das ist schon vorgekommen, laufen die Hunde vorbei. Aber das passiert selten und es hängt von dem Versteck ab, das einer im Schutzstreifen findet.

Schutzstreifen ist ein doppelsinniges Wort. Laubreste vor einem Busch, hohes Gras über einer Mulde, Knüppel und Äste könnten ihn schützen. Er macht sich unsichtbar und will von der Bildfläche verschwinden. Noch nach dem letzten Strohhalm würde er greifen. Ergeben kann er sich immer noch.

Er ahnt, wie hoffnungslos seine Lage in Wirklichkeit ist, aber gräbt weiter.

Währenddessen verschafft sich ein anderer als Beobachter mit einem Opernfernglas, das nicht größer als ein Handteller ist, im Hinterland einen Überblick. Neben ihm auf der Bühne der Ereignisse kauert eine junge Frau im Versteck.

Er zoomt den Trabant Kübel der Grenztruppen heran, der sich mit heulendem Motor in Bewegung setzt und seinen angestammten Postenpunkt verlässt. Der Wagen, den der Volksmund Rennpappe nennt, rast und hüpft schlecht gefedert über die Piste. Es spricht alles dafür, dass eine besondere Lage im Schutzstreifen ursächlich für das taktische Manöver ist. Sicher werden die beiden Beobachter das erst wissen, wenn der Kommandeur Grenzsicherung den Stern aufleuchten lässt.

Sie haben schon zweimal zur Nacht hier gelegen und darauf gewartet, Zeugen einer Flucht zu werden. Den beobachteten Grenzdurchbruch wollen sie subtil für ihr eigenes Vorhaben ausnutzen.

„Es geht los! Hol die Simson aus dem Gebüsch! Ich glaube, jetzt ist unser Weg frei.“

Sie bringt das Moped in Stellung, mit dem sie gleich bis an den Zaun fahren werden.

Man muss sich gut im Grenzgebiet auskennen, um diesen Ausgangspunkt ohne Aufsehen und Kontrollen zu erreichen. Woher weiß er, auf welchen Umwegen man keinen Passierschein benötigt? Er kennt den Abschnitt und die Lage der Grenzkompanie, ihre Einsatzpläne, Kontrollpunkte und die taktischen Manöver, die sie gerade durchspielen. Er kalkuliert, dass sie jetzt die Flanken aufreißen, um im Durchbruchsbereich Präsenz und Postendichte zu verstärken. Kühl bereitet er sich auf den Absprung aus ihrem Versteck vor.

Seine Begleiterin ist ängstlich, aber sie verlässt sich auf seine Erfahrung. Sie erkennt keine Zeichen von Hektik oder Unsicherheit an ihm. Er streift sich Handschuhe über und tritt aus der Deckung.

„Nochmal: Du nimmst, wenn wir vorn sind, deinen Rucksack und das Seil. Pass auf, dass es sich nicht verheddert und gib mir dann nur den Haken. Alles wie abgemacht, ok?“

Sie holt tief Luft und flüstert ein „Ja“, haucht es, als ob sie gleich heiraten werden.

„Steig auf!“

Sie warten gespannt und abfahrbereit. Er nimmt noch einmal das Opernfernglas und schaut Meter für Meter über die mondbeleuchtete Bühne. Das Motorrad in der Ferne verunsichert ihn nicht.

„Das ist der Grenzaufklärer. Wir wissen jetzt, wo er ist und er wird uns nebenbei die Durchbruchstelle verraten.“

Man wird ihr Moped, wenn es auffallen sollte, mit dem Krad des Aufklärers verwechseln. Der Plan, mit der Simson bis zum Signalzaun zu fahren, ist kühn. Dadurch gewinnen sie Zeit.

Sie umfasst ihn vom Soziussitz und schmiegt sich zärtlich an seinen Rücken. Es signalisiert ihm bedingungsloses Vertrauen und soll ihn ermutigen. Nichts stärkt ihn so sehr wie ihre Nähe. Der Plan, den er mit ihr zur Ausführung bringt, ist durchdacht, gut vorbereitet, aber lebensgefährlich. Es darf nichts aus dem Ruder laufen.

Endlich taucht die Leuchtrakete die Szene in blutiges Rot. Alle Posten haben neue Positionen bezogen. Dafür wurden die Ränder im Schutzstreifen geöffnet. Erst die Grenzkompanie, die beim Heraustreten, Waffenempfang und Aufsitzen auf die Mannschaftswagen in diesen Minuten wie ein Wespenschwarm summt, denn der Aufklärer funkte, am Signalzaun waren Drahtschneider und keine Rehe am Werk, wird die taktischen Ausfransungen an den Rändern wieder schließen.

Routiniert werden die Kulissen für den finalen Vereitelungsakt verschoben. Hier scheint alles nach Drehbuch der Grenztruppen zu laufen.

Der Mann mit dem Opernglas tritt den Kickstarter und schlägt, als würde er einen Pferdehals klopfen, mit der Hand auf den bananenförmigen Tank. Er zieht die Kupplung und legt den Gang ein. Er ist aufs Äußerste konzentriert. Das Moped zuckt und ist bereit.

Bevor er die Kupplung loslässt, dreht er sich um.

„Wir haben zwanzig Minuten Zeit. Dann beginnt ein anderes Leben.“

„In Freiheit, wollen wir hoffen!“, stöhnt sie leise.

Fast gleichzeitig verletzen bei Boizenburg an der Elbe in dieser Sommernacht drei junge Menschen, ein Paar und ein Mann, eine Grenze.

Der Major im Grenzkommando Nord schaut wie gebannt auf die Einsatztafel mit den Symbolen und Lämpchen. Im Bereich Boizenburg tritt eine Beruhigung ein. Die Lämpchen hören gerade auf zu blinken, denn das Lagezentrum in Güstrow hat alle Postenbewegungen um die Durchbruchstelle erfasst. Der Stabschef baut sich mit einem Pott Kaffee hinter dem Major auf und sieht ihm über die Schulter. Beide sind übermüdet. Sie haben die dritte Nacht nicht geschlafen. Im Lagezentrum, das für mehr als hundert Kilometer Staatsgrenze zuständig ist, herrscht der Ausnahmezustand. Es wird von ihnen erwartet, dass sie am Morgen Festnahmen und keine Durchbrüche melden.

Zuletzt hat der General den Stabschef vor allen Augen heruntergeputzt, denn auch bei ihm liegen die Nerven blank.

Das Politbüro ist über die Jubelnachrichten aus dem Westen empört. Honecker fühlt sich persönlich von der Aufmerksamkeit, die das Spektakel in der Boulevardpresse erregt, angegriffen. Besondere Vorkommnisse an der innerdeutschen Grenze, die publik werden, mag man in Ostberlin nicht. Für den diensthabenden Major und den Stabschef wird es eng, denn die vom Westrundfunk ermutigten Republikflüchtlinge laufen in diesem Sommer wie die Hasen. Vor ein paar Tagen waren gleich vier in einer Nacht auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Der General hatte getobt und gebrüllt, als ginge es ihm nun selbst an den Kragen: „Warum wurde keiner der Staatsverräter gestellt oder erschossen!?“

Der Stabschef hat die Standpauke in guter Erinnerung. Man erlebt das nicht oft, dass sich Generäle derart gehenlassen.

„Nichts falsch machen“, denkt der Stabschef, „und einen kühlen Kopf behalten.“

Er rührt mit dem Löffel in der Tasse und sagt: „Diesmal springt uns der Schuft nicht von der Schippe. Den haben wir.“

Und der Major im Dienst gibt erleichtert zu Protokoll: „Das ging diesmal schnell. Der Kommandeur auf dem Bock hat gut reagiert.“

Mit Bock meint der Major die Führungsstelle, wo die Signale im Schutzstreifen zusammenlaufen.

„Wenn wir das Schwein haben, kriegt der Kommandeur Grenzsicherung einen Orden. Aber warten wir ab, wie sich das heute Nacht noch entwickelt.“

Der Major löst einen Knopf am Kragen. Er schwitzt. Wenn der Stabschef ein bisschen lockerer wäre, könnte man die Uniformjacke ausziehen. Die Luft im Lagezentrum ist zum Schneiden. Trotzdem raucht der Stabschef ungeniert seine langen Duett-Zigaretten.

Sie warten ungeduldig, dass die alarmierte Grenzkompanie die rechte, aufgerissene Flanke schließt. Der Stabschef sieht auf die Uhr.

„Das dauert zu lange. Viel zu lange dauert das. Da hilft, einfach nur üben, üben und nochmals üben! Wieso kommen die jetzt nicht aus dem Quark? Ist das die Fünfte?“

„Ja, die Fünfte Kompanie.“

„Ach, die von Hauptmann Schmidt! Na, da können wir lange warten! Das Einzige, was der kann: schöne Reden über den Sozialismus halten.“

Das Telefon klingelt.

„Nun gehen Sie schon ran! Das ist der Grenzabschnitt. Vielleicht haben sie das Schwein schon.“

Bevor der Major den Hörer abhebt, beginnen die Lämpchen rechts von der Lage, die sie erfolgreich abgeriegelt haben, zu blinken. Dort standen gerade noch die abgezogenen Posten.

„Was ist denn da wieder los?“, brummt der Major.

Man hört die Stimme des jungen Offiziers, der das Kommando im Abschnitt führt, am anderen Ende der Leitung.

„Genosse Major! Wir haben einen weiteren Durchbruch, diesmal rechts auf der geöffneten Flanke. Soll ich die Abriegelung links wieder aufheben?“

Dann stellt er die taktisch nicht leicht zu beantwortende Frage, weil das eine Zwickmühle ist: „Was soll ich jetzt machen?“

Der Major sieht den Stabschef an, der mitgehört hat und bereits einen Plan entwickelt, den die Dienstvorschriften nicht kennen und der in keinem ihrer Lehrbücher steht. Er lässt sich den Telefonhörer geben.

„Pass auf, Unterleutnant! – Du hebst die Abriegelung auf und schließt mit deinen Posten die rechte Flanke.“

„Alles wieder zurück?“, versichert sich der Kommandeur Grenzsicherung vor Ort ungläubig und man merkt ihm seine Ratlosigkeit an. Wenn das schief geht oder wenn er den Überblick verliert, werden sie ihn zur Rechenschaft ziehen. Also bringt er es noch einmal klar auf den Punkt. Aber seine Stimme zittert.

„Ich soll die Abriegelung wieder aufheben und alle Posten gehen zurück?“

Der Stabschef wird ungeduldig. Der Mann auf dem Bock scheint begriffsstutzig zu sein.

„Das habe ich doch gerade gesagt, warum stiehlst du uns die kostbare Zeit? Und deine Posten sollen fliegen und sich beeilen! Verstanden?“

„Verstanden.“

„Gib das sofort durch, dann meldest du dich wieder!“

Der Major war aufgestanden, denn ganz offensichtlich hat nun der Stabschef die Regie übernommen.

„Soll er ruhig machen“, denkt der Major und zieht langsam seine Uniformjacke aus, da sie ja nun doch im gleichen Boot sitzen, das sich irgendwie in Seenot befindet.

Nach kurzer Zeit klingeln zwei Telefone gleichzeitig. Und an der Tür zum Lagezentrum steht ein Melder, der den Stabschef dringend für den General sucht.

„Der Alte soll mir den Buckel runterrutschen!“, flüstert der Stabschef und der Major im Dienst, der es hört, grinst und möchte nicht mit seinem Vorgesetzten tauschen. Er denkt: „Zum Glück hat er diesmal den Schwarzen Peter.“

Im Abschnitt der Ersten Grenzkompanie, erfährt er auf der blauen Leitung, wurde eine verdächtige Person festgenommen.

„Das ist doch endlich einmal eine sehr gute Nachricht!“

Währenddessen lässt der Stabschef den Melder an der Tür abblitzen und greift zum anderen Hörer. Der junge Offizier aus dem Abschnitt, wo es gerade hoch hergeht, meldet: „Die Abriegelung ist aufgehoben. Der Weg von der ersten Durchbruchstelle liegt wieder offen.“

Der Stabschef überlegt, was er von dem jungen Offizier halten soll, was kann man von ihm erwarten? Diese „Dreijahresfliegen“ unter den Offizieren, die keine Berufsoffiziere sind, genießen nicht gerade sein größtes Vertrauen. Der hier scheint sich zumindest gerade zu halten. Die Lage ist außergewöhnlich und auf eine entschlossene Heldentat kommt es jetzt an. Am liebsten möchte er die Sache, wie sie ihm nun ganz genau vorschwebt, selbst auf dem Kommandoturm übernehmen. Aber leider ist das nicht möglich.

„Jetzt hörst du mir genau zu!“

Es ist nicht üblich, Offiziere niederen Ranges mit Du anzusprechen. Aber in diesem Fall entsteht eine Allianz, da wird ein Boot gezimmert, mit dem alle drei, der Stabschef, der diensthabende Major und der Unterleutnant, im Grenzabschnitt zusammen absaufen, sollte das ungewöhnliche Manöver misslingen. Der Stabschef spricht ruhig und deutlich. Nach jedem Satz macht er eine Pause.

„Wir probieren was Neues. – Ich baue voll und ganz auf deine Initiative. – Hast du verstanden?“

„Ja, ich höre!“

„Der Grenzaufklärer sichert die Durchbruchstelle?“

„Ja.“

„Sag ihm, er steigt jetzt in den Schutzstreifen und wird die Verfolgung aufnehmen!“

„Verstanden!“

„Du gehst rauf auf den Turm, aufs Dach der Führungsstelle, und suchst das Gelände mit dem großen Scheinwerfer ab! Ihr müsst das Schwein nervös machen, anleuchten und aufscheuchen.“

„Alles klar.“

„Und jetzt zum Kern der Sache. Vergiss deine Maschinenpistole nicht! Es wird nicht gefackelt oder Fangen gespielt. Von da oben wird sofort scharf geschossen! Der Feind darf auf keinen Fall das vordere Sperrelement erreichen! Du haftest mir dafür, hast du verstanden?“

„Verstanden! Festnehmen oder vernichten!“

„Flucht vereiteln, habe ich gesagt! Keine Experimente! Sonst macht uns der General einen Kopf kürzer. Viel Glück! Ich erwarte Bericht und mobilisiere Verstärkungseinheiten.“

Der Grenzaufklärer hat das Standlicht seines Motorrads auf die zerschnittenen Drähte gerichtet und eine Funkverbindung zum Bock hergestellt. Von dort erhält er neue Anweisungen. Bevor er in den Schutzstreifen schlüpft, ohne sich in Signaldrähten zu verfangen, denn er ist ja kein Dilettant, zieht er seine Pistole. Dann wartet er, bis der Kommandeur auf dem Bock den oben montierten und drehbaren Scheinwerfer einschaltet.

Der Lichtkegel ist über eine große Entfernung zu sehen und ruft im „gelobten Land“, das Ziel der Fluchtbewegungen, den Bundesgrenzschutz erst richtig auf den Plan. Durch das Abfeuern der Leuchtraketen sind die Beamten auf der anderen Seite aufmerksam geworden.

Viel ausrichten können sie nicht, in seltenen Fällen nur Schlimmeres verhindern. Es kommt vor, dass Grenzaufklärer den Flüchtling ein Stück in die Bundesrepublik weiterverfolgen und darauf bauen, dass es keine Zeugen gibt. Aber sie wagen es nicht, über die Demarkationslinie zu schießen, wenn der Bundesgrenzschutz zugegen ist.

Die Pistole vom Typ Makarow wird entsichert und der Grenzaufklärer greift an. Für den Offizier auf dem Turm, der den Scheinwerfer betätigt, muss er sich zu erkennen geben, um nicht selbst zur Zielscheibe zu werden. Er wartet auf das verabredete Blinken, nachdem er sich ins Licht gestellt hat.

Sein Verdacht, wo sich der Flüchtling versteckt haben könnte, fällt auf eine Bauminsel, in deren Mitte sich ein ausgetrockneter Tümpel befindet. Wo sollte der Flüchtling sonst Deckung finden? Der Scheinwerfer streift langsam über die Wiese, die ein ideales Schussfeld abgibt. Sollte sich jemand aus einer der Mulden oder Senken erheben, gerät er sofort ins Visier des Grenzkommandeurs, der vom Bock eine gute Sicht hat.

„Und hoffentlich hat er auch Schießen gelernt“, brummt der Aufklärer, weil er kein Freund dieser Bübchen mit Offiziersrang ist. Er ist noch ein alter Stabsfeldwebel, der sich zäh als Grenzsoldat nach oben gedient hat.

Als er ins Unterholz der Bauminsel einbricht, knackt es auch gegenüber, wo der Tümpel seine Mücken ausbrütet. Der beinahe ausgetrocknete Pfuhl liegt völlig im Dunkeln, denn die belaubten Äste schirmen Lunas Licht ab. Gebannt schaut der Jäger auf die Stelle, wo er den Eindringling vermutet. Er tritt näher, um mit der Taschenlampe das Versteck auszuleuchten. Gleichzeitig versinken seine Stiefel im schmatzenden Schlamm. Was sind das für Schatten? Da bewegt sich doch was! Er meint, Umrisse einer Gestalt zu erkennen und zielt mit der Handfeuerwaffe darauf.

„Grenztruppen der DDR! Stehen Sie auf und heben Sie die Hände! Befolgen Sie meine Anweisung oder ich schieße!“

Nichts rührt sich, aber es knackt wieder. Er wiederholt langsam und deutlich seine Aufforderung. Aber nichts passiert. Da entschließt sich der Grenzaufklärer, zur Warnung in die Luft zu schießen. Trocken bellt der Pistolenschuss. Vögel flattern auf. Auch das Wesen, das sich im Tümpel versteckt hält, springt vor Schreck auf die Seite. Es bietet auf sechzig Meter ein hervorragendes Ziel. Beinahe hätte es der Aufklärer niedergestreckt.

Es ist nur ein richtiges Schwein, ein wildes und befugtes, für das die Vorschriften und Aufforderungen im Grenzabschnitt nicht gelten.

„Verdammtes Schwein!“, flucht der Schütze, der auf die falsche Fährte gesetzt hat.

Er verlässt die Bauminsel, die er sich demnächst einmal genauer ansehen wird, und tritt ins offene Gelände.

„Warum“, denkt er, „streift der Scheinwerfer nicht gleichmäßig darüber hinweg?“

Sie wollten doch die Wiese absuchen und den Kerl aufscheuchen. Stattdessen winkt der Offizier auf dem Bock unaufhörlich mit dem Gerät und der Aufklärer ahnt, dass der Abschnittskommandeur da oben ein paar Schwierigkeiten mit der Technik hat. Tatsächlich gelingt es nicht gleich, den Scheinwerfer aus der Arretierung zu lösen und um mehr als neunzig Grad zu drehen.

Das muss allmählich auch der Mann mit der Fluchtabsicht merken, der den größten Vorteil davon hat. Außerdem ist ihm, dessen Vorhaben steckenblieb, auch nicht entgangen, dass die Grenzposten die Abriegelung wieder aufheben. Nur das Motorrad mit dem Standlicht interpretiert er falsch, als er meint, der Grenzaufklärer, oder wer immer an der Durchbruchstelle verharrt, warte dort, um seinen Rückweg abzuschneiden.

Also rappelt er sich auf. Fürs unauffällige Heranpirschen an den „Eisernen Vorhang“ ist keine Zeit. Er rennt, als wollten ihm auf den letzten Metern die Wiese und die Freiheit entgegenspringen. Noch im Lauf löst er das Seil, das er sich umgebunden hat. Den Haken muss er noch aus dem kleinen Rucksack nehmen und mit einem Karabiner am Seil befestigen. Das Werfen hat er tausendmal im Wald geübt. Der Haken muss sich in der Zaunkrone verfangen, drei Meter über dem Boden. Als er den Sperrzaun erreicht und mit dem Haken hantiert, zittern die Hände. Aber gleich der erste Wurf gelingt ausgezeichnet. Auch Seilklettern unter derartigen Bedingungen hat er zu seiner Vorbereitung gelernt. Das zahlt sich nun aus. Über zwei Meter Höhe hat er das Sperrelement schon bezwungen. Hat er es so gut wie geschafft?

Offensichtlich konnte der Offizier auf dem Bock den Scheinwerfer lösen, der nun rundum das Gelände ableuchtet.

Das hat dem Gejagten gerade noch gefehlt!

Aber das grelle Licht streift zuerst über ihn hinweg. Vom Turm, der zu weit entfernt steht, kann man den Flüchtling schlecht sehen und der Kommandeur ist im Moment noch mehr mit der Funktionsprobe des Scheinwerfers beschäftigt, als den Abschnitt systematisch abzusuchen.

Noch einen letzten Meter muss der Mann, der sich am Seil heraufzieht, überwinden. Er hat vergessen, die Handschuhe überzustreifen. Die Zaunkrone aus spitzem Metall könnte ihm die Handflächen aufreißen. Das ist ihm jetzt völlig egal, wenn er die Krone nur gleich mit der Hand zu fassen bekommt, um sich hinaufzuschwingen und mit dem Körper über den Sperrzaun zu wälzen. Hinter dem Zaun ist er so gut wie in Sicherheit. Dort befindet sich das Ufer der Elbe.

„Halt, stehenbleiben oder ich schieße!“

„Nein“, denkt der Mann, der es nun schon so weit geschafft hat, „das kann ich nicht zulassen. Haben sie so lange gewartet, bis ich am Seil hänge? Was sind das für Spielverderber und Zyniker, die immer am längeren Hebel sitzen?“

Was meinte der Jäger mit der Pistole und der beißenden Stimme, die ganz außer Atem ist? Stehenbleiben?

„Wie soll ich denn in dieser Lage, ohne Grund unter den Füßen, stehenbleiben? Ist das ein Witz?“

Seine Hand liegt bereits auf der Zaunkrone und er zögert keinen Augenblick, weiter nach oben zu klettern. Auch der Schuss, den der Grenzaufklärer zur Warnung in die Luft abgibt, hält ihn nicht davon ab. Immer noch zeigt sich der Flüchtling in voller Breitseite. Er ist ein nicht zu verfehlendes Ziel. Warum schießt der Grenzaufklärer nicht sofort und direkt auf die Umrisse des Körpers, der keine zwanzig Meter von ihm entfernt ist?

Weil es den Schießbefehl, jedenfalls wie ihn sich manche vorstellen, nicht gibt. Der erfahrene Stabsfeldwebel handelt nach Vorschrift, auch wenn ihn, bei allem was nun folgt, die Geschichte der deutschen Teilung und eine Kategorie der über dem Gesetz stehenden Moral eindeutig ins Unrecht setzen. Er hat den Grenzverletzer angerufen und aufgefordert stehenzubleiben, er hat ihn also gewarnt und einen Schuss in die Luft abgegeben. Nach den Vorschriften muss er nun direkt auf den Mann schießen.

Der Aufklärer hat kein moralisches Problem. Er wird das ohne Gewissensbisse erledigen. Wahrscheinlich würde er unter anderen Vorzeichen ebenso handeln, ja das ist sogar sehr wahrscheinlich. Man stelle sich vor, er würde ein Munitionslager der NATO bewachen und einen Dieb oder einen Friedensaktivist stellen, der sich keineswegs um die Aufforderung schert, auf der Stelle die Hände zu heben.

Am „Eisernen Vorhang“ rütteln die uralten Fragen, wann muss man Befehle verweigern oder befolgen und welche Gesetze verletzen höheres Recht.

Wie der Pistolenmann vor dem Republikflüchtling herumfuchtelt und schreit, „Kommen Sie herunter! Kommen Sie sofort herunter, sonst muss ich schießen!“, befindet er sich in einer verzwickten Lage. Er hätte den Grenzverletzer viel lieber als eine Trophäe festgenommen und heimgeführt als auf ihn zu schießen.

Aber der Mann schlägt das rechte Bein über den Zaun.

„Ich mache jetzt von der Schusswaffe Gebrauch!“, brüllt der Stabsfeldwebel und zielt. Gleichzeitig blitzt das Scheinwerferlicht auf und nun ist sogar, wie der da am Zaun hängt, das feine Gesicht des Mannes gut zu erkennen.

Sie sehen sich direkt in die Augen. Als der Mann den Rücken durchdrückt und am Seil zieht, nimmt er, vornübergekippt und Halt am Seil und nicht am scharfen Grat suchend, eine merkwürdige Schräglage ein. Verbittert presst er die schmalen Lippen zusammen. Den Kopf schiebt er trotzig in seinen Nacken. Wie der Schwebende von Güstrow sieht er aus, ganz wie Ernst Barlachs Schicksalsgestalt, die unter der Güstrower Domkuppel hängt und endlos lange schwebt, weil diese verrückte Zeit zum Stehen gekommen ist.

„Schieß doch!“, sagt dieses erlöschende Gesicht. Und schon schließen sich die Augenlider. Die Gestalt schläft und überdauert.

Aber die Gestalt ist kein Engel, sondern ein Mensch in Todesangst und höchster Gefahr. Es läuft, wenn er das Bein nicht zurückschlägt und dann langsam herunterkommt, auf seine Hinrichtung hinaus. Wird er sich ergeben? Oder ist es egal, weil die Zeit sowieso steht?

Drei Schüsse zerfetzen den Zaun. Der „Eiserne Vorhang“ schüttelt sich und vibriert. Dreimal überträgt sich das auf den hilflosen Körper. Das sind nun einmal richtige und heftige Geschosse mit furchtbarem Knall. Sie stammen nicht aus einer kleinen Pistole.

„Jetzt bin ich tot“, denkt der Mann, „jetzt ist es aus.“

Der Offizier vom Bock hat es trotz großer Entfernung gewagt, mit der Maschinenpistole zu schießen. Es hätte unter Umständen den Grenzaufklärer treffen können.

Dessen Handfeuerwaffe versagt wegen einer Ladehemmung, als er im gleichen Moment den Abzug betätigt.

„Diese verdammte Makarow, dieser Russenprügel!“, schimpft der Aufklärer und ist außer sich.

Den Mann, dessen Seele man eben angeschossen hat, ohne seinen Körper zu treffen, verlassen die Kräfte. Die Einschläge im Zaun galten ihm. Er spürt die barbarische Wucht nachhaltig in seinem Kopf. Was hat ein Mensch dieser brachialen Gewalt entgegenzusetzen? Es fühlte sich an, als wollte ihn das Sperrelement abschütteln und zum Verrecken in eine Grube stoßen.

Sein rechtes Bein rutscht langsam zurück. Der Schreck sitzt noch in seinen Knochen. Das Hosenbein verfängt sich am schmalen und scharfen Grat der Zaunkrone. So hängt ein Leben am seidenen Faden, nur dass es kein Faden, sondern ein banales Hosenbein ist.

Da schlägt der Schwebende die Augen auf und sieht, wie der Stabsfeldwebel fieberhaft mit der Pistole hantiert, um die Ladehemmung zu beseitigen.

Eine letzte Chance könnte das sein. Der Mann schöpft Zuversicht und will leben. Er zieht sich nun wieder ein Stück nach oben. Immer noch fehlt ihm die Kraft, weil die abgefeuerten Schüsse seine Seele verletzt und ihn schwer in seiner Würde beleidigt haben. Nur Filmhelden in einem billigen Western stecken so etwas im Vorübergehen weg. Der Anschlag auf sein Leben ist ihm durch Mark und Bein gegangen. Das wird er niemals vergessen.

Mit einem Mal hat er es geschafft. Er weiß nicht wie und warum. Jetzt muss er nur noch nach unten springen, ohne sich etwas zu brechen. Denn die Zeit, das Seil heraufzuholen und auf der anderen Seite hinabzuwerfen, hat er natürlich nicht. Der Grenzaufklärer fasst schon danach und für den steht in diesem Moment fest, dass er die Verfolgung bis zur Flussmitte aufnehmen wird. Vorher möchte er noch einen Schuss aus der Pistole abgeben und lädt durch.

Der Schwebende springt rechtzeitig und verschwindet auf der anderen Seite. Nach wenigen Sätzen erreicht er den Fluss.

Am anderen Ufer betritt der Bundesgrenzschutz die Bühne. Die Beamten haben das gegenüberliegende Ufer mit ihrem Fahrzeug erreicht. Man sieht zwei starke Taschenlampen, die winken.

Als der Stabsfeldwebel seinen Oberkörper über die Zaunkrone hebt, kann er die Lage einschätzen und er ändert augenblicklich seinen Entschluss. Der Flüchtende ist außer Reichweite. Der Vorsprung ist nicht einzuholen. So wagemutig, die drei Meter vom Sperrelement hinunter zu springen, ist der denn doch eher behäbige Grenzaufklärer nicht. Bevor er das Seil zu Hilfe nimmt, hat der Flüchtling schon fast die Flussmitte erreicht. Eine weitere Verfolgung hat keinen Sinn. Die Beamten von drüben könnten dem Flüchtling Feuerschutz geben. Der Grenzaufklärer gibt auf.

„Kommen Sie hier her! Beeilen Sie sich! Es sind nur noch ein paar Meter.“

Die Beamten stellen sich so, dass sie selbst Zielscheibe wären. Sie wissen, dass niemand mehr einen Schuss in ihre Richtung abgeben wird. Trotzdem gehört Mut dazu, sich in die Schusslinie zu stellen. Schon haben sie dem Flüchtling, als er aus dem Fluss steigt, eine Decke übergeworfen und ihn zu ihrem Jeep geführt. Er ist den Jägern entkommen.

Diese Grenze ist das äußere Skelett, das Stützsystem eines Staates, der die Kruste benötigt, um nicht in sich zusammenzufallen. Noch fünf Jahre werden vergehen, bis die DDR nach einer friedlichen Implosion in sich zusammenstürzt. Aber schon heute ist ihr, die dieses Grenzregime braucht, absehbare Vergänglichkeit beschieden. Man könnte die DDR mit ihrem Grenzskelett als etwas Wirbelloses begreifen, das sich nach außen und innen abstützen muss und mit höchster Empfindlichkeit reagiert, sobald einer ihren Panzer erschüttert oder auch nur daran klopft.

Aber die Vorstellungen der meisten Menschen über die Zukunft stützen sich, ob sie es wahrnehmen oder nicht, an dieser eher nach innen als nach außen gerichteten Grenze. Ihre eingemauerten Gedanken beziehen sich, wenn sie um die Zukunft kreisen, auf historische Nachkriegskoordinaten, auf die man sich eingestellt hat und auf die man sich im Alltag verlässt. Selbst Unpolitische orientieren sich daran. Die meisten suchen ihr geregeltes Auskommen im Diesseits der Realität.

Der bis an die Zähne bewaffnete Zwerg unter den Staaten wird vom Westen mit Argwohn und Feindseligkeit behandelt, mit Geringschätzung und von oben herab, damit er sich oder wodurch, was dialektisch zusammengehört, der Lächerlichkeit preisgeben kann. Kaum einer ahnt, dass aller auf die Zukunft des Staates gerichtete Eifer ins Nichts schlägt und wie unerheblich er ist. Schon auf ein paar Jahre hin bauen alle auf fließenden Sand. Es rieselt und knackt in den Fundamenten.

Peinlich, wie das Kleinwüchsige hochstapelt, sich in der Welt als etwas Neues und Fortschrittliches feiert. Die Politischen sprechen ehrfurchtsvoll von einer historischen Mission, als würden sie ein neues Christentum verbreiten. Doch die DDR hat ihren Zenit überschritten und ist endgültig in den Zugzwang ihrer Verheißungen geraten. Mitte der achtziger Jahre werden die Losungen der Partei gespenstischer und schräger.

2. Kapitel

(Sommer 1980)

Till drückte den Klingelknopf, nachdem er sich umgesehen und mit der Einfamilienhaussiedlung im Hummelweg vertraut gemacht hatte. Er holte tief Luft und versuchte zu lächeln. Ein Schritt ins Unbekannte erwartete ihn, weil er seine Helena das erste Mal zu Hause besuchte.

Mit der Liebe, die es gewaltig und groß mit den Siebzehnjährigen meinte, bevölkerte sich in diesen Tagen der Himmel mit Traumbildern und Wünschen. Die Bilder ihrer Sehnsüchte entsprangen einer Zuneigung und Seelenberührung, die sie verzauberte und mit Jubel den Niederungen der Wirklichkeit entrückte. Sie befanden sich im Zustand der gegenseitigen Erhebung.

Als Friedenszeichen für die Mutter hatte er sein Mathematikbuch mitgebracht. Das hielt er nun augenfällig zur Legitimation als Passierschein bereit. Er spielte den Nachhilfelehrer und Spezialisten für mathematische Gleichungen. Das Schulbuch war die Eintrittskarte zum Mädchenzimmer und Schlüssel für zweisame Stunden im Hause Friederich.

Die Mutter taxierte ihn, neugierig und freundlich, was er mit Erleichterung registrierte, dann ließ sie ihn nicht ohne sachverständiges Nicken zu Helena hinauf. Statt einer halsbrecherischen Konversation deutete Till mit dem rechten Daumen auf den Titel des Schulbuches hin. Das musste reichen. Die Mutter seufzte erleichtert.

Helenas Vater war zu ungeduldig, der Tochter die naheliegenden Lösungsschritte zu erklären. Daraus war, wenn überhaupt, nur spärlicher Lernerfolg zu erzielen. Frau Friederich versprach sich von dem jungen Mann einen Durchbruch und einen Befreiungsschlag im immer unübersichtlicheren Wald der Fragezeichen. Allerdings wusste sie nicht, wie gering der Vorsprung doch eigentlich war, den Till, der eine Parallelklasse der gleichen Oberschule besuchte, vor Helenas Fertigkeiten im Lösen schwieriger Matheaufgaben hatte. Hinzukam, dass er sich für Mathematik und Naturwissenschaften nicht besonders interessierte, sich also auf dünnem Eis befand und auf keinen Fall als Könner auf diesem Gebiet auszeichnete.

Zuletzt war ihm ein schöner Zufall bei der Ausbildung seiner Fertigkeiten zu Hilfe gekommen. Während es nämlich in Helenas Klasse zum täglichen Beweis, dass der Lehrer keine Ahnung hatte, nur so von schlechten Noten hagelte, was die Unsicherheit in Helenas Klasse verstärkte, übernahm eines Tages zur eben richtigen Zeit bei Till ein ausgezeichneter Didaktiker den Mathematikunterricht. Dessen Ehrgeiz bestand darin, auch noch den letzten Träumer, der auf Kriegsfuß mit der Mathematik stand, von der Einfachheit der Logik und den Segnungen wiederholten Übens zu überzeugen. Dieser Lehrer wusste noch jeden störrischen Verstand für sein Fach einzunehmen und nichts ermutigte seine Schäfchen mehr, zu denen auch Till gehörte, als die schlafwandlerische Sicherheit, die sie allmählich beim Rechnen erwarben, um nie wieder vom hohen Reck der Abiturmathematik zu fallen.

Vermutlich gelang dieses Trainerkunststück auch nur, vermutete Till, weil sich der Lehrer mit dem weißen Kittel wie ein Psychiater in jeden noch so verkorksten Gedankengang seiner Schüler hineinversetzte, um die unlogischen Schlüsse bis an den Ursprung zurückzuverfolgen, und jeden genau da, wo er sich verirrt hatte und nicht weiterwusste, am Schlafittchen packte und auf den richtigen Pfad führte.

Mit diesem nicht gerade romantischen Pfeil des Amor im Köcher, mit dem Mathematikbuch in der Hand, stieg Till die Treppe zu Helenas Mädchenzimmer hinauf.

„Vor allem die Textaufgaben! Die Textaufgaben nicht vergessen!“, bat inständig die Mutter.

Und schon öffnete Till das Zimmer mit der Dachschräge, wo Helena mit sonnengebleichtem Haar, das über ihren gebräunten Nacken rollte, auf ihrem Bett am Fensterchen saß und die stahlblauen Äuglein auf ihn richtete. Es sah ordentlich aus, sie hatte seinetwegen aufgeräumt, ein paar Peinlichkeiten aus ihrer Mädchenzeit in den Schränken versteckt, auch Staub gewischt, wie es sich gehörte.

Es roch nach frischem, kalkhaltigem Sand, der als Streu für den grünen Wellensittich diente. Der Vogelbauer thronte auf einer Ablage am Fenster. Von dort konnte der Sittich alles gut überblicken und Vergleiche mit der Vogelwelt draußen anstellen. Offensichtlich profitierte das tschilpende Federtier enorm von Tills Besuch, denn Helena hatte ihn mit einem frischen Hirsekolben versorgt, der zwischen den Käfigstäben klemmte. Sogar den Spiegel, der dem Sittich als Spielzeug zur gelegentlichen sexuellen Befriedigung diente, hatte sie sorgfältig poliert. Überhaupt wäre ob dieser Sorgfalt und Liebesbeweise Till ein Moment gern ihr Wellensittich gewesen, den Helena mit hochgezogener Stimme immer wieder „Koko! Kokochen!“ rief.

Während sich das verliebte und unter Spannung stehende Paar nach ersten vorsichtigen Berührungen und Entladungen von Haut zu Haut endlich auf dem Boden wälzte, da sie also die Leidenschaft wie ein starker Stromschlag erfasste, ihre Lippen und Hände wussten genau, wohin sie wollten, hauchten sie sich Zärtliches ins Ohr und beide schluchzten vor wohligem Vergnügen.

Das verfolgte der neidische Wellensittich mit wachsendem Interesse. Er ließ gänzlich von seinem Hirsekolben ab, plusterte sich auf, tschilpte laut und beobachtete aus gefälliger Perspektive alles genau. Till hörte ihn also nicht mehr diskret die kleinen Körnchen mit dem Schnabel knacken, als er sich mit der Nase unter Helenas Sommerkleid vergrub. Und schon lief der schmucke Vogel im Jägergrün die Stange, auf der er saß, erregt auf und ab. Dann bearbeitete er gründlich den frischen Sand mit den Flügeln, es hörte sich an wie das Fegen mit einem Besen, schnappte sich darauf seinen Spiegel, den er zwischen den Schnabel klemmte und mit Poltern und Rabatz durch den Käfig schleppte, dass es nur so schepperte und krachte. Zwischendurch warf er das Teil in den Sand, um sich an seinem Spiegelbild zu reiben.

Till und Helena hielten inne und sie mussten über die Drolligkeit lachen. Sie löste sich langsam aus seiner Umarmung. Er sah an ihr wie an Elfenbein auf, als sie sich über ihn erhob und einen Schritt über ihn hinweg zu dem Wellensittich machte. Sie lächelte und sah Till lange in die Augen. Sie hielten diese Blickverbindung eine köstliche Weile, aber dann brachte sie langsam ihr Kleid wieder in Ordnung, da sie ja durchaus auf das Eintreten der Mutter gefasst sein mussten. Und sie warf endlich zur Besänftigung aller Sinne ein schwarzes Tuch über den Vogelbauer.

Die Vorstellung für den Sittich war beendet. Später durfte er wieder ans Licht und an ihrem Mathematikunterricht teilnehmen. Till konzentrierte sich wieder aufs Hirsekornknacken, während Helena an ihrem Stift kaute und überlegte, wie sie seiner neuesten Textaufgabe auf die Schliche kam. Als auch das nach wenigen Anläufen gelang und sie Till sehr dafür lobte, öffnete Helena vorsichtig den Käfig, streichelte dem Wellensittich den Bauch und putzte den liederlich mit Sand bestreuten Spiegel, der in einer Ecke des Käfigs lag und eben noch aus heftiger Lust und größter Verlegenheit feucht und milchig blind geworden war.

Jeder Tag wurde den Liebenden zum Fest. Sie fühlten sich selbst bis in die Finger- und Zehenspitzen. Alle Absichten, Pläne und Ansichten zehrten im Guten und Friedlichen davon. Mit Küssen, die sie sich schenkten, berührte und bereicherte sie ein Gott, der sie damit selig und glücklich machte. An ihrem Firmament, das ihnen allein gehörte, baute sich jenes aufs Du gerichtete Wollen zu immer neuen Haufenwolken und Wolkenschlösschen zusammen, genauso schön wie trügerisch, wollte sich eines ihrer gerade auflösenden und zum Wir verschmelzenden Ich denn doch einmal ängstlich oder ungläubig rückversichern und die weiße Watte vor azurblauer Kulisse auf Festigkeit und Unvergänglichkeit prüfen. Die erste Liebe überschüttete sie mit Blumen der Freude und mit süßen Zärtlichkeiten, das Füllhorn der Liebe hörte nicht auf, sie mit Sternenstaub zu übergießen.

Fortuna musste aber eingreifen, wo sie sich trunken vor Liebe durch jene Kulissen tasteten, die das normale Leben um sie herum aufgestellt hatte. Sie nahmen daran fast ohne Aufmerksamkeit teil, ohne den Gefahren des Lebens, etwa im Straßenverkehr, überhaupt große Beachtung zu schenken.

Für alle, die es von außen beobachteten, war es ein Genuss und belebend, es anzuschauen, wie sie sich umschlungen hielten, als könne einer nicht ohne den anderen laufen. Mit jedem Kuss in der Öffentlichkeit küssten sie die ganze Welt, die sich daran erfreute. Straßenbahnfahrerinnen bimmelten und Autofahrer drückten beherzt auf die Hupe.

Zu Helenas achtzehntem Geburtstag, der auf einen Samstag fiel, ließ der junge Verehrer das Mathematikbuch zu Hause liegen. Er hatte ein Geschenk unter dem Arm und klingelte an der Friederich`schen Tür. Es war gerade einmal halb Neun.

Diesmal öffnete der Vater die Tür im Hummelweg. Er fühlte sich vom frühen und überraschenden Besuch gestört. An dem musste Till vorbei, als sich das Gesicht verfinsterte. Aber Till wiegelte ab.

„Ich will nur schnell gratulieren und mein Geschenk überbringen.“

„Helena schläft.“

Es gehörte zum bisher unangefochtenen Brauch, dass er der Tochter als Erster zum Geburtstag gratulierte.

„Ich könnte Helena kurz wecken und Guten Morgen sagen.“

Der Vater gab die Tür einfach nicht frei. Till spürte einen Widerstand zwischen sich und dem Vater, der sich mit seiner ganzen Massigkeit im Türrahmen aufbaute.

„Papa! Ich bin schon wach. Du kannst den Gratulanten ruhig hereinlassen! Das würde mich wirklich sehr freuen.“

„Also gut. Aber bitte nur fünf Minuten! Wir frühstücken gleich.“

Mit wenigen Sätzen gelangte Till nach oben.

Im Flur stand ein neues, mit bunten Bändern geschmücktes Rad. Vater Friederich ließ die Uhr in der Küche nicht aus dem Blick. Pünktlich und glückstrahlend, weil er ihr eine große Freude gemacht hatte, verließ Till wieder das Haus. In der Hand hielt er den leeren, mit Luftlöchern übersäten Karton und den Handspiegel, den Till und Helena gegen eine Gefährtin für den Wellensittich ausgetauscht hatten.

(Sommer 1981)

Es hatte die beiden Absolventen der Erweiterten Oberschule, die endlich ihren Schein für die Universität zu Ende gepaukt hatten, im letzten Jahr so vollständig erwischt, dass man auch sagen konnte, sie fieberten ein bisschen und übertrieben. Vielleicht konnte das freundliche Virus dadurch auf die Mitmenschen ihrer Umgebung leichter überspringen und besonders viele Menschen mit Liebe infizieren.

Von der Ewigkeit ihrer Glückseligkeit waren sie mit großer Selbstverständlichkeit überzeugt. Sie traten aus dem Schatten der Kindheit in ein neues Licht, ja sie flogen hinein wie die Motten. Von allem besaßen sie viel, zuvorderst ihren unerschütterlichen Glauben an sich und ein zärtlich gestimmtes Gemüt.

Nur Erfahrungen mussten sie noch machen und sich am nüchternen Leben reiben, was für Verliebte weder der Rede noch Überlegungen wert ist. Die Wirklichkeit erschien ihnen als eine völlig vernachlässigbare Größe.

Auch ein erster Salto Mortale ihrer frischen Liebe, da ihnen schon bald ein Abschied auf Zeit bevorstehen sollte, hatte noch zwei Ferienmonate Zeit. Es berührte sie noch nicht, denn sie waren viel zu sehr mit sich und dem Augenblick beschäftigt. Ihr Paradies kannte die Nacktheit, aber die Uhren noch nicht.

Sie wollte im September ein Studium in Dresden aufnehmen und Till würde seinen Wehrdienst antreten müssen. Über den Ort und die Waffengattung hatte man ihm noch nicht die Augen geöffnet und ein Geheimnis daraus gemacht.

Mit der Dienerschaft auf drei Jahre, die eine freiwillig unfreiwillige war, eine befristete Leibeigenschaft sozusagen, drohte nun ein erstes Gewitter. Manchmal, wenn sie sich ihre bevorstehende Trennung mit Flüsterworten ängstlich veranschaulichten und sich ihr Eifer beim guten Zureden und Warteversprechen überschlug, hielt sie ihm den Mund zu und eine voreilige Träne kündete davon, dass es damit wohl nicht so einfach abgetan wäre.