Cherchez la panne!

 

Wie jeder weiß, ist aufrichtige Liebe in erster Linie eine Stilkrise. In siebzehn Erzählungen taucht sie hier auf, und mit einiger Überraschung berichtet die Autorin davon. Der Titel Der schaudernde Fächer deutet schon darauf hin, dass intensive Gefühle hierbei durchaus eine Rolle spielen; Ann Cotten aber bleibt an der Oberfläche, dabei Vorbildern aus der japanischen Moderne wie Yasunari Kawabata und Yukio Mishima folgend. Bei ihnen hatte sie gesehen, wie die Künstlichkeit der japanischen Tradition zusammen mit einer radikal unbefangenen Erzählhaltung zu scharfen Einsichten führte.

Cotten navigiert zwischen Abstraktion, Poesie und Realismus, und immer aufs Neue taucht das Bewusstsein im Sprachrhythmus, von Obsessionen und Gelegenheiten gebeutelt, doch wieder auf, wie ein Surfer, dessen Brett besser den Charakter der Welle darzustellen vermag als er selbst.

Indessen bleibt das Bedürfnis nach Würde nicht stumm: Zwar abergläubisch der Wahrheit verpflichtet, erlaubt sie sich dennoch nicht selten, diese durch eine Pointe zu ersetzen, die ihre scherzhafte Auffassung der Existenz zu bestätigen scheint.

 

Ann Cotten, geboren 1982 in Iowa, wuchs in Wien auf. Seit 2006 lebt sie in Berlin. 2011 verbrachte sie vier Monate in der japanischen Stadt Nagoya. Für ihren ersten Lyrikband, Fremdwörterbuchsonette (2007), erhielt sie den Reinhard-Priessnitz-Preis sowie den Clemens-Brentano-Förderpreis für Literatur der Stadt Heidelberg. Florida-Räume (2010) wurde mit dem Förderpreis des Hermann-Hesse-Literaturpreises ausgezeichnet.

Ann Cotten
Der schaudernde Fächer

Erzählungen

 

 

 

Suhrkamp

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Der vorliegende Text folgt der Erstausgabe, 2013.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagfoto: Kerstin Cmelka, Multistability, Sibergelatineabzug, 2006

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

 

eISBN 978-3-518-73447-6

www.suhrkamp.de

Der schaudernde Fächer

 

Die gelangweilte Combo oder Wie man gut schreibt

Nichts ist vergleichbar mit dem exquisiten Eindruck, den eine gelangweilte Combo macht.

Der Flötist in Nicaragua hat mich in Aufregung versetzt, seine trotzige Langeweile, mit Blut und ohne Luxus, sein blondes, schweres Aussehen, vom Suff gegerbt, und seine Sensibilität. Im Grunde war die Langeweile bloß die Halterung für die angespannte Feder seiner Seele, die hochzuschnellen bereit war, wie man sah. Dort fiel mir zum ersten Mal der Reiz stumpfsinniger, langer, schriller Harmonietöne auf. Es wäre töricht, die Langeweile, bewusst ausgedehnt bis zur Grenze des Schmerzes, irgendwie der dekadenten Moderne zuzurechnen, erstmals isoliert von Lord Chandos oder propagiert im tonlosen Flug von Lautréamonts grauenvollem Wesen. Seit jeher stellt die Langeweile, also die geistlose Ausdehnung, die Verbindung dar zwischen der Sphäre der Arbeit und der Sphäre der Religion.

So müssen Braut und Bräutigam zwanzig Minuten regungslos in prachtvollen Verhüllungen hocken wie Wolken, während der Priester, den Steiß zu ihnen gewandt, Sutren murmelt; so dehnt sich der Tag aus, der von entfremdeter Arbeit belegt ist, so die Nacht, in der man sich spiegelbildlich davon erholt.

Auf der CD, die ich jetzt, noch im Bett liegend, in Gedanken wirklich schon fast bei der Arbeit, abspielen lasse, intoniert das »Sextet of Orchestra U.S.A.« Lieder von Kurt Weill, und hier ist mir der Effekt der gelangweilten Combo in Reinform aufgefallen. Nach den ersten zehn Minuten des ersten Stücks, einer Bearbeitung vom Alabama Song, verpufft die Stimmung der Heiterkeit und Lässigkeit, die den Jazz auszeichnen soll, und weicht einer schweren, zähen Bereitschaft, die Töne auszuführen, die nötig sind, um zum Ende der vertraglich festgesetzten Anzahl an Wiederholungen des Themas zu kommen.

Die exquisite linienhafte Stimmung beginnt aber eigentlich erst beim Saxophonsolo Eric Dolphys, wo sie dann voll ausgeprägt und deutlich ist. Danach ist das Stück schon aus. Im nächsten sind die Musiker ausreichend erfrischt, dass der Schlick – wenn wir das Bild von einem Watt akzeptieren, das sich in meinem Kopf ausgebreitet hat – wieder etwas bouncy geworden ist, was vor allem dem Bass zu verdanken ist. Doch die Grundstimmung ist nun gegeben.

Man fühlt seine Seele sich hinlegen, möchte ich fortfahren und habe dabei im Kopf einige kleine Glossen von Musil, die ich letztens in der Berliner Staatsbibliothek las, als ich eigentlich etwas anderes machen sollte. Diese müßigen Stücke trafen meine Stimmung genau. So wie den Autor selbst – wie ich vermute – hob mich immer wieder ein brillantes kleines Bild, das sich in die Vorstellungsgabe schmiegt wie ein gutes Werkzeug in die Hand, in einen geistigen Wachzustand, wie es sonst nur ein plötzlicher Lichtreflex von einem gegenüberliegenden Gebäude vermag, oder ein erschreckendes Geräusch wie die Stimme meines Geliebten, die ich vermeine, zwischen den Bücherregalen zu hören, oder dass ich ohne es zu erwarten beinahe überfahren werde.

Musil schreibt nun einen sehr wohlerzogenen Stil, im Großen und Ganzen, wenn man auch einen gewissen selbstbewusst-zweifelnden, sich auf unverschämte Weise aus allem heraushaltenden Jungmännereigensinn darin verspürt, den die Jahre weich und fein modelliert haben. Heimito von Doderer hingegen lässt sich voll weiblichen Humors gehen, tut sich nicht den geringsten Zwang an, was den Satzbau betrifft; seine Bilder hängen, bauschen sich und schwingen kreuz und quer wie die riesigen Brüste einer drallen Frau, die weiß, dass Lust das wichtigste im Leben sind. Äh ist. Vor dem Hintergrund dieser meiner zwei liebsten Vorbilder stelle ich mir mit einiger Verzweiflung die Frage – und sitze dabei als ein winziger Mensch in der Stabi zwischen Hunderten, die in ihren Laptops und Büchern vergraben tätig sind und anscheinend schon irgendeinen Leitfaden für ihre Arbeit gefunden haben, und raufe mir die Haare, was nur sieht, wer aufschaut – wie, frage ich mich, bringt man um alle Welt den Eifer auf, wirklich gut zu schreiben? Und wie verwandelt man ihn in die Praxis?

Hier kommt die Combo ins Spiel. Ihr dösender Blick, auf einen unsichtbaren Horizont gerichtet, auf den er nicht fokussiert – was heißt! er stellt mit dem unteren Rand des oberen Augenlids einen weichen Rand von Horizont her, fließbandartig, und darüber ist eine abdeckungsartige Schwärze –, trifft meine Seele auf Augenhöhe, und sie legt sich mit dem Oberkörper darauf, wie, in einer ewig dauernden, ewig öden Stunde, auf einen Tisch in der Schule. Diesen Effekt hat die Combo.

Jedoch spielt sie ja nicht einen Sinuston, sondern eine verlässliche Melodie auf eine Art, die die eigene Verlässlichkeit nicht verheimlicht. Diese Melodie flößt mir, während ich in sinnloser Erschöpfung warte, bis die Erschöpfung zu Ende ist, Wissen ein, das auf eine eigentlich komische, ich muss aber annehmen, grundsolide Weise konkret und abstrakt zugleich ist. Ein Verhältnis von Tönen in der Zeit, einen Roman in Zusammenfassung, wie ihn Stendhal oder Lenz hinlegen können. Diese ruhige Klugheit besitzt die Sprache, auch wenn sie zu nichts verwendet wird. Und so wie man bei einer Frau oder einem Mann, mit dem man abseits der Liebe schläft, sagen kann (dabei alle seine Gliedmaßen, Rumpf und Kopf meinend), es sei gut, dass er so sei und da sei – und nicht etwa wie bei der Liebe, wo man jedes Durcheinander seelisch anhebt und nicht weiß, wie man zurechtkommen soll, da jede Zelle des Körpers, den man zufällig ausgewählt hat, unendlich schön, unendlich liebenswert und unendlich begehrenswert ist, dass man gar nicht mehr zu anderen Dingen käme, wollte man richtig und vernünftig handeln –, so kann man den Körper der Sprachkompetenz auf eine gelassene, common-sense-artige Weise in Ruhe lassen und gutheißen, und wenn es dann Zeit wird, dass das erlaubt ist, in ein Bett legen unter eine mit Baumwolle bezogene Daunendecke, die man über den Schultern ausreichend hochzieht, um nicht den Zug eines Zweifels hereinzulassen, und, zufrieden mit dem Resultat einer guten und berechtigten Arbeit, die man getreu ausgeführt hat, sich an die so unbekannte, mystische und doch gesunde Arbeit der Bewusstlosigkeit machen.

Lasst uns doch – die Combo spielt noch immer artig von der CD herunter – zu dem Aspekt mit dem Liebhaber aus Common Sense zurückkehren, bevor er verloren geht. Er ist noch frisch in Erinnerung. (Merkt man an den zwischen den verschiedenen Ebenen so hemmungslos verschalteten Argumentationsketten meinen Kater? Es ist, als wäre in alter Zeit eine Telefonistin nach und nach über Arbeit und Wodka eingeschlafen, ohne ihr Pult aufzuräumen, sodass die Verbindungen, sofern sie nicht von neuen überkreuzt wurden, stehen blieben. Und jetzt zeigt sich mir aus ihnen ein gültiges Bild der Welt der vorigen Nacht. So, wie eine Cellistin, die ich kenne, sich abends alle theoretisch möglichen Fingersätze für ein neues Stück herausschreibt und am Morgen dann weiß, welcher der beste zum Spielen ist – nur ein bisschen anders. Bei mir dehnt sich der Moment, der bei ihr sehr kurz ist, nämlich die Ernte des Resultats der im Schlaf getanen Kombinationsarbeit. Ich tappe in mir herum wie ein Archäologe oder Spurensucher der Polizei, und wenn ich nicht ungeschickt mit dem Fuß etwas anstoße, müsste alles schon richtig bereitliegen, wie ich es durch die Sätze an der Oberfläche sichtbar machen will, bloß kann es sehr lange dauern, bis ich mit der nötigen Vorsicht auf alles gekommen bin, was da schon fertig ist, und es ordentlich auf das Papier gelegt und in Schönschrift nummeriert und benannt habe.) Nun, der Liebhaber aus Common Sense stellt einen vor weit schwierigere Fragen, als die Liebe es je könnte, die nur sehr eindeutige Antworten bringt, leidenschaftliche, die einem bei der Bildung einer eigenen Meinung nicht weiterhelfen. Froh bin ich, wenn jemand über solche Dinge schon mal nachgedacht hat, so schlug Insomnia etwa vor, ich möge ihm versprechen, mich von ihm nicht innerlich abzuwenden, egal wie lange wir uns nicht sehen, aus welchen Gründen auch immer. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, ein komisches und durchaus umfassendes Versprechen, das es mir schwierig macht, ein Treffen abzulehnen.

Die Combo ist lauter geworden, wie eine dicke Walze scheint sie mir sogar etwas gefährlich zu werden. Woher bekomme ich wieder die Kraft, mich über diese riesige arbeitende Fabrik des Lebens zu erheben, statt mich ohnmächtig auf dem Fließband dem Einfluss einer Walze zu übergeben? Darüber zu schweben wie ein von Chagall in die Luft gemalter Engel (Ich hasse Chagall!) – und wie heißt der Künstler, Berndnaut heißt er, der Wolken in die Luft legt? – ist gar nicht nötig, ich brauche nur darüberzustehen wie eine Vorarbeiterin, die von vielen Vorgängen weiß, wie sie sein sollen, ja nur wie eine einfache Arbeiterin, die ihren eigenen Vorgang beherrscht – aber sobald die obere Hälfte der Augenlider zugeht, fängt gefährliches Chaos an, Liebhaber aus Liebe, Liebhaber aus Common Sense geraten sich in die Haare, verheddern sich in den Telefonkabeln, versinken dann im Watt, in eine Unterwelt hinein, die wieder die obere Hälfte des Gesichtsfelds einnimmt, und ein riesiger Sog wie von einer Laubsaugmaschine entsteht zusammen mit dem Eindruck, die eigene Seele sei nicht größer oder schwerer als ein einziges Laubblatt, vertrocknet, unglaublich zart und von Einsichten ausgezehrt, ein Netz übriglassend, durch das man die Welt betrachtet und sich selbst stillschweigend zur Kenntnis nimmt als ein immer kleiner werdendes Hindernis der Sicht, und Nachgeben lockt ins Grau.

 

 

 

 

 

Ins Auto! In eine bessere Welt,

wo wir schweben und brennen, fliegen und kleben,

wo alle Verkehrsteilnehmer immer bei Sinnen

sind, und auch Idioten,

Wahnsinnigen, Unsinnigen, Starrsinnigen, Toten

bei entsprechendem Lichtzwang die Vorfahrt geben.

 

 

 

Freundschaft! Ihr freundlichen Autos und Busse!

Wir fahren zügig in ähnlichem Tempo

über die Straßen, Alleen entlang,

ihr auf der Busspur, ich auf dem Gehweg,

ich auf der Busspur, ihr am Trottoir.

Es läuft mal, es kracht mal,

die Straße ist wolkender Himmel

oder ein lüsternes Abattoir.

Talgblasen

Heute Morgen, als ich gehen wollte, erschreckte ich Samsung so sehr, dass er jaulend vom Schlaf in den Stand sprang. Schon kurz zuvor hatte ich ihn und Fun Son auf dem ausgebreiteten Bettzeug auf dem Boden liegen gesehen, jeder für sich gekrümmt, wie Insekten, die jemand mit Pestizid besprüht hat. Aus dieser Haltung einer steif gequälten Nacht heraus jagte es Samsung jäh in den Morgen hinein, als ich ihn am Fuß berührte, um mich zu verabschieden.

Fun Son, die Urheberin des ganzen Übels, Fun Son, die uns zuerst zu breiter Verlegenheit und nachher zu bedrücktem Schweigen geführt hatte, litt friedlich vor sich hin. Als ich ihren Fuß berührte, rollte sie nur auf die andere Seite.

Über meinen Abgang schienen sie etwas unzufrieden, aber sagten nichts. Wenn sie so viel fühlen, wie sie behaupten – Gefühle, von denen ich außer der Behauptung nichts mitbekommen habe, was sicherlich meine Schuld ist – warum merken sie nicht, dass ihr Drama, auf das sie so scharf sind, mich ganz außen vor lässt? Alles, was dramatisch sein könnte, fängt für mich erst an, sobald sie weg sind.

Der Regen geht nieder um neun Uhr vor dem Bahnhof. Vor dem Kiosk an der Ecke über meiner U-Bahn-Station (der Job hier hat mich ausführlich und präzise gemacht) waren Arbeiter gestanden, die lachend auf den düsteren Himmel im Westen blickten. Einer davon vielleicht kein Japaner. So schien mir, aber als ich zurückblickte, schob sich die Ecke der Böschung des Spitalvorgartens vor die Arbeiter. Ich ging in das U-Bahn-Netzwerk hinunter, wo es immer auf eine herzliche Weise nach Schimmel riecht. Der Zug schoss unter der Stadt entlang und brachte mich zum Bahnhof, und als ich hochkam, schüttete es. Jetzt stehe ich auf dem Bahnsteig, jetzt gibt es noch fünf Minuten, bis der Zug kommt, jetzt geht der Regen nieder, das ist begütigend und befreiend. Fünf Minuten, Regen.

Die Müter kühlend wie ein Beistrich.

Dass die Stimmungen klein und unverbunden sind, Lachen auf dem Weg, und die beiden machen ein Geplantsche in diesen Pfützen, als möchten sie, dass die Welt untergehe. Hybris ist das.

Es ist ihnen wohl wichtig, es so zu erleben.

Mir wäre es auch wichtig – wenns was wäre. Warum spüre ich nichts, nichts? Sie so: »Sag nicht, dass du so etwas noch nie erlebt hast«, habe ich aber nicht. Ich kann nicht glauben, dass Fun Son etwas spürt, wenn ich nichts spüre; mir kommen ihre Berührungen bloß bemüht fantasiert vor. Was vermeint sie denn zu spüren? Fun Son will und dann macht sie. Ihr Innenleben, wenn sie eines hat, interessiert mich nicht. Sie sollte doch wissen, dass eingebildete Ereignisse im Innenleben rein der eigenen Unterhaltung dienen. Hat sie denn nie erfahren, dass ihr Liebespartner natürlich nur am Trip interessiert ist, von ihr nur den Trip mitbekommt, auf den sie ihn befördert? Was hat ein anderer von ihrem Innenleben, was soll er damit anfangen? Ein paar Sommersprossen sind da, ein Lächeln, eine intime Wörterwelt. Allerhöchstens könnte man begehren, mehr und mehr ihrer Versuche, sich mitzuteilen, zu erleben, weil sie dabei irgendeinen Reiz hat. Man gewinnt einen Menschen so lieb wie eine Fernsehserie, es ist geradezu eine Sucht. Nach dieser Art von Erkenntnissen: solchen, unnützen, vielleicht unwahren, die man in sich knüpft wie Finger bei Verlegenheit. Ob sie wohl nach Hiroshima gefahren sind? Wieder erst zu Mittag aufbrechen, nachdem sie stundenlang »gefrühstückt« haben, also ziellos in meiner Wohnung herumgedriftet sind, hier und dort ein verklebtes Wort fallen lassend wie ein Stück Dreckwäsche?

Sie sagen, sie sind den Stimmungen gegenüber offen; es ist so deutsch. So deutsch, dass die innere Bewegung mit äußerlicher Trägheit verbunden ist, und alles nur, weil die Gewohnheit der Trägen die Trägen lehrt, dass die äußere Bewegung mit innerer Trägheit einhergeht. Ein Paar von schlechten Gewohnheiten. Das haben sie mit auf den Lebensweg bekommen, das haben sie nicht hinterfragt.

Elegie hingegen bedeutet bei ihnen, auch das durfte ich erfahren, ein elendes Suhlen in unbehaglichem Schweigen, bis jeder sich selbst zerfleischt, weil er mit schuld ist an der Situation und die Compagnie nicht aus eigener Kraft herausreißen kann.

Ich will ja nichts mehr – seit Alexy, der Kommunismus, mich nicht mehr aufreißt, verfolge ich ihn nicht mehr. Ich will Leute, mit denen ich es begehre, spazieren zu gehen, ich will Fashion auf Eis, ich will Fahrten aufs Land, geschlagenen, geselligen Spaß, ernsthafte Arbeit gegen die Trübsal, Bereitschaft zur Hingabe: Rausch. Aber nicht mit diesen Talgblasen. Wenn ich sie ansehe, will ich gegen die Liebe schreiben.

Brutal, zärtlich, im Grunde bloß: verletzt.

Fun Sons federnde Hysterie ist nicht gut. Man soll ein bisschen zurückhaltend sein. Sie war zurückhaltend, aber nicht sehr. Zurückhaltend wie ein Pferd hinter einem Lattenzaun. Mann, Fun Son, es könnte doch sein, dass der, auf den man seine Schwärmerei ablädt, damit nichts zu tun hat. Wenn man sich schämt, ist es verkehrt, die Scham abzulegen. Es ist verkehrt, vor seinen Freunden, die man so gern in die Niedertracht seines Herzens verwickeln will, einen Heulanfall durchzumachen und die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Es ist überhaupt verkehrt, so auffällig zu schweigen, sein Nichtssagen so dick auszubreiten, wie ihr zwei es immer tut, und wenn ihr es milder haben wollt, dann bloß à la Erziehung, es ist unhöflich, in einer Runde auffällig zu tuscheln und eigentlich immer so zu reden, dass man es nur versteht, wenn man den Kopf fast zwischen euch steckt oder fragt: »Wie bitte?« Nach dem zweiten Mal lasse ich es bleiben, »wie bitte« zu fragen, weil es dann sowieso nichts ist außer »ich habe gefragt, ob wir vielleicht jetzt noch Reste vom Eis essen« oder »aso, kennst du diesen Film von Kubrick«. Vielleicht denke ich verkehrt. Sicher. Daran ist doch nichts schlimm, dass sie ihre Banalitäten so geheimnisvoll sagen. Das machen Verliebte. Es ist doch eine hübsche Kindlichkeit, dass sie es so heimlich sagen, aufladen. Aus allem wird so ein Märchenwald. Nur ich bleibe beharrlich bei dem, was meiner Meinung nach die Welt ist und was in ihrem Märchenwald durch ein Pissoir vertreten ist, und das Pissoir dürfte diese Erzählung werden.

Ob sie nach Hiroshima fahren? Ich nach Takayama, nach Norden, in die Berge. Meine Bemerkung, wir seien doch in einem größeren Maß unterschiedlich, als man zunächst, in der Berliner Sozialisation, bemerken würde, haben sie mit einem knappen Nicken zur Kenntnis genommen, und Fun Son hat es vorschlagsweise durch eine andere Beobachtung korrigiert und de facto ignoriert. Wir bewohnen doch die gleiche Welt, die gleichen »Situationen«, die gleichen Bilder sehen wir. Und laut Leuten wie ihnen bedeutet Geschmack, dass man das Gleiche schick findet, und zwar das Urbane. Urban klingt für mich wie ein Gähnen. Dass Fun Son auf keine Gegenliebe stößt, und warum, will Fun Son immer noch nicht gefallen. Sie drückt es aus, indem sie mir – nun, nicht vorwirft, darauf würde sie gleich hinweisen, dass kein Hinweis vorhanden ist, aus dem ich schließen könnte, sie wollte mir einen Vorwurf machen – wo es mir doch nicht um die Intention geht! – sie sagt mir eben, dass ich ihre Verliebtheit nicht wahrhaben will. Und tatsächlich ist sie – ihre Verliebtheit, ihr angeblicher Zustand – mir unangenehm. Wobei ich von einem Zustand natürlich nichts merke und, wenn ich ehrlich bin, nur sagen kann, dass mich ihr Verhalten nervt.

Nicht wahrhaben wollen ist doch ein recht unnützer Ausdruck. Weil ein Zwischending zwischen dem Vorwurf der Ahnungslosigkeit, die man jemandem nur unter philosophischen Extremistenverrenkungen vorwerfen kann, und dem Vorwurf des Eigensinns, den man jemandem nur vorwerfen kann unter dem Vorwand, man hülfe ihm aus einem Irrtum. Ich korrigiere sie also: Ich nehme ihre Verliebtheit wahr und kann nichts damit anfangen. Dabei empfinde ich nichts, während ich das sage, nicht einmal Mitleid, nicht einmal Bedauern. Sie präzisiert: Sie glaube mir »nicht ganz«. Was denn eigentlich?

Ich habe nun mehrere Erklärungen der Situation angeboten, auf die man sich einigen könnte, ohne jemanden zu kränken. Ab jetzt kratzt jede neue mir abverlangte Version ein bisschen mehr an den Beteiligten. Solche Sachen empfinde ich genau, auch wenn ich zu schöneren Empfindungen nicht fähig bin, seitdem der Alexy – egal. Gründe, warum ich ihre angebliche Liebe oder Verliebtheit (stimmt beides nicht) nicht erwidere, kann ich auch anführen. Sie arten in eine vernichtende Kritik ihrer Person und ihres Verhaltens aus. Ich hätte damit nicht anfangen dürfen, ich war doch betrunken, das ständige Nachschenken von Sake ermangelt nicht der Wirkung, ihn habe ich lieber als sie. Ich tadelte ihren selbstgefälligen Gang, dabei hinzufügend, er sei ja das Vorrecht der Mädchen, ich stehe aber nun einmal nicht auf diese Art von Mädchen. Eigentlich habe ich von dieser Art von Mädchen keine Ahnung, weiß nur, dass sie Übles im Sinn haben. Läppische Manöver, von denen sie irgendetwas erwarten; Manöver, die zünden sollen, aber mich nur ohne Schwierigkeiten täuschen, weil ich immer bereit bin zu glauben, dass ich das Problem bin.

Ihre Selbstgenügsamkeit habe ich auch getadelt, wobei ich mich, glaube ich, verhaspelt habe, aber ohne mich zu entschuldigen. Und ohne nennenswerten Verlust an Würde konnte ich mit zwei oder drei Versuchen doch zu Ende sprechen, was ich Verletzendes zu sagen hatte. Neben meinem völligen Mangel an Bewegung, Aufregung oder Wärme trägt diese nebenbei angebrachte Kritik sicherlich dazu bei, sie fertigzumachen. Doch eigentlich glaube ich nicht, dass Fun Son wirklich zerstört ist oder es lange bleibt. Dazu ist alles an ihr, was ich kritisiert habe, zu künstlich, und sie ist an allem Künstlichen orientiert, also kann sie sich leicht wieder aufrappeln. Um an Fremdeinfluss zu leiden, ist sie – hier würde sie zustimmen, denn das gefällt ihr mit 30 immer noch – viel zu sehr selbstzerstört. Dazu hat sie sich in den letzten Jahren zu viel geistige Energie aufgespart. Sowenig wie ich fühlen kann, bekommt sie von meinem Mangel an Gefühlen wirklich eine Delle. Es ist nur eine enttäuschte Hoffnung.

Samsung sitzt dabei und tut nichts.

Ist er unschuldig? Seine unzufriedene Schmollfresse, seine Art, sich durch Wortkargheit interessant zu machen, nur um in unbeobachteten Augenblicken preiszugeben, dass an ihm nicht so viel ist, wie er tut, nehmen mich nicht für ihn ein. Dass er Fun Son nicht unter Kontrolle hat, ist offensichtlich. Er schwimmt in ihrem Kielwasser, ist froh, wenn er sich keine Blöße zu geben braucht, wenn auch deswegen notorisch unzufrieden, und wartet geschmackvoll unaufdringlich auf eine Gelegenheit, seine nicht unerheblichen musikalischen Fähigkeiten anzuwenden. Daran ist nichts falsch, aber ein bisschen rein-eigennützig ist es schon. Er macht sich nicht die Gliedmaßen dreckig, um jemand anderen bei Laune zu halten. Seine Beiträge zur psychologischen Krisensitzung, die Fun Son so zielvoll herbeigeführt hatte, sind nicht sonderlich hilfreich. Er sagt, unter vielen Hesitationen, dass alles eigentlich immer in Bewegung ist und dass er das, wenn er ehrlich ist, ok findet.

Fun Son stürzt sich daraufhin auf ihn und zerfleischt ihn dafür. Das sei alles so allgemein und so vage. Das tut sie, obwohl sie gerade zuvor selbst in einem Stoßseufzer darüber geklagt hat, dass alle immer alles übergehen und sie das nicht mag. Mutwillig herbeigeführte Krisensitzung nenne ich das.

Wir waren hinausgegangen, Fun Son und ich, um den Müll auf die Ecke zu schmeißen. Ich hatte mich aufgemacht und dabei gepoltert, bis einer der beiden fragte, ob ich Hilfe bräuchte. Es war Fun Son. Aufgrund der guten Luft gingen wir noch weiter, den Fluss mit den Kirschblüten entlang, den mediterranen Hang des teuren Supermarkts hinauf, da schaukelten wir auf einem Kinderspielplatz, gingen noch eine steile Straße hinauf – was man bei Mond und guter Laune eben macht. Das schreibe ich natürlich alles aus meiner Perspektive. Es mag sein, dass Ulrike, ich meine Fun Son, ganz andere Sachen dabei gefühlt hat. Etwas wie Aufregung, Zauber, Schmelz. Aber ich schwöre, wenn ich so etwas nicht spüre, dann ist es nicht da. Dann sind nur die Requisiten da. Samsung zeigte in dieser Angelegenheit die zweite wilde Regung. Es war ihm nicht recht gewesen, zurückgelassen zu werden.

Die erste echte Aufregung, in die ich ihn versetzt gesehen hatte, war gewesen, als er nicht auf dem Bahnsteig in Takarazuka zurückgelassen werden wollte, weil er nicht wissen konnte, ob und wann Fun Son und ich zurückkommen würden.

Nun tauchte er am Horizont der kleinen Wohnstraße auf, kurz nachdem Fun Son den Arm um meine Schultern gelegt hatte, während wir gingen. Ich hatte daraufhin irgendeine Verlegenheitsbemerkung über den Mond gemacht und sie die zweite Anspielung auf Caspar David Friedrichs »Zwei Männer in Betrachtung des Mondes«, ironisch natürlich.

Mein Friedenszeichen, eine erhobene Hand ohne Waffe, erwiderte Samsung nicht. Sondern er schlenderte wild quer über die ruhige Kreuzung. Wir befanden uns am höchsten Punkt eines dieser von Villenvierteln bedeckten steilen Hügel, aus denen die Außenbezirke der Stadt bestehen. Seine Anklage, in der er uns schilderte, wie scheußlich es gewesen war, als wir »einfach gegangen« waren und »diese schreckliche Musik« noch weiter in der leeren Wohnung gespielt hatte, erklang heftig und dringend. Er war wie ein omniverächtlicher Junge, von dem man überrascht zum ersten Mal sieht, dass er an etwas hängt.

Nachdem wir Fun Son verkleidet und sie zum Tanz genötigt hatten, welchen Wunsch sie erfüllte, hatte ich nämlich statt der asiatischen Gesellschaftsmusik Akihiro Miwa aufgelegt. Ein wenig mag er die folgende Konfrontation beeinflusst haben. Doch sie erreichte nicht die Fülle an Schönheit und Würde, deretwegen ich den Künstler bewundere. Jetzt erst beim Schreiben erinnere ich mich, dass Samsung wahrscheinlich die lange Nummer zu hören bekam, in der Miwa das ganze ausführliche Protokoll einer gedampften Szene singt, von der plötzlichen Krise über die Anklage, die Schimpftirade bis in den Heulkrampf, der versiegt, während der Barpianist immer weiter spielt wie ein guter Gin. Das hat Format, das ist eine großartige Aufnahme eines von mir zutiefst bewunderten Schauspielers – eines Schauspielers, den ich studieren will, um nicht mein Spiel, sondern mein Leben zu vervollkommnen. Während das, was die beiden jetzt aufführen, auf niedrigen Mauern sitzend, sich an Baustellenzäunen abstützend, sich und versuchsweise auch mir die Hände auf den Rücken legend, was sie für eine stilvolle Szene, also Auseinandersetzung um das gegenseitige Glück, oder wenigstens für notwendig halten, mich keinen Augenblick der Ruhe beraubte, die mich in letzter Zeit wie ein Fluch umgibt. Ich kann übrigens Vergleiche machen, wie ich will. Die beiden kommen mir vor wie zwei der süßen Zähne eines Maiskolbens in einem Bild von Neo Rauch, wobei ich die Rolle der Wand hinter dem Landwein, der Leinwand meine ich, und der Welt hinter dieser einnehme.

Napoleon sagt, die Menschen sind dankbar, wenn man sie überrascht, während es scheint, als schulde man ihnen ihr Glück. Ich muss mich jetzt auf die Berglandschaft konzentrieren, die mich immer mehr umgibt.

 

 

 

 

 

Sie hat auf meinen Wunsch hin einen

japanischen Tanz gemacht. Sie hatte

einige Elemente aufgenommen. Die

Ärmel des von mir bereitgestellten Teils

waren zu kurz, um sie um die Arme zu schwingen.

Von hinten tanzte sie und warf einen Blick über die Schulter.

Ihr Arrangement hat mich schon überholt.

Ich schminkte eine geplatzte Kirsche auf ihren Mund

und schalt sie Maske, während ich ihr Masken machte.

Des Todes dummer Bruder

Ich hatte das Geräusch schon einmal gehört. Ein Klicken und das Spulen einer kurzen Strecke, nicht weit über meinem Kopf. Ich war auf der Toilette eines Cafés namens ZZZ und begriff, dass hier ein Duftstoff losgelassen wurde. Es war nicht einer meiner saubersten Tage, wenn das auch mehr ein generelles Gefühl als eine objektiv feststellbare Tatsache war, und wie man einem Kind im Vorbeigehen über den Kopf streichelt, ging ich mit dem Gedanken um, ich hätte den Raumparfümierer ausgelöst, indem ich mir den Hintern wischte, obwohl es da nichts abzuwischen gab. Ich zog die Hose hinauf, berührte dabei mit dem Rücken die Zellentür, und ein grausiges Kerkerrasseln ertönte, das mich erschreckte. Ich lehnte mich noch einmal mit dem Rücken an die Tür, um die Herkunft des Geräuschs zu überprüfen, und war vergnügt, dass es zum dritten Mal schon ganz vertraut schepperte, als ich den Riegel aufklappte. Während ich zum Waschbecken hinüberging, lobte ich die Inneneinrichtung von ganzem Herzen. Der Verdacht, eine mir bislang unbekannte Instanz sei dabei, mir von oben Knock-out-Drogen zu verpassen, was immer sein kann, wich. Alles, sagte ich mir, ist harmlos, Komfort und Unterhaltung umgeben dich. Und dennoch war der Geruch nach künstlichem Rhabarber, der über dem kleinen Waschbecken hing, irgendwie verdächtig.

Ich ging zum Platz am Fenster zurück, wo meine Zukunft wartete. Langsam beruhigte sich meine Art. Sitzend hörte ich auf, an den Gegenständen zu allen Seiten anzustoßen. Stattdessen beugte ich mich heftig über mein Notizbuch und konzentrierte mich auf den Beginn eines Romans, den ich als kurze Erzählung niederschreiben wollte. Das Weizenbier begann zu wirken. Draußen dämmerte es.

Am nächsten Tisch saßen drei Jünglinge. Sie schoben frisierte Stimmen, besprachen ein Drehbuch. Wenn die Kellnerin kam, wurden sie kleinlaut. Die Kellnerin hatte ein Loch in den schwarzen Röhrenjeans, in der Mitte der Innenseite der rechten Wade. Sie könnte es sich gescheuert haben mit einem Tic nur für eine Nacht: Ich stellte mir vor, wie sie mit Freunden auf Stufen saß, eine Flasche Rotwein oder Saft leerend, Musik hörend, und von der Nacht war dieses Loch als Spur geblieben, über die sie sich selbst wunderte. Ihr Bauch schoppte vorne über die Hose, ein Holzfällerhemd hing auf ihrem Rücken. Sie bewegte sich mit der Grazie einer bekannten Schönheit, hatte ein feenhaftes Gesicht, großzügig und doch fein, mit geschwungenen Brauen, und sagte affektiert »O Gott«, als sie meinte, dass ich meinte, sie hätte mein Bier vergessen. Wie ein gewisses Schnuckel, das Apunkt und ich einmal näher zu untersuchen die Gelegenheit gehabt hatten. Wie viele Mädchen jetzt »O Gott« sagen.

Anstatt aber in einen spekulativen Diskurs zu verfallen über die Hintergründe dieser Art, wegen einer winzigen Schuld »O Gott« auszurufen, die bestimmt in den Schulklassen entwickelt wurde, kurz nachdem ich sie verlassen hatte, notierte ich bloß in meiner Erzählung: »Wieder einmal packte mich die alte Sehnsucht nach dem Leben anderer Menschen.«

Faul bin ich, ha. So faul! Am Tresen nahm eine Art Familie Platz, ein grauhaariger Bartguru mit sympathischen Augenringen, eine Teenagerin in einer quaderförmigen schwarzen Weste und eine gealterte junge Frau, am allersympathischsten, in einer weißen Strickjacke, die auf ihrem runden Rücken die Einschnitte eines BHs demonstrierte, und Jeans. Angesichts dieser Dreiergruppe flutete etwas Linderung die prinzipielle und generelle Sehnsucht nach dem Leben anderer: eine ganze Familie, wie anstrengend.

Es war bis jetzt vor mir ein trüber Spätnachmittag gewesen, in dem ich zu Beginn angeödet und nach und nach verzweifelt durch die Straßen von Schöneberg gelaufen war. Ich tötete Zeit, die mich von einer Verabredung trennte, vor der ich mich scheute; wollte mich fangen, mich in meine selbstverliebten Träumereien einwickeln zum Schutz vor der Verabredung, deren konventionelle Mechanik mir Angst machte. Essen zu gehen mit einem Menschen, der mich sexuell anzog, so etwas wäre mir nie eingefallen! Da hatte ich mich, verwirrt, in diesem grauen Nachmittag total verlaufen. Ich geriet in lieblose Straßen, die nach Religionsreformatoren und süddeutschen Städten benannt waren. Ostermontag war. Kaninchen standen in den Rasenflächen herum und hoppelten pflichtscheu außer Sichtweite, als ich mich nähern wollte. Überall brachten Schwule ihre Wochenenddates zum Bahnhof. Ich selbst war um acht mit dem jungen Fritz verabredet. Das alles machte mir keinen sonderlichen Spaß.

Übellaunigkeit konnte mich indessen beim Date vor Blößen schützen. Davor, nicht zu wissen, was ich wollte, und etwas mitzumachen, das später in seinem natürlichen Verlauf meinen heftigen, ungerechtfertigten und unerklärbaren Widerwillen erwecken würde. Vielleicht trug ich deswegen meine Unlust wie eine Kristallkugel behutsam vor mir her, versprach mir davon irgendeine Art von Hellsichtigkeit.

Als ich gegen fünf mit Mühe den Apunkt verabschiedete, der mich wie so oft ein Stück, noch ein Stück, und noch eine Weile begleitet hatte, bekam ich es ernsthaft mit der Angst zu tun. Von des Schicksals unerbittlichem Spulen durch die Straßen gezerrt, statt dass es als melodisches Band hinter mir durch die Lüfte entflatterte, zog ich wie oft in Erwägung, ob ich vielleicht in ganz die falsche Richtung unterwegs war. Zwar war ich ungeduldig gewesen, den Apunkt loszuwerden, um alleine zu sein, was Bedingung aller Freiheit und Besinnung ist, aber es zerrte mir am Herzen, ihn gehen zu lassen und gehen zu heißen, und das machte mich sentimental. Da riss ich mich los. Aber ich rannte noch einmal zurück, hinter ihm her, die Strecke entlang, wo die U-Bahn vor dem Nollendorfplatz aus der Erde kommt, um als Hochbahn weiterzufahren, gab ihm meine Geldbörse und fast alles Geld. Und dann ging ich befreit, entleert, entsichert quasi, los.

Und war vom Gehen ganz wund, als ich im Café ankam. Es machte mir alles keinen rechten Spaß, ich brachte die ruchlose Freude am Sein nicht auf, die mich sonst als helle Flamme weg von verbrannter Erde treibt, mit Schadenfreude alle bedenkend, die mich daran hindern wollen. Das Hefeweizen sollte als Tonikum dienen. Es ging unendlich langsam, Millimeter für Millimeter, in mich hinein. Doch anstatt mich in meinen unklaren Vorhaben zu bestärken, hatte es eher eine desorientierende Wirkung. Die Verabredung rückte näher wie eine dunkle Wolkenfront, gleichzeitig mit der Dämmerung. (Wegen eines solchen Effekts finde ich es übrigens perfekt, sich im Frühling und Herbst um acht Uhr, im Juni und Juli gegen zehn zu verabreden.) Die schwarzen Handschuhe vom Apunkt, ein Produkt von H&M um 1 Euro, mit den Löchern in den zwei ersten Fingern vom einen, den man, um sie zu nutzen, besser rechts als links anzieht, lagen auf dem Tisch. Ich schrieb und schrieb. Alles war bereit. Der Ventilator rotierte und der Zottenhund, der mit zwei Frauen hereingekommen war, irrte im Raum herum. Er konnte sich nicht entscheiden, unter welchem Tisch er sich niederlassen sollte.

»Wären doch die Kontrolleure hier aufgetaucht, stellen Sie sich das vor«, hatte der Apunkt vorgeschlagen, als wir im Kleinke gegen vier zu Mittag aßen. »Und hätten sich auch zwei Rumpsteaks bestellt. Oder so wie wir eines gemeinsam.« Wir haben nur gemeinsam Geld, nicht viel, weil er keins hat, nicht wenig, weil ich ein bisschen habe. Weil der Apunkt zu leben weiß, waren wir in ein Lokal gegangen und aßen ein Rumpsteak gemeinsam: er das Fleisch und die Kroketten, ich den Salat und ein Stück Fleisch vom Apunkt. Die Kontrolleure hatten uns erwischt, da hatte der Apunkt mich mitgenommen mit seiner Monatskarte. Das geht aber nur mit der Monatskarte, die man voll bezahlt, mit der Monatskarte für Arbeitslose geht das nicht. »Solche wie dich«, sagte der Kontrolleur und meinte mich, »lass ich bluten.« Ich trug eine kurze weiße Plüschjacke, an den Ecken leider schon ziemlich versifft. Seinem Kollegen war es unangenehm. Während wir zu Fuß weitergingen, erklärte Apunkt mir, wie es ist, wenn man ohne Privilegien aufwächst in einer Stadt wie Berlin, wo die Privilegierten auch überall sind und sogar noch beim Schwarzfahren mitmachen wollen. Dann kam die Fantasie mit dem Rumpsteak. Als würde unser Rumpsteak besser liegen auf dem Rücken des imaginären Rumpsteaks der beiden ungleichen Kontrolleure, lachten wir: halb befreit, halb unbehaglich. Diese Fantasie war ungewöhnlich für Apunkt. Seine Ideen sind selten bloß Umordnungen der bekannten Realien. Er spinnt großartiger, mit Prunk und Elefanzen, oder abstrakt, mit eigensinniger Rechtschreibung – eine Welt aus kräftigen Gedanken, in der er Prinz ist. Plötzlich sehe ich ihn in feiner Kläglichkeit sitzen, so alt wie ich, und so wenig in Stellung; mit porzellanener Haut, heftig, naiv, im heiteren Licht des Kleinke, welches eine Nummer zu großbürgerlich für uns ist; in diesem Wintergartenlicht, durch das fünfzigjährige mädchenhafte Adelige, deren Ruhe wir uns mit einem geteilten Rumpsteak für zwei Stunden mieteten, zur Toilette wehten. Wie er neuerdings ernsthaft meine Geldbörse schonte. Wie er sich bemühte, mit seinen Scherzen näher an der Umgebung zu bleiben. Sie musste ihn in meiner Abwesenheit kalt angeweht haben.

Es muss fließen! Der rötliche, fruchtige Ton des Hefeweizens begann auch wirklich schon, die Umgebung und mich zusammenzuschließen, die Musik fing an, und nicht mehr trippelte ich trocken, außerhalb von allem herum. Es ist Zeit, sagte die Musik im Café, es ist heute, 9. April, es ist jetzt, halb acht, es geht los, sei dabei.

Großartig dieses Geräusch! Ich war wieder da. Unglaublich. Man kann den trefflichen Einfall nicht genug preisen, die Tür zur Welt, durch die man hinausgeht in eine Sicherheitskapsel, um zu verschnaufen und dann wiederzukehren, hallen zu lassen wie eine Kerkertür.

Ich saß jetzt an einem anderen Tisch. Die Besitzerin des Hundes hatte mich zu sich und ihrer Freundin hinübergerufen. Zuerst mit den Augen, dann flog ein Lächeln durch den Raum, dann bewegte sie den Mund, und ich bedeutete, verlegen, aber natürlich erfreut, dass ich müde sei, indem ich den Kopf schief auf die Hände legte. Sie sprach weiter zu mir quer durch das Café, und ich nahm dann wirklich mein Bier und ging zu ihr und ihrer Freundin hinüber, worauf sie uns Wodka bestellte. In einer Blase aus dichten schwarzen Locken wohnte ein lebhaftes Gesicht, dessen Züge freundlich waren und sofort mit einer formvollendeten Verführung begannen. Ihre Bewegungen waren so wohlabgemessen und mühelos sorgfältig, dass es mich nicht überraschte zu erfahren, dass sie Perserin sei. »Sie kann wohl alles machen, was sie will«, konnte ich mir nicht verkneifen zu denken, »mit dieser sicheren Grazie wirkt es vollkommen überzeugend.« Doch etwas bewog mich zur Reserviertheit. War es nur, dass ich mich der Logik widersetzte, ich müsste sie mögen, weil Mögen besser als Nichtmögen ist? Es füllte mich wohl mit Trotz, dass ich mich gezwungen fühlte, ihre spontane Einladung anzunehmen, weil ich immer ja sagen wollte zu Abenteuern. Ich wollte nichts an ihr finden, was mir Grund gäbe, dass sie mir missfiele, bestimmt nicht. Hypnotisierte mich ihre positive Logik? Es zog mich nicht an, sondern verpflichtete mich nur zur Zuneigung, dass sie gesund, schön, mutig, intelligent und heftig war. Es fehlte der pikante Fehler, es fehlte mir der Eingang. Ihre Freundin, Virgin, war eine gemessene, ruhige, fast sanfte, gütige und doch fest und hart wirkende Person. Später am Abend schob ich die Hand durch ihre Nackenhaare; weichere, schönere habe ich noch nie gefühlt.

Die Perserin hieß Gazelle, sie fing nun an, Freundinnen zusammenzutrommeln. Ich blickte, während die beiden mit mir redeten, auf die Innenseite der Markise, hinter der sich die Dämmerung senkte, und sah im Nieselregen meine Verabredung am Gleis stehen, den jungen Fritz, der mir so ähnlich sah. So wie auch Apunkt mir auf seine Weise ähnlich sieht – und vielleicht sehen einem alle Geliebten irgendwie ähnlich, wenn man ein bisschen ein Narziss ist. Bei Fritz waren es derbe Augenringe in einem runden, derben Gesicht, das auf eine handwerkliche Weise freundlich wirkte. Außerdem reizten mich seine lila stonewashed Röhrenjeans – ein Verbrechen, das man auch mir zutrauen könnte. Jedoch ohne wirklich spürbares Bedauern beobachtete ich ihn vor meinem inneren Auge, wie er auf der Plattform auf und ab ging und sich fragte, wann er das Warten aufgeben sollte. In letzter Zeit ist es oft so, dass ich mein eigenes Leben indolent betrachte wie durch einen Schirm von Wasser. Und wegen des ausbleibenden Bedauerns eigentlich blieb ich sitzen, mochte mich nicht, sah ein, dass ich wohl so war, und suchte es nur zu vergessen. Es schien mir immer noch besser, es zu vergessen und nicht zu versuchen, pflichtgetreuer zu sein, als ich mich fühlte. Ich trank den Wodka langsam, der, wie Gazelle mir erklärte, auf Eis dieselbe Schwere hätte wie mein Blut.

Die Omina des ganzen Tages schienen sich in diesem Moment um das Café zu scharen, um mir die Sicht zu versperren und mich zu bedrängen. Die Jugendstildekorationen hatten wie lange Gesichter an den Fassaden der Häuser gehangen, als ich durch die Straßen gegangen war, und aus den Zweigen der Büsche hingen neue Blätter, kürzlich gesprossen, aber unlustig, sodass ich ihnen zurufen wollte, sie möchten sich wieder zurückziehen, anstatt mit sinnlosem Fleiß in diese fade Welt zu wachsen. Und all die stellungslosen Kaninchen. Ostern, Fest der Reproduktion, Fest der Sinnlosigkeit.