Günter Ederer

Die Sehnsucht nach einer verlogenen Welt


Unsere Angst vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung



Über Gutmenschen und andere Scheinheilige

Copyright

PeP eBooks erscheinen in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © 2000
by C. Bertelsmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagillustration: ARTWARE Albrecht-Matthias Wendlandt, Sauerthal

ISBN 3-89480-684-2

www.pep-ebooks.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Erster Teil
1. Ein Südseetraum
2. Alltagslügen
3. Eine Gesellschaft der gebrochenen Biografien
4. Die Angst vor dem Markt
5. Die Erziehung zum Untertan
6. Unfreiheit als Tradition
Zweiter Teil
7. Volk ohne Kinder
8. Ein deutscher Garten Eden?
9. Ein Tummelplatz für Scheinheilige
10. Vom Nutzwert des Menschen
11. Ausgrenzung oder Integration?
12. Mitmenschen statt Arbeitskräfte
Dritter Teil
13. Renten – die Angst vor den Zahlen
14. Der Generationenkonflikt
15. Eigenverantwortung statt Staatsfürsorge
16. Ewige Jugend auf Krankenschein
17. Kollektives Schmarotzertum
Vierter Teil
18. Angst vor Wettbewerb
19. Kammerjagd auf Unternehmertyp
20. Universitäten – wie die Armen ihre Elite finanzieren
Fünfter Teil
21. Vom selektiven Wahrnehmungsvermögen
22. Die Konjunktur der Angstmacher
23. Die weltweite Dienstleistungskatastrophe
24. Das erste Gebot: Totale Transparenz
Sechster Teil
26. Zwischen Ideologie und Korruption
27. Der Transrapid – die Geisterbahn
28. Töff, töff, töff, die Eisenbahn
29. Parolen statt Straßenbau
30. Markt statt Bürokratie
Siebter Teil
31. Subventionen: Das Märchen von der guten Fee
32. Bestechungsgeld fürs Wahlvolk
33. Freiheit oder Gleichheit
Literaturverzeichnis
Personenregister
Über das Buch
Über den Autor
Copyright

Vorwort

Als das Rohmanuskript fertig geschrieben war, stellte ich mit Erschrecken fest, dass es gut ein Drittel länger geworden war, als wir verabredet hatten. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, bei weitem nicht alle Beispiele beschrieben zu haben, in denen das, was uns vorgegaukelt wird, und die Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Ich hätte weiterschreiben mögen, immer weiter. Die Flut von Bildern aus der Vergangenheit und Gegenwart, die den ewigen Kampf zwischen Freiheit und Knechtschaft zeigen, will, einmal ins Bewusstsein gerückt, einfach nicht mehr abebben.

Während ich diese Zeilen schreibe, entdecken unsere Politiker, dass wir ein ernstes Problem mit gewaltbereiten Neonazis haben, und überschlagen sich geradezu in Aktionismus und Aufrufen an die Bevölkerung, nicht mehr wegzuschauen. So als ob sie nicht die letzten zehn Jahre den Kopf in den Sand gesteckt hätten. Es war im September 1990, als ich zum ersten Mal in meinem Leben sah, wie deutsche Jugendliche vor dem Dresdner Hauptbahnhof Vietnamesen und Polen jagten und die Polizei ihnen schmunzelnd zusah. »Das ist eure Freiheit«, erklärte mir spöttisch ein Polizist. In seiner DDR hätte es das nicht gegeben. Das Fernsehen bringt eine aktuelle Betroffenheitssendung nach der anderen, bis auch gutmütigen Bürgern die immer gleichen Politikerstatements zum Halse heraushängen. Wenn der Gewöhnungseffekt an die rechten Horden dann gegriffen hat, werden wir eine neue Thematik zu Tode reiten.

Was denken sich Mitglieder der rot-grünen Regierungskoalition, wenn sie die Aufrechterhaltung der EU-Sanktionen gegen Österreich fordern, aber gleichzeitig zu bedenken geben, ob die Isolierung Russlands wegen des Tschetschenienkriegs noch gerechtfertigt sei? Als ob wir nicht ein mörderisches Jahrhundert gerade überstanden hätten, übersehen wir geflissentlich den Völkermord in Tschetschenien und attestieren dem russischen Präsidenten, dass er beim Gipfel der tonangebenden Nationen in Okinawa einen hervorragenden Eindruck hinterlassen habe. Aus den G7, den Großen Sieben, wurden jetzt die G8. Wer Tschetschene am Anfang dieses Jahrhunderts ist, hat halt Pech, für ihn gilt die Charta der Menschenrechte und der UN noch nicht. So wie sie Anfang des 20. Jahrhunderts nicht für Armenier, Mitte des Jahrhunderts nicht für Juden und im Jahre 1995 nicht für die Moslems von Srebrenica gegolten hat – um nur einige Völker zu nennen, die abgeschlachtet wurden, weil die Welt gerade andere Prioritäten setzte, als sich um sie zu kümmern. Realpolitik heißt diese heuchlerische Variante des weltübergreifenden Konferenzzirkus.

Statt Denkmäler zu bauen und zu finanzieren, sollten wir die Mittel einsetzen, den heute bedrohten Völkern zu helfen, und hier und jetzt ihre Unterdrücker und Schlächter benennen, und nicht erst wieder, wenn die Geschichte so weit fortgeschritten ist, dass man gefahrlos der Toten gedenken kann. Ich bin davon überzeugt, dass nichts so sehr gegen die gewaltbereiten Wirrköpfe von rechts und links hilft wie das unerschütterliche Bekenntnis zur Freiheit, und dazu will dieses Buch einen Beitrag leisten. Sein Arbeitstitel von der ersten Idee bis zum endgültigen Titelentwurf lautete deshalb auch »Das Freiheitsbuch«.

Die Substanz und Brisanz einiger Kapitel wäre nicht denkbar ohne jene fachlich und wissenschaftlich hervorragenden Gesprächspartner, deren Klarheit der Gedanken bei mir den Mut verstärkte, Tabuthemen anzupacken. Ihnen gilt mein besonderer Dank.

Professor Hans-Jürgen Ewers, Präsident der Technischen Universität in Berlin, entwickelte mit seinem Modell einer Universität, die sich auch aus Studiengebühren finanziert, eine reale Diskussionsgrundlage, die die ideologische Debatte um die Chancengleichheit im Bildungswesen als höchst ineffizient und unsozial entlarvt. Ihm verdanke ich einen tiefen Einblick in das tägliche Elend der staatsabhängigen Universitätsfinanzierung. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Professor Ewers aber auch für die vielen Denkanstöße in den letzten zehn Jahren danken, die, geprägt von einem tiefen Glauben an die Kraft von Freiheit, Wettbewerb und Eigenverantwortung, mich zu manchem Fernsehbeitrag ermunterten.

Professor Bernd Raffelhüschens Veröffentlichungen und wissenschaftliche Forschungen ziehen sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel, die mit der Bevölkerungsentwicklung und der daraus resultierenden Rentenproblematik zu tun haben. Seit unserer ersten Begegnung hat sich daraus eine einseitige Beziehung entwickelt. Ich profitiere unentwegt von seinen Formeln und Berechnungen. Die Konsequenz, mit der die Tagespolitik seine Zahlen ignoriert, hat zu meiner Abschnittsüberschrift »Im Krieg mit dem 131« geführt. Vieles was Sie da lesen, konnte ich nur deshalb so schonungslos anklagend schreiben, weil sich Professor Raffelhüschen die Zeit nahm, mir die verschlungenen Wege der Rentenformeln und die Rechenwerke der Generationenbilanzen zu erschließen.

Es ist unmöglich, sich nicht von Gerd Habermann und seiner Idee eines freiheitlichen Staates anstecken zu lassen. Ich gestehe gern ein, dass ich oft ob seiner kühnen Vorstellungen eines Gemeinwesens tagelang ins Grübeln kam, in dem sich Bürger ohne staatliche Bevormundung selbst organisieren. Doch es sind solche Visionen, die helfen, die mächtige Krake zu erkennen, die uns in der scheinbar harmlosen Form des »Wohlfahrtsstaates« gefangen hält. Gerd Habermann hat mir geholfen, Gedankentabus zu brechen, um danach die weiten Horizonte der Freiheit neu erkunden zu können.

Es ist sicher ein besonderes Gefühl, wenn ich feststelle, dass ich beim Schreiben dieses Buches auch stark beeinflusst wurde von der Arbeit meines Sohnes Peer und seines Freundes Philipp Schuller, die über ein Jahr ihre ganze Freizeit opferten, um die Bilanz der Deutschland AG zu erstellen. Ihr Zahlenmaterial hat mir manche Recherche erspart. Die mathematische Klarheit ihrer Gedanken aber hat mich bestärkt, so manches »vielleicht« wegzulassen und zu eindeutigen Aussagen zu kommen. Wirtschaftler und Politiker, die sich vor der Wahrheit ihres Buches drücken, haben später nicht die Ausrede, sie hätten nicht wissen können, welchen finanziellen Unfug sie anrichteten und was sie diesem Land und seiner Bevölkerung antaten.

Einige Bücher im Literaturverzeichnis habe ich kursiv hervorgehoben, weil sie entweder dieses Buch ergänzen oder ich diese Werke für einen engagierten Bürger in unserem Lande für unverzichtbar halte.

Nicht zuletzt gilt mein Dank auch Georg Hafner und Joachim Faulstich vom Hessischen Rundfunk und Wolfgang Fandrich vom Mitteldeutschen Rundfunk, die mir die Sendezeit und die Mittel zur Verfügung stellten, die es mir ermöglichten, eigene umfangreiche Recherchen und Untersuchungen zu finanzieren.

Erster Teil

Unsere verlogene Welt

1. Ein Südseetraum

Kennen Sie Capsalay? Wahrscheinlich nicht. Dieses traumhafte Eiland im Südchinesischen Meer ist selbst auf detaillierten Touristenkarten nicht verzeichnet. Zusammen mit meiner Frau verbrachte ich dort vier Wochen, und wir erzählen gern von diesem Urlaub im Paradies. In Manila lernten wir den Besitzer kennen: einen erfolgreichen deutschen Geschäftsmann, der mit einer Filipina verheiratet ist. Von ihm mieteten wir uns für 50 Dollar pro Tag in eine Ferienhausanlage ein, die lediglich aus drei Bungalows besteht, die mit Materialien aus dem Urwald gebaut wurden. Schon die Reise nach Capsalay war ein Abenteuer.

Die erste Etappe legten wir mit der Privatmaschine des japanischen Ferienclubs El Nino von Manila aus zum Nordzipfel der lang gestreckten Insel Palawan zurück. Dort wartete eine viersitzige Cessna, die uns in das Zentrum von Palawan nach Roxas brachte. Erst verjagte der Pilot im Tiefflug Kühe von der Piste, dann ließ er nach der Landung die Motoren weiterlaufen, während wir ausstiegen und unser Gepäck entluden. Andernfalls wären die Räder der Maschine in den morastigen Boden eingesunken.

Von der Piste in Roxas ging es in einem Jeepney weiter, einem jener bunten, offenen Vehikel, die das Haupttransportmittel der Philippinen darstellen. Nach 40 Kilometer Fahrt über das gebirgige Rückgrat von Palawan hielten wir in der weitgeschwungenen Bucht von Barton. Noch einmal mussten wir umsteigen, in eine Banka, eines der in der Südsee üblichen Auslegerboote. Nach einer weiteren Stunde hatten wir endlich Capsalay erreicht. Kein Plakat, keine noch so kitschige Beschreibung kann wiedergeben, wie herrlich uns dieses Südseeparadies vorkam. Weißrosa der Korallensand, der in ein ruhiges lauwarmes Meer übergeht, das in allen Farben von Türkisgrün bis Azurblau reflektiert. Die Kokospalmen neigen sich schräg über den Sand zum Meer, spenden zusammen mit Kasuarinen Schatten.

Wir waren die einzigen Feriengäste, umsorgt von Rosita, einer resoluten, aber herzlichen Enddreißigerin, die das Dutzend Personal befehligte, das für unser Wohlergehen zuständig war. Die Wünsche wurden uns von den Lippen abgelesen: Zum Frühstück stand der Tisch direkt am Meer, abends in der Nähe des Haupthauses. Gekocht wurde, was wir uns wünschten oder was das Meer gerade hergab. Nach Sonnenuntergang brannten noch eine Weile die Petroleumlampen, bevor uns der Sternenhimmel des Südens und die Geräusche einer unendlich weiten Natur umgaben.

So erzählen wir sie gern, die Geschichte von unserem Urlaub, den wir allein im Paradies verbrachten. Die Geschichte ist sogar wahr – jedenfalls glauben wir auch schon selbst daran, so oft haben wir sie wiederholt und andere damit neidisch gemacht. Und wenn wir sie vor unseren Zuhörern ausbreiten, dann besteht eine stillschweigende Übereinkunft zwischen meiner Frau und mir, uns diese Erinnerung so zu erhalten, wie wir sie gern hätten, und ohne dass wir je darüber gesprochen hätten, wissen wir, dass wir nicht die ganze Wahrheit erzählen. Aber unsere Wunschvorstellung nach diesem Stück Paradies ist so groß, dass wir die Realität ausblenden, und unsere Erinnerung an Capsalay ist immer noch so positiv, dass wir regelrecht Sehnsucht haben nach Capsalay, nach jener verlogenen Welt.

Die Realität: Nachdem wir ausgeschlafen hatten, machten wir entlang der etwa zwei Kilometer langen Bucht einen ersten Spaziergang. Wir waren noch nicht weit gekommen, als ein halb umgestürzter Stacheldrahtzaun unseren Weg behinderte. Davor stand sogar ein Wachmann mit einer Flinte. Er gehörte zum Personal unserer Ferienanlage. Auf unsere Frage, was hier los sei, antwortete er, wir könnten ruhig weitergehen, er müsse nur aufpassen, dass niemand das Grundstück betrete. Die Menschen hinter dem Stacheldrahtzaun seien Landdiebe und würden bald verjagt. Ungefähr 200 Meter weiter lichtete sich die Bepflanzung, und eine zweite Ferienanlage mit fünf einfachen, reisstrohgedeckten Hütten und einem offenen, geschmackvoll eingerichteten Restaurant kam zum Vorschein. Eine Italienerin, Mitte vierzig begrüßte uns, froh, Europäer zu treffen. Sie erzählte uns ihre Version vom Paradies.

Sie hatte zusammen mit ihren beiden Schwestern einen gut gehenden Textilbetrieb in Norditalien geerbt. Da die drei aber weder etwas vom Geschäft verstanden, ihnen auch sonst der Sinn für ein bürgerliches Leben abging, entschlossen sie sich, in der Südsee eine Insel zu kaufen. Ihr Globetrotterleben endete auf Capsalay, wo sie sich spontan in die Insel und die Vorstellung verliebten, hier eine kleine Ferienanlage zu bauen und so die nächsten Jahre das Leben zu genießen. Zudem hatte die jüngste Schwester mittlerweile auch ein Kind geboren, das sie alle gemeinsam großziehen wollten. Als Eigentümer von Capsalay wurde ihnen vom Distriktgouverneur ein Großgrundbesitzer genannt, der viele Millionen damit verdient, dass er systematisch den Urwald von Palawan illegal abholzt und nach Japan verkauft. Schnell wurden sie sich handelseinig. Für 100000 US-Dollar wurden sie ins Grundbuch als Eigentümer der Westseite von Capsalay eingetragen.

Das Problem: Derselbe Großgrundbesitzer hatte die Westküste auch schon dem deutschen Geschäftsmann verkauft. Die Grundbucheintragungen wiederum waren so schlampig erfolgt, dass die Eigentümerfrage offen blieb. Der Deutsche war jedoch im Vorteil: Er hatte eine Filipina zur Frau, und die darf Land in den Philippinen besitzen, während Ausländern wie den Italienerinnen höchstens Pachtrechte zugestanden werden.

Im Grunde genommen war für beide Platz. Die Feriensiedlungen lagen so weit auseinander, dass selbst musikalische Klänge beider Parteien von den Palmen dazwischen geschluckt wurden. Doch anstatt sich zu arrangieren, begann ein erbitterter Kleinkrieg, in dem der Deutsche der Angreifer, die Italienerinnen die Verteidiger waren. Da wurde schon mal eine Hütte abgebrannt, mit Stöcken aufeinander losgeschlagen, der Stacheldrahtzaun gebaut und Wachen aufgestellt. Unser Vermieter hatte sogar an jedem Baum ein Warnschild angebracht, auf dem er androhte, auf jeden zu schießen, der sich seiner Anlage unberechtigt nähert.

Natürlich wollten wir auch wissen, wie es auf der anderen Seite der Insel aussah. Also sind wir den ungefähr 50 Meter hohen Hügel hinaufgeklettert und stießen oben auf dem Kamm ebenfalls auf Stacheldraht und einen Zaun mit einer Tür. Während »unsere« Seite dicht bewachsen und grün war, blickten wir auf der anderen Seite auf ein Dorf und eine Bucht hinunter, in der es keinen Baum und keinen Strauch mehr gab. Schätzungsweise 200 Filipinos lebten da zusammen mit ihren Schweinen und Ziegen. Diese etwa zwei Kilometer lange und höchstens 300 Meter breite Insel war also dreigeteilt: in je eine deutsche und italienische grüne Westhälfte und in eine braune, mit Exkrementen besudelte Bucht im Osten.

Die Verwalterin unserer Anlage verteidigte die strenge Abgrenzung von den Einheimischen. Früher war Capsalay unbesiedelt. Vor etwa zehn Jahren siedelten sich dann die heutigen Bewohner aus den Zentralphilippinen an. Der Großgrundbesitzer beschäftigte sie als Holzfäller, bezahlte so gut wie nichts. Dafür durften sie auf der Insel wohnen, wo sie gleich mit der Produktion von Kindern anfingen. In nur zehn Jahren haben sich die Einwohner des Dorfes von 20 auf 200 vermehrt – eine alltägliche Geschichte auf den Philippinen. Je ärmer die Leute sind, desto mehr Kinder haben sie, und desto tiefer dringen sie mittlerweile auch in jeden noch so abgelegenen Landstrich vor.

Kaum hatten die Siedler auf Capsalay die ersten Hütten errichtet, so begannen sie damit, die Bäume zu fällen und daraus Holzkohle zu machen. Nach den Bäumen hackten sie die Sträucher und Mangroven ab. Danach versiegte das Grundwasser. Die Siedler kamen über den Hügel und holten auf der grünen Seite Wasser. Doch als sie auch noch anfingen, heimlich Büsche und Bäume zu fällen, ließ der deutsche Besitzer den Stacheldrahtzaun errichten, und der Hügelkamm wird nun wie eine Grenze streng bewacht. Die Dorfbewohner müssen jetzt ihr Frischwasser mit dem Boot von der Hauptinsel Palawan holen. Da die Zahl der Kinder immer weiter steigt, das Einkommen aber eher sinkt, weil der Urwald in der Region bald abgeholzt ist, fingen die Siedler an, mit Dynamit das Meer leer zu fischen.

Unser kleines Paradies, die Insel Capsalay – ein Spiegelbild fast aller Konflikte, die heute unsere Welt beherrschen: Da sind die finanziell gut versorgten Europäer, die trotzdem aufeinander losgehen, weil einer dem anderen die Butter auf dem Brot nicht gönnt; da sind der Bevölkerungsdruck und die Dummheit in der Dritten Welt, die die natürlichen Ressourcen unseres Globus überstrapazieren; und da sind die korrupten Verwaltungen und Großkapitalisten, die sich einen Dreck um Gesetze und die Zukunft der Menschheit kümmern, sondern Konflikte noch schüren, weil sie sich dann umso ungenierter bereichern können.

Wann immer wir von Capsalay und unserem Urlaub in der tropischen Südseeidylle erzählen, blenden wir die Wirklichkeit einfach aus. Es ist, als ob wir uns irgendwo ein Stück Paradies malen wollen, das jenseits der Realität dieser Welt existiert. Die unberührte, intakte Wildnis mit den edlen, von der Zivilisation noch nicht verdorbenen Wilden – sie ist ein Zerrbild, und sie ist es schon immer gewesen. Jean-Jacques Rousseau hat sie uns vorfantasiert, und vielleicht war er damit deshalb so erfolgreich, weil wir alle irgendwie so ein Stück heile Welt brauchen, um nicht an der Realität zu verzweifeln.

2. Alltagslügen

An nasskalten Novembertagen, wenn die Recherchen zu den nächsten Filmen wieder einmal die Lügengebäude der Tagespolitik aufdecken, wenn Ehrenworte und Ehrenerklärungen entlarvend zeigen, wie unehrenhaft unsere Elite ist, wenn die Gutmenschen auf ihrem verlogenen Moralschleim ausrutschen, dann sehne ich mich nach meiner verlogenen Welt, jenem Trugbild in der Südsee namens Capsalay. Allein die Vorstellung, es gebe so eine heile Welt, macht dann die Realität erträglicher.

Wenn sich aber eine ganze Nation auf die Flucht begibt, sich eine Welt vorgaukelt, die es so nicht gibt, sich vor Realitäten und Wahrheiten drückt, weil sie zum Umdenken zu bequem ist, wenn eine ganze Nation sich in einer Wunschwelt verliert, sich nach einer verlogenen Welt sehnt, dann steuert sie auf einen Crash zu. Kapitalvernichtung und Kriege sind die Folge unvernünftigen Handelns, das Ergebnis von Wunschdenken und Wahnvorstellungen. Der Zusammenbruch eines Staates erfolgt, wenn die Sehnsüchte nach der verlogenen Welt an der Realität zerschellen.

Wunschvorstellungen und Wirklichkeit klaffen in unserem Land gefährlich auseinander. Unser Volk der Dichter und Denker – ein Volk der Schlächter und Henker. Die Deutschen, sauber, fleißig und ehrlich – Deutschland: graffitiverschmiert, voller Schwarzarbeiter und Politikskandale. Die Bundesrepublik Deutschland – ein weltweit gelobtes Modell der sozialen Marktwirtschaft. Die Bundesrepublik Deutschland – hoch verschuldet, vom Fiskalsozialismus und von einer übermächtigen Bürokratie erdrückt. Deutschland – noch immer ein Staat, der eher auf die Obrigkeit setzt als auf die Eigenverantwortung.

Doch stimmt es nicht, dass Deutschland immer noch zu den führenden Wirtschaftsnationen der Welt gehört – und wir vor allem Weltmeister im Nestbeschmutzen und Jammern sind? Ja, auch das stimmt. Doch Deutschlands Anteil an der Weltwirtschaft sinkt drastisch. Der Trost, dass es Albanien schlechter geht, hilft uns nicht: Die Albaner erwarten auch nicht von ihrem Staat unsere Sozialleistungen.

Zugegeben: Es ist für den Einzelnen nicht leicht herauszufinden, ob er gerade von einer Stimmungsmache missbraucht wird oder ob er nicht doch das Richtige tut. Die große Bereitschaft der Deutschen, Gutes zu tun, wird bei jeder Katastrophe auf der Welt deutlich, für die in den Fernsehsendern zu Spenden aufgerufen wird. Jedes Mal kommen da enorme Summen zusammen, und kaum jemand will wissen, wie effizient sie eingesetzt werden. Von Berichten über Schlampereien, Veruntreuung und Inkompetenz der Hilfsorganisationen wollen die Spender gar nichts wissen. Die Menschen wollen helfen – basta.

So fließen die Gelder dorthin, wo die Fernsehkameras stationiert sind, das Unglück zu Hause im Wohnzimmer erlebbar wird. Wir alle haben tagelang mitgelitten, als die Fluten in Mosambik stiegen, und mitgezittert, wenn die Hubschrauberpiloten die verängstigten Menschen von den Bäumen retteten. Bundesgrenzschutz und Bundeswehr wurden mobilisiert, öffentliche und private Gelder zur Verfügung gestellt. Nur tausend Kilometer entfernt litten die Menschen in Madagaskar unter den gleichen tropischen Stürmen, hatten ähnliche Verwüstungen zu beklagen, und nur die Franzosen halfen ihnen, der Rest der Welt hat das überhaupt nicht mitbekommen.

Wir alle haben auch schon von der Aids-Katastrophe gehört, die in Afrika wütet. Sie beunruhigt auch die Menschen in Europa. Aids-Benefiz-Veranstaltungen finden ein großes Echo, die Prominenz kommt zusammen, wird gesehen und spendet Milliardensummen vor allem für die Forschung. Die kleine rote Schleife am Revers drückt die eigene Verbundenheit mit den Opfern aus. Aids wird als eine die Welt bedrohende Seuche wahrgenommen.

Aids, das ist die Krankheit, die auch vor den Reichen und Schönen nicht Halt macht. Aber sie fordert längst nicht so viele Opfer und richtet längst nicht so verheerende wirtschaftliche Schäden an wie Malaria – die Krankheit der Armen in der Dritten Welt.

Die Weltgesundheits-Organisation schätzt, dass 500 Millionen Menschen von Malaria befallen sind, also etwa zwanzigmal so viele wie von Aids. 90 Prozent davon leben südlich der Sahara in Afrika. In einer Studie wird der wirtschaftliche Schaden, den die Malaria in 15 Jahren in den 31 am meisten betroffenen afrikanischen Staaten angerichtet hat, auf 74 Milliarden Dollar geschätzt. Gabun allein hat 17 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts verloren. Aber in die Malaria-Forschung werden knapp fünf Prozent der Mittel gesteckt, die der Aids-Forschung zur Verfügung stehen. So orientiert sich auch der medizinische Fortschritt nicht an der Zahl der Opfer, denen geholfen werden könnte, sondern an dem Berühmtheitsgrad der potenziellen Opfer. Wie wäre es einmal mit einer Malaria-Gala, an der alle Hollywood-Größen umsonst teilnehmen? Ich fürchte, das würde genauso ein Reinfall wie eine solche Veranstaltung in Berlin mit deutscher Prominenz. Aids ist nah, Malaria weit weg.

Wir sehnen uns regelrecht nach Nachrichten, die beruhigend wirken – und seien sie noch so verlogen. Jeden Monat zum Beispiel wird in Nürnberg die neueste Arbeitslosenstatistik verkündet. Eine Zeremonie, zelebriert durch die Herren der Zahlen. Je mehr Arbeitslose es gab, desto bedeutender wurde das Nürnberger Hochamt: zuerst dargeboten durch Josef Stingl, dann durch Heinrich Franke und jetzt durch Bernhard Jagoda. Und alle drei machen den Eindruck, als beglückten sie ihre Arbeitslosen, damit ihnen nur keiner verloren gehe. Und was teilen sie uns da mit? Alles, nur nicht die Zahl der Menschen, die in Deutschland einen Arbeitsplatz suchen. Trotzdem überschlägt sich Monat für Monat das politische Deutschland, wenn es darum geht, diese Zahlen zu kommentieren. Die jeweilige Regierung des Bundes und der Länder redet die Zahlen dann schön, und die jeweilige Opposition wirft der Regierung schlimmes Versagen vor. So geht das jetzt schon Jahrzehnte.

Die Industrie- und Handelskammer Hamburg hat für ihr Gebiet die Situation der rund 75000 gemeldeten Arbeitslosen genauer untersucht. Sie kam zu dem Ergebnis, dass ein Drittel der Registrierten überhaupt nicht mehr dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht, weil sie hier nur im Vorruhestand geparkt sind, oder es handelt sich um Personen, die gerade ihren Job verloren haben und kurzfristig bis zum Antritt der neuen Stelle eine Auszeit nehmen. Dieses Drittel kann und will also nicht vermittelt werden. Ein weiteres Drittel denkt gar nicht daran, eine der angebotenen Stellen anzunehmen, weil die Betreffenden schon einen festen Arbeitsplatz in der Schwarzarbeit AG haben und es sich für diese Personengruppe nun wirklich nicht lohnt, eine reguläre Beschäftigung mit Sozialabgaben anzutreten, bei der im Endeffekt weniger Geld auf der Hand bleibt, als sie jetzt verdienen.

Diese Beobachtung ist ziemlich genau auf das ganze Bundesgebiet hoch zu rechnen. Der Wert der Schwarzarbeit in Höhe von zirka 650 Milliarden Mark ergibt, auf Beschäftigungsverhältnisse umgerechnet, rund 800000 Vollzeit-Arbeitsplätze. Die werden aber bei der Nürnberger Trauerveranstaltung immer noch als arme Arbeitslose mit vermeldet.

Nur ein Drittel, so die Hamburger Ergebnisse, ist wirklich arbeitslos und sucht dringend einen Job. Um dieses Drittel müsste sich die Bundesanstalt für Arbeit mittels gezielter Maßnahmen kümmern. Aber durch die Massen, die verwaltet werden müssen, versickern viele der Milliarden Mark, die Nürnberg unters Volk verteilt, ohne den Arbeitsmarkt zu entlasten. Während uns also auf der einen Seite Arbeitslose gemeldet werden, die es gar nicht gibt, wissen wir nicht, wie viele Menschen bereit wären, einen Job anzunehmen, aber den Weg zum Arbeitsamt scheuen, weil sie entweder nicht berechtigt sind, Leistungen zu erhalten, oder die Behörde als ineffizient ansehen und sich deshalb selbst um eine neue Arbeitsstelle kümmern.

Zur Beurteilung der Situation auf dem Arbeitsmarkt ist aber die Zahl der Beschäftigten zumindest ebenso wichtig wie die Zahl der Arbeitslosen. So nahm die Zahl der Beschäftigten von 1991 bis 1998 um 1,5 Millionen ab und ist seitdem langsam wieder angestiegen. Aus den Statistiken lässt sich weiterhin erkennen, dass die Beschäftigtenquote in Ostdeutschland durchaus dem europäischen Durchschnitt entspricht. Im Bereich der Industrie- und Handelskammer Suhl in Südthüringen haben von je 100 Menschen im beschäftigungsfähigen Alter genauso viele einen Job wie im Bereich der IHK München. Doch während München mit 5,1 Prozent Arbeitslosigkeit fast Vollbeschäftigung meldet, sind es in Suhl immer noch 15 Prozent.

Monat für Monat wird verschwiegen, dass die hohe Arbeitslosigkeit im Osten unter anderem daraus resultiert, dass im Kommunismus die Beschäftigungsquote auf Teufel komm raus hochgetrieben wurde. Arbeitslosigkeit wurde staatlich beseitigt. Die Folge: Nach der Wiedervereinigung haben wir jetzt hunderttausende schlecht qualifizierte und mittlerweile ältere Mitbürger, die in unserem Lohnniveau keine regulär bezahlte Arbeit mehr finden können. Sie sind nicht Opfer der Marktwirtschaft, wie es gern von PDS, Arbeitsloseninitiativen und Gewerkschaftern hingestellt wird. Sie sind Opfer eines Systems, das seine Menschen in Grund und Boden gelogen hat. Und es wird weitergelogen: Im IHK-Bezirk Suhl fehlen 3000 Arbeitskräfte in der Metallindustrie. Aber das Arbeitsamt Suhl war nicht bereit, sich zu dem Missverhältnis zwischen hoher Arbeitslosenzahl und gleichzeitigem Arbeitskräftemangel zu äußern. Die 700 Mitarbeiter im neuesten Gebäude von Suhl verwalten ihre Zahlen, und ihre persönliche Bedeutung ist umso größer, je höher die Quote ausfällt. Das »A« für Arbeitsamt steht dort für »A« wie Armutszeugnis.

Die hohe Zahl der nichtqualifizierten Arbeitslosen im Osten, darunter überproportional viele Frauen, könnte ohne Probleme beseitigt werden: Wir führen wie zu DDR-Zeiten wieder Arbeitszwang ein, bieten einfache Montagejobs an, etwa auf dem Lohnniveau, wie es in Polen oder Tschechien üblich ist, und schon werden die Arbeitslosenstatistiken auf Null absinken. Aber so etwas tun wir nicht – also bezahlen wir an Arbeitslosen- und Sozialhilfe etwa das Vierfache dessen, was ein Arbeiter in Polen und Tschechien verdient, dafür, dass der Ostdeutsche nichts tut. Das ist nun wirklich nicht unsozial.

Die ständige Forderung der sozialistischen Unbelehrbaren, der Staat müsse für Arbeitsplätze sorgen, würde nur noch mehr Menschen in jene Arbeits- und Lebensverhältnisse stürzen, mit denen sich die im kommunistischen Wirtschaftsblock fast alle abfinden mussten. Deren Errungenschaften: eine Dreiraumwohnung in der Platte, ein Trabi vor der Tür und Urlaub in einem vergammelten FDGB-Heim – so etwas können sich heute sogar noch Arbeitslose leisten.

Wenn die Nürnberger Zahlen, anders aufbereitet, nicht zum politischen Missbrauch verführen würden, könnte auch jene Transparenz entstehen, die notwendig wäre, um das Problem »Arbeitsmarkt« zu lösen. An Geld mangelt es schon heute nicht. Der Etat der Nürnberger Behörde beläuft sich auf 104,14 Milliarden DM. Doch dieses Budget wird längst nicht mehr allein von den Versicherten aufgebracht. 7,73 Milliarden DM an Bundesmitteln stecken in dieser Summe, und dafür soll diese Behörde arbeitsmarktpolitische Initiativen ergreifen. Allein 43,4 Milliarden DM gibt sie für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen aus. Damit wird mal mehr und mal weniger nutzlose Beschäftigung finanziert.

Nördlich von Magdeburg, so war im Stern zu lesen, halten dafür ausgewachsene Männer nach Großtrappen Ausschau, jenen Steppenvögeln, die 60 Kilometer entfernt ein Schutzgebiet haben, oder sie bauen und pflegen Fahrradwege, die niemand benutzt. Diese ABM-Maßnahmen verringern aber die Arbeitslosenstatistik um 218000 Personen. So wird die Regierung tatsächlich in die Lage versetzt, die Nürnberger Zahlen entsprechend zu manipulieren. CDU und SPD sind beide schon dieser Versuchung erlegen und betreiben damit PDS-Politik. Die behauptet nämlich, der Staat muss die Arbeitsplätze schaffen – und das führt immer zum gleichen Ergebnis: Der Arbeitsmarkt wird außer Kraft gesetzt und kollabiert.

Jene gebetsmühlenartig wiederholte Floskel, die Arbeitslosigkeit sei eine Folge der Rationalisierung und in einem hochentwickelten Industrieland unvermeidbar, wird gerade in den USA und vielen unserer Nachbarstaaten Lügen gestraft. Unsere Arbeitslosigkeit beruht darauf, dass wir den Arbeitsmarkt zerstört haben. Angebot und Nachfrage finden nicht mehr zueinander. Das beweist die Diskussion um den Mangel an Computerfachleuten. Doch ich kenne genauso viele Unternehmer, die einfache, ungelernte Lagerarbeiter und gut ausgebildete Fachkräfte suchen wie IT-Spezialisten. Die verlogene Diskussion über unseren Arbeitsmarkt wird in diesem Buch immer wieder zur Sprache kommen, denn die Arbeitslosigkeit ist ein Ergebnis unserer Furcht vor Freiheit, Markt und Eigenverantwortung.

Die Dänen, die sicher nicht autoritärer oder kapitalistischer Tendenzen verdächtigt werden können, haben mit einer schlichten Bestimmung die Schmarotzer aus ihrer Statistik vertrieben: Erwachsene, die innerhalb eines Jahres keinen Job finden, bekommen einen Arbeitsplatz zugeteilt, Jugendliche müssen schon nach einem halben Jahr antreten. Die Dänen sagen: Solidarität ist keine Einbahnstraße. Doch für Bernhard Jagoda, den Herrn der Nürnberger Zahlen, ist das ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte, der niemandem zugemutet werden kann. Genau so wurde die »soziale Marktwirtschaft«, so wie Ludwig Erhard sie verstand, in Deutschland ruiniert.

Nicht minder verlogen ist die allgemein gültige Aussage, wir hätten auf deutschem Boden noch nie soviel Freiheit wie jetzt. Zugegeben, freier ging es nur ganz kurz zu, und auch dann nur in Westdeutschland. Das zeigt aber lediglich, in welch erbärmlichem Zustand sich unser Vaterland durch die Geschichte quält. Zurzeit ist vor dem Bundesverfassungsgericht zum zweiten Mal eine Musterklage anhängig, ob es dem Staat erlaubt ist, seinem Bürger mehr als 50 Prozent seines Einkommens abzunehmen. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht dies schon einmal verneint, aber das hat den obersten Finanzgerichtshof keineswegs daran gehindert, diese Entscheidung nicht nur zu ignorieren, sondern ihr in einem eigenen Urteil auch einfach zu widersprechen. Juristen sehen in diesem Grundsatzstreit einen Anschlag auf die Grundfesten unserer Demokratie: Es muss geklärt werden, ob sich eine Verwaltung über die Verfassung stellen kann. Hier hat die Finanzverwaltung ihre hässliche Fratze gezeigt. Sie geht immer noch von einem Untertanen aus, der zum Wohle des Staates ausgeplündert werden darf.

Längst hat sich die Steuer- und Abgabenlast auch für einen Arbeitnehmer auf mehr als 50 Prozent seines Bruttoeinkommens ausgedehnt. Meisterhaft verstehen es die Politiker dabei, ihre Wähler zu belügen. Sie senken die direkten Steuern und erhöhen dafür die indirekten Steuern, sie erheben Ökosteuern, um damit Renten zu finanzieren, erhöhen die Gebühren für Dienstleistungen der Verwaltung, ohne dass diesen irgendwelche Kostenrechnungen zugrunde liegen. Sie zwingen alle Stromkunden, zum Beispiel extrem teuren Wind- und Sonnenstrom zu bezahlen. Sie greifen mit einer überbordenden Gesetzesflut in den Markt zu Lasten des Bürgers ein, sodass dieser eigentlich nicht mehr feststellen kann, was sein und was des Staates ist.

Es war schon einmal besser. Zu Ludwig Erhards Zeiten betrugen die Abzüge eines Facharbeiters für Steuern und Sozialabgaben rund zehn Prozent. Und zumindest für seine Renten- und Krankenversicherungsbeiträge konnte er noch eine entsprechende Leistung erwarten. Alles vorbei. Auf mehr als 60 Prozent haben wir die Steuern und Zwangsabgaben eines Facharbeiters errechnet. Um diese Form des Unwohlfahrtsstaates zu verschleiern, hat Deutschland einen einzigartigen Eintrag ins »Guinness-Buch der Rekorde« verdient. Zwei Drittel aller in der Welt veröffentlichten Lektüre zum Thema Steuern sind nötig, um unser Steuerrecht zu erklären. Da finden sich nur noch hochbezahlte Spezialisten durch, die sich lediglich die Besserverdienenden leisten können. So spiegeln die beiden großen Volksparteien dem Bürger vor, dass sie im Namen der sozialen Gerechtigkeit Steuern und Sozialabgaben einnehmen, und betreiben in Wirklichkeit eine kontinuierliche Enteignung der unteren und mittleren Einkommensschichten zugunsten der Subventionsempfänger.

In einem freien Staat sollte es möglich sein, dass ein durchschnittlich begabter Bürger mit einem durchschnittlichen Aufwand seine Steuererklärung selbst erstellen und hinterher den Steuerbescheid auch lesen kann. Doch das total verregelte Steuerrecht, das sich im Jahresrhythmus ändert, macht aus jedem Bürger einen potenziellen Steuerkriminellen, ohne dass er dafür etwas kann. Um mit seinem Staat zu verkehren, ist er auf Dolmetscher angewiesen, jene Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, denen, wie im chinesischen Kaiserreich den Mandarinen, eine Schlüsselstellung eingeräumt wurde. Die üben sie mehr schlecht als recht aus und dürfen dafür ihre Klienten nach üppigen Gebührenordnungen abkassieren. Eine freiheitliche Demokratie ist das, was wir haben, nicht – es ist ein obrigkeitsorientierter Steuerstaat mit Meinungsfreiheit und Wahlrecht. So bescheiden sind wir Deutsche, dass wir ein solches Gebilde als den freiesten Staat bezeichnen, den es je in Deutschland gegeben hat.

An unserer Verfassung liegt es nicht, wenn es selbst mit den Grundfreiheiten nicht so gut bestellt ist, wie sie eigentlich im Grundgesetz verankert sind. Wie schon gesagt: Das Verfassungsgericht ist gefragt, um wenigstens die »Hälftigkeit« des Besitzes vor der gierigen Verwaltung zu schützen, und bezüglich des Wettbewerbsrechts und der freien Berufswahl sind ebenfalls Grundsatzentscheidungen der Karlsruher Richter fällig, wie ich noch ausführlich in den Kapiteln 18 und 19 begründen werde.

Die Herren in den roten Roben haben dabei oft das Problem, dass sie in Deutschland einer juristischen Tradition angehören, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg den selbstbestimmten Bürger entdeckt hat, aber noch Hunderte von Gesetzen und Verordnungen in Kraft sind, die aus autoritären Zeiten stammen, von denen sich gerade Juristen immer wieder angezogen fühlen. Es gibt kaum einen Berufsstand in Deutschland, der sich so wenig mit seiner furchtbaren Vergangenheit auseinander gesetzt hat wie die Juristen. Das trifft auch wieder auf DDR-Juristen zu, von denen einige schon wieder recht gut mit unserer gelebten Verfassungswirklichkeit auskommen.

Es liegt auch nicht an unserer Verfassung, wenn wir, vorsichtig formuliert, mit sehr schrägen Argumenten Grundsatzdebatten führen wie zum Beispiel über die Reform der Bundeswehr. Die meisten Leser werden sich noch erinnern, mit welch abschätzigen Beschimpfungen die Wehrdienstverweigerer an den öffentlichen Pranger gestellt wurden. Unwürdige Gewissenserforschung, undurchsichtige Entscheidungsspielräume und öffentliche Missachtung sollten die jungen Männer zum Wehrdienst bekehren. Davon möchte heute natürlich niemand mehr etwas wissen. Der GAU, also die größte anzunehmende Katastrophe für die Debatte um ein Berufsheer oder die Notwendigkeit der Wehrpflicht, bestünde darin, wenn alle Wehrpflichtigen ihren Dienst bei der Bundeswehr tatsächlich antreten wollten. Es wäre das Ende der Wehrpflicht, was immer Politiker aller Schattierungen heute noch verkünden. Das wissen sie ganz genau, und deshalb werden die Zahlen verschleiert und so durcheinander gerechnet, dass die einfache Relation zwischen den männlichen Jugendlichen pro Jahrgang und den im Endeffekt Wehrdienstleistenden nicht mehr nachvollziehbar ist.

Nach vergeblichen Versuchen, vom Verteidigungsministerium die entsprechenden Auskünfte zu erhalten, habe ich die Zahlen der Zentralstelle im Schnitt der letzten Jahre der Kriegsdienstverweigerer übernommen. Demnach gibt es pro Jahrgang 430000 junge Männer, von denen allerdings 60 200 nicht wehrdienstpflichtig sind. Für weitere rund 40000 gelten gesetzliche Ausnahmen. Von den dann noch 328800 verweigern 140500 den Wehrdienst, verbleiben also 188300 für den Dienst in der Bundeswehr. Selbst die können nicht mehr alle eingezogen werden. Spätestens nach der Bundeswehrreform haben dann nur noch 103000 einen Platz in der Kaserne. Ohne die Wehrdienstverweigerer wäre das ein so grober Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip, dass selbst die heftigsten Befürworter der allgemeinen Wehrpflicht aufgeben müssten.

Die massenhafte Wehrdienstverweigerung wird also vorausgesetzt, um den Wehrdienst rechtfertigen und aufrechterhalten zu können: Eigentlich ist das keine schräge Diskussion mehr – wohl eher schon eine heftig verlogene Debatte. Die Berechnungen, ob ein Berufsheer billiger sei als eine gemischte Armee, dienen da doch wohl eher als Nebelkerzen. Für jeden Standpunkt müssen Zahlen herhalten. Bei den Recherchen zu diesem Thema habe ich alles gelesen: Die einen behaupten, eine Berufsarmee verursache Mehrkosten, die anderen errechnen bis zu 13 Milliarden Mark Einsparungen – und immer waren es angeblich Fachleute, die da gerechnet haben.

Bleiben wir aber bei den Wehrdienstverweigerern. Was haben wir für ein Sozialsystem, das darauf aufgebaut ist, dass sich genügend männliche Jugendliche finden, die den Dienst an der Waffe verweigern! Allein schon diese Schräglage sollte ausreichen, den Wehrdienst sofort abzuschaffen. Forderungen, wie sie der Malteser-Hilfsdienst erhebt, die Zwangsrekrutierung durch eine Dienstverpflichtung aller Jungen und Mädchen zu ersetzen, erinnern fatal an einstige deutsche Pflichteinsätze zum Wohl des Vaterlandes. Schon die jetzt gültigen Gesetze verzerren den Wettbewerb in der Pflegeindustrie und drücken die Gehälter der dort Vollzeitbeschäftigten. Das soziale Pflichtjahr würde endgültig den mitmenschlichen Umgang in einer zivilen Gesellschaft verstaatlichen – Hitler lässt grüßen. »Der Zivildienst ist längst zum Ausfallbürgen im Gesundheitswesen geworden«, spöttelt Rezzo Schlauch, der Fraktionsvorsitzende der Grünen.

Es ist nicht wahr, dass für alte Leute kein Essen mehr ausgefahren würde, dass an den Rollstuhl gefesselte Menschen nicht mehr betreut würden, weil das alles unbezahlbar würde. Solche Aussagen implizieren, dass ein freiheitlicher Staat nicht in der Lage wäre, die Grundwerte einer sozialen Gesellschaft zu sichern, auch Deutschland nicht, mit seinem Bruttosozialprodukt von 3,6 Billionen Mark. Das ist natürlich Humbug. Eher stimmt das Gegenteil. Unser jetziges Grundwerteverhalten ist ein Skandal.

Wir geben 1,2 Billionen DM, also ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts, für »Soziales« aus, und nur mit Wehrdienstverweigerern gelingt es, die Mindestansprüche an ein menschliches Zusammenleben auch der Alten und Kranken zu erfüllen. Abgesehen davon, dass jetzt schon fünfzehnmal mehr Angebote für freiwillige soziale Hilfe bei den entsprechenden Trägerorganisationen eingehen, als diese annehmen können. Diese Zahl errechnete Dietmar von Boetticher von der Universität Bonn und kommt zu dem Schluss, dass sich die Umwandlung der Zivi-Plätze in 90000 reguläre Arbeitsplätze volkswirtschaftlich positiv in den Bilanzen niederschlagen würde.

Auch Lothar Späth hat mit seinem Vorschlag den Kern des Problems getroffen: Zehntausender junger Männer müssen in ihren produktivsten Jahren zehn Monate durchs Gelände robben oder als angelernter Hilfsleistender Öko- und Altendienste verrichten, wo sie doch aufnahmefähig genug sind, sich der schnelllebigen Arbeitswelt anzupassen. Gleichzeitig haben wir, vor allem im Osten, Zehntausende älterer Langzeitarbeitsloser, darunter viele Frauen, die durchaus in der Lage wären, alte und kranke Menschen zu betreuen. Auch für diese soziale Grundausstattung eines Staates gilt: Durch einen offenen Arbeitsmarkt, durch Wettbewerb unter den Trägern und durch eine Kultur der Eigenverantwortung auf allen Ebenen wird eine bessere Versorgung der Hilfsbedürftigen sichergestellt als durch zwangsrekrutierte Unfreiwillige, die von Quasi-Monopolen mit Heiligenschein billig eingesetzt werden. Dafür kassieren sie auch noch hohe Gebühren vom Staat. Die Kosten allerdings, die weder durch private noch öffentliche Versicherungen trotz eines funktionierenden Wettbewerbs nicht abgedeckt sind, müssen aus einem transparenten, steuerfinanzierten Sozialetat finanziert werden. Diese Milliarden hat eine so große, ökonomisch richtig gelenkte Volkswirtschaft wie die unsrige immer übrig: wenn sie den Bedürftigen helfen will.

Eine Gruppe, die sich ansonsten in alles einmischt, was irgendwie auch nur annähernd menschliche Wesen betrifft, bleibt in der ganzen Wehrpflicht- und Zivildienstdebatte erstaunlich ruhig: die Berufsemanzen. Nun hat sich ja eine mutige junge Frau namens Tanja Kreil erfolgreich durch alle Instanzen geklagt und erreicht, dass Frauen zu jeder Waffengattung zugelassen werden müssen – eine logische Entscheidung nach all den Kampfjahren um absolute Gleichberechtigung. Doch selbst Alice Schwarzer hat nach diesem Urteil nicht gefordert, jetzt endlich auch die Wehrpflicht auf die Frauen auszudehnen. Irgendwie verstehe ich die Logik nicht mehr: Frauen müssen zwar für alle Waffengattungen angenommen werden, sind aber zum Wehrdienst nicht verpflichtet. Die Männer müssen sich für alle Waffengattungen bereithalten, können aber auch zu sozialen Diensten herangezogen werden. Die Wehrpflicht – ein weites Feld für die Scheinheiligen vieler Glaubensgemeinschaften.

Eine im Kampf um die Emanzipation schon fast ergraute Mittvierzigerin schleuderte mir auf die Frage nach dem Wehrdienst für Frauen entgegen, dass die Frauen durch das Kinderkriegen schon genug Zeitverluste in Kauf nehmen müssten. Die Wehrpflicht sei dafür ein Ausgleich. Sie selbst jedoch hatte keine Kinder und war damit ein lebendes Beispiel für die Scheinheiligkeit ihres Arguments. Aus der Geburtenstatistik lernen wir, dass heute zirka ein Drittel der Frauen kein Kind mehr bekommen wird. Wie soll das später ausgeglichen werden? In vielen Berufen, insbesondere bei den Medien, ist mittlerweile ein heftiger Verdrängungskampf ausgebrochen, mit der Folge, dass die Männer allmählich um Quotenschutz bitten müssen.