Titel
Prolog
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Impressum
FINSTERE BEGIERDE
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Stefanie Zeller
Prolog
Im Osten malte der heraufziehende Morgen ein verheißungsvolles Rot an den tiefschwarzen Himmel, aber die Luft und die Erde waren noch dunkel. Vor einem leer stehenden Haus bei Midland in Texas erloschen die Scheinwerfer eines Autos. Ein Mann und eine Frau stiegen aus einem 2005er Toyota Corolla.
„Ich habe immer noch das Gefühl, dass wir etwas vergessen haben“, sagte die Frau, als sie den Kofferraum öffnete. Sie war groß, knochig und breitschultrig und hatte die Figur einer Läuferin – keine hübsche, aber eine attraktive Frau. Sie trug Jeans, Wanderschuhe und einen dunklen Pullover. Kein Make-up. Das mittelbraune Haar war lang und glatt. Ihre Haut hatte die unbestimmbare Farbe einer Angloamerikanerin, aber sie hatte die breiten, hohen Wangenknochen und die kräftige Nase des Volkes ihrer Mutter, der Diné. Navajo, wie Außenstehende sie nannten. „Ich vergesse immer etwas.“
Der Mann schenkte ihr ein liebevolles Lächeln. Auch er war groß, kantig und athletisch gebaut. Das einzig Auffällige in seinem Gesicht waren seine Augen: grau wie ein Winterhimmel, mit dichten Wimpern und dunklen, geraden Brauen. Seine kupferfarbene Haut und die schwarzen Haare verleiteten sicherlich manch einen zu der Annahme, er stamme von amerikanischen Ureinwohnern ab. Doch das war nicht der Fall.
„Wir haben alles, was auf unserer Liste stand“, sagte er, während sie die Campingausrüstung aus dem Kofferraum holten. „Und wenn etwas fehlen sollte, werden wir uns schon zu helfen wissen.“ Er machte eine Pause. „Du hast Angst.“
Sie nickte, obwohl sie beinahe gelassen wirkte. „Noch bin ich nicht außer mir vor Angst. Nur ungefähr bei Punkt sechs auf der Panik-Skala.“
„Na dann.“ Er stellte die Reisetasche, die er getragen hatte, ab und nahm sie in die Arme. „Lass mal sehen, ob wir den Wert wenigstens auf vier herunterbekommen.“
„Hmm“, war ihre Stimme einen Moment später gedämpft zu hören, weil ihr Mund an seinem Hals lag. „Ja, aber so kommen wir nicht weiter. Meine Ängste sagen mir, dass hier zu verweilen jetzt genau das Richtige wäre. Diese Lügnerinnen. Einfach so eng umschlungen hier stehen zu bleiben. Aber deine Königin erwartet unbedingten Gehorsam und Pünktlichkeit, nehme ich an.“
„Unter anderem. Ihre Ansprüche sind hoch.“ Ohne sie loszulassen, lehnte er sich ein wenig zurück. „Alles in Ordnung. Geht es dir gut, Kai?“
„Ich glaube, es ist durchaus möglich, dass es mir gut geht und ich gleichzeitig ängstlich bin. Und aufgeregt. Schließlich ist das eine ganz neue Welt für mich. Ich kann es immer noch nicht fassen.“ Kai holte tief Luft, seufzte und nickte. „Dann mal los.“
Sie schlüpfte in die Träger ihres Rucksacks und klemmte sich die Schlafsäcke unter die Arme. Sie würden nicht lange gehen müssen, deswegen machte sie sich über das Gewicht keine Sorgen. Tatsächlich trug er den größeren Teil ihrer Ausrüstung. Doch das war nur vernünftig. Nathan war wahrscheinlich fünfmal so stark wie sie, und im Augenblick setzte ihr auch noch der Hunger zu, ein Hunger, den gewöhnliche Nahrung nicht stillen konnte, weil er nicht ihr eigener war. Sie ermüdete so schnell.
Jedoch nicht mehr lange.
In Kais Rucksack befanden sich Kleidung zum Wechseln, Thermounterzeug, saubere Socken und Unterwäsche, ihr Erste-Hilfe-Kasten und ein paar andere Kleinigkeiten. Nathan trug die schwereren Sachen – ihr Zelt, das man praktischerweise sehr klein zusammenfalten konnte, die Campingausrüstung und ihre Einkäufe: mehrere Pakete Zimt, eine Rolle verschließbarer Gefriertüten, zwei kleine, scharfe Äxte, vier sehr feine Messer, zwei Schachteln Nägel, einen Hammer, einen kleinen Spaten und jeweils ein Pfund Gold und Silber in Form von Ketten.
Nathan ergriff die große Reisetasche, und sie entfernten sich langsam von dem Wagen. Später würde Kais Freundin Ginger ihn hier abholen. Ginger wusste, dass Kai und Nathan zusammen fortgingen, aber sie hatte keine Ahnung, wie weit sie tatsächlich reisen wollten. Die Geschichte, die Kai ihr erzählt hatte, um zu erklären, warum sie den Wagen dort zurückließen, war nicht sehr überzeugend gewesen, wie Ginger mehrfach betont hatte. Aber Kai war an Gingers hartnäckige Fragen gewöhnt. Und Ginger daran, nicht auf all ihre Fragen eine Antwort zu bekommen.
Kai hoffte aus ganzem Herzen, ihre Freundin wiederzusehen.
„Du freust dich auf das, was vor uns liegt.“
„Zum Teil, ja. Deine Heimat ist sehr schön, aber ich bin jetzt schon sehr lange hier. Und obwohl die Magie seit Kurzem dichter geworden ist, ist sie hier immer noch ein bisschen zu dünn für mich.“ Ohne stehen zu bleiben oder den Ton zu ändern, fügte er hinzu: „Du wirst das schon machen, Kai. Ich weiß, du hast Bedenken, und das ist auch gut so, denn diese Mission ist eine Prüfung. Aber du schaffst das.“
Deshalb auch der hohe Wert auf der Panik-Skala. Nicht, weil sie Angst davor hatte, solche Dinge wie Tampons würden ihr ausgehen. Obwohl sie natürlich hoffte, dass sie genug eingepackt hatte; doch wenn nicht, würde sie sich schon zu helfen wissen. Aber die Angst, sie könnte nicht genug lernen, nicht genug verstehen, um ihre Aufgabe zu erfüllen, oh ja, diese Angst war enorm.
Einen Schritt nach dem anderen, sagte sie sich, als sie ihm durch die Dunkelheit um das alte Haus herum folgte. Er konnte im Dunkeln sehen, dachte sie. Sie nicht, noch nicht – und erst recht nicht im Schatten des verfallenen Gebäudes. Seine Schritte konnte sie auch nicht hören. Nur ihre eigenen.
Sie kamen in eine Art Hinterhof, in dem sich nichts als Schmutz, Abfall und vertrocknetes Unkraut befand. Und nun konnte sie auch das Unkraut sehen; seine trockenen Stängel raschelten und hoben sich grau von dem dunklen Boden ab. Der Himmel hatte sich aufgehellt und war nicht mehr tiefschwarz, sondern anthrazitfarben, mit einem stahlgrauen Streifen entlang dem Horizont. Sie schloss zu Nathan auf.
Wie Großvater immer gesagt hatte: Wer die Sorgen von morgen hinunterschluckt, bekommt heute Blähungen. Und dennoch … „Ich verstehe nicht, warum wir auf diese Weise vorgehen müssen. Du könntest es doch selbst finden. Darin bist du gut.“
„Das könnte ich, wenn ich erst einmal die Fährte aufgenommen hätte. Aber meine Königin wünscht es anders. Doch“, er sah sie von der Seite an und lächelte, „obwohl ihre Wünsche mir Befehl sind, erwarte ich nicht von dir, sie stillschweigend zu akzeptieren. Ich glaube, sie hat etwas gesehen, das sie dazu gebracht hat, uns mit genau diesem Auftrag loszuschicken statt mit einem anderen.“
„Wenn du sagst, sie hat etwas ‚gesehen‘, meinst du, sie hat es vorhergesehen? Oder hat sie weit gesehen?“
„Beides wahrscheinlich. Vielleicht hat sie gesehen, dass sich ein neues Muster entwickelt hat, und deshalb müssen wir auf diese Weise vorgehen.“
„Oder sie will es mir einfach so schwer wie möglich machen.“
„Auch das ist möglich. Äh.“ Er rieb sich die Nase. „Du bist besorgt und auch ein wenig ärgerlich, während mir immer noch schwindlig vor Erleichterung ist – das passt im Moment schlecht zueinander. Aber es wird alles gut gehen, Kai. Du wirst schon sehen.“
Nathan war deshalb immer noch so erleichtert, weil seine Königin Kai vor sechs Tagen nicht getötet hatte. Kai war zu dem Zeitpunkt genauso dankbar gewesen. Die Königin und ihr Bruder hatten gedacht, sie sei eine Geistbinderin, eine seltene und gefährliche Form einer Telepathin, die den Geist anderer an ihren Willen binden konnte. Nathan hatte sich für sie eingesetzt und sich vor sie gestellt, obwohl er die königlichen Geschwister natürlich niemals hätte aufhalten können. Und das hatten sie auch gewusst.
Aber Nathans Vorgehen hatte zu einer Unterbrechung geführt, und die Königin hatte ihn angehört. Denn sie schätzte ihn sehr. Am Ende hatte sie Kai gestattet, ihr Leben fortzuführen – vorerst. Aber nicht dort, wo niemand sich gegen eine Geistbinderin schützen konnte.
Bei dem Gedanken daran spürte sie stets aufs Neue Bitterkeit in sich aufsteigen. Auch diese Bitterkeit sah sie, klebrige graue Fäden, die sich um ihre Gedanken legten, als wollten sie sie mumifizieren. Oh, sie hatte gesehen, was aus jemandem wurde, der an solch bitteren Gedanken festhielt, hatte gesehen, wie Menschen sich nicht mehr von ihnen befreien konnten, gesehen, wie die grauen Fäden sie würgten, bis alle Farbe aus ihnen wich. Sie holte tief Luft und strengte sich an, die Bitterkeit loszulassen. Und tatsächlich, langsam wurde sie schwächer.
Kai war keine Telepathin im strengen Sinne. Doch sie war auch nicht ganz ohne telepathische Fähigkeiten, genauso wie sie eigentlich keine Geistbinderin war, obwohl sie ein paar von den Dingen, die Geistbinder taten, ebenfalls beherrschte. Ihre Gabe erstaunte alle – sie selbst nicht zuletzt. Vielleicht sogar am meisten. Sie konnte Gedanken nicht lesen, sie aber sehen und ebenso die Gefühle, die mit diesen Gedanken einhergingen. Und manchmal, gewollt oder ungewollt, griff sie in die Gedanken anderer ein und veränderte sie. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Nachdem sie ihr ganzes Leben lang diese besondere Begabung nicht hatte zur Kenntnis nehmen wollen, musste sie jetzt lernen, sie zu beherrschen. Und zwar schnell. Bevor sie von ihr beherrscht wurde.
Sie spürte das Schnurren, bevor sie es hörte – ein leichtes Grollen in ihrem Kopf. Einen Moment später erhob sich einige Meter vor ihnen ein dunkler Hügel und formte sich zu einer zwei Meter fünfzig langen Katze. Sie streckte sich. Kai lächelte. „Dells Freude ist auf jeden Fall ungetrübt.“
„Begreift sie, dass wir jetzt aufbrechen?“
„Oh ja.“ Das Band zwischen ihnen war noch ganz neu, und manchmal irritierte sie die Nähe, die es zwischen ihnen geschaffen hatte. Und dann war es oft schwer, diesem Wesen, das so anders war als sie selbst, ihr Gedankengut zu vermitteln. Aber Kai wusste, dass Dell verstanden hatte, dass ihr lang andauernder Hunger nun bald gestillt werden würde.
Und wenn Dells Hunger gestillt war, dann auch Kais.
Sie hatten den Treffpunkt erreicht. Kai legte eine der Schlafsackrollen auf den Boden, um die Raubkatze, die sich an ihr Bein schmiegte, hinter dem Ohr zu kraulen. Dell hatte gelernt, dass ihr Mensch sehr leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war, deswegen zeigte sie ihre Zuneigung nur mit Vorsicht. „Sie kann es kaum erwarten.“
Dort, wo sie nun hingingen, würde es Dell sehr viel besser gehen. Dieser Gedanke machte Kai froh; er gab ihr Mut. Wenn die Magie hier schon zu schwach für Nathan war, dann war sie für die Chamäleon-Katze lebensgefährlich niedrig. Das war auch der Grund, warum Kai so müde geworden war. Der Austausch, das Band, zwischen ihr und Dell bestand in beide Richtungen, und die Energie, die die Königin Dell großzügig geschenkt hatte, um sie am Leben zu erhalten, während sie sich für die Reise bereit machten, war nun aufgebraucht.
„Nimm jetzt lieber wieder den Schlafsack. Es ist Zeit, Kai.“
„Was?“ Aber sie bückte sich dennoch danach. „Ich sehe nichts … ist sie da?“
„Sie muss nicht hier sein. Es ist kein echtes Tor. Das habe ich dir doch erklärt.“
Das hatte er, was aber nicht hieß, dass sie es auch verstanden hatte. Auf irgendeine Weise war es Nathans Königin möglich, jederzeit mit ihm in Verbindung zu treten. Auch wenn sie nicht in seiner jeweiligen Welt war, konnte sie doch seine natürliche Fähigkeit verstärken, zwischen den Welten hin und her zu wechseln, damit er etwas mitnehmen konnte, das ihm gehörte – Kleidung, Ausrüstung und Kai. Die wiederum Dell mitnehmen würde.
„Konzentriere dich auf dein Band mit Dell.“ Seine Stimme war leise. Er starrte in die Ferne, doch sie konnte nicht erkennen, was er dort sah.
Sie holte tief Luft und konzentrierte sich, um sich in den Zustand der Fugue zu versetzen – einen Zustand, den sie immer zu vermeiden versucht hatte. Zuerst wollte es ihr nicht gelingen, doch dann konzentrierte sie sich ausschließlich auf Dell, auf die klaren, einfachen Farben der Gedanken ihres Familiars.
Nach und nach wurde ihr Atem ruhiger, und ihr Geist glitt an einen Ort, zu dem die Farben und Formen der Gedanken sie zogen mit ihren endlosen, faszinierenden Bewegungen … ein Ort, an den sie sich verlieren konnte. An den sie sich als Kind verloren hatte. Ein Ort, an dem ihre Gedanken die der anderen berührten, sie ändern konnten. An dem der Drang, genau dies zu tun, überwältigend sein konnte.
Aber Dells Gedanken waren so klar und echt, dass sie dieses Bedürfnis bei ihr nicht verspürte. Kais Herzschlag beruhigte sich, und sie fand das Band, das zwischen ihnen bestand, einen glatten, blassen Schlauch mit einem Hauch von Gelb. Sie lächelte, damit die Farbe kräftiger wurde. Strahlender.
Sie spürte Nathans Hand auf ihrer Schulter. „Jetzt“, sagte er, und seine Stimme war das Einzige, das sie außer den Farben wahrnahm, „gehen wir.“
Also tat sie es, ihm vertrauend und lächelnd, weil die Farben so wunderschön waren, so kunstvoll ineinander verschlungen. Die Formen flossen in neue Muster, dann in wieder andere, elegant und verlockend, faszinierend …
Ein scharfer Schmerz auf ihrer Wange ließ sie erschrocken nach Luft schnappen – und brachte sie noch ganz verwirrt in die Welt der Sinne zurück. In eine Welt, die anders war als die, in der sie noch vor wenigen Augenblicken gewesen war. Hier wirbelte Schnee durch die Nachtluft, die feucht und kalt auf ihrer Haut lag. Sie sah sich um, erblickte aber weder Gebäude noch eine Straße, nur das endlose schweigende Weiß eines Sturms.
Aber sie spürte Dell warm an ihrer Seite, herrlich aufgeregt und drängend, und Nathan, der sie anblickte, die Brauen besorgt zusammengezogen. „Ich bin wieder da“, sagte sie, „aber wir müssen uns etwas anderes als Schmerz überlegen, um mich zurückzuholen.“ Ihre schmerzende Wange ließ darauf schließen, dass er sie dieses Mal hatte ohrfeigen müssen, um die Fugue zu beenden.
„Wir brauchen Jacken, und du musst Handschuhe anziehen.“ Er zog den Reißverschluss der Reisetasche auf.
Sie drückte die Schlafsäcke enger an sich. „Ich hatte eine dichter bewohnte Gegend erwartet.“
„Östlich von hier befindet sich ein Dorf.“
Sie verspürte eine Welle der Erleichterung. „Dann weißt du also, wo wir sind?“
Er rang sich ein Lächeln ab, dieses Mal entschuldigend. „Nein. Ich rieche nur den Rauch von Holzfeuer. Hier.“
Sie setzten ihr Gepäck ab, um in die Jacken zu schlüpfen. Ihre war gesteppt und hatte eine Kapuze. Bei Minusgraden würde sie sie gut wärmen, wenn sie noch das Futter einknöpfte. Was sie nicht tat. Es war zwar kalt, aber nur wenig unter dem Gefrierpunkt. Wenn sie sich erst einmal bewegten, würde ihr schnell warm werden. „Dell hat Hunger. Kann ich …?“
„Ja. Keine Angst.“ Letzteres war an die Katze gerichtet, nicht an Kai. „Ich passe auf sie auf.“
Obwohl sie es kaum erwarten konnte zu jagen, musterte Dell Nathan einen Augenblick. Kai spürte, wie die Raubkatze über das nachdachte, was er ihr gesagt hatte, nicht die Worte, die er gesagt und die Kai gehört hatte, sondern irgendetwas anderes. Dann verschwand sie im nächtlichen Schneetreiben.
Kai zog ihre Handschuhe zurecht. Dell hielt sie für zu schwach, um alleine zu überleben. Was diesen Ort hier betraf, hatte sie vermutlich recht. „Kannst du herausfinden, ob die anderen schon vorbei sind? Die, denen wir folgen sollen?“
Nathan neigte den Kopf, als würde er lauschen, doch sie hatte keine Ahnung, welchen seiner Sinne er in diesem Moment tatsächlich benutzte. „Wir haben zwei oder drei Wochen Zeit, glaube ich. Wir sind ein bisschen zurückgereist, als wir übergewechselt sind.“
„Zurückgereist?“
„Die Zeit zwischen der Erde und Edge stimmt nicht genau überein. Deshalb haben wir jetzt genügend Spielraum. In der Zeit vorwärtszureisen, wäre heikel gewesen, aber zurück war nicht so schwer.“
Sie starrte ihn an. „Du kannst die Zeit einstellen?“
„Nein.“ Er war geduldig. „Aber wenn zwei Welten zeitlich nicht übereinstimmen, dann kann ich den Zeitpunkt wählen, wann ich von einer in die andere wechsle.“
Er fand offenbar, dass diese Erklärung genügte. Nun, anscheinend musste sie ihn noch viel besser kennenlernen. Sie waren seit zwei Jahren Freunde, aber Liebende erst seit sechs Tagen.
Und jetzt sollten sie diese Welt retten – oder an ihrer Rettung mitwirken. Wenn es ihr gelang, ihre Gabe zu nutzen. „Lass uns lieber weitergehen.“
1
Es sah aus wie ein digitales Thermometer. In dem Plastikgehäuse befanden sich zwei kleine Fensterchen. In dem einen war ein tiefvioletter, in dem anderen ein blasser smaragdgrüner Strich zu sehen. Cynna hielt es schräg und kniff die Augen zusammen. Vielleicht spielte ihr das Licht einen Streich.
Immer noch violett. Nicht das hübsche Smaragdgrün, um das sie so sehr gebetet hatte. Gleichgültig, wie sehr sie den Strich anstarrte oder aus welchem Winkel – er blieb violett.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren, und der Test fiel ihr aus der Hand. Sie schickte ihm einen bösen Blick hinterher und ließ ihn auf dem Boden liegen. Die Badezimmertür hinter sich zuknallend, eilte sie zu der anderen Tür des Raums – die nur ein paar Schritte entfernt war. In Hotelzimmern befanden sich Badezimmertüren immer direkt hinter den Eingangstüren.
„Ich komme ja schon, verdammt. Ich komme.“
Nein, das tat sie nicht. Nicht jetzt zumindest. Aber letzten Monat. Dreimal. Weshalb jetzt auch dieser gottverdammte Test die Farbe des Untergangs anzeigte.
Cynna sah durch den Spion, schloss die Tür auf und riss sie auf. „Hallo“, sagte sie mit überschwänglicher Begeisterung. „Ich bin fertig. Los geht’s.“
Die Frau vor der Tür war einen ganzen Kopf kleiner als Cynna. Die Hände hatte sie tief in die Taschen eines langen, locker fallenden Mantels gesteckt, der ebenso schwarz und makellos war wie ihr Haar. Zwischen ihren Augenbrauen stand eine steile Falte. Ihre Augen waren dunkel, ihr Blick fest. „Du brauchst einen Mantel“, sagte Lily Yu, ohne sich von der Stelle zu rühren. „Einen dicken Mantel. Es ist Februar. Und vielleicht dein Portemonnaie. Wir gehen einkaufen …“
„Oh ja. Richtig. Ich hole es.“ Cynna wollte erst ihrer Freundin die Tür vor der Nase zuschlagen, hielt dann aber noch rechtzeitig inne. „Komm rein, aber geh nicht ins Badezimmer.“
Lily zog die Augenbrauen hoch. Cynna tat, als sähe sie es nicht, und nahm ihre Umhängetasche aus Jeansstoff und ihre Jacke von dem Kleiderhaufen auf dem Bett. „Ich sollte wirklich mal wieder waschen“, sagte sie strahlend. „Dann mal los. Oh, noch eins. Heute Nachmittag sagt niemand das S-Wort oder spielt in irgendeiner Weise darauf an.“
Lily nickte nachdenklich. „Okay. Keine Anspielung auf das S-Wort.“
Herrgott. So einfach war das also. Wenn sie diese Taktik schon vor einem Monat probiert hätte, wären ihr vielleicht einige sanfte, taktvolle und auch ganz direkte Bemerkungen erspart geblieben. Lily war davon überzeugt gewesen, dass Cynna der Realität nicht ins Auge sehen wollte.
Ganz offenbar hatte Lily recht gehabt. Die Hexe. „Also, wo gehen wir hin?“, fragte Cynna, als sie den Hotelflur hinunter zum Ausgang gingen.
„Ich dachte, wir versuchen es mal im Fashion-Center.“
„Klar. Äh … gibt es dort diese arroganten Verkäuferinnen, die dich angucken, als würdest du gleich ein paar Strumpfhosen mitgehen lassen?“
Lily sah sie vielsagend an. „Wie lange wohnst du schon in Washington?“
„Sieben Jahre. Warum?“
„Das Fashion-Center ist ein Einkaufszentrum. Dort gibt es alle möglichen Bekleidungsgeschäfte – Macy’s, Talbot’s, The Gap, Kenneth Cole …“
„Ich kaufe mir eben nicht häufig Klamotten. Na und?“
Lily tätschelte ihren Arm. „Aber heute wird das anders sein.“
Genau davor hatte sie Angst gehabt. Was war nur in sie gefahren, als sie Lily gebeten hatte, ihr beim Kleiderkaufen zu helfen?
Sie warf einen Blick auf die Frau neben ihr und seufzte. Neid, das war es, was in sie gefahren war. Lily sah immer perfekt aus. Aber sie war sehr klein und … nun ja, jedenfalls nicht niedlich. Eine Kugel würde man auch nicht niedlich nennen. Egal, wie klein und wohlgeformt sie war. Auch Kugeln waren nur schwer aufzuhalten, genau wie Lily.
Und jetzt, nur weil Cynna ihre große Klappe nicht hatte halten können, ging Lily mit dieser für sie typischen Entschlossenheit auch ihre Garderobe an. Dieses Wort hatte sie tatsächlich benutzt, als sie Lily gebeten hatte, ihr beim Shoppen zu helfen. Eine neue Garderobe, hatte sie gesagt. Für die Arbeit.
Ganz offensichtlich war sie verrückt geworden. Sie hatte keine Garderobe. Sie hatte Klamotten.
Sie verließen das Hotel durch den Seiteneingang. Die Kälte biss Cynna ins Gesicht und fuhr ihr unter die Jacke. Sie zog den Reißverschluss zu. Dieses Jahr war der Winter für Washington ungewöhnlich kalt, aber das würde sie nicht zugeben. Es machte viel zu sehr Spaß, Lily zu ärgern, die ihr ganzes Leben in San Diego verbracht hatte.
Lily brummte leise und ging zum Wagen – einem weißen Ford, genau wie Cynnas, nur sauberer. Das FBI kaufte alles en gros.
Der Tag war genauso sonnig und windstill, wie er kalt war. Die Sonne stand wie ein heller Ball an einem Himmel, der so klar und blau war, dass man denken konnte, so etwas wie Smog gäbe es gar nicht. Deshalb hob Cynna auch jetzt den Blick, als ein Schatten über sie hinwegzog.
Mittlerweile war ihr die elegant geschwungene Gestalt vertraut, auch wenn sie immer noch ein Gefühl der Ehrfurcht ergriff, wenn sie sie erblickte. Gegen den hellen Himmel sah sie dunkel aus, aber sie hatte die Fotos gesehen und wusste, dass von Nahem die Schuppen rot glänzten, wie Rubine oder frisches Blut.
„Sind Drachen eitel?“, fragte sie, eine Hand an der Autotür, den Kopf im Nacken, um zuzusehen, wie die legendäre Gestalt träge am Himmel dahinglitt.
Lily öffnete die Tür. „Wie meinst du das?“
„Die vielen Fotos. Mika redet nicht viel, aber er findet es toll, fotografiert zu werden.“ Genau genommen redete Mika gar nicht. Gedankensprache war nicht dasselbe wie sprechen. Aber der rubinrote Drache ließ sich nur selten herab, in welcher Form auch immer mit den Menschen um ihn herum zu sprechen, sehr zur Enttäuschung der Reporter. „Ist Sam auch so arrogant?“
Lily schnaubte. „Von ihm hast du sicher noch nie Fotos im Internet gesehen, oder? Ich nehme an, wenn man weiß, dass man der größte, gefährlichste Kerl mit zwei Flügeln ist, dann braucht man kein Foto, um es zu beweisen. Mika ist jung“, fügte sie hinzu und stieg ins Auto.
Jung war ein relativer Begriff, aber da Mika wahrscheinlich geboren wurde, lange bevor eine Gruppe Pilger auf einen Felsen bei Plymouth gespült wurde, fand Cynna, dass Lily ihn recht großzügig auslegte.
Aber das war, was Drachen anging, häufiger angebracht.
Jahrelang hatten die Menschen geglaubt, sie seien ein Mythos, Fabelwesen, nicht wirklicher als Odysseus’ Zyklopen. Selbst als zweiundzwanzig von ihnen im letzten November ihr Exil verließen, um nach langer Zeit zur Erde zurückzukehren, war es den Menschen leichtgefallen, ihr Auftauchen als Irrtum abzutun, denn gleich darauf waren sie wieder verschwunden.
Man vermutete einen Werbegag, nichts weiter. Zudem hatte sich der Vorfall in Kalifornien ereignet; das reichte den meisten als Erklärung für jede Art von Absonderlichkeit. Da die Regierung keine Informationen herausgab – was Radar, sowohl Fotos als auch Videoaufnahmen und die Berichte zweier ihrer eigenen Agenten, nämlich Cynna und Lily, einschloss –, hatte es auch keinen handfesten Beweis gegeben. Talkshow-Moderatoren hatten ihren großen Tag mit Witzen über Drachenerscheinungen gehabt.
Als sie dann aber wieder auftauchten, lachte niemand mehr. Dieses Mal brauchte die Welt sie.
Denn es hatte eine heftige Kollision der Welten gegeben, und der Aufprall hatte aus Netzknoten überall auf der Welt Magie ausströmen lassen. Freie Magie verursachte Störungen in technischen Abläufen, insbesondere in computergesteuerten … was also beinahe alle betraf. Es stellte sich heraus, dass Drachen nicht nur stark, schön und gefährlich waren, sondern auch ausgezeichnete Schwämme sein konnten: Sie saugten die ganze überschüssige Magie auf.
Zwei Tage vor Weihnachten war der schwarze Drache auf dem Rasen des Weißen Hauses gelandet. Sam – der eigentlich Sun Mzao hieß – hatte im Namen der anderen die Verhandlungen geführt, unterstützt von Lilys Großmutter. Zu Cynnas großer Enttäuschung wollte ihr niemand sagen, warum Madame Yu bei den Verhandlungen dabei gewesen war. Zwar hatte sie einen Verdacht, aber der war so verrückt … aber das war auch Lilys Großmutter.
Früher oder später, nahm sich Cynna vor, würde sie die Wahrheit aus Lily herauskitzeln.
Bisher zeigten die mit den Drachen getroffenen Vereinbarungen die gewünschte Wirkung. Die Computer liefen normal in der Hauptstadt, an der Wall Street und in den zwölf US-amerikanischen und acht internationalen Städten und ihrer Umgebung, die einen Drachen hatten. Drachen aßen zwar sehr viel, und die Leute vom Tierschutz waren alles andere als erfreut über ihre bevorzugte Ernährung – die Drachen bestanden darauf, sich ihre Kühe und Schweine selber zu fangen –, aber sie hielten sich an ihr Versprechen, Menschen und deren Haustiere von ihrer Speisekarte zu streichen.
Das Problem war, dass es nicht genug Drachen gab.
Cynna sah zu, wie sich der Washingtoner Drache in die Kurve legte und nach unten schwebte. Es sah aus, als würde er den Rock Creek Park ansteuern. Im dortigen Amphitheater hatte er sich vorläufig niedergelassen, bis die Behörden sich nicht mehr darüber stritten, wo er sein ständiges Nest bauen durfte.
„Kommst du?“, sagte Lily.
Cynna stieg in den Wagen und legte den Sicherheitsgurt an. „Wünschst du dir manchmal, wir hätten Sam statt Mika bekommen?“
Lily zuckte die Achseln und ließ den Motor an. „Sam wollte in Großmutters Nähe sein. Oder vielleicht war es andersherum, und Großmutter wollte ihn in ihrer Nähe haben. Oder vielleicht wollte er es auch nur warm haben. Hier ist es nie warm.“
„Du kannst nichts als meckern. Du wirst sehen, im Sommer beschwerst du dich über die Hitze. Es ist keine trockene Hitze, so wie du sie gewöhnt bist.“
„In San Diego ist es nicht so heiß, wie du glaubst. In den Bergen ist es natürlich heißer. Der Ozean sorgt für kühlere Luft.“
„Du hast Heimweh.“
Lily seufzte und fuhr los. „Mehr, als ich gedacht hätte. Eigentlich dürfte ich ja gar nicht so lange hier sein.“
Ursprünglich war Lily in zwei Angelegenheiten nach Washington, D.C. geschickt worden: um den Secret Service bei einer Ermittlung zu unterstützen und um im Schnelldurchlauf die Standardausbildung in Quantico zu machen. Wie Cynna auch, gehörte sie zu einer Spezialeinheit der Magical Crimes Division des FBI, der Abteilung für magische Verbrechen, von deren Existenz bis vor Kurzem nur sehr wenige etwas gewusst hatten. Lily war im letzten November rekrutiert worden. Sie war eine Berührungssensitive, das hieß, sie war in der Lage, Magie mit dem Tastsinn zu erspüren, während sie gleichzeitig unempfänglich für deren Wirkung war. Aber ihre Erfahrung bei der Mordkommission war ebenso wertvoll für die Einheit wie ihre Gabe. Vielen der Agenten in der Einheit mangelte es an dieser Art von Ausbildung und Wissen.
Den Teil ihres Auftrags, der den Secret Service betraf, hatte Lily erfüllt, aber dann kamen die Dämonenkiller und die Wende dazwischen. Deswegen war ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen.
„Vielleicht hat es auch etwas Gutes“, sagte Lily, „wenn ich hier im Hauptquartier festsitze. Immerhin liegen so mehr als viertausend Kilometer zwischen mir und meiner Mutter.“
„Ja, aber die Flugzeuge starten wieder, Handys funktionieren …“
„Erinnere mich nicht daran.“
Cynna lächelte, weil sie meinte, es sei an dieser Stelle angebracht, aber sie fragte sich, ob sie selbst auch solch eine Aversion gegen ihre Mutter entwickelt hätte, wenn diese noch lebte. Ein paar ihrer anderen Freunde waren genauso. Einige wenige schienen ihren Müttern nahezustehen, aber die meisten hatten ein eher problematisches Verhältnis zu ihnen.
Nicht, dass sie selbst keine Probleme hatte. Auch wenn ihre Mutter längst gestorben war, stieß sie immer wieder in ihrem Herzen auf unlösbare Knoten, die mit dem Etikett „Von Mom“ versehen waren.
Was ein sehr guter Grund war, niemals … nein, daran wollte sie nicht denken, ermahnte sie sich. „Wie geht es Rule?“
„Gut. Die Mächte der beiden Thronfolger haben sich in einem friedlichen Nebeneinander eingerichtet … was du auch wüsstest, wenn du uns nicht aus dem Weg gegangen wärst. Ich … Oh Gott!“
„Was? Was ist los?“
„Ich höre mich an wie meine Mutter.“
Cynna lachte. Zum ersten Mal seit Stunden, Tagen – na ja, einer sehr langen Zeit eben – war ihr nach Lachen zumute. Vielleicht hatte sie sich wirklich viel zu lange von den anderen zurückgezogen.
Glaubst du wirklich?, flüsterte eine höhnische innere Stimme.
„Ich sollte das schnellstens ablegen“, fügte Lily angelegentlich hinzu. „Denn es sieht so aus, als würde ich selber bald Mutter. Gewissermaßen.“
Cynna zuckte so heftig zusammen, dass sie beinahe ein Schleudertrauma erlitten hätte. „Du … du bekommst ein Kind?“
„Nein. Oh nein, obwohl … tja, es ist wohl wirklich schwierig, nicht das böse Wort zu erwähnen. Ich sprach von Toby.“
Toby war Rules Sohn, und Rule war … beinahe alles für Lily, außer einem Ehemann. Lupi heirateten nicht. „Du meinst, er wird das Sorgerecht beantragen? Oder hat Tobys Mutter endlich erlaubt, dass er bei Rule leben darf?“
„Alicia hat es nicht erlaubt, aber ihre Mutter. Ich glaube, Mrs. Asteglio mag mich, und als Rule und ich sie so oft besucht haben, als sie sich das Bein gebrochen hatte …“
„Sie hat sich das Bein gebrochen?“
„Sie ist die Treppe hinuntergefallen. Das hat anscheinend dazu beigetragen, dass sie ihre Meinung geändert hat. Sie ist dreiundsechzig Jahre alt und hat gesundheitliche Probleme. Ein Kind in Tobys Alter zu erziehen, ist nicht leicht für sie. Und sie weiß, dass Toby bei seinem Vater leben will.“
Das war wohl offensichtlich, fand Cynna, seit Toby kurz vor Weihnachten ausgerissen war, um die Ferien mit seinem Vater zusammen zu verbringen.
„Sie tut mir leid“, sagte Lily. „Sie liebt Toby. Es ist nicht leicht für sie, ihn herzugeben, aber wir werden dafür sorgen, dass sie ihn oft sieht.“
„Aber Tobys Großmutter hat doch nicht das Sorgerecht, oder?“
„Tobys Großmutter“, sagte Lily scharf, „hat ihn aufgezogen und nicht seine Mutter. Alicia besucht ihn hin und wieder am Wochenende, aber auch das nicht mehr, seitdem sie im Libanon ist. Sie stöhnt und jammert und sträubt sich, aber zum ersten Mal hätte Rule eine echte Chance, das Sorgerecht zu bekommen, falls es zu einem Prozess kommen sollte. Was wir nicht hoffen. Es ist auf jeden Fall besser für Toby, wenn wir uns einigen können.“
Jahrelang hatte Rule kein Sorgerecht für seinen Sohn gehabt. Tobys Großmutter hatte dem Jungen erlaubt, seinen Vater zu besuchen, aber seine Mutter – eine Reporterin für die Associated Press – hatte Rule noch nicht einmal in der Geburtsurkunde eintragen lassen.
Rule war nie damit vor Gericht gegangen. Der Sohn des bekanntesten Werwolfs wäre ein gefundenes Fressen für die Paparazzi gewesen. Außerdem war er sich sicher gewesen, dass er verlieren würde. Die Gerichte waren einem Lupus gegenüber nicht gerade freundlich eingestellt. Bis vor wenigen Jahren war es in einigen Staaten sogar erlaubt gewesen, sie ohne Warnung zu erschießen. Die meisten Lupi hatten das allerdings der Politik der Bundesregierung vorgezogen – erzwungene Registrierungen und Medikamente, die den Wandel verhinderten.
Aber das alles war Vergangenheit. Vor ein paar Jahren hatte das Oberste Bundesgericht beschlossen, dass Lupi Bürger seien und als solche Anspruch auf Bürgerrechte und Schutz durch das Gesetz hätten … allerdings nur in Menschengestalt. Es war immer noch legal, einen Werwolf in Wolfsgestalt zu erschießen.
Cynna seufzte. „Ich habe mich wohl wirklich mies verhalten, was? Vor lauter Selbstmitleid habe ich alles andere um mich herum vernachlässigt.“
Lily lächelte sie an. „Es ist in Ordnung, sich für eine Weile in sein Schneckenhaus zurückzuziehen, solange du die Schale nicht zu lieb gewinnst. Aber jetzt bist du ja wieder draußen. Wie viel von deinem Geld darf ich denn heute ausgeben?“
„Oh, zweihundert Dollar. Normalerweise kaufe ich mir mein Weihnachtsgeschenk selbst, aber dieses Mal bin ich wegen der ganzen Dämonen und so nicht dazu gekommen.“
„Sagen wir sechshundert.“
„Was? Ich werde doch nicht …“
„Du hast gesagt, du willst eine neue Garderobe für die Arbeit. Es sei denn, du hast deine Meinung geändert. Vielleicht ändert sich ja deine Größe in der nächsten Zeit …“
Cynna gab einen lauten Piepton von sich.
„Was?“
„Das ist das Warnsignal für das S-Wort.“
Lily warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Wir fangen bei den Basics an. Zwei gute Jacken …“
„Ich habe Jacken.“
„Klar, und sie stünden dir auch, wenn du vierzig Kilo mehr wiegen würdest. Und achtzig Jahre alt wärst. Und nicht an Mode interessiert. Du siehst toll aus in Jeans, aber deine Hosenanzüge …“ Sie schüttelte den Kopf. „Muss ein FBI-Agent deiner Meinung nach so aussehen?“
„Schon gut, schon gut … aber Anzüge stehen mir einfach nicht. Ich habe nicht deine Figur. Ich kann diese kurzen, schmalen Jacken nicht tragen.“
„Aber du kannst Kleidung tragen, die zu dir passt. Und was deine Figur betrifft …“ Lily schnaubte höhnisch. „Siehst du etwa nicht wie Xena aus, Kriegerprinzessin? Bist du es leid, den Männern den Sabber aus dem Gesicht zu wischen?“
„Na ja, aber …“
„Du hast den Körper einer Göttin, Cynna. Nicht den der Jungfrau, sondern der Mutter oder einer Fruchtbarkeitsgöttin.“
Cynna sah sie finster an. Auf Anspielungen auf Fruchtbarkeitsgöttinnen konnte sie verzichten.
„Das zusammen mit den kurzen Haaren und den Tattoos, dazu passt wohl am besten der schlichte, aber dramatische Stil. Auf jeden Fall muss es eng geschnitten sein. Aber …“
„Eng geschnitten?“, quiekte Cynna.
„Sehr wahrscheinlich. Wir fangen mit den beiden Jacken an, wie ich gesagt habe, und vier Hosen, die man gut damit kombinieren kann. Ein Rock würde dir auch gut stehen, aber ich habe dich nie einen tragen sehen, also schlage ich vor, wir überfordern dich nicht und bleiben bei den Hosen.“
„Du hast eine komische Vorstellung davon, was mich überfordert.“
„Und natürlich brauchst du etwas, das du unter den Jacken tragen kannst. T-Shirts, ein langärmeliges Shirt, einen Pullover oder …“
„Eineinhalb Kilometer von hier entfernt gibt es einen Wal-Mart.“
„Diese Jeans hast du ganz sicher nicht in einem Wal-Mart gekauft. Sie sitzen wie angegossen.“
„Danke. Aber Jeans sind etwas anderes als Anzüge. Sie müssen genau passen, und die meisten sind nicht lang genug, also … Hör auf, mich so anzusehen.“
„Aha. Wie viel hast du für diese Jeans bezahlt?“
Zu viel. „Sie waren heruntergesetzt. Es gibt bestimmt auch heruntergesetzte Sachen.“