Arnulf Zitelmann
Hypatia
Roman
Mit einem Nachwort des Autors
www.beltz.de
Beltz & Gelberg Taschenbuch 639
Einmalige Sonderausgabe
© 1988, 2004 Beltz & Gelberg in der Verlagsgruppe Beltz • Weinheim Basel
Alle Rechte vorbehalten
Neue Rechtschreibung
Landkarte: Arno Görlach
Einbandgestaltung: init.büro für gestaltung, Bielefeld unter Verwendung einer Abb. vom AKG, Berlin
ebook: Druckhaus »Thomas Müntzer«, Bad Langensalza
ISBN 978-3-407-74153-0
Hypatia kam auf die Auswahlliste zum Deutschen Jugendliteraturpreis.
Bei Beltz & Gelberg erschienen von Arnulf Zitelmann:
»Kleiner-Weg«. Abenteuer-Roman aus der Frühzeit
Zwölf Steine für Judäa. Abenteuer-Roman aus dem Jüdisch-Römischen Krieg
Unter Gauklern. Abenteuer-Roman aus dem Mittelalter
Vor den Toren von Byzanz. Abenteuer-Roman aus dem Mittelalter
Nach dem Großen Glitch. Abenteuer-Roman aus der Zukunft
Der Turmbau zu Kullab. Abenteuer-Roman aus biblischer Zeit
Jenseits von Aran. Abenteuer-Roman aus Altirland
Bis zum 13. Mond. Eine Geschichte aus der Eiszeit
Hypatia. Eine Geschichte aus dem frühchristlichen Alexandrien
Paule Pizolka oder Eine Flucht durch Deutschland. Roman
Mose, der Mann aus der Wüste. Roman
Abram und Sarai. Roman
Jonatan, Prinz von Israel. Roman aus der frühen Königszeit
Unterwegs nach Bigorra. Roman
Kein Ortfür Engel. Roman
»Widerrufen kann ich nicht«. Die Lebensgeschichte des Martin Luther
»Keiner dreht mich um«. Die Lebensgeschichte des Martin Luther King
»Ich will donnern über sie!« Die Lebensgeschichte des Thomas Müntzer
Nur dass ich ein Mensch sei. Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant
»Jedes Sandkorn ist ein Buchstabe«. Die Lebensgeschichte des Georg Christoph Lichtenberg
Arnulf Zitelmann, geboren 1929, studierte Philosophie und Theologie; er lebt heute als freischaffender Autor in der Nähe von Darmstadt. Bei Beltz & Gelberg erschienen zahlreiche Romane für Kinder und Jugendliche, die sich mit historischen Themen und Schicksalen befassen. Außerdem schrieb er mehrere Biographien, u.a. über Martin Luther und Martin Luther King. Für sein literarisches Gesamtwerk wurde Arnulf Zitelmann mit dem Friedrich-Bödecker-Preis und dem Großen Preis der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur ausgezeichnet.
So, das wäre alles«, schloss der Mann. Er lehnte sich an den Säulenstumpf zurück und fragte: »Hast du schon Grüße geschrieben?«
»Einen Augenblick, Herr, gleich bin ich so weit«, antwortete Thonis und spitzte sein Schreibrohr.
Der Mann gegenüber tat ihm Leid. Er hatte lange nach Worten für seinen Brief an die Mutter suchen müssen. Denn es war ein Trauer-, ein Beileidsbrief und die Mutter würde beim Lesen weinen. Aber der Sohn versprach, sie bald zu sich nach Alexandria zu holen. Vielleicht tröstete sie das.
Thonis setzte sein Schreibrohr neu an, brachte den Satz zu Ende und setzte in sorgfältigen Buchstaben die Grußworte darunter.
»Lass mich den Brief noch mal hören, ob ich auch an alles gedacht habe«, verlangte der Mann.
Thonis räusperte sich, las, stockte und nahm einen neuen Anlauf. Jetzt um die Mittagszeit war der Marktbetrieb rundherum auf dem Forum in vollem Gang. Gemüsefrauen wetteiferten in der Lautstärke, priesen Lattich, Fenchel, Malvensprossen an; Karren polterten, Fuhrleute fluchten, Fasanen trompeteten aufgeregt in ihren Verschlägen und gegenüber unter dem Säulengang dröhnten die Stiefel der vorbeimarschierenden Wachkohorte.
Thonis hob die Stimme, um gegen den Lärm anzukommen. Man sollte einen Trauerbrief nicht mit einem solchen Stimmaufwand vortragen, dachte er und war froh, als er zu Ende vorgelesen hatte.
»Ist es recht, Herr?«, fragte er und schaute auf.
Der Mann an dem Säulenstumpf erhob sich, trat hinter ihn und blickte Thonis über die Schulter. »Ja, so kann es bleiben«, meinte er. »Nur irgendwo hast du was hinzugefügt, kurz vor den Grüßen. Lies mir doch die Stelle noch mal vor.«
Thonis deutete auf den unteren Abschnitt: »Halte nur aus, mein Herz, schon Schlimmeres hast du erduldet«, las er. »Ist es das?«
»Ja, die Stelle meine ich«, bestätigte der Mann. »Das wird der Mutter gut tun. Wie kommst du nur in deinem Alter auf solche Worte?«
»Es ist ein Vers von Homer, ein Trostwort des Dichters«, erklärte Thonis. »Ich musste daran denken, als ich merkte, wie traurig du bist.«
»Die Götter mögen’s dir vergelten«, wünschte ihm der Mann. »Du kannst jetzt das Blatt falten und verschnüren.« »Und die Anschrift?«, erkundigte sich Thonis.
»Schreibe: Von Horion an Thermutis in Kabassos«, diktierte ihm der Kunde und holte Geld aus dem Gürtel. »Da ist dein Obolus. Ich werde dich weiterempfehlen.«
»Danke, Herr«, antwortete Thonis. »Das Auge des Gottes geleite dich.«
Er steckte das Geldstück weg und schaute Horion nach, der stockenden Schritts mit seinem Briefpäckchen in die Richtung des Hafens verschwand. Thonis war der Brief nahe gegangen. Aber besser so ein Auftrag, sagte er sich, als dass er Mahnbescheide oder Kündigungsschreiben ausfertigen musste. Er verkorkte sein Tintenfläschchen und reinigte die Lippen des Schreibrohrs. Dann stand er auf, glättete sein Lendentuch, stieg auf den Säulenstumpf und rief über den Platz: »Briefe, Abschriften, Gedichte, Amulette! Thonis, der Schreiber, erledigt Schreibarbeiten aller Art! Her, ihr Leute! Schöne Schrift, gutes Papier, kleine Preise!«
Zwei Obolusse hatte er gestern eingenommen, einer war es erst heute. Doch fast drei Obolusse musste er für den täglichen Lebensunterhalt rechnen. Denn Alexandria war eine teure Stadt. Morgen war die Miete fällig und er hatte das Geld noch nicht beisammen.
Er hatte sich das Leben in der reichen Stadt am Meer anders vorgestellt. Mit neuen Freunden, mit mehr Zeit für sich und seine Gedichte, mit besseren Verdienstmöglichkeiten für sein Schreibrohr. So trostlos wie Antiochia konnte schließlich keine andere Stadt sein.
Antiochia war sein voriger Arbeitsplatz gewesen. Thonis musste an die Frau denken, mit der er dort im städtischen Schreibbüro gesessen hatte. Sie hatten nur selten miteinander gesprochen, doch die Augen in ihrem abgezehrten Gesicht verfolgten ihn immer noch. Der Aufseher hatte die flinke Schrift der Frau geschätzt, die sie im Lauf der Jahre erworben hatte. Aber eines Tages hustete sie Blut. Es war ihm wie ein Schock im Gedächtnis geblieben.
Ein roter Schwall war über ihre Papiere gestürzt, Blutstropfen sprühten bis auf seinen Platz. Am nächsten Morgen blieb ihr Arbeitsplatz auf der Sitzbank neben ihm leer. Da hatte er seine Sachen genommen und war gegangen. Nein, so weit sollte es mit ihm nicht kommen, hatte sich Thonis damals gesagt. Das konnten die mit ihm nicht machen.
Aber bis jetzt sah es für ihn in der Alexander-Stadt nicht viel besser aus. Schon die Zimmersuche war schwierig gewesen und auf sein Schreibrohr hatte niemand gewartet. Also blieb ihm nichts anderes, als seine Schreibdienste öffentlich und lauthals feilzuhalten. Es kostete ihn Überwindung, denn er fühlte sich dabei fast wieder wie der Sklavenjunge, der er einmal gewesen war. Doch in einem Schreibbüro hocken, bis er Blut spuckte? Nein, sagte er sich noch einmal. Er musste durchhalten und zusehen, wie er mit seiner neuen Umgebung zurechtkam.
»Schöne Schrift, kleine Preise!«, pries er sich weiter an und verwünschte den Ausschreier des Fresskünstlers, der heute früh seine Schaubude in der Nähe aufgeschlagen hatte. Thonis hatte nur einen kurzen Blick auf den Fettwanst werfen können, bevor dieser, auf zwei Sklaven gestützt, in seiner Bude verschwand. Über mangelnden Zulauf brauchte sich dieser Koloss nicht zu beklagen, während er selbst hier auf der Säule sich den Hals nach Kunden heiser schrie.
Thonis überlegte schon, ob er sich nicht besser einen anderen Platz suchen sollte, als er spürte, wie ihn jemand an seinem Lendentuch zupfte. Er blickte über die Schulter und sah unter sich einen in helles Leinen gekleideten Mann mit weißen Strähnen im Haar.
»Was macht die Schreibkunst?«, rief er Thonis zu. »Oder kennst du mich nicht mehr, mein Junge?«
»Oh, Petrus, du bist es«, schrie er, sprang ab und fiel dem älteren Mann in die Arme. »Petrus, groß sind die Götter! Wie kommst du nach Alexandria?«
»Das muss ich dich fragen«, entgegnete Petrus, trat zurück und betrachtete Thonis. »Du hast dich nicht verändert. Nur ein bisschen Gewicht hast du zugelegt und Flaumhaar ist dir ums Kinn gewachsen. Warte, gut zwei Jahre müssen es sein, seit uns die Herrin Boia freigab. Weißt du noch, wie ich dich immer rief?«
Thonis verzog das Gesicht. »Käuzchen hattest du mich genannt«, antwortete er. »Aber den Namen habe ich nie gemocht.«
»Doch er passte zu dir«, entgegnete Petrus mit einem breiten, wohlwollenden Lächeln. »Kein anderer Junge saß so lange bei der Lampe wie du und schrieb und rechnete bis tief in die Nacht, wenn das Käuzchen rief. Ich sehe dich noch vor mir, ein kleines, verschüchtertes Kerlchen. Aber seitdem hast du dich mächtig herausgemacht. Wie kommst du jetzt hierher?«
»Heut vor zwei Wochen kam ich auf einem Frachter an«, berichtete Thonis. »Davor war ich eine Zeit lang in Antiochia. Und du, Petrus, seit wann bist du in der Stadt?«
»Ich bin mit dem Freilassungsbrief gleich nach Alexandria gegangen«, antwortete er. »Mittlerweile bin ich Vorleser und Lektor der heiligen Schriften, diene unserem Bischof Kyrill und kümmere mich um die Versorgung der Kranken. Dort drüben stehen meine Leute und warten auf mich.«
Unter dem Schatten der Säulenhalle entdeckte Thonis eine Hand voll Männer, die wie Badediener aussahen. Am Gürtel ihrer braunen Kutten hingen Bronzeschaber, Schwamm und Ölfläschchen. Die Männer schauten zu ihnen herüber. Petrus gab ihnen ein Zeichen, dass sie auf ihn warten sollten. Dann wandte er sich an Thonis und bemerkte: »Du bist also der Schreibkunst treu geblieben. Lass mich deine Schrift sehen. Hast du etwas Geschriebenes dabei?«
Thonis bückte sich, suchte unter den Papyrusblättern und fand eine beschriebene Seite. »Es sind Verse«, erklärte er. »Ich habe sie neulich abgeschrieben. Sie standen auf einer Mauer drüben im Hafenviertel.«
»Zeig her«, sagte Petrus. Er begutachtete Schrift- und Linienführung, nickte beifällig und trug mit erhobener Stimme das Gedicht vor:
»Seelchen, liebes, Flatterding, mein Begleiter, Körpergast, wohin gehst du fort von hier, bist so blass und starr und nackt, ach, und hast jetzt ausgescherzt.«
Er schaute Thonis mit erhobenen Brauen an. »Du hast deine Schrift verbessert«, meinte er. »Und wie ich sehe, hast du auch dein Latein nicht vergessen. Ich kenne das Verslein. Es stammt von einem heidnischen Kaiser. Er soll es auf seinem Sterbelager verfasst haben. Immerhin, ein hübscher Fünfzeiler. Und du bist immer noch kein Christ, mein Junge?«
Thonis schüttelte den Kopf. »Ich lebe mit den Göttern«, sagte er.
Petrus ließ besorgt den Blick über ihn gleiten, genau wie früher, wenn er Thonis mit einer Hand voll stibitzter Pflaumen erwischt hatte. Wahrscheinlich hatte Petrus angenommen, Thonis hätte sich inzwischen zu der neuen Religion bekehrt. Doch Thonis konnte sich nicht für den Christengott erwärmen. Lieber hielt er sich weiter an die alten Götter. Er mochte ihre umkränzten Bilder, die Opfer, den Weihrauch, die tanzenden Isispriester. Das alles konnte er anfassen, schmecken und riechen, mit allen Sinnen wahrnehmen. Eigentlich passte es gar nicht zu Petrus, überlegte Thonis, dass er so viel Aufhebens von seinem Christengott machte. Denn sonst war sein Lehrer ein besonnener Mann, bei Streitigkeiten um Ausgleich bemüht, ein Vorbild für ihn, fast etwas wie ein Vater. Dass Petrus ihn jetzt so bekümmert ansah, schmerzte Thonis und er senkte den Kopf.
»Käuzchen, ich verstehe dich nicht«, meinte Petrus. »Denke an unsere Herrin Boia. Auch sie hatte den Weg zu Christus gefunden. Ich erzähle meinen Leuten noch immer davon, wie die Frau alles verkaufte, uns Sklaven freigab und ins Kloster ging. Ich hatte mich schon Jahre zuvor taufen lassen, das weißt du. Aber als ich meinen Freibrief hatte, zögerte ich keinen Augenblick und trat in den Dienst der Kirche. Das solltest du auch tun, mein Junge. Ich würde bei unserem Bischof für dich bürgen, dass er dich unter die Taufbewerber aufnimmt. Hast du vor, länger in Alexandria zu bleiben?«
»Das kommt darauf an«, antwortete Thonis. »Es ist schwer, hier Arbeit zu finden.«
»Bist du in der Schreibergewerkschaft eingetragen?«, erkundigte sich Petrus.
»Nein, noch nicht«, gab Thonis zu.
»Dann wird es aber Zeit«, ermahnte ihn Petrus. »Wenn dich der Marktaufseher erwischt, dass du unversteuerte Arbeit verrichtest, schickt er dich in den Steinbruch.«
»Aber ich habe keine Lust, mit zwanzig Leuten in einer Schreibstube zu hocken«, widersprach Thonis. »Das habe ich in Antiochia ein halbes Jahr gemacht. Erlasse vervielfältigen, Bücher kopieren, Rechnungen und Verträge abschreiben, Steuerlisten ausfertigen. Vom ersten Hahnenschrei bis in die Nacht. Zeilen schinden nach Zeit, so ging das den ganzen Tag. Mir wird noch übel, wenn ich bloß daran zurückdenke. Ich dachte, Alexandria ist eine große Stadt, da nimmt man es nicht so genau mit der Gewerkschaft.«
Petrus verzog das Gesicht.
»Bei uns gibt es mehr Steuereintreiber als Steuerzahler«, bemerkte er böse. »Der Kaiser und die Griechen in der Stadt saugen uns das Mark aus den Knochen. Von den elenden Juden will ich erst gar nicht reden. Der Einzige, der zu uns Ägyptern hält, ist der Papa, unser Bischof, und seine Kirche.«
Er griff in seinen Gürtel und steckte Thonis drei Silberdrachmen zu. »Sei vernünftig, Junge«, drängte er, als Thonis sich sträubte. »Das ist für deinen Einstand in die Gewerkschaft. Du findest ihr Büro beim Marina-Haus in der ägyptischen Altstadt, der Rhakotis. Auf der anderen Seite vom Kanal. Sieh zu, dass du Pousais zu sprechen bekommst! Aber jetzt muss ich weiter. Unsere Kranken warten. Komm, ich mache dich mit meinen Leuten bekannt.«
Thonis bückte sich, legte Messer, Bimsstein und Lineal in das Schreibrohrkästchen und schlüpfte in sein Hemdkleid, den Chiton, hinein.
»So ist’s recht«, lobte ihn Petrus und warf Thonis ein Lächeln zu. »Sein Handwerkszeug lässt der Schreiber nicht aus den Augen.«
»Danke für das Silber«, sagte Thonis. »Aber ich habe keine Ahnung, wann ich dir das Geld wiedergeben kann.«
»Was soll’s«, meinte Petrus mit einer nachlässigen Bewegung. »Wer spricht schon von Geld? Unter Freunden ist alles gemeinsam.«
Die Männer von Petrus hatten sich auf dem Boden des Säulengangs niedergelassen und erhoben sich bei ihrem Kommen. Es waren lauter Leute mit kräftigen Händen und starken Nacken. Dem Aussehen nach zu urteilen, waren sie alle Ägypter.
»Das sind meine Parabalani«, stellte ihm Petrus die Männer vor. »Oder besser gesagt, ein paar davon. Pays, wie viele Leute sind wir im Stadtgebiet?«
»Nach meiner Liste 650 Mann«, antwortete er. »Aber wenn du’s genauer brauchst, müsste ich die Unterlagen im Bischofsamt einsehen.«
»Nicht nötig«, entgegnete Petrus. »Ich wollte nur eine ungefähre Zahl, damit sich der Junge eine Vorstellung machen kann. Seht ihn euch an, Männer. Das ist Thonis und er ist mein Freund. Ich bin früher sein Schreiblehrer gewesen. Jetzt sind wir uns zum ersten Mal seit Jahren wieder- begegnet.«
Thonis fühlte sich unter den Augen der Männer befangen. Er murmelte einen Gruß.
»Lass nur«, sagte Petrus. »Du musst keine Rede halten. Betrachte meine Männer einfach als Freunde. Sie sind meine Augen, meine Hände, verstehst du?« Er umarmte Thonis, küsste ihm Kopf und Schultern und erinnerte ihn: »Vergiss nicht, Pousais zu grüßen!« Damit wandte er sich zum Gehen, winkte seinen Leuten und bahnte sich einen Weg übers Forum.
Thonis legte sein Bündel ab und schaute sich unschlüssig um. Der Markttrubel war unterdessen noch weiter angewachsen. Seidenbehangene Sänften schaukelten zwischen den Ständen, Wasserträger priesen Erfrischungsgetränke an, alles hastete und eilte, drängelte und drückte, und der Ausrufer des Fresskünstlers pries unentwegt weiter den Gierschlund seines Herrn zur Besichtigung an.
Ob er sein Schreibzeug nicht doch wieder auspacken sollte? Vielleicht fanden sich ja noch ein paar Kunden. Aber Thonis traute sich nicht. Er hatte genug von den Steinbrüchen gehört, um sich ausmalen zu können, was ihn dort erwarten würde. Lieber wollte er jetzt gleich bei der Gewerkschaft vorsprechen.
Weiter weg, zwischen den Fischhändlern, glaubte er die braunen Kutten der Männer von Petrus zu sehen und mit einem Mal fühlte er sich nicht mehr so verloren in der großen Stadt. Er hatte Freunde gefunden. Ehe der Tag zu Ende ging, wollte er seiner Schutzgöttin zum Dank ein Gedicht verehren.
Auf dem Dromos, der breiten Prachtstraße Alexandrias, erstand Thonis für ein paar Wechselmünzen Bohnensuppe mit Gerstenbrot. Es war seine erste Tagesmahlzeit und er machte sich heißhungrig darüber her. Die braunen Bohnen schmeckten fad, die Gerstenfladen waren voll Spelzen, aber er achtete nicht weiter darauf. Er war mit seinen Gedanken immer noch bei Petrus, der viele Jahre für ihn wie ein Vater gesorgt hatte. Was für ein mächtiger Mann er geworden war! Er ging in weißem Leinen und befehligte ein paar hundert Männer.
Noch kauend reichte Thonis die Schüssel über den Tresen zurück, marschierte dann weiter in Richtung Altstadt, erfrischte sich an einem Röhrenbrunnen und überquerte schließlich den Kanal.
Das zweistöckige, helle Kalksteingebäude mit dem Büro der Gewerkschaft lag gegenüber einem verfallenen Tempelchen. Auf dem Giebel des ehemaligen Heiligtums behauptete sich ein halb zerbrochenes Götterbild. Über die berußte Wand hatte jemand geschrieben: Trinkt Glühwein, sterben müsst ihr doch. Und darunter stand in ungelenker ägyptischer Schrift: Juden raus, Ägypten den Ägyptern.
Das Tor des Gewerkschaftshauses war verschlossen. Als er den Türklopfer betätigte, erschien ein runzliger Kahlkopf hinter dem Gitterfenster.
»Wir haben Mittagsruhe«, fertigte er Thonis ab. »Wenn’s eilt, schau im Laufe des Tages noch mal vorbei.«
Noch ehe sich Thonis nach Pousais erkundigen konnte, war der Alte verschwunden und er stand allein auf dem Gehsteig.
Matt von der Hitze und müde von den Bohnen, legte er sich auf der rückwärtigen Seite des Tempels in den Schatten. Die Luft flimmerte. Kein Hauch rührte sich, Häuser und Gassen wirkten wie ausgestorben. Ein vereinzelter Hund strich um ihn herum. Das Tier lahmte auf der rechten Vorderpfote. Als Thonis ihn rief, kam er über die Straße gezottelt, legte sich gähnend zu ihm in den Schatten und fuhr mit der Zunge durch den grauen, struppigen Pelz.
»Schön, dass du dich zu mir legst«, flüsterte Thonis ihm zu, streckte die Hand aus und kraulte ihn zwischen den Ohren. »Und was ist mit deiner Pfote? Tut es sehr weh?«
Doch der Hund reagierte nicht, schaute ihn nur träge an und schloss die Augen. Auch Thonis kringelte sich neben seinem Bündel zusammen, legte den Arm unter den Kopf und merkte gerade noch, wie ihn der Schlaf mit sich nahm.
Ein heftiger Stoß schreckte ihn hoch. Er krümmte sich und riss die Augen auf. Ein stoppelbärtiger bewaffneter Mann stand über ihm, ein zweiter machte sich an seinem Bündel zu schaffen. Die Amtsstreifen am Chiton wiesen sie als Stadtwachen aus.
»Lass die Finger von meinen Sachen«, brüllte Thonis und sprang auf.
Der andere versetzte ihm einen Stoß mit dem Lanzenende, dass er zurückstolperte. »Immer mit der Ruhe«, sagte er gemächlich. »Wir tun nur unsere Pflicht, junger Mann. Auf Widerstand gegen die Staatsgewalt steht Prügelstrafe. Also, sei friedlich.«
Thonis biss die Zähne zusammen und massierte sein Bein. Die Haut überm Schienbein war gerissen und in den Trittspuren stockte Blut. »Ihr überfallt einen Schlafenden«, sagte er und spuckte aus.
»Nein, nein«, widersprach der Mann, der sein Bündel aufgeknotet hatte. »Wir haben dich angesprochen, laut und deutlich. Aber du warst nicht wachzukriegen. Da haben wir nachgeholfen. Schließlich bekommen wir unsere Zeit auch nicht geschenkt.«
Der Erste musterte ihn ungeduldig. »Also, was ist?«, fragte er. »Kannst du dich ausweisen?«
Noch ganz benommen suchte Thonis in der Gürteltasche nach dem Freilassungsbrief. Seine Finger zitterten. Zwischen Münzen und losen Papyrusblättern fand er das verschnürte Päckchen. Stumm händigte er das kostbare Dokument dem Lanzenträger aus.
Der stoppelbärtige Mann prüfte das Schreiben, las es dem anderen halblaut vor und gab es Thonis gefaltet zurück. »Also, ein Freigelassener bist du«, bemerkte er. »Mit anderen Worten: ein Herumtreiber.«
»Ihr könnt mir nichts«, sagte Thonis mit flacher Stimme. »Meine Papiere sind in Ordnung.«
»Das stimmt, jedenfalls was die Papiere anbetrifft«, meinte der Lanzenmann. »Aber wer weiß, vielleicht bist du einer von den Wandbeschmierern. Einer, der sich an öffentlichem Eigentum vergreift.«
Er deutete auf die Tempelmauer. Weißbrot für alle, war da in Riesenlettern quer über die Wand geschrieben. Babes liebt Ladon, hieß es daneben. Und unterm Dachfirst stand: Orestes ist ein Grieche.
Der Lanzenmann verzog den Mund. »Mein Kamerad und ich, wir mögen solche Sprüche nicht«, sagte er. »Weißt du, wer Orestes ist?«
Thonis verneinte.
»Der Präfekt, der Statthalter des Kaisers«, belehrte ihn der Lanzenmann. »Orestes ist der Freund unseres allergnädigsten Herrschers. Und natürlich ist er ein Grieche. Das hört man schon an seinem Namen. Aber wenn einer von euch Ägyptern das schreibt, riecht das verdammt nach Ausländerfeindlichkeit. Kapiert? Wir brauchen also nur noch dein Geständnis. Hast du überhaupt eine Arbeitserlaubnis?«
»Ich bin auf dem Weg ins Gewerkschaftshaus«, erklärte Thonis.
Sein Magen zog sich vor Furcht zusammen. Was hatten die beiden mit ihm vor? Wollten sie ihn etwa festnehmen? Jedenfalls sah es nicht gut für ihn aus, denn die Uniformierten hatten immer Recht. Die beiden konnten ihm irgendwas andrehen, zum Beispiel diese Wandsprüche da oben, und schon war er reif fürs Straflager. Wäre er nur auf dem Forum geblieben! Vielleicht sollte er jetzt noch versuchen, Reißaus zu nehmen. Aber der stoppelbärtige Lanzenmann stand zu dicht in seiner Nähe und beobachtete ihn.
»Und du glaubst, die Gewerkschaftsleute würden ihre Zeit mit dir vertun?«, fragte der Mann bei dem Bündel.
»Mein Schreiblehrer, der Lektor Petrus, bürgt für mich«, antwortete Thonis. »Er schickt mich zu einem Mann, der Pousais heißt.«
Die beiden tauschten einen Blick. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«, meinte schließlich der Lanzenmann. »Wir hätten uns eine Menge Zeit erspart.«
»Da, nimm deine Sachen«, sagte sein Kamerad. »Tut mir Leid, die Sache mit dem Tritt. Eigentlich war das alles ja nur ein Versehen. Nichts für ungut.«
Er streckte eine plumpe, dick geäderte Hand aus. Thonis wandte sich brüsk ab, warf sich das Bündel über den Rücken und stapfte davon. Sein Bein tat elend weh. Was für eine grässliche Stadt, dachte er und wunderte sich zugleich, was plötzlich in die beiden gefahren war. War es die Erwähnung von Pousais, die ihm geholfen hatte, oder reichte der Arm von Petrus bis jenseits des Kanals?
Jedenfalls war es sonderbar, wie schnell die beiden Uniformierten plötzlich eingelenkt hatten. Vielleicht fand er bei Pousais eine Antwort.
Er musste die ganze Mittagszeit verschlafen haben, denn die Fassade des Gewerkschaftshauses lag inzwischen voll im Sonnenlicht. Die Tür zum Hausgang war offen. Geblendet vom Sonnenlicht, stieß Thonis im halbdunklen Vorraum mit dem glatzköpfigen Alten zusammen. Thonis stotterte eine Entschuldigung, aber der Mann winkte gut gelaunt ab.
»Schon gut«, meinte er. »Junge Leute sind in Eile. Die Zeit ist ein unendlich kleines Stäubchen im All, wie die Philosophen lehren. Doch das begreift man erst im Alter. Wo drückt’s denn? Bist du nicht der Junge, der mich heute Mittag aus dem Schlaf gepoltert hat?«
Thonis hob bedauernd die Hände. »Ich wusste nichts von der Mittagspause«, sagte er. »Es geht um meinen Einstand in die Gewerkschaft. Und ich suche Pousais.«
»Den Vorsteher willst du sprechen?«, erkundigte sich der Alte und rieb sein Ohr. »Ich glaube kaum, dass er Zeit hat. Aber ich will dich melden. Und wie heißt du, junger Mann?«
»Thonis, das ist mein Name«, antwortete er.
»Und dein Vatername?«, fragte der Alte weiter.
»Ich weiß nichts von meinen Eltern«, sagte Thonis. »Aber du kannst dem Vorsteher sagen, dass mich Petrus, der Lektor, schickt.«
Der Alte trippelte den Gang entlang und verschwand im Innenhof. Bald darauf tauchte er wieder auf und winkte Thonis herbei. »Quer über den Hof, dahinter findest du das Büro. Der Vorsteher erwartet dich«, sagte er.
Der Plattenweg führte an einem Zierteich vorbei. An seinem Ende kam ihm Pousais entgegen.
»Grüß Euch, Herr«, sagte Thonis mit einer Verbeugung. »Mich schickt Petrus, mein ehemaliger Schreiblehrer. Ich will meinen Einstand entrichten und suche Arbeit.«
Der Vorsteher, ein gedrungener Mann, erwiderte mit dröhnendem Bass seinen Gruß. »Tritt ein«, forderte er ihn auf. »Und nimm auf dem Schemel dort drüben Platz. Du hast Papiere, die dich ausweisen?«
Thonis nickte und reichte ihm den Freilassungsbrief. Pousais las ihn mit halblauter Stimme vor.
»Freibrief für Thonis, ungefähr vierzehnJahre, kraushaarig, dunkeläugig, schlank und großwüchsig, von honigbrauner Hautfarbe und mit einer Narbe am linken Handgelenk, der als Sklave im Schreibdienst des Hauses Verwendung fand. Seine Freilassung verfügt Boia, Tochter des Zenas, unter dem Schutz von Himmel, Erde und Sonne. Ich, Apollonius, Sohn des Dion und Notar in Memphis, bestätige die Freilassung am dritten Pharmuti, im Jahr des neunten Konsulats von Kaiser Honorius und des fünften Konsulats von Kaiser Theodosius.«
Der Vorsteher hielt inne. »Das war nach meiner Rechnung vor gut zwei Jahren, stimmt das?«
»Ja, Herr, so ist es«, bestätigte Thonis.
»Und was hast du seither gemacht?«, erkundigte sich der Vorsteher.
»Zuletzt habe ich ein halbes Jahr in der städtischen Schreibstube von Antiochia gearbeitet«, gab Thonis an. »Hier ist mein Arbeitszeugnis.«
Während Pousais las, musterte Thonis das Büro. Zwei Stehpulte unterteilten den Raum, auf dem Tisch stapelten sich geheftete Akten und Schreibtafeln. Voll gestopfte Regale mit Schriftrollen und Büchern füllten die Wände. Der Geruch von Papyrus, Pergament und Tinte lag in der Luft und erinnerte ihn an die Bibliothek seiner Herrin in Memphis. Seine Aufgabe hatte damals darin bestanden, die Rollen und Bücher zu lüften und sie vor Wurmfraß und Stockflecken zu schützen. Thonis hatte den Schock nicht vergessen, als er erfuhr, dass die Herrin Boia ihren ganzen Bibliotheksbestand zur Versteigerung freigegeben hatte. Im Kloster schien man keine Verwendung für griechische Klassiker zu haben, für die vielen Bühnenstücke, Romane und Gedichtsammlungen, sogar Boias kostbare Atlanten hatten die Mönche verschmäht. Vielleicht mochte der Christengott nur seine eigenen Bücher.
Pousais hatte zwischendurch verschiedene Schriftrollen aus den Regalfächern gezogen, las murmelnd darin und winkte endlich Thonis herbei. Er deutete mit den Fingern auf eine Textspalte und fragte: »Bist du imstande, das zu lesen?«
»Ich will es versuchen«, antwortete Thonis. »Wo soll ich beginnen?«
»Bei dieser Zeile«, zeigte ihm Pousais. »Und lies recht laut und deutlich.«
Thonis trat ans Stehpult. Ihrem Aussehen nach zu urteilen, musste die Rolle aus längst vergangenen Zeiten stammen. Der Papyrus war zerschlissen und verglichen mit den Normen der heutigen Schriftproduktion wirkte das Format der Textspalten unproportioniert. Wie stets in alten Schriften waren die Worte ohne Zwischenabstände und Satzzeichen in fortlaufenden Großbuchstaben geschrieben. Das machte es schwierig, den Satzbau in einem Zug zu erfassen. Thonis ging leise die Zeilen durch und begann dann vorzutragen.
»Stelle dir Menschen vor, die in einem unterirdischen, höhlenartigen Raum gefangen gehalten werden. Aus dem Raum führt ein Gang ans Tageslicht empor, der sich über die ganze Breite der Höhle erstreckt. In dieser Höhle befinden sich die Menschen von Kindheit an, und zwar sind sie an Beinen und Hals gefesselt, so dass sie ständig am selben Fleck verbleiben müssen. Außerdem können sie auch nur nach vorn gegen die Höhlenwand blicken. Denn den Kopf vermögen sie wegen der Fesseln nicht zu wenden. Ihr Licht empfangen sie von einem Feuer, das hinter ihrem Rücken in der Ferne leuchtet. Zwischen diesem Feuer und den Gefangenen verläuft oben ein Weg. Dort entlang stelle dir wie bei einem Schattentheater eine Brüstung vor, über der die Schausteller ihrem Publikum allerlei Künste vorführen …«
»Das genügt«, unterbrach ihn der Vorsteher, der ihn beim Lesen halblaut begleitet hatte. »Verstehst du auch, was du liest?«
»Nicht wirklich«, gestand Thonis. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Menschen in dem dunklen Loch da unten überleben sollen.«
»Sie gleichen uns«, erklärte ihm der Vorsteher. »Auch wir erkennen von der Wirklichkeit bloß die Schatten. Das wenigstens will die Geschichte besagen. Sie stammt von Platon, dem Philosophen, und die Rolle vor dir enthält eins seiner Bücher über den Staat. Traust du dir zu, so eine Rolle einigermaßen fehlerfrei in die heutige Schreibweise zu übertragen?«
Thonis zögerte. »Jedenfalls eher, als daraus vorzulesen«, sagte er dann. »Ich würde es zumindest versuchen.«
»Nimm wieder Platz«, sagte Pousais. »Ich muss dir erklären, worum es geht. Du hast sicher schon vom Musaion gehört, der griechischen Universität unserer Stadt?«
Thonis nickte. »Petrus hat das Musaion gelegentlich beim Schreibunterricht erwähnt«, sagte er.
»Nun, im Musaion gibt es eine Frau, die Mathematik und Philosophie lehrt«, sagte Pousais. »Sie heißt Hypatia, die Tochter Theons. Sie sucht einen Sekretär und hat sich in dieser Angelegenheit an mich gewandt. Möglicherweise ist die Stelle noch frei. Ich möchte dich dafür vorschlagen. In deinem Zeugnis aus Antiochia steht, dass du die Schnellschrift beherrschst. Stimmt das?«
»Ja«, bestätigte Thonis lachend. »Ich bin sogar sehr gut darin. Ich schreibe so schnell, wie Ihr sprecht.«
»Da hast du vielen Schreibern etwas voraus«, sagte Pousais. »Und wie steht es mit Mathematik? Ich kann dich nicht darin prüfen, weil ich in der höheren Rechenkunst nicht bewandert bin. Wie schätzt du dich selber ein?«
»Ich komme mit dem Rechenbrett zurecht, aber viel mehr verstehe ich auch nicht davon«, antwortete Thonis.
»Nun, wir können es immerhin versuchen«, meinte der Vorsteher. »Oder an was für eine Arbeit hattest du gedacht?«
»Ich würde gern als Marktschreiber arbeiten oder auch in einer Bibliothek«, erklärte Thonis.
»Die Marktschreiber ernennt der Präfekt«, entgegnete Pousais. »Und eine Bibliotheksstelle habe ich nicht frei. Es gibt aber noch verschiedene städtische oder private Schreibbüros. Die suchen ständig Leute.«
»Dahin möchte ich auf keinen Fall«, wehrte Thonis ab.
»Dann versuche es bei der griechischen Professorin«, schlug Pousais vor. »Hypatias Haus findest du in der Gasse hinter dem Dromos, gleich in der Nähe vom Gymnasium. Stell dich vor und richte meine Grüße aus. Und wann hast du deinen letzten Gewerkschaftsbeitrag bezahlt?«
»Vor ein paar Wochen in Antiochia«, sagte Thonis.
»Ägypten ist ein eigenes Reichsgebiet. Du musst also deinen Einstand entrichten«, sagte der Vorsteher. »Hast du Geld? Der Jahresbeitrag macht drei Drachmen.«
Thonis fingerte die Silberstücke aus seiner Gürteltasche und zählte sie auf den Tisch.
»Gut«, sagte Pousais. »Dann ist auch das erledigt. Ich trage dich damit in die Liste der behördlich zugelassenen Schreiber ein. Und du versuchst dein Glück bei Hypatia. Wenn’s mit der Einstellung nichts wird, kannst du dich noch mal an mich wenden. Man versucht zu helfen, so gut es geht.«
»Ich danke Euch, Herr«, sagte Thonis.
»Schon gut«, meinte Pousais. »Und bestell Petrus meine Grüße. Wenn du gehst, richte bitte dem Pförtner aus, dass er den Sklaven schickt, der die Lampen richtet. Gehab dich wohl.«
Thonis fand den Pförtner im Innenhof beim Brettspiel mit einem anderen Alten, übermittelte Pousais’ Auftrag und verließ das Haus.
Er blieb aufatmend an der Treppe stehen und presste sein Bündel an sich. Der Vorsteher hatte sich sehr um ihn bemüht, doch unter der Arbeit eines Sekretärs konnte sich Thonis nicht viel vorstellen.
Der Rückweg zur Innenstadt zog sich. Aus den offenen Höfen drangen Essensdüfte, Frauen hantierten an den Feuerstellen, während die Männer schwätzend und trinkend am Straßenrand hockten. Die Luft war stickig, ein leichter Abendwind hatte sich erhoben und fuhr ihm heiß ins Gesicht.
Thonis spürte sein wehes Bein bei jedem Schritt, aber er achtete nicht weiter darauf, denn der Kopf schwirrte ihm von Gedanken. Das Wiedersehen mit seinem alten Lehrer hatte sein Leben von einer Stunde zur anderen so gründlich verändert, dass es ihm mit einem Mal Angst machte. Doch er dachte daran, dass er nicht mehr allein in der fremden Stadt war, und sprach sich Mut zu. Petrus hatte ihm Schutz zugesagt.
Die Sonne war schon untergegangen, als er den Dromos erreichte. Das Nachtleben von Alexandria begann. Sklaven begleiteten ihre Herrschaften mit Lampen und Fackeln zu Gastmählern und Gelagen. Die Straßenlaternen brannten und eine Schar kerzentragender Mönche bahnte sich einen Weg durchs Gedränge unter den Arkaden.
Das Gymnasium, von dem der Vorsteher gesprochen hatte, lag am Weg zu seinem Schlafplatz im Judenviertel. Seine lang gestreckte Säulenfront war auch jetzt bei der Nachtbeleuchtung nicht zu übersehen. Hier in der Nähe also hatte Hypatia ihr Haus. Thonis betrat unter dem Säulengang eine Kneipe, bestellte Wein mit Brot und schaute sich um.
»Bist du fremd in der Stadt?«, sprach der Wirt ihn an. Er goss nach und trocknete sich die Hände an der Schürze.
»Ich bin erst seit ein paar Tagen hier«, bestätigte Thonis.
»Und suchst du Arbeit?«, fragte der Wirt. »Morgen am Renntag ist viel Betrieb. Da könnte ich noch ein paar Hände gebrauchen. Zum Fässerladen, Ausschenken, Kehren, Saubermachen, was eben alles so anfällt.«
»Was ist das für ein Rennen?«, erkundigte sich Thonis. Der Wirt sah ihn groß an, lachte auf, bediente den nächsten Gast und wandte sich ihm wieder zu.
»Du bist wohl der Einzige unter allen Leuten, der nicht weiß, dass morgen und die nächsten beiden Tage Staatsfeiertage sind«, sagte er. »Die Stadt begeht den sechsten Jahrestag des Regierungsantritts unseres gnädigen Herrschers. Und bekanntlich werden an Kaisertagen die besten Rennen gefahren. Morgen triffst du ganz Alexandria draußen im Hippodrom – davon rede ich. Wir haben in der Nähe ein Festzelt aufgeschlagen und es fehlen mir noch ein, zwei kräftige Leute. Hast du Lust, dir ein paar Geldstücke zu verdienen?«
»Aber dann sehe ich ja nichts vom Rennen«, sagte Thonis zögernd.
»Mann, ich bin doch kein Unmensch.« Der Wirt lachte. »Wir arbeiten in Schichten. Wenn du heute Nacht bis mittags durchmachst, bekommst du vom Rennen noch den ganzen Nachmittag mit. Einverstanden?«
»Eigentlich wollte ich mich an meinem neuen Arbeitsplatz vorstellen«, meinte Thonis. »Aber wenn Feiertag ist, wird vielleicht sowieso nichts daraus. Was zahlst du?«
»Eine Silberdrachme und als Zulage zwei Obolusse«, erklärte der Wirt. »Mehr ist nicht drin. Ist es dir recht?«
Thonis nickte. »Und wann fange ich an?«
»Am besten gleich«, sagte der Wirt. Er nahm Thonis sein Bündel ab und verstaute es. Dann wies er zwischen die engen Hofmauern, wo zwei Männer ein Fass aus dem Keller wuchteten. Ihre Körper glänzten im Fackellicht vor Schweiß.
»Das ist Thonis«, rief er ihnen zu. »Er soll bei euch mithelfen.«
Das Fass polterte auf die Pflastersteine. Die Männer richteten sich auf.
»Ich bin Phib«, sagte der eine Mann zu Thonis. Er hatte eine verstümmelte Nase, die aussah, als wäre sie ihm von einer Ratte abgebissen worden. »Beim Herkules, gut, dass Serenos uns noch jemanden schickt. Fass mal gleich mit an. Da vorn ist Nilus. Ich geh nachsehen, wo der Karren bleibt.«
»Zieh deinen Chiton aus«, rief Nilus. Dann bückte er sich in den Kellerschacht und schrie: »Los, Leute, es geht weiter!«
Nacheinander hievten sie wohl zwanzig Fässer nach oben und rollten sie durch den Hofgang auf die Straße. Es roch nach Wein und Schweiß und säuerlichem Holz, und die Männer keuchten vor Anstrengung, als sie die erste Ladung auf dem Maultierkarren festzurrten.
Serenos kam mit einem Weinkrug nach draußen. »Trinkt, Leute, und dann los mit dem Wagen«, rief er. »Du, Nilus, bleibst und passt auf die Fässer auf. Und du, junger Mann, fährst mit Phib zum Festplatz und hilfst beim Entladen.«
»Geht in Ordnung, Herr«, schrie Phib zurück. Er schwang sich auf den Wagen und ließ Thonis die beiden Maultiere am Halfter führen.
Das Rennfieber hatte bereits zur nächtlichen Stunde tausende aus ihren Häusern getrieben, Massen von Menschen drängten sich zwischen Sänften, Lastträgern und Fuhrwerken aller Art und strebten, mit Kissen und Decken bepackt, dem Hippodrom entgegen. Thonis kämpfte sich schrittweise den Dromos entlang, während Phib vom Wagenbrett herunter den Magistrat verwünschte, der keine Vorsorge für eine vernünftige Verkehrsregelung getroffen hatte. Nur Schritt für Schritt ging es die ganze Hauptstraße weiter. Die Maultiere zitterten und scheuten, Phibs Peitsche knallte. Ganz in der Nähe heulte plötzlich eine Frau auf und jammerte nach ihren Ohrringen, die ihr jemand im Gewühl abgerissen haben musste. Das Gedränge nahm noch zu, ein paar Männer gingen aufeinander los und Thonis sah im Fackelschein ihre Messer blitzen. Er fasste unwillkürlich das Maultierhalfter fester. Das schaffen wir nie bis zur Rennbahn, dachte er. Das Ganze endet in Mord und Totschlag. Doch Phib, wenn er nicht gerade zankte oder fluchte, schien guter Dinge. »So läuft das jedes Jahr«, schrie er Thonis zu. »Und ob du’s glaubst oder nicht, wir packen es auch diesmal.«
Nach einem Stau am Sonnentor folgten sie der Kanopischen Straße. Der Karren kam nun schneller voran, und nach einer Weile berührte die Straße das jüdische Viertel, wo Thonis seinen Schlafplatz hatte. Sein Zimmerchen dort war ein Verschlag unterm Dach, drei Schritt im Geviert, fensterlos, und er musste jedes Mal aufpassen, um nicht an die Deckenbalken zu stoßen. Eigentlich könnte er jetzt auf seiner Matratze liegen, malte er sich aus. Stattdessen zerrte er hier zwei Maultiere hinter sich her. Doch er konnte nicht seinen Gedanken nachhängen, er musste aufpassen. Denn vorn auf der Straße entstand schon wieder Unruhe unter den Leuten. Ein Trupp bewaffneter Reiter kam ihnen entgegen, offenbar eine Patrouille der Stadtwache. Sie schafften sich mit ihren Lanzenenden Platz und die Menge reagierte mit Buhrufen, Zischen und Pfeifen. Mitten im Lärm stimmte eine Frauenstimme das Lied der freien Nilschiffer an und sofort sang lärmend die ganze Straße mit.
Phib strahlte. »Siehst du, Junge, da hast du Alexandria«, rief er. »Eben noch prügelt man sich, aber wenn es gegen die da oben geht, ist alles vergessen. Setz dich morgen bloß nicht unter die verkehrten Leute! Die Blauen und Roten sind bei uns nicht sehr beliebt. Es sind die Farben der Fremden, Griechen, Juden und Römer, die unsere Taschen ausräumen.«
»Keine Angst«, beruhigte ihn Thonis. »Ich passe schon auf. «
Er reckte den Hals und bemerkte, dass sie gleich die Kanopische Pforte erreicht hatten, die aus der Stadt führte. Im freien Feld erhob sich unter dem Schiff des abnehmenden Mondes die riesige schwarze Mauer des Hippodroms. Ringsum flackerten Pechpfannen und Fackeln, überall wurde gesägt und gehämmert, und vor den Eingängen der Rennbahn lagerten Scharen von Menschen, die sich am Feuerschein wärmten.
Zwei Männer von Serenos erwarteten die Weinfuhre. Mit vereinten Kräften hoben sie die Fässer von der Ladefläche und rollten sie ins Festzelt. Als sie das letzte Fass auf die Zapfböcke gewuchtet hatten, setzten sich die Männer zusammen und verschnauften. Thonis angelte sich Fladen aus dem Brotkorb, ging kauend zu den Maultieren hinüber und ließ sie aus der Hand fressen. Dann aber kam auch schon Phib herbeigehumpelt, rieb sich die steifen Knie, winkte Thonis neben sich aufs Wagenbrett und ließ die Maultiere anziehen. Er hatte es eilig, wieder auf den Weg zu kommen. Bis Tagesanbruch mussten sie die nächste Fuhre geschafft haben.
Es war bereits helllichter Tag, als Thonis und Phib mit der zweiten Fassladung wieder beim Festzelt eintrafen. Serenos, der Wirt, war ihnen mit einem leichten Wagen gefolgt und nahm nun an Ort und Stelle die Dinge selbst in die Hand. Während sich schon die ersten Trinklustigen um den Tresen scharten und nach Glühwein riefen, brachte er das lebensgroße Abbild eines Nilpferds über dem Zelteingang an. Das Schild trug die Aufschrift: Zum fröhlichen Hippopotamus. Dann teilte Serenos seinen Leuten die Aufgaben zu. »Wir halten die Preise klein«, verkündete er. »Zwei Chalkusse für einen Becher, für Glühwein und Brot einen Chalkus extra. Und passt beim Wechseln auf, dass euch kein Falschgeld unterkommt.« Zuletzt nahm er Thonis und Phib beiseite und sagte: »Ihr beide könnt euch erst mal die Beine vertreten. Aber seid nach einer Stunde wieder zurück.«
»Geht in Ordnung, Herr«, antwortete Phib und stieß Thonis an. »Los, zieh dir was über. Wir gehen zu den Wettbüros. In vier Stunden öffnet die Bahn. Bis dahin will ich meine Denare gesetzt haben.«
Inzwischen hatte sich das Feld vor dem Hippodrom weiter mit Schaulustigen aufgefüllt und immer neue Scharen strömten aus der Kanopischen Pforte herbei: Damen in Sänften und Kutschen, festtäglich gekleidete Männer, Reisewagen voller Frauen, Kinder und Haussklaven. Unter den Mauern des Hippodroms boten Wahrsager, Astrologen und Zeichendeuter ihre Dienste an, fliegende Händler verkauften Sonnenschirme und Hüte, und um die Schaubuden der Gaukler drängten sich neugierige Menschen.
Thonis blieb bei einer Absperrung stehen und schaute einem Mann zu, der auf der Bühne einer Frau den nackten Bauch mit Gurkenscheiben belegte.
»Hier herein, Leute«, forderte der Ausschreier sie auf. »Gleich geht die Schau los. Hier seht ihr den Schwertkämpfer Babes. Er zeigt euch, wie er auf seine Art Gurken schneidet. Hier herein, Leute. Ein Chalkus für ein Weltwunder.«
»Komm, Phib, das sehen wir uns an«, rief Thonis.
Phib zuckte mit den Schultern. »Possen«, meinte er verächtlich. »Ein richtiger Gladiatorenkampf mit Tierhetze und allem Drum und Dran, das ist eher mein Geschmack. Aber das hat schon der frühere Kaiser abgeschafft. Als ich in deinem Alter war, gab’s das alles noch. Netzkämpfer, Dreizackkämpfer, Wasserschlachten, Verbrecherjagd und Straßenräuber, denen man Bären, Tiger und Stiere auf den Hals schickte. Ich sage dir, die Arena stand da tagelang unter Blut.«
Er schob Thonis weiter und strebte den Wettbüros zu, die mit Fahnen, Plakaten, Transparenten und lebensgroßen Bildern der Rennfahrer um Einsätze warben. Der amtliche Aushang kündete zehn Läufe für den Nachmittag an, jeweils mit Fahrern der vier Farben besetzt. An den Wechseltischen herrschte Hochbetrieb. Männer diskutierten ihre Favoriten, überboten sich mit Wetten und schrien mit hochroten Gesichtern aufeinander ein.
Bei dem Wettstand der Grünen stießen sie auf Nilus, den Fassträger. Er winkte zu ihnen hinüber. »He, ihr beiden! Habt ihr schon gesetzt?«
»Noch nicht«, rief Phib zurück. »Was hältst du von Andronikus? Voriges Jahr war der mächtig in Fahrt.«
Nilus quetschte sich zu ihnen durch und raunte: »Ich habe einen guten Freund bei den Stallburschen. Der hat an den Pferdeäpfeln in Andronikus’ Stall geschnuppert. Er meint, die Tiere stehen nicht gut im Futter.«
Phib rieb seine Rattennase. »Schade«, bedauerte er. »Und was ist mit Zenon?«
»Das ist genau mein Tipp«, sagte Nilus mit funkelnden Augen. »Ich habe fünf Drachmen auf sein Gespann gesetzt.«
»Und was ist mit dir?«, fragte Phib und stieß Thonis an. »Juckt es dich nicht auch? Ich leih dir eine Drachme. Du gibst sie mir zurück, wenn Serenos dich nachher auszahlt.«
Thonis wehrte ab. »Wennschon, wäre Piso mein Mann«, erklärte er. »In Antiochia ging er als Erster durchs Zielband. Doch jetzt hängt sein Bild drüben bei den Blauen.«
»Er hat die Farbe gewechselt«, bestätigte Nilus. »Aber Piso ist ein guter Fahrer. Schon mit vierzehn ist er sein erstes Rennen gefahren und sein Fahrlehrer war der alte Lazen. Vor zwei Jahren habe ich mit Piso eine Hand voll Drachmen gewonnen.«
»Aber in Antiochia fuhr er für die Grünen. Was hat er auf einmal bei den Blauen verloren?«, wunderte sich Thonis.
Nilus flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Man sagt, dass Piso neuerdings den Sabbat hält. Es wird sogar erzählt, er hätte sich den Zipfel beschneiden lassen.«
»Er soll machen, was er will«, sagte Thonis. »Diesmal wette ich sowieso nicht. Macht’s gut. Ich schau noch mal zum Festzug hinüber.«
»Sei ja pünktlich zurück, Serenos zieht dir’s sonst vom Lohn ab«, warnte Phib.
»Schon gut«, sagte Thonis. »Du musst nicht auf mich warten.«
Er schlenderte zum Hauptportal, wo schon die ersten Prunkwagen Aufstellung nahmen. Polizeiwachen hatten das Gelände abgesperrt. Aber Thonis fand zwischen mehreren Leuten auf einem Karren einen guten Aussichtsplatz. Gerade kam der Kaiserwagen in Sicht, der von vier weißen, blumenbekränzten Ochsen gezogen wurde. Das vergoldete Gefährt trug das mannshohe, mit Girlanden geschmückte Bildnis des jungen Kaisers Theodosius und ein Großporträt der Mitregentin, seiner älteren Schwester Pulcheria. In der Ferne wiegten bunt bekleidete Elefanten ihre Köpfe, man hörte Befehle, Orgelklänge, das Gebrüll der Zugochsen und gleich in der Nähe formierten sich Soldaten in glitzernden Panzerhemden.
»Dahinten kommen die Essenswagen!«, schrie eine Frau und wedelte sich mit den Händen Luft zu. »Ich rieche schon die gebratenen Hähnchen!«
Die Leute auf dem Karren lachten, bewunderten Radschläger, tanzende Zwerge und Bodenakrobaten, die im Zug Aufstellung nahmen, und schrien vor Begeisterung, als hinten am Kanopischen Tor galoppierende Straußenreiter mit wehenden Drachenfahnen auftauchten. Aber Thonis konnte sich das aufregende Spektakel nicht länger ansehen. Er musste zum »Fröhlichen Hippopotamus« zurück, sah Phib bereits ausschenken und huschte hinter den Tresen.
Die nächsten Stunden vergingen im Nu. Serenos setzte den Würzwein an, Thonis besorgte die Kesselfeuerung, bockte neue Fässer auf, verkaufte zwischendurch Brot oder half Phib bei der Bedienung. Plötzlich leerte sich das Zelt und ein ohrenbetäubender Lärm brach los.
»Sie lassen die Leute rein«, schrie Phib ihm zu. »Junge, zieh kein Gesicht! Du sparst dir blaue Flecken.«
»Quatsch«, knurrte Thonis.
»Kein Quatsch!«, sagte Phib. »Ich kannte mal einen Bären von Mann, den haben sie vorn am Eingang regelrecht platt getreten. War kein schöner Anblick, als wir seine Reste zusammenkratzten.«
Während sie die Becher spülten, tauchte Serenos auf. Er hatte den Arm mit Geldbeuteln beladen und ließ sie auf den Tisch poltern. »Jede Menge Kleingeld«, sagte er. »Übermorgen werden wir wissen, ob sich der Aufwand gelohnt hat. Aber es scheint, das Geschäft läuft. Wenn ihr beide in den nächsten Tagen die gleiche Schicht noch mal macht, zahle ich das Doppelte.«
»Ich bin dabei, Herr«, meldete sich Phib.
»Und wie steht es mit dir?«, erkundigte sich der Wirt bei Thonis.
»Ich weiß noch nicht«, sagte er ausweichend. Wenn er das Angebot annahm, musste er auf zwei weitere Vormittage im Stadion verzichten. Und das war hart. Seit Thonis das Bild von Piso auf den Plakaten entdeckt hatte, brannte er darauf, den Fahrer mit dem sizilianischen Gespann wieder zu sehen. Piso, der unter dem Beifall von Zehntausenden in Antiochia mit drei Längen Vorsprung ins Ziel gegangen war! Er fragte sich, wie Piso sich wohl diesmal halten würde, und eine Welle von Erregung überlief ihn. Andererseits war das Angebot von Serenos verlockend. Vernünftig wäre es jedenfalls, die beiden zusätzlichen Schichten mitzunehmen. Das Geld konnte er gut gebrauchen, und schließlich war Serenos mit seinem breiten Lächeln ein umgänglicher Mann, dem er nicht gern einen Gefallen abschlagen mochte.
Draußen hatte inzwischen die Wasserorgel eingesetzt, Fanfaren schmetterten und plötzlich brandete Jubel auf.
»Der Kaiserwagen fährt ein, Gott segne unseren jungen Herrscher«, sagte Serenos und bekreuzigte sich. »Kommt, holt Wein und setzt euch, Leute, wir machen Pause.«
Wieder ertönten lang gezogene Fanfarentöne.
»Der Statthalter huldigt dem Kaiserbild«, erklärte Serenos und schlug nochmals ein Kreuz. »Vor drei Wochen haben wir den dreizehnten Geburtstag des Kaisers gefeiert. In diesem zarten Alter trägt er mit seiner Schwester die Last des Reiches auf seinen Schultern.«
Zum dritten Mal ertönten die Fanfaren.
»Und seine beiden Eltern sind tot«, fügte Serenos hinzu. »Gott segne seine Berater!«
»Jetzt beginnt die Prozession, der Zug setzt sich in Bewegung«, rief Phib aufgeregt. »Bloß eine Stunde, Herr, die könnt Ihr uns doch freigeben. Was sollen wir hier sitzen und nichts mitkriegen? Der Betrieb am Tresen geht doch erst später wieder los.«
Serenos schüttelte den Kopf. »Ausgeschlossen«, meinte er. »Ihr nehmt den Maultierkarren und schafft noch eine Ladung herbei. Bis Mittag könnt ihr zurück sein. Dann zahle ich euch aus.«
»Also gut«, lenkte Phib ein. Er stieß Thonis an. »Komm, wir fahren gleich los, dass wir beizeiten wieder da sind.«