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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74095-417-8
Wir würden uns wirklich freuen, wenn wir Sie und die kleine Billie recht bald bei uns begrüßen könnten. Wir sind sicher, dass Sie sich bei uns ebenso gut erholen werden, wie das kleine Mädchen, las Dr. Anke Petersen laut vor. Danach legte sie den Brief auf den Tisch und erklärte: »Frau von Schoenecker muss eine sehr liebenswürdige und aufgeschlossene Dame sein. Wie gut, dass Dr. Baumgarten bei dir studiert hat, Papa. Denn ich wüsste wirklich keinen Ort, an dem ich mich nach dieser schweren Zeit besser erholen könnte, als Sophienlust.«
Professor Petersen lächelte zufrieden, als er erwiderte: »Auch ich bin glücklich, dass ich dich dort so gut aufgehoben weiß. Hast du dir schon überlegt, was du Gerhard sagen willst? Wenn ich an deiner Stelle wäre, dann würde ich ihm die Wahrheit sagen.«
»Die Wahrheit ist, dass ich mich niemals von Billie trennen werde. Ich habe es ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen. Aber ich kenne Gerhards Einstellung genau. Er hat immer davon gesprochen, dass er zunächst ein paar Jahre mit mir allein sein möchte, bevor wir uns Kinder anschaffen.«
»Aber er liebt dich, Anke, vergiss das nicht. Quäl dich doch nicht lange, fahr einfach zu ihm hin und sprich mit ihm. Du bist jetzt schon zwei Tage zu Hause und hast dich noch nicht einmal bei ihm gemeldet. Das könnte doch leicht den Anschein erwecken, als läge dir nichts mehr an ihm. Doch jetzt muss ich wirklich weg. Mein Flugzeug wartet nicht. Ich hoffe nur, dass du deine Reise so lange verschieben kannst, bis ich aus Paris zurück bin.«
Er beugte sich zu seiner Tochter hinab und küsste sie auf die Stirn.
»Nur Mut, mein Kind. Zwei Menschen, die einander lieben, finden für alles einen Weg.« Damit verließ er das Haus.
Anke ging zu Billie, verabschiedete sich von ihr und setzte sich in ihren Wagen. Sie fuhr zu dem schönen Besitz des Reeders Gerhard Sörensen, mit dem sie seit drei Jahren so gut wie verlobt war. Wenn es nach Gerhard gegangen wäre, hätten sie sich noch vor ihrer Tätigkeit auf dem Ärzteschiff »Cap Anamur« offiziell verlobt. Doch das hatte Anke nicht gewollt.
Jetzt bog Anke in die Elbchaussee ein und hielt kurz darauf vor dem Anwesen des Reeders. Das Haus war im friesischen Bauernstil gebaut. Es hatte ein tiefgezogenes, mit Schilf bedecktes Walmdach und lag etwas erhöht inmitten des großen parkähnlichen Gartens.
Jens, der Diener, hatte die Tür geöffnet.
»Der gnädige Herr befindet sich auf der hinteren Terrasse, Fräulein Doktor«, sagte er. »Gewiss wird er sich sehr freuen, Sie so wohlbehalten wiederzusehen.«
Trotz aller Ruhe, die die junge Ärztin ausstrahlte, klopfte ihr doch jetzt das Herz bis zum Halse, je näher sie Gerhard kam. Gerhard Sörensen war ihre große Liebe. Sie hatte ihn drei Jahre nicht mehr gesehen. Und dann war da Billie …
»Anke! Bist du es wirklich? Mein Gott, wie habe ich auf diesen Tag gewartet! Lass dich anschauen!«
Gerhard Sörensen kam ihr entgegen. Anke war durch den Garten gegangen. Doch der Diener musste schneller gewesen sein als sie und sie bereits abgemeldet haben.
Als sie den geliebten Mann so dicht vor sich sah, vergaß Anke alle ihre Sorgen. Mit einem kleinen Seufzer überließ sie sich der Innigkeit seiner Umarmung. Es dauerte lange, bis sich ihre Lippen voneinander lösten.
»Das war ja eine Ewigkeit, Anke. Nie wieder lasse ich dich so lange von mir weg. Wir werden heiraten, Anke. Schon bald. Und dann zeige ich dir zuerst die Welt. Die schöne Welt: Italien, Spanien und all die Plätze, wo Harmonie, Friede und Gleichmaß zu Hause sind. Du musst das hässliche Gesicht des Flüchtlingselends vergessen.«
Er hatte nach ihrem Arm gefasst und führte sie zu der Hollywoodschaukel. Sanft drückte er sie auf den weichen Sitz und ließ sich neben ihr nieder.
»Ich …, ich habe ein Kind mitgebracht aus Vietnam, Gerhard. Ein Waisenkind. Seine Eltern kamen bei einem tragischen Autounfall in Saigon ums Leben. Billie hat niemanden mehr. Nur mich. Dieses schreckliche Ereignis, das ihr die Eltern geraubt hatte, hat dazu geführt, dass das Kind ganz verstört ist. Billie redet nicht und reagiert auch auf irgendwelchen Zuspruch nicht. Ich habe die Erlaubnis der amerikanischen Behörden, sie zu adoptieren, denn sie besitzt keine Verwandten mehr. Wenn du sie kennenlernst, wirst du genauso entzückt von ihr sein, wie ich es bin.«
Anke hatte diese Sätze schnell und ohne Pause hervorgestoßen, ohne zu bemerken, dass Gerhard seinen Arm von ihrer Schulter genommen hatte und ein Stück von ihr weggerückt war. Erst als er, lange nachdem sie geendet hatte, still blieb, merkte sie auf. Sie sah ihn an. Und an seinem finsteren Gesichtsausdruck erkannte sie, dass ihre Bedenken nicht grundlos gewesen waren.
»Warum sagst du denn nichts, Gerhard? Schau, Billies Eltern waren meine Freunde. Ihre Mutter war Krankenschwester, ihr Vater Arzt. Sie hatten gerade geheiratet, als er sich für die Arbeit auf dem Ärzteschiff gemeldet hatte. Sie wollte ihn nicht davon abhalten, den Flüchtlingen zu helfen. Madge folgte ihm dorthin, weil sie ohne ihn nicht sein konnte. Das Glück der beiden stand unter dem Schatten von Not und Vertreibung. Doch sie hatten niemals Angst um sich selbst, immer nur um Billie. Der Gedanke, dass ihnen etwas zustoßen und Billie allein zurückbleiben könnte, machte sie fast krank. Und ich versprach ihnen, mich um Billie zu kümmern, falls es jemals notwendig sein sollte. Doch keiner von uns rechnete damit, dass dieser Fall wirklich einmal eintreten würde.«
»Das kann dein Ernst nicht sein, Anke! Du kannst nicht wirklich glauben, dass ich damit einverstanden bin, dass wir ein fremdes Kind in unsere junge Ehe aufnehmen.
Ich möchte dich für mich allein haben und dich nicht mit einem fremden Kind teilen müssen. Gib das Kind in ein Kinderheim. Dort hat es alles, was es braucht. Es wird dich nicht vermissen.«
»Warum bist du so herzlos, Gerhard? Begreifst du denn nicht, dass Billie von dem schweren Schicksalsschlag, der ihr Leben von heute auf morgen völlig verändert hat, noch immer zu Boden gedrückt ist? Ich sagte dir doch schon, dass sie verstört ist. Sie würde nie wieder zu sich selbst finden, wenn ich sie jetzt ihrem Schicksal überlassen würde.«
»Ich denke, du liebst mich, Anke! Da dürfte dir doch die Entscheidung zwischen mir und diesem Kind nicht besonders schwerfallen. Denn schließlich hast auch du dir das Glück anders vorgestellt.«
»Glück hat viele Gesichter, Gerhard. Weshalb sollte ich dich weniger lieben, nur weil ich Billie gern habe? Sie nimmt dir nichts von meinen Gefühlen. Im Gegenteil, sie wird dir etwas geben, wenn du dich nicht sträubst, sie lieb zu haben. Ich habe …«
»Ich will dich allein, Anke«, unterbrach Gerhard Sörensen sie heftig. »Ohne das Kind. Und das ist mein letztes Wort.«
Er hatte sich erhoben und lief unruhig auf der Terrasse auf und ab.
Auch Anke stand auf. »Gerhard, hast du denn kein Herz für fremde Not? Ich würde dich nur umso mehr lieben, wenn du gut zu Billie wärst. Ich möchte mein Versprechen halten, denn ein Versprechen ist heilig. Wenn du mich wirklich lieben würdest, dann würdest du mich nicht in einen solchen Gewissenskonflikt stürzen. Dabei müsstest du mich doch so weit kennen, dass du genau wissen müsstest, wie meine Entscheidung ausfallen wird. Billie ist hilflos, sie braucht mich. Aber du, in deiner Selbstherrlichkeit, scheinst niemanden zu brauchen.«
Anke wandte sich rasch ab, denn Gerhard sollte nicht sehen, dass ihre Augen voller Tränen standen. Während sie langsam auf die Stufen zuging, die von der Terrasse in den Garten führten, wartete sie darauf, dass Gerhard sie mit einem Wort zurückhalten würde. Doch hinter ihr blieb alles still. So verließ Anke, ohne sich noch einmal umzusehen, durch den Garten das Grundstück.
Gerhard Sörensen stieß einen Laut aus, der ebenso gut als Lachen wie als Weinen gedeutet werden konnte. Er erschrak, als jetzt eine Stimme ertönte.
»Sie verdient es nicht, dass du sie liebst, Gerhard. Sie ist gar keine wirkliche Frau, nur eine strenge, sachlichkühle Ärztin. Sonst wäre sie nicht so von dir gegangen.«
Schon beim ersten Wort war Gerhard Sörensen herumgefahren. Er starrte fassungslos in das pikante Gesicht von Kerstin Platen. Die grünen Augen des verwöhnten jungen Mädchens funkelten ihn triumphierend an.
»Du hast gelauscht, Kerstin?«, fragte er abfällig. »Wie bist du überhaupt hereingekommen?«
»Der Diener hat mich hereingelassen, und gelauscht habe ich nicht. Ihr habt euch so laut gestritten, dass man es fast bis auf die Straße gehört hat«, verteidigte sich Kerstin. »Ich wollte dich abholen. Hast du vergessen, dass wir zum Segeln verabredet waren? Aber jetzt, wo Anke wieder im Lande ist, existiere ich wohl nicht mehr für dich. Übrigens habe ich das Kind zufällig gesehen. Es ist Anke wie aus dem Gesicht geschnitten. Vielleicht hat sie ganz besondere Gründe dafür, dass sie es bei sich behalten möchte.«
Kerstin hatte die kleine Billie wirklich gesehen, doch es stimmte absolut nicht, dass diese Anke wie aus dem Gesicht geschnitten war. Die einzige Übereinstimmung waren das goldblonde Haar und die blauen Augen. Aber Kerstin Platen, die verwöhnte Tochter eines wohlhabenden Kaffeeimporteurs, war schon lange vernarrt in Gerhard Sörensen. Deshalb war ihr jedes Mittel recht, Anke diesen Mann abspenstig zu machen.
»Du bist verrückt, Kerstin«, sagte er unwillig. »Anke ist der ehrlichste Mensch, den ich kenne. Wäre es wirklich ihr eigenes Kind, so hätte sie es mir gesagt. Bitte, sei so gut und lass mich jetzt allein.«
»Warum bist du nur immer so abweisend zu mir, Gerhard? Warum willst du nicht sehen, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als dich lieben zu dürfen?«
Drinnen im Haus läutete das Telefon.
»Es tut mir leid, Kerstin, aber das ist ein Gespräch, auf das ich schon den ganzen Vormittag warte. Sei ein liebes Mädchen und geh jetzt.«
Er ließ sie einfach auf der Terrasse stehen und ging ins Haus.
Kerstin sah ihm zornig nach. Die Enttäuschung darüber, dass er sie so unmissverständlich abgewiesen hatte, trieb ihr die Tränen in die Augen. Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken und ging.
*
Von widerstreitenden Gefühlen erfüllt, fuhr Anke zum Haus ihres Vaters zurück. Obwohl sie sich mit Besorgnis gefragt hatte, wie Gerhard sich zu Billie stellen würde, war sie doch nicht darauf gefasst gewesen, dass er so schroff und entschieden nein sagen würde. Sie nahm sich nun vor, noch an diesem Tag mit Billie nach Sophienlust zu fahren. Der Gedanke, in Hamburg zu bleiben und so in der gleichen Stadt wie Gerhard zu leben, erschien ihr unerträglich. Sie brauchte Abstand. Und Gerhard musste Gelegenheit haben, seine Anschauungen zu revidieren. Denn tief im Grunde ihres Herzens konnte Anke nicht glauben, dass er ihr gemeinsames Leben davon abhängig machen würde, dass sie Billie weggab. Doch wenn das, was er vorhin gesagt hatte, wirklich seiner innersten Überzeugung entsprechen sollte, dann war es besser, dass sie schon jetzt, und nicht erst in der Ehe, erkannt hatte, dass er im Grunde seines Herzens ein Egoist war.
Anke ließ den Wagen auf der Straße stehen und schloss das niedrige Gartentor auf. Als sie auf das Haus zuging, dachte sie an die vielen schönen Jahre, die sie zusammen mit ihrem Vater hier verbracht hatte. An ihre Mutter konnte sie sich kaum noch erinnern, denn sie war gestorben, als sie noch sehr klein gewesen war. Doch ihr Vater hatte sich, obwohl er neben seiner anstrengenden Tätigkeit als Chirurg an der Universitätsklinik auch eine Professur an der Universität hatte und damit ein sehr beschäftigter Mann war, doch immer genügend Zeit für sie genommen.
Bevor Anke die Tür aufschließen konnte, wurde diese von innen geöffnet. Frau Kröger, die Wirtschafterin, stand da.
Anke wollte sich im Augenblick nicht in ein Gespräch mit Frau Kröger einlassen. Sie murmelte einen Gruß und ging sofort in ihr ehemaliges Kinderzimmer. Billie saß in einer Ecke und spielte immer dasselbe Spiel: Die Puppe war krank und musste verbunden werden.
Als Anke eintrat, hob das Kind den Kopf und sah Anke an. Doch kein Aufleuchten war in den blauen Augen, kein Lächeln minderte die Starre in diesem Kindergesicht. Und doch kannte Anke Billie anders. Sie war ein fröhliches, zutrauliches kleines Mädchen gewesen, genau wie alle anderen Kinder. Doch das Grauen, das sie empfunden haben musste, als sie die geliebten Eltern leblos hatte daliegen sehen, hatte diese Starre über ihr kleines Herz gesenkt.
Anke ging auf Billie zu. Sie hockte sich neben dem Kind auf den Boden.
»Wir werden verreisen, Billie, und in einem schönen Haus wohnen, wo es sehr viele Kinder gibt. Rundherum sind große Wiesen und Wälder, in denen man lange spazieren gehen kann. Auch allerlei Tiere gibt es dort. Und wir beide werden den ganzen Tag beisammen sein. Freust du dich?«
Billie hatte nur auf die ersten Worte der Ärztin geachtet und sich danach wieder ihrer Puppe zugewandt.
Anke unterdrückte einen Seufzer. Sie strich über Billies seidenweiches Haar und erhob sich. Es gab noch eine Menge zu tun. Sie musste Koffer packen. Denn sie hatte sich ja vorgenommen, Hamburg noch heute zu verlassen und nach Sophienlust zu fahren.
Zuerst ging Anke ins Arbeitszimmer ihres Vaters, wo das Telefon stand, und rief Dr. Baumgarten an. Ihr wurde ein bisschen zuversichtlicher ums Herz, als sie seine Stimme hörte.
»Ich denke, Sie sind schon auf dem Weg nach Sophienlust, Kollegin«, rief Dr. Baumgarten. »Hier wartet schon alles auf Sie. Die Kinder sind auf ihre neue Spielgefährtin sehr gespannt.«
»Sie sind wirklich außerordentlich liebenswürdig, Kollege Baumgarten«, sagte Anke. »Es ist ein schönes Gefühl, an einen Ort fahren zu können, wo man so herzlich willkommen ist. Und Frau von Schoenecker hat mir einen so reizenden Brief geschrieben, als würde sie mich schon viele Jahre kennen.«
»Sie ist wirklich ein Wunder an Menschenliebe, die gute Denise«, bestätigte Dr. Baumgarten. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, über Heidelberg zu fahren? Dort, in der Langen Gasse Nummer zwo, wohnt Sascha von Schoenecker. Er ist der älteste Sohn des Ehepaares Schoenecker, studiert in Heidelberg und hat gerade ein paar Tage frei. Frau von Schoenecker wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie Sascha mitbringen könnten, da dessen eigenes Auto im Moment streikt.«
»Aber natürlich, selbstverständlich. Es macht mir gar nichts aus. Ich freue mich im Gegenteil, dass ich auf diese Weise auch Frau von Schoenecker einen Gefallen tun kann«, erwiderte Anke. Sie hörte nun sehr genau zu, als ihr Dr. Baumgarten den kürzesten Weg nach Sophienlust beschrieb.
»Grüßen Sie mir Ihren verehrten Herrn Vater«, trug Dr. Baumgarten ihr noch auf. »Im Übrigen freue ich mich sehr, Sie wiederzusehen und bei dieser Gelegenheit festzustellen, wie sich das einstmals kleine Mädchen entwickelt hat. Auf bald, also!«
Anke packte die Koffer und verstaute sie mit Frau Krögers Hilfe im Wagen. Danach fütterte sie Billie und aß selbst noch eine Kleinigkeit. Als sie startete, schlug es von der nahegelegenen Kirche gerade ein Uhr.
Anke übernachtete an diesem Tag mit Billie in einem kleinen Hotel in Frankfurt und fuhr am anderen Morgen ziemlich zeitig nach Heidelberg weiter. Dr. Baumgarten hatte ihr versprochen, Sascha von Schoenecker telefonisch mitzuteilen, dass sie gegen zehn Uhr in der Langen Gasse eintreffen würde.
Die alte Stadt am Neckar grüßte sie vertraut, als sie die Autobahn verlassen hatte. Denn Anke hatte hier ebenfalls zwei Semester studiert und erinnerte sich gern an diese Zeit.
Das Haus in der Langen Gasse war bald gefunden.
»Ich komm sofort wieder zurück, Billie. Sei bitte schön brav und bleib schön sitzen«, ermahnte Anke das Kind.
Billie hatte den ganzen Rücksitz für sich. Doch obwohl allerlei hübsches Spielzeug neben ihr lag, hielt sie nur ihre Puppe mit ihren Armen eng umschlungen.
Noch bevor Anke sich von dem Wagen entfernen konnte, öffnete sich die Haustür. Ein junger Mann mit einem kleinen Koffer erschien auf der Schwelle.
»Fräulein Dr. Petersen? Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Ich bin Sascha von Schoenecker. Ich finde es ganz reizend, dass Sie diesen Umweg machen, um mich nach Hause mitzunehmen.«
Anke streckte Sascha die Hand entgegen. Sie fand den jungen Mann auf den ersten Blick nett und sympathisch.
»Es war gewiss kein Umweg für mich, Herr von Schoenecker. Ganz abgesehen davon, dass Ihre Frau Mutter mir gegenüber so lieb und aufgeschlossen war, dass ich froh bin, ebenfalls eine Gefälligkeit erweisen zu können. Kommen Sie, bitte. Ihren Koffer können Sie hinten in den Gepäckraum geben.«
Anke schloss den Kofferraum auf und wartete, bis Sascha seinen Handkoffer hineingelegt hatte. Danach sagte sie zu dem jungen Mann: »Erschrecken Sie bitte nicht, Herr von Schoenecker, wenn Billie keinerlei Reaktion zeigt. Sie ist verstört durch die entsetzlichen Ereignisse, die ihr die Eltern geraubt haben.«
Billie nahm keinerlei Notiz von Sascha von Schoenecker. Sie reichte ihm zwar folgsam die Hand, doch über ihre festgeschlossenen Lippen kam kein Laut.
Anke startete den Wagen. »Bitte, erzählen Sie mir doch ein bisschen von Sophienlust, Herr von Schoenecker. Ich weiß zwar von Dr. Baumgarten, dass es sich um eine wunderbare Einrichtung handelt, doch ich würde gern etwas von den Bewohnern wissen. Bin ich richtig orientiert, wenn ich glaube, dass Ihre Frau Mutter das Gut geerbt hat?«
Sascha schüttelte den Kopf. »Nein, eigentlich hat es mein Halbbruder Nick geerbt. Mutti ist die zweite Frau meines Vaters, doch für meine Schwester Andrea und mich ist sie schon immer eine wirkliche Mutter gewesen. In erster Ehe war sie mit Dietmar von Wellentin, Nicks Vater, verheiratet. Sie war Tänzerin und Sie wissen ja, dass es auch in unserer aufgeklärten Zeit noch einen gewissen Adelsstolz gibt. Jedenfalls lehnte die Familie ihres Mannes sie ab. Das hat sich jedoch inzwischen völlig geändert. Die Wellentins sind Mutti heute in herzlicher Liebe zugetan. Nicks Vater starb noch vor dessen Geburt. Und da Mutti genau wusste, dass die Familie ihres Mannes sie ablehnte, verzichtete sie darauf, sich durch Nicks Geburt, eigentlich heißt mein Bruder Dominik, die ihr zustehenden Rechte zu verschaffen. Da sie arbeiten musste, damit sie und Nick leben konnten, musste sie sich schweren Herzens dazu entschließen, Nick in ein Kinderheim zu geben. Durch einen Zufall begegnete ihr Nicks Urgroßmama, Sophie von Wellentin, in einem Heilbad, als sie sich dort zusammen mit ihrem Sohn aufhielt. Sie müssen wissen, dass Nick seinem Vater, Dietmar von Wellentin, wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sophie von Wellentin forschte nach und erfuhr so, dass Nick ihr Urenkel war und Denise ihre angeheiratete Enkelin. Vergeblich versuchte sie Denise eine Unterstützung anzubieten. Schließlich respektierte sie Muttis Stolz, setzte aber Nick in ihrem Testament als Alleinerben ein und bestimmte, dass aus Sophienlust ein Kinderheim werden sollte, das Mutti bis zu Nicks Großjährigkeit verwalten soll. Damit wollte sie nicht nur das Unrecht, das man Denise und Nick angetan hatte, gutmachen, sondern auch solchen Kindern eine Heimat geben, die aus irgendwelchen Gründen abgelehnt und in der Welt herumgestoßen werden. Sie ahnen nicht, wie viele Kinder schon in Sophienlust wieder das Lachen gelernt haben. Auch die kleine Billie wird eines Tages wieder ein fröhliches Kind sein.«
»Es klingt wie ein Märchen, Herr von Schoenecker«, entgegnete Anke, »was Sie mir da erzählen. Dass es in der heutigen Zeit noch Menschen gibt, die ihr Leben fast ausnahmslos in den Dienst anderer Menschen stellen, ist fast ein Wunder.«
»Wir alle bewundern Mutti«, sagte Sascha schlicht, wobei jedoch Verehrung und Liebe aus seinen Worten herauszuhören war. »Sie ist unermüdlich und findet stets für jeden Menschen das richtige Wort. Dabei ist sie für Vati eine wundervolle Ehefrau und für uns Kinder eine Mutter, die immer Verständnis für uns hat. Natürlich haben wir auch eine Menge Helfer, denn die Zahl der Kinder ist doch recht groß. Ich bin sicher, dass die Rasselbande schon sehr neugierig darauf wartet, Sie kennenzulernen.«
*
»Ich bin sehr gespannt, wie dieses kleine Mädchen aus Vietnam aussieht«, verkündete Pünktchen. »Ob es Schlitzaugen hat? Und schwarzes Haar? Und ob es unsere Sprache versteht?«
»Deine Fantasie geht wieder einmal mit dir durch, Pünktchen«, erwiderte Nick. »Mutti hat uns doch erzählt, dass das kleine Mädchen die Tochter eines amerikanischen Ehepaares ist. Wie sollte sie da Schlitzaugen haben? Und sie spricht Englisch und Deutsch. Das hat Mutti auch gesagt.«
Pünktchen wurde ein bisschen rot. Sie besaß wirklich eine blühende Fantasie, die ihr manchmal einen Streich spielte.
»Ob wir noch einmal im Gärtnerhäuschen nachsehen sollten, ob auch alle Vasen mit Blumen gefüllt sind?«, schlug Malu vor. Sie war die älteste unter den Kindern, die ständig auf Sophienlust lebten. Und sie hatte sich nach dem Beispiel der von ihr so sehr verehrten Tante Isi angewöhnt, immer ein bisschen das ausgleichende Element zu sein.
Die Kinder saßen auf der Bank vor dem Ponystall. Jetzt kam Henrik über die Wiese gelaufen. Seine kleinen Arme fassten kaum den Riesenstrauß von Margeriten und Arnika, den er gepflückt hatte.
»Ich hab gedacht, dass das hübsch aussieht«, rief er schon von Weitem. »Wir sollten die Blumen noch ins Gärtnerhäuschen stellen. Vielleicht hat es die fremde Dame aus Hamburg gern, wenn die Wiese bei ihr im Zimmer blüht.«
Nick hätte am liebsten etwas gesagt, doch er entsann sich gerade noch rechtzeitig der Emahnungen seines Vaters, seinen kleinen Bruder Henrik nicht immer zu bevormunden.
»Die sind wunderschön, Henrik«, lobte Malu den Eifer des Kleinen. »Kommt, wir wollen sie gleich hinübertragen. Sie passen sehr gut in die bunte Tonvase, die im Kaminzimmer steht.«
Die Kinder machten sich auf den Weg zur alten Parkmauer, in deren Nähe das Gärtnerhäuschen stand. Es war ein sehr romantisches kleines Haus, das mitten in einem verwilderten Garten stand und innerhalb des großen Gutsgeländes wie eine einsame Insel wirkte. Die grauen Mauern waren mit Efeu umrankt, und auf der kleinen Terrasse, die sich nach Süden hin öffnete, blühten vom Frühjahr bis zum späten Herbst die Kletterrosen in verschwenderischer Fülle.
Die Tür des Hauses war nicht verschlossen, sodass die Kinder ungehindert eintreten konnten.
»Da stehen ja schon überall Blumen«, rief Henrik enttäuscht.
»Glaubst du wirklich, Henrik, dass Mutti so was vergessen würde?«, meinte Nick ein bisschen von oben herab.
Malu hatte die Tür zum Kaminzimmer geöffnet. Sie atmete auf, als sie feststellte, dass die große Tonvase noch leer war.
»Schau, Henrik, hier kannst du deine Wiesenblumen hineinstellen. Warte, ich hole rasch Wasser aus der Küche«, erklärte sie.
Die Wiesenblumen machten sich ganz besonders hübsch in der Tonvase. Sie harmonierten prächtig mit den rustikalen Schafwollteppichen und den ländlichen Möbeln, mit denen das Zimmer eingerichtet war.
*
Indessen näherte sich Ankes Auto stetig Sophienlust.
»Bitte, Fräulein Doktor, bleiben Sie doch oben auf der Hügelkuppe einmal stehen«, bat Sascha.
Anke tat, worum er sie bat. Sie blickte in das vor ihr liegende Tal und stieß einen Laut des Entzückens aus.
»Dort unten haben Sie unser Sophienlust«, erklärte Sascha. »Das spitze rote Dach, das Sie in der Mitte sehen, gehört zum Herrenhaus von Sophienlust. Dort drüben, ein bisschen weiter rechts, diese spitzen Türmchen gehören zu Schloss Schoeneich. Die Versammlung kleiner Häuser weiter links präsentieren das Dorf, das auch eine moderne Schule besitzt, in der unsere Kleinsten ihre ersten Kenntnisse erwerben, und dort drüben sehen Sie die alte Parkmauer und das Gärtnerhaus, in dem Sie mit Billie wohnen und sich hoffentlich wohlfühlen werden.«
»Das schaut so zauberhaft aus, dass man es sogleich lieb gewinnen muss«, entgegnete Anke. Immer wieder schweifte ihr Blick über die Wiesen und Wälder, über die sanften Bergkuppen und das in seinen Frieden eingebettete Gutshaus.
Nach einer Weile fuhren sie weiter. Sascha dirigierte Anke nun auf dem schnellsten Weg nach Sophienlust.
*
»Jetzt müssten sie aber doch wirklich bald hier sein, Mutti«, meinte Nick. »Ob wir gleich mit dem kleinen Mädchen spielen können?«
»Das wird sich finden, Nick. Ich habe dir ja erzählt, dass die kleine Billie Schlimmes erlebt hat. Vielleicht ist es besser, wenn ihr ihr zunächst ein bisschen Zeit lasst. Schließlich muss sie sich erst an all das Neue gewöhnen. Ihr solltet euch also vorerst etwas im Hintergrund halten. Ich werde euch dann sagen, ob ihr der kleinen Billie sofort eure Freundschaft antragen könnt.«
»Gut, Mutti«, entgegnete Nick friedfertig. »Wir warten also darauf, dass du uns sagst, wann wir zu Billie hinkommen dürfen. Ein komischer Name ist das übrigens, Billie!«
Denise lächelte. »Das ist ein Kosename, Nick. Wir sagen ja auch zu dir Nick und nicht Dominik. Billie heißt eigentlich Sybill. Und jetzt sorge bitte dafür, dass sich niemand in der Nähe herumtreibt, wenn die Gäste ankommen. Neugierige Kinder machen einen schlechten Eindruck.«
»Wird gemacht«, versprach Nick und begab sich zu den anderen Kindern. Denise sah sie von ihrem Fenster aus alle zum Park hinübergehen. Sie hätte wetten mögen, dass sie sich dort in der Nähe der Einfahrt hinter den Sträuchern verbargen, um so wenigstens einen Blick auf die Neuankömmlinge werfen zu können.
Jetzt klang Motorengeräusch auf und kam näher, dann bog ein Wagen in die Hofeinfahrt ein.
Denise verließ ihr Zimmer. Sie trat gerade aus dem Portal des Herrenhauses, als Sascha einer jungen Dame beim Aussteigen aus dem Auto behilflich war. Die junge Dame war Denise auf den ersten Blick sympathisch. Ihr goldblondes Haar war zu einer schlichten, geschmackvollen Frisur geordnet, die ihre feinen Gesichtszüge und die übergroßen blauen Augen noch stärker hervortreten ließ.
Mit ausgestreckten Händen ging Denise auf Dr. Anke Petersen zu. »Seien Sie mir herzlich willkommen auf Sophienlust, Fräulein Doktor. Sie sind uns längst keine Fremde mehr, denn Werner, ich meine Dr. Baumgarten, hat uns sehr viel von Ihnen und Ihrem Herrn Vater erzählt. Und wo ist die kleine Billie?« Denise bewegte sich, nachdem sie Ankes Hände gedrückt hatte, in den Wagen. Sie erschrak ein bisschen, als sie den ernsten Augen des Kindes begegnete. Alles Leid dieser Welt schien aus den blauen Augensternen zu sprechen.
»Wenn du mir deine Hand reichst, Billie, dann helfe ich dir beim Aussteigen«, forderte Denise das kleine Mädchen freundlich auf.
Bezwungen von dem liebevollen Tonfall, reichte Billie der schönen fremden Dame die Hand. Dabei hielt sie jedoch ihre Puppe auch weiterhin eng an sich gepresst. Als sie ausgestiegen war, blieb sie neben dem Auto stehen und sah sich mit großen Augen um.
Diese Gelegenheit benutzte Denise, um Sascha rasch guten Tag zu sagen.
»Bitte, warte auf mich im Biedermeierzimmer, Sascha«, bat sie. »Wir fahren dann später gemeinsam nach Schoeneich.« Danach wandte sie sich wieder Anke zu. »Darf ich Ihnen jetzt das Gärtnerhaus zeigen, Fräulein Doktor? Ich bin sicher, dass es Ihnen dort gefallen wird. Das Gärtnerhaus liegt sehr ruhig, und wenn Sie wollen, können Sie für die erste Zeit mit Billie dort allein leben. Durch das Telefon sind Sie jederzeit mit dem Gutshaus verbunden. Und meine Mitarbeiter haben Anweisung, Sie mit allem zu versorgen, was Sie benötigen.«
Billie hatte ihre Hand fest in die von Anke geschoben. Jetzt kamen sie am Ponystall vorüber, passierten die Koppel, auf der Nicki und Bambino weideten. Die friedliche, beschauliche Stille, die hier über allem lag, wurde durch das süße Gezwitscher aus vielen Vogelkehlen nur noch unterstrichen. Und angesichts der Naturschönheiten zog auch in Ankes armes, von Zweifeln und Liebe zerrissenes Herz ein bisschen Friede ein.
»So, da sind wir«, sagte Denise und öffnete die Tür zum Gärtnerhaus. Sie zeigte Anke die unteren Räume und die kleine Terrasse. Danach führte sie den Gast die schmale Treppe hinauf. Oben lagen die Schlafzimmer, von denen zwei hergerichtet worden waren. Eines war für Anke bestimmt, das andere für Billie. Eine Menge Spielzeug war in dem Kinderzimmer auf dem kleinen Tisch aufgebaut, vor dem ein winziges Sesselchen stand. Der Blick durch das Fenster schweifte ungehindert weit in die Landschaft.
»Es ist alles so wunderschön, Frau von Schoenecker, dass ich nur schwer meine Rührung unterdrücken kann. Ich glaube, wenn es überhaupt einen Ort gibt, an dem Billie und ich gesunden können, dann ist es dieser.«
»Das hoffe und wünsche ich sehr, Fräulein Doktor. Ich lasse Sie jetzt allein, möchte Ihnen aber zuvor noch sagen, dass ich jederzeit für Sie zu sprechen bin, falls Sie einmal das Verlangen haben, sich mit jemand zu unterhalten. Und nun noch einmal herzlich willkommen.«
»Ich danke Ihnen von Herzen, Frau von Schoenecker.«
Bevor Denise ahnte, was die junge Ärztin vorhatte, hatte Anke nach ihren Händen gegriffen und einen Kuss darauf gedrückt.
»Ich komme gern einmal zu Ihnen und rede mir alles vom Herzen, was darauf lastet. Vielleicht können Sie mir als objektiver Außenstehender sagen, ob ich falsch gehandelt habe.«
»Ich bin immer für Sie da, Fräulein Doktor«, versicherte Denise noch einmal. Sie strich Billie liebevoll über das leuchtende Haar und verließ dann das Gärtnerhaus.
*
Als Denise am Abend mit Sascha, Nick und Henrik nach Schoeneich kam, gab es zuerst einmal eine große Begrüßung zwischen Vater und Sohn und Bruder und Schwester.
Gusti hatte bereits den Tisch im Speisezimmer gedeckt, sodass die Familie wenig später traulich vereint beisammensaß.
»Du hast sicher eine Menge zu erzählen, Sascha«, sagte Alexander zu seinem Sohn. »Aber zuerst wollen wir mal hören, was Mutti von ihren neuen Schützlingen zu berichten hat.«
»Sie sind beide sehr liebenswert«, berichtete Denise. »Aber ich glaube, sie brauchen sehr viel Liebe und Behutsamkeit. Wie mir Werner erzählt hat, war die junge Ärztin auf einem Ärzteschiff und in einem Krankenhaus in Saigon tätig. Sie muss dort Schreckliches erlebt haben. Und die kleine Billie verlor ihre Eltern bei einem furchtbaren Autounfall.«
»Und jetzt hat Billie keine Eltern mehr?«, erkundigte sich Henrik. Seine Stimme klang dabei so, als wollte er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Henrik hatte ein sehr weiches Herz. Jedes Missgeschick, das anderen zustieß, rührte ihn zu Tränen und löste in ihm das Verlangen aus, zu helfen, so gut er konnte.
»Ja, Henrik, Billie hat keine Eltern mehr. Sie sind tot. Aber Fräulein Dr. Petersen kümmert sich um sie und will ihr die Mutter ersetzen.«
»Aber dann hat sie doch immer noch keinen Vater«, rief Henrik. »Sie ist noch kleiner als ich, nicht wahr? Vielleicht wird sie meine Freundin, so wie Pünktchen die Freundin von Nick ist. Glaubst du, Mutti, dass sie nie wieder lachen wird?«
»Wir wollen es nicht hoffen, Henrik. Vielleicht ist es ganz gut, wenn du dich ein wenig um sie kümmerst. Du hast ganz recht, sie ist jünger als du. Vielleicht hat sie zu einem so kleinen Jungen, wie du es bist, mehr Vertrauen, als zu einem so großen wie Nick, der schon fast erwachsen ist.«
Dabei warf sie Alexander einen raschen Blick zu. Schon längst waren sich die beiden Ehegatten darin einig, dass es gut sein würde, wenn auch Henrik sich um die Kinder von Sophienlust so kümmerte, wie Nick es schon seit Jahren tat. Sicher würde das Henriks Verantwortungsgefühl für andere Menschen wecken und fördern. Wenn Nick auch später einmal der Erbe und Verwalter des Vermächtnisses seiner Urgroßmutter sein würde, so könnte es doch nicht schaden, dass auch Henrik sich für diese Aufgabe begeisterte.
Später überlegte Henrik, was er tun könne, um die kleine Billie ein wenig fröhlicher zu stimmen. Da fielen ihm die kleinen Hühnchen ein. Sie wirkten wie Federbälle, und die alte Glucke wackelte recht stolz mit ihnen über die grünen Wiesen von Sophienlust. Und dann waren da auch noch die Zwillinge von Tante Carola, Andreas und Alexandra. Sie waren noch so klein, dass man befürchten musste, ihnen ein Fingerchen abzubrechen, wenn man sie anfasste. Das alles, so nahm sich Henrik vor, wollte er Billie zeigen.
*
Sowohl Anke als auch die kleine Billie fühlten sich schon nach wenigen Tagen in Sophienlust wie zu Hause. Die Abgeschiedenheit des wunderschönen Gutes, die nur selten durch ein lautes Geräusch gestört wurde, übte eine heilsame Wirkung auf beide aus. Anke hatte beobachtet, dass Billie manchmal sogar schon dem fröhlichen Lachen der Kinder lauschte.
Die junge Ärztin hatte Denise schon am ersten Tag gebeten, den Kindern zu erlauben, Besuche im Gärtnerhaus zu machen. Kinder fanden instinktiv die richtige Art, mit dem verschüchterten kleinen Mädchen umzugehen. Vielleicht würde sich die Starre in Billie dadurch ganz von selbst lösen.
An diesem Tag begleitete zu Ankes großer Freude Denise von Schoenecker die Kinder zum Gärtnerhaus. Malu und Pünktchen trugen einen Spankorb mit verschiedenen Früchten zwischen sich, den sie Anke mit einem anmutigen Knicks überreichten.
»Ich habe mir gedacht, dass Ihnen das frische Obst sicher schmecken wird, Fräulein Doktor«, meinte Denise, nachdem sie mit Anke einen Händedruck getauscht hatte.
Danach wandte sie sich an die Kinder: »Ihr könnt jetzt ruhig wieder spielen gehen«, forderte sie die Kinder auf. »Nehmt die kleine Billie nur mit. Vielleicht möchte sie die Ponys anschauen. Und dann könnt ihr ihr den Pavillon zeigen mit all den hübschen Spielsachen, die dort für euch aufgebaut sind.«
»Meinst du, Mutti, dass sie vielleicht auch mal Eisenbahn fahren möchte?«, erkundigte sich Henrik. »Ob es ihr Spaß macht, zu pfeifen, damit die Züge abfahren können?«
Billie schaute von dem einen zum anderen. Doch in ihrem ernsten Gesicht verzog sich keine Miene. Immerhin ließ sie es aber zu, dass Henrik sie bei der Hand fasste. Doch bevor sie aus Ankes Gesichtskreis verschwand, warf sie ihr noch einen fragenden Blick zu.
»Geh nur mit, Billie«, forderte die Ärztin sie auf, »das sind lauter liebe Kinder.«
»Ich zeig dir was Wunderhübsches, Billie«, versicherte Henrik eifrig. »Unsere alte Glucke hat viele kleine Kinderchen bekommen. Sicher hast du noch nie ein Küken gesehen, das nur so groß ist wie ein Ei und so flaumweich wie eine Miezekatze.«
Die Stimmen der Kinder verklangen. Denise und Anke ließen sich auf der Terrasse nieder.
»Sie haben hier ein wahres Paradies, Frau von Schoenecker«, begann Anke die Unterhaltung. »Ich habe gar nicht gewusst, das es so etwas überhaupt noch gibt.«
»Ja«, erwiderte Denise. »Dr. Baumgarten hat mir erzählt, dass Sie Schweres erlebt haben.«
»Es war eine schlimme Zeit in Saigon«, sagte Anke leise. »Ich werde all das Elend, dem ich dort begegnet bin, niemals vergessen. Es hat mich geformt und geprägt und meine frühere Unbekümmertheit hinweggewischt. Vielleicht bin ich dadurch zu kompliziert geworden für die Menschen, die mir nahestehen. Oder besser, die mir einmal nahestanden.«
Obwohl sie es eigentlich gar nicht vorgehabt hatte, öffnete sie Denise nun doch ihr Herz. Und Denise, die die wunderbare Gabe des Zuhörens besaß, erfuhr so alles, was die junge Ärztin bedrückte.
»Ist es wirklich für einen Mann so schwer zu verstehen, dass man in einer Situation wie der meinen gar nicht anders handeln kann? Wie hätte ich Billie dort zurücklassen und sie dem ungewissen Schicksal in einem Waisenhaus überantworten können, nachdem ich doch aus unmittelbarer Nähe miterlebt habe, wie groß der Verlust war, den sie erlitten hat? Warum nur kann Gerhard nicht begreifen, dass meine Liebe zu ihm nicht geringer, sondern eher noch größer sein würde, wenn er auch Billie an sein Herz nehmen würde? Er ist ein gefühlloser Egoist, der nur an sich denkt.«
»Das sollten Sie nicht sagen, Fräulein Doktor«, beschwichtigte Denise Ankes Groll. »Ihn traf Ihre Entscheidung völlig unvorbereitet. Wenn er Sie wirklich liebt, dann wird er eines Tages einsehen, dass Sie nicht anders handeln können. Würden Sie sich anders verhalten, dann wären Sie nicht der Mensch, den er liebt. Es liegt wohl daran, dass die beiden Geschlechter doch zwei sehr verschiedene Wesen sind. Frauen denken mit dem Herzen, Männer mit dem Verstand. Lassen Sie zunächst einmal einige Zeit verstreichen. Geben Sie Ihrem Verlobten Gelegenheit, sich mit den veränderten Voraussetzungen abzufinden. Hat er Billie eigentlich schon einmal gesehen?«
Anke schüttelte den Kopf. »Nein, ich war so verbittert über seine schroffe Ablehnung, dass ich einige Stunden danach mit Billie Hamburg verlassen habe.«
»Haben Sie wenigstens hinterlassen, wohin Sie gefahren sind?«
»Mein Vater weiß, dass ich hier bin«, antwortete Anke. »Weshalb hätte ich es Gerhard sagen sollen? Er hätte zweifellos angenommen, dass ich mit Billie nur deshalb hierherfahre, um das Kind hierzulassen.«
»So aber haben Sie ihm gar keine Gelegenheit gegeben, sich alles noch einmal zu überlegen, Fräulein Doktor. Wenn er seine Ansicht nun wirklich revidiert hätte und Sie nicht mehr in Hamburg findet, dann wird er doch glauben, dass Sie das Kind mehr lieben als ihn.«
»Sie entschuldigen ihn, Frau von Schoenecker?«, fragte Anke konsterniert.
»Nein, entschuldigen kann ich sein Verhalten nicht. Doch ist es immer meine Devise gewesen, einem Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich doch noch anders zu entscheiden. Nun ja, Sie kennen Herrn Sörensen und seine Reaktionen besser als ich. Vielleicht ist es ganz gut, wenn er sich nun in aller Ruhe über seine Gefühle zu Ihnen klarwerden kann. Für zwei Menschen, die einander wirklich lieben, gibt es wohl kein echtes Hindernis. Haben Sie nicht Lust, mich auf einem Rundgang durch Sophienlust zu begleiten? Ich würde Sie gern mit allen meinen Mitarbeitern bekannt machen. Und dann müssen Sie ja auch noch unsere Huber-Mutter kennenlernen.«
Denise unterdrückte die Bemerkung, die sie noch hatte machen wollen, dass nämlich die Huber-Mutter unter Umständen schon sehr bald wissen würde, wie es um Ankes Glück bestellt war. Denn dass die Huber-Mutter Dinge sah, die sich erst in der Zukunft ereigneten, das hatte die Greisin mehr als einmal bewiesen.
*
Henrik bemühte sich redlich, der kleinen Billie einen Laut zu entlocken, indem er ihr allerhand erzählte. Jetzt, als sie an der Ponykoppel vorbeikamen, blieb er mit ihr stehen.
»Das graue Pony dort heißt Nicki, und hier das weiße ist Bambino. Wenn du willst, Billie, dann kannst du auf den beiden reiten. Sie sind brav und tun niemand etwas zuleide.«
Er kramte in seinen Hosentaschen und brachte ein paar Stücke Würfelzucker zum Vorschein.
»Streck mal deine Hand aus, Billie«, bat er das Kind.
Billie zögerte. Doch als sie sah, dass die Ponys herankamen, um den Zucker von Henriks ausgestreckter Hand zu holen, schob sie doch schüchtern ihr kleines Händchen hin. Sie fühlte, wie weich die Lippen der beiden Ponys waren, als sie den Zucker sehr behutsam von ihrer Hand nahmen.
Henrik freute sich schon, denn er glaubte, dass jetzt bei Billie das Eis gebrochen sei. Doch der Gesichtsausdruck der Vierjährigen blieb nach wie vor ernst.
»Komm, wir gehen weiter«, meinte er deshalb. »Kannst du vielleicht gar nicht sprechen, Billie? Ich würde so gern ein bisschen von dir wissen. Außerdem ist es langweilig, wenn man immer nur allein reden muss. Schau, hier ist der Hühnerstall. Jetzt zeige ich dir die kleinen Küken.«
Henrik stieß die Tür zum Hühnerstall auf. Er bückte sich und hob zwei der winzig kleinen Küken, die possierlich in der Gegend herumwackelten, auf und legte sie in Billies Hände.
Die flaumigweichen goldgelben Tierchen fiepten leise vor sich hin. Weich und warm lagen sie in Billies Händchen. Jetzt endlich kam ein kleiner Laut über Billies Lippen, der wie ein erstauntes »oh« klang. Ihr Gesicht wirkte noch immer ernst, nur in ihren Augen stand ein helles Leuchten.
»Sind die nicht allerliebst?«, fragte Henrik. Als von draußen ein lautes Gackern zu hören war, fuhr er fort: »Hörst du, das ist die Mutter der beiden Küken. Sie merkt es ganz genau, wenn eines ihrer Kinder fehlt. Komm wir wollen die beiden Kleinen im Hof auf die Erde setzen, damit sie zur Glucke zurückfinden.«
Henrik sah Billie von der Seite an. Er fand sie ganz allerliebst in ihrem blaurot karierten Kleidchen mit dem blütenweißen Kragen und der lustigen roten Schleife. Doch man sah ihr an, dass sie nicht mit den anderen Kindern herumtollte, denn ihr glänzendes blondes Haar lag noch immer so sorgsam frisiert um den Kopf wie das seine frühmorgens, wenn seine Mutti ihn gerade gekämmt hatte.