Stefan König, 1959 in München geboren, gilt international als Bergexperte. Er leitet das FILMFEST ST. ANTON (www.filmfest-stanton.at) und hat Sachbücher und Romane zu alpinen Themen geschrieben: unter anderem die Biographie Luis Trenkers »Bera Luis«, die preisgekrönten Erzählungen »Sternstunden des Alpinismus«, den Himalaya-Thriller »Die Nanga-Notizen« und die dramatische Liebesgeschichte »Auf dem hohen Berg«. Stefan König lebt in Iffeldorf (Oberbayern) mit Blick auf die Berge. Im Emons Verlag erschien »Schattenwand«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2010 Hermann-Josef Emons Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Heribert Stragholz
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch, Berlin
eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-86358-030-8
Alpen Krimi
Originalausgabe

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Eine alte Geschichte

Am Morgen des 10. Juli 1974 war der sechsundzwanzigjährige Karl Mannhardt in Mittenwald aus dem aus München kommenden Frühzug gestiegen.

Später sollte sich der Bahnhofsvorsteher an den jungen Mann erinnern, der mit schwerem Rucksack und in Bergstiefeln über den Bahnsteig gestapft war. »Werktags fällt so ein Bergsteiger ja noch auf«, sagte er aus, als die Staatsanwaltschaft der Sache nachging. Zunächst nämlich war die Identität des Opfers nicht zweifelsfrei belegbar gewesen. »Am Wochenend wär er mir net aufgefallen, da kommen ja viele, jeder Zug bringt haufenweis Leut, die wo ins Karwendel oder ins Wetterstein wollen.«

Mannhardt war Schlosser von Beruf, beschäftigt bei MAN in Karlsfeld. Er mochte seine Arbeit, auch wenn er abends immer nach Öl und Schmiere roch und noch in der Unterwäsche die feinen Eisenspäne fand. Viel mehr noch als seinen Beruf, den er profund und mit bestem Abschluss erlernt hatte, mochte er die Berge. Er war alleinstehend, ungebunden, und er ließ kaum einen freien Tag vergehen, an dem er nicht mit der Bahn nach Süden fuhr, den Bergen entgegen, die er so sehr liebte.

Es gab bevorzugte Ziele, er fuhr oft nach Garmisch-Partenkirchen, gern nach Kufstein oder Mittenwald. Bisweilen auch bis Jenbach oder Innsbruck, wo er dann aber umstieg, um noch tiefer in die Zentralalpen zu gelangen. Am liebsten war er allein unterwegs. Ganz allein. Allein mit sich und einer faszinierenden, menschenleeren Natur. Dann musste er mit niemandem reden, musste niemandem zuhören, konnte sich der Stille hingeben, wo es sie gab, oder durfte auf all das hören, was an Geräuschen und Klängen fernab der Zivilisation auf ihn wartete: das Rauschen der Wildbäche, der Wind in den Baumwipfeln, das Glockengebimmle der Bergschafe, das Poltern und Krachen der Steine in einem abgeschiedenen Kar und bisweilen die Rufe einer Seilschaft hoch oben in den Felswänden: »Stand!« – »Seil ein!« – »Kannst nachkommen!« – »Ich komme!«

Selbst das Echo eines Donners konnte ihn erfreuen – wenn das Gewitter nur weit genug entfernt war und sich anschickte, in sicherer Entfernung an seinem Weg vorbeizuziehen.

In Mittenwald wanderte Mannhardt zwischen den Geschäften und Gasthäusern hindurch dem südlichen Ortsrand entgegen. Immer wieder sah er hinauf zum sich linker Hand erhebenden Karwendelmassiv: schroffe Felsen, die Bergstation der Gondelbahn, ein langer Grat. Eindrucksvoller noch aber war gegenüber die Wettersteinspitze, die sich über dichtem Bergwaldgrün erhob und deren Felskanten und in engen Karen eingebettete Schneefelder schon im Licht der Sonne zu leuchten begannen.

Dort, wo eine Straße nach rechts in Richtung Leutasch abzweigte, nahm er den Rucksack von den Schultern und wartete darauf, dass ein Autofahrer anhielt und ihn mitnahm. Lange musste er sich nicht gedulden – er sah ja nicht wie ein Hippie aus, sondern wie ein Bergsteiger: Bergstiefel, Rucksack, Seil darübergehängt. Da hatte niemand Misstrauen.

So gelangte er über den kleinen Grenzübergang nach Tirol.

Dort hatte der an diesem Tag diensthabende österreichische Zollbeamte später Mühe, sich an Mannhardt zu erinnern. Wie auch? Selbst diesen kleinen, eigentlich unbedeutenden Übergang passierten täglich mehrere hundert Fahrzeuge; viele der Bewohner des weiten Leutascher Hochtals arbeiteten in Mittenwald oder Garmisch.

Der Weiler Lochlehn bestand lediglich aus ein paar Häusern. Das ganze Hochtal war durch solche winzigen Orte besiedelt. Überhaupt konnte man leicht die Meinung gewinnen, dass die Menschen, die sich vor Zeiten hier niedergelassen hatten, möglichst viel Abstand zueinander haben wollten. Die Leutascher Ortsteile sahen schon auf der Karte aus, als hätte Gott sie einfach hingeworfen wie eine Handvoll Streusand.

»Wenn Sie mich da bitte rauslassen«, sagte Mannhardt zum Fahrer, während er gleich hinter Lochlehn die Karte, die er auf den Knien hatte, zusammenfaltete. »Hier wäre es gut.«

»Wo wollen Sie denn eigentlich hin?«, fragte der Fahrer. »Zur Meilerhütte?«

Mannhardt nickte. »Zur Meilerhütte und dann weiter«, sagte er und lächelte. »Vielen Dank fürs Mitnehmen.«

Er wuchtete den Rucksack vom Rücksitz des Autos und machte sich auf den Weg, drehte sich allerdings noch einmal um und winkte dem Mann, der ihn mitgenommen hatte.

Das Berglental galt als besonders einsam. Lang und auch mühsam war der Aufstieg zur Meilerhütte. Die wenigen, die diesen Weg nutzten, waren zumeist Einheimische – daheim im Leutaschtal oder in den nahen Orten Mittenwald und Seefeld. Werktags wirkte das Berglental oft wie ausgestorben.

Karl Mannhardt stieg langsam und gleichmäßig bergauf. Der Anfang des Weges war nicht sehr steil, und er führte ihn zwischen blumenreichen Wiesen ganz allmählich aus dem von den Bauern bewirtschafteten Gelände heraus. Darüber tat sich wilde und karge Landschaft auf: ein Tal, das wenig Bäume aufwies, aber viel Fels; wenig Grün, stattdessen steile, unfruchtbare, faszinierende alpine Wüste. Als er etwa eine Dreiviertelstunde lang gegangen war, suchte er sich einen Felsblock, wo er sich setzen und anlehnen konnte, und legte eine Pause ein. Es war ihm heiß geworden vom Gehen, und er hatte Appetit bekommen auf die Brotzeit, die er im Rucksack mit sich trug. Er säbelte dünne Scheiben von einem Stück Hartwurst, schob sich trockenes Brot in den Mund, schälte ein hart gekochtes Ei, trank aus der Thermosflasche Schwarztee, dem er Zucker und einen Schuss Rum beigegeben hatte.

Er hatte den Rastplatz mit Bedacht gewählt: Er wollte nicht nur sitzen, nicht nur verschnaufen, sich nicht nur stärken. Er wollte auch die Aussicht genießen, hinab ins Tal und hinüber zu den gegenüberliegenden Bergen. Schon aus dieser Höhe sah das Tal aus wie die kindlich-künstliche Landschaft einer Modelleisenbahn. Die Häuser waren geschrumpft, die Straße war ein Strich geworden, die wenigen Autos darauf wirkten wie Spielzeug.

Im Osten begrenzten die Arnspitzen das Leutaschtal, und Mannhardt dachte sich, dass es eigentlich ein seltsamer Bergstock war. Nicht zum Karwendel gehörig, aber auch losgelöst vom Wetterstein, stand dieses dreigipfelige Massiv allein zwischen zwei riesigen Gebirgen.

Er packte auch noch seine Rittersport-Schokolade aus, Rum-Trauben-Nuss, und brach sich, gleichsam als Nachspeise, ein Stück davon ab.

Schokolade hatte er immer dabei. Egal, wie voll und wie schwer sein Rucksack auch war. Schokolade war etwas, worauf er nie verzichtete. Daheim aß er gar nicht allzu viel davon. Aber auf seinen Bergtouren hatte er geradezu einen Heißhunger darauf. Und es kam nicht selten vor, dass er am Ende eines Tages, wenn er auf einer Berghütte angekommen war, gleich als Erstes eine Tafel Schokolade kaufte und auf einen Sitz verzehrte.

So saß er nun ein gutes Stück überm Tal, zerbiss die Nussstücke und ließ die Schokolade auf der Zunge zergehen. Alles war Genuss: die Schokolade, die Landschaft, der einsame Tag. Und der hatte gerade erst angefangen für Karl Mannhardt. So viel Schönes hielt dieses Gebirge, hielt dieser Tag noch für ihn bereit.

Ein langer Aufstieg lag vor ihm. Ein Aufstieg, wie er ihn mochte: Mehrere Stunden lang allein sein können in einer Wildnis. Vier Stunden, so seine Einschätzung, würde er wohl brauchen, um hinaufzugelangen bis zur Meilerhütte. Sie lag in 2.366 Metern Höhe. Der Platz, an dem sie errichtet worden war, hatte ihn vor Langem schon begeistert. Mannhardt hatte Fotos von der Hütte gesehen: wie sie in eine Scharte zwischen steilen Felsflanken hineingebaut war. Wie ein Adlerhorst war sie ihm erschienen. Und es war ihm gleich zum festen Entschluss geworden, irgendwann einmal zur Meilerhütte hinaufzusteigen. Doch es hatte lange gedauert – bis zu diesem Tag.

Der Weg war stellenweise feucht, die Steine glitschig. Es musste am Vorabend oder in der Nacht ein Gewitter gegeben haben. Davon war die Luft gereinigt, er schien sie geradezu schmecken zu können. So eine Luft wie heute, dachte er, vertreibt alle Müdigkeit aus dem Kopf und dem Körper. Herrlich ist es, einfach herrlich.

Manchmal blieb er kurz stehen, um zu schauen oder um nach einem besonders steilen Wegabschnitt wieder zu Atem zu kommen; um zu sehen, ob jemand hinter ihm des Weges kam oder ob er damit rechnen musste, dass jemand ihm im Abstieg begegnete. Nichts. Niemand war zu sehen. Er war allein mit sich. Und er genoss es.

Bisweilen hörte er ein Stück weiter oben Steine poltern. Dann legte er den Kopf in den Nacken, versuchte herauszufinden, woher diese Geräusche kamen und durch was sie verursacht worden sein konnten. Gründe für solche Steinrutsche und Steinschläge kannte er genug. Oft waren Gämsen die Auslöser. Sie stiegen in den unzugänglichsten Bergflanken umher, fanden scheinbar überall Halt – und brachten bei ihren Sprüngen immer wieder Gesteinssplitter und manchmal auch größere Brocken ins Rollen. Vor Gämsen, diesen an sich harmlosen Tieren, musste man sich genau aus diesem Grund in Acht nehmen.

Bisweilen verursachten Kletterer den Steinschlag, traten bei ihrem Aufstieg Steine los oder lösten Geröll mit dem Seil, das um Ecken und Kanten führte. Meistens freilich gab es keine anderen Gründe als die, dass sich die Berge seit ihrer Entstehung in einem fortschreitenden Verfallszustand befanden, dass der Zahn der Zeit an ihnen nagte, dass sie längst altersschwach waren. Sie zerbröckelten und zerbröselten. Eigentlich war das mit bloßen Augen zu sehen. Doch wer hätte es wahrhaben wollen …

Dieser Verfall war die Hauptursache dafür, dass einem Bergsteiger auch auf vermeintlich unschwierigen Wegen bisweilen Steine wie Geschosse um die Ohren pfiffen.

Wenn auch noch jung an Jahren, so hatte Mannhardt doch schon gelernt, die Geräusche der fallenden Steine zu unterscheiden in gefährlich und ungefährlich. Er hatte gehört, gelesen und für sich herausgefunden, wann er das Poltern gar nicht weiter zu beachten brauchte, wann es für ihn ohne Risiko war. Aber er hatte es auch schon erlebt, dass Steine schrill pfeifend aus einer Wand zu Tal schossen und gar nicht weit von ihm einschlugen. Wenn er dieses Pfeifen hörte, schaute Mannhardt nicht mehr nach oben. Dann ging er in die Hocke, machte sich klein und riss den Rucksack über Nacken und Kopf. Und dann wartete er, bis alles vorbei war, und bisher war immer alles vorbeigegangen, ohne dass er Schaden genommen hatte. Die Steine hatten ihn immer verschont.

Im Weitersteigen bemerkte Mannhardt, wie sich das Wetter veränderte, von Viertelstunde zu Viertelstunde. Der Himmel, anfangs noch von trübem Blau, zeigte sich jetzt in tiefem Azur. Dafür verloren die Felsflanken etwas von ihrer Klarheit. Hatte er bei seiner Ankunft im Leutaschtal noch geglaubt, geradezu jeden Griff, jeden Tritt im Fels der gewaltigen Wände wahrnehmen zu können, so wurden die Konturen jetzt etwas schwächer. Gleichwohl waren die Berge, die seinen Anstiegsweg flankierten, auch in diesem Licht eindrucksvoll und schön.

Rechter Hand reihte sich die breite Wettersteinwand an die Wettersteinspitze, dann kam der Musterstein mit seiner Südwand. Und hinterm Musterstein musste sich irgendwo die Meilerhütte befinden.

Immer wieder schaute Mannhardt hinauf zu dem langen Gratverlauf von der Wettersteinspitze zum Musterstein. Wenn das Wetter in den nächsten Tagen passen würde …

Er hatte sich vor seiner Abreise mit diesem Grat gar nicht befasst. Zwar hatte er vor Längerem im Wetterstein-Führer des geradezu legendären Helmut Pfanzelt gelesen, dass die Anforderungen zwischen dem ersten und dritten Schwierigkeitsgrad lagen, also auch für einen versierten Alleingänger beherrschbar waren. Aber der Grat war dennoch nicht sein Ziel gewesen. Das Seil hatte er dabei, weil er eigentlich vorgehabt hatte, von der Meilerhütte ins Oberreintal abzusteigen und dort an einem der Felstürme eine leichte Kletterei zu wagen. Für einen nicht allzu schwierigen Aufstieg hätte es nicht unbedingt des Seiles bedurft – aber fürs Abseilen, um wieder herunterzukommen von einem solchen Berg.

Er beschloss, am Nachmittag auf der Hütte den »Pfanzelt« zu studieren und sich eingehend vertraut zu machen mit dem langen Gratweg, der geradezu einladend im Licht des Vormittags leuchtete. Mit jedem Meter, den er aufstieg, wurde dieser Grat mehr zur Herausforderung für ihn.

Das Seil kann ich da auch gut gebrauchen, dachte er. Gewiss gibt es Stellen, die man besser abseilt als abklettert.

Zur Linken hin wurde das Berglental – welch niedlicher Name für diese hochalpine Wildnis, dachte er – von schattigen Nordflanken begrenzt. Vor allem der fast zweieinhalbtausend Meter hohe Öfelekopf entsandte Kanten und Kare ins Berglental, ein Gewirr von Fels und Geröll. Durchaus nicht uninteressant – aber nichts im Vergleich zu Mannhardts Grat.

Mein Grat, dachte er. Das wird mein Grat. Ich gehe nicht weiter hinein ins Gebirge, sondern nehme von der Meilerhütte aus den Grat in Angriff.

Morgen noch nicht. Morgen ausschlafen, dann auf die Partenkirchener Dreitorspitze und wieder zurück zur Hütte. Am späten Nachmittag dann noch die erste Dreiviertelstunde vom Gratweg erkunden. Denn er würde am darauffolgenden Morgen früh aufbrechen müssen, das war ihm klar beim Blick hinauf zu den Gipfeln. Ganz früh. Wahrscheinlich noch in der Dunkelheit.

Er träumte. Träumte bei jedem Schritt. Sah sich bereits am Grat. Sah das weiße Kalkgestein hell leuchten. Sah sich gehen ohne eigentlichen Weg. Stundenlang in großer Höhe und mit unverstellter Aussicht. Er sah sich irgendwo Rast machen, schauen: nach Osten zum Karwendelgebirge, nach Westen zum Alpspitz-Zugspitzmassiv und nach Norden zu den vorgelagerten Gebirgsgruppen, die kleiner waren, unspektakulärer und doch schön: die Ammergauer Alpen, das Estergebirge, die Bayerischen Voralpen mit der Benediktenwand. Nur der Blick nach Süden war verstellt. Schade, dachte er. Denn dort, im Süden, wusste er die gletschergekrönten Gipfel der Stubaier und der Zillertaler Alpen.

Er träumte.

Mit offenen Augen träumte er.

Sonst hätte er vielleicht bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte.

Der Steig war schmal, das Gelände abschüssig. Linker Hand setzte eine Steilflanke an, über die vor Urzeiten ein Bergsturz herabgegangen sein musste. Da war weit oben ein großes Stück vom Berg abgebrochen und herabgestürzt. Zahllose, weit verstreute Felsbrocken, oft mannshoch und noch höher, zeugten von diesem gewaltigen Naturereignis.

Er hörte den schrillen Schrei einer Bergdohle.

Das war alles. Und er dachte, morgen am Grat würde er auf die Bergdohlen treffen, und sie würden ihn mit ihren Flugkunststücken beeindrucken, sie würden ihn um etwas zu fressen anbetteln, und bestimmt wäre mindestens eine dabei, die ihm ein Brotstückchen direkt aus der Hand picken würde.

Er ging auf eine Engstelle des Weges zu, schaute dabei in den Himmel, suchte die Dohle und schaute zum Grat. Die Engstelle wurde aus einem riesigen Block linker Hand und einem etwas kleineren rechts gebildet. Wenn ihm hier jemand begegnet wäre, hätten sie es wohl nur gerade so geschafft, aneinander vorbeizukommen. Aber er war ja allein.

Er war allein und er träumte.

Er stand vor dem Felsentor.

Einen Moment lang zögerte er: ob es sich lohnte, den Fotoapparat auszupacken? Das Licht war nicht ideal. Er ließ es sein.

Er ging weiter. Staunte. Machte einen Schritt und noch einen.

Er ging durchs Tor hindurch.

Ein fürchterlicher Schlag traf ihn seitlich am Kopf. Es war ihm, als würde er seinen Schädel aufplatzen hören. Schreien wollte er, aber es kam kein Laut aus ihm heraus. Stehen bleiben wollte er, versuchte noch einen Ausfallschritt, aber die Knie gaben nach, er spürte sich niedersinken, alle Kraft war binnen einer Sekunde aus seinem Körper geströmt.

Der Gedanke, den er in diesem Augenblick zu fassen vermochte (war es noch ein Gedanke? Oder war es nur mehr ein Reflex seines Gehirns?), war: Steinschlag!

Ein Stein musste aus größerer Höhe frei gefallen sein, ohne zuvor noch aufzuschlagen, sonst nämlich hätte er etwas gehört und wäre gewarnt gewesen.

Steinschlag!

Jetzt hat es mich also erwischt … hat es mich also doch erwischt … so ein Stein … hier hat es mich erwischt …

Im Niedersinken sah er neben sich etwas Dunkles, Schattenartiges.

Er schlug mit den Knien auf dem steinigen Weg auf, mit den Armen und dem Oberkörper fiel er auf den Wegrand. Er spürte keinen Schmerz, nicht den geringsten. Gar nichts spürte er mehr. Ihm schwanden die Sinne. Was er hörte, war ein Rauschen in seinem Kopf, als würde ein tobender, zerstörerischer Wildbach hindurchfließen. Was er sah, war kein Bild mehr – nur mehr Schwarz und Grau. Lediglich unterbrochen vom Aufflackern eines hellen Schimmers.

Was er spürte? Nichts, nichts, nichts mehr.

Sein Körper war eine nutzlos gewordene Schale, hohl, leer.

Und dann spürte er doch etwas. Es war mehr eine Ahnung als ein Spüren. Es war ein Phantomgefühl: Er, der keine Gefühle mehr hatte, dem sie von einer auf die andere Sekunde abhandengekommen waren, fühlte doch noch etwas. Wie er so dalag, war er sich ganz sicher, dass jemand direkt neben ihm stand. Er glaubte, Fußspitzen an seinem Rumpf zu spüren, glaubte, die Wärme zu fühlen, die von diesem Menschen ausging, und glaubte, nicht allein zu sein.

Und dann spürte er tatsächlich, dass dieser Mensch, den er nicht sehen konnte, weil sein Augenlicht fast völlig gebrochen war und weil ihm wahrscheinlich zudem noch das Blut in Strömen übers zur Seite gedrehte Gesicht lief, dass dieser Mensch sich bückte, zu ihm herunterbückte, um ihm zu helfen.

Er fragte sich nicht, woher dieser Mensch plötzlich gekommen sein konnte. Hätte er noch einen Hauch Erinnerungsvermögen besessen, er hätte sich das gefragt. Aber so …

»Aahnch …«

Mannhardt versuchte, etwas zu sagen. Diesem Menschen neben ihm zu sagen, was ihm geschehen war, warum er da lag, warum er seine Hilfe brauchte. Doch es gelang ihm nicht. Zumindest er hörte nicht den geringsten Ton von sich selbst.

Aber er hörte etwas anderes: Stein. Es hörte sich an, als würde der Mensch neben ihm einen Steinbrocken vom Boden heben. Stein schabte über Stein. Und es war ihm, als wäre ein Atmen nahe bei ihm.

Wieder versuchte er, etwas zu sagen. Aber es quoll nur irgendetwas Feuchtes, Schleimiges aus seinem Mund.

»Nuhmmh … norrch …«

Dann kam ein Augenblick großer Klarheit: Die Apathie wich für den winzigen Moment. Er sah das Blau des Himmels noch einmal aufblitzen. Zugleich spürte er seine Unfähigkeit zu sprechen, er schmeckte das Blut in seinem Mund – und er wurde gewahr, dass er sterben würde, in dieser Minute oder in einer halben Stunde.

Erstaunlich war für ihn nur, dass ihn diese Gewissheit weder in Angst noch in Traurigkeit versetzte. Dass er nichts empfand, als er an seinen Tod dachte.

Dann sah er wieder diesen Schatten. Nur eine Bewegung, etwas, das durch seinen brechenden Blick wischte. Ob das der Tod war?

Es war der Tod!

Ein weiterer ungeheurer Schlag traf ihn am Kopf. Er hörte das Knacken seines Wangenknochens, das Bersten seines Kiefers, und es war ihm, als würde ihm das ganze Gesicht weggerissen.

Er schrie. Schrie, schrie, schrie.

Und jetzt hörte er sich! Er konnte sich hören!

Dann verlor er den letzten Rest Bewusstsein, den er noch in sich gehabt hatte. Es war eine Erlösung. Er hatte das Leben losgelassen, hatte das Tor in eine andere Welt durchschritten. Die andere Welt war schwarz wie eine sternlose Nacht. Und sie war ein Trugbild.

Die andere Welt nahm ihn nicht auf. Noch nicht. Sie ließ ihn kurz hineinschauen – und dann spuckte sie ihn wieder aus. Seine letzte Stunde hatte eben erst begonnen …

Er wurde an den Beinen über den harten, rauen, grausamen Felsboden gezogen, über Schotter und Kies. Er war nicht in der Lage, sich dagegenzustemmen. Nicht einmal die Finger gehorchten ihm noch. Brutal wurde er vom Weg geschleift, wie von einem großen, wilden Tier. Wie von einem Alaskabären oder einem ausgewachsenen Löwen. Und dann …

Plötzlich war alles nur noch Bewegung. Schmerz und Bewegung. Rasender Schmerz und rasende Bewegung.

Nach der Rückkehr aus der anderen nachtschwarzen Welt war noch einmal Gefühl in ihm: Schmerz!

Mannhardt stürzte. Nicht im freien Fall, sondern eine steile Flanke hinunter. Über Geröll und Schrofen, sich wieder und wieder überschlagend. Er schlug auf, wurde hochgewirbelt, schlug wieder auf.

Es war, als wäre er inmitten eines reißenden Flusses in einen mörderischen Strudel geraten. Er fühlte sich hinuntergezerrt, hinuntergezogen, fühlte alle Gliedmaßen verdreht. Sein Kopf war schon gebrochen. Nun brachen die Schultern, die Oberschenkel, die Kniescheiben und auch das Rückgrat.

Als er zum Liegen kam, nicht mehr fortgerissen wurde, da hätte er eigentlich tot sein müssen. Aber er war wieder nur einen Schritt über die Schwelle gegangen. Seine letzte Stunde war noch nicht vorüber. Noch lange nicht! Er hatte noch fast vierzig Minuten vor sich. Die längsten Minuten seines Lebens. Aber es war ja schon kein Leben mehr. Doch er war auch noch nicht tot. Der Tod spielte noch mit ihm wie eine Katze mit einer halb zerbissenen, noch zuckenden Maus.

Die Bergrettungsleute, die ihn später bergen mussten, berichteten, dass sie schon viele schlimm zugerichtete Unfallopfer gesehen hätten. Dass aber selten einer so furchtbar ausgesehen habe wie dieser Karl Mannhardt.

Er lag. Der Sturz war vorüber. Er sah nichts. Sah auch keine Schatten mehr. Alles war verschwunden: Schatten, Schmerzen, sein Körper. Er schien nicht mehr da zu sein, schien sich aufgelöst zu haben. Nein, nicht aufgelöst … anders … es war anders … es war, als wäre sein Körper ein Stück Fleisch in einer fast durchsichtigen Sülze, ausgeschlossen von der Welt – und zugleich fürsorglich umhüllt, ummantelt, nicht mehr erreichbar.

Doch das Herz, das schlug. Inmitten der Gelatinemasse schlug sein Herz. Es schlug laut. Nicht dass er das hätte hören können, aber er spürte es. Die Schallwellen versetzten die Sülze in Schwingung, und inmitten dieser Schwingung lag er, ein Brocken Fleisch.

Und das Herz schlug.

Ungleichmäßig schlug es. Wie aus dem Rhythmus geraten. Ja, so schlug es: aus dem Rhythmus. Vor Minuten oder vor einer Viertelstunde oder einer halben Stunde, da hatte es im Rhythmus geschlagen, seinem Rhythmus. Alles hatte zueinandergepasst: die Schritte, die Atemzüge und, ohne dass er sich das bewusst gemacht hatte, die Herzschläge.

Der Herzschlag, in Gelatine eingelegt. Dazu das Rauschen in ihm. War es das Rauschen seiner Seele, das sich anhörte wie Wind, der als Vorbote eines großen Unwetters durch bergigen Mischwald streicht?

So lag er, ohne zu wissen, wie lange. Er wusste ja nicht einmal mehr, wer er war, wie er hieß, woher er kam. Deshalb wohl gingen ihm in der letzten halben Stunde seines kurzen Lebens auch keine Bilder mehr durch den Kopf, keine Erinnerungen. Wo es doch so oft hieß, dass einem Sterbenden das Leben noch einmal wie ein Film ablaufe.

Irgendwann klarte sich die Gelatine auf, die Trübnis ihrer Beschaffenheit wich. Mit einem Auge konnte er aus seinem weichen Gefängnis hinaussehen, konnte noch einmal einen Blick tun auf das, was noch übrig war von seinem Leben. Was er sah, war rätselhaft. Er sah eines seiner Beine nur zwei Handbreit von seinem Kopf entfernt. Er sah den Fuß, der in sonderbarem Winkel von diesem Bein abstand. Und er sah, dass dieses Bein zuckte.

Nein, es war keine Täuschung.

Es war sein Bein, das zuckte. Dieses Zucken und sein unrhythmischer Herzschlag waren alles, was ihm noch geblieben war.

Das Bein zuckte.

Sein Herz schlug, schlug, schlug …

Es setzte aus … und schlug wieder … und setzte wieder aus. Sein Bein zuckte. Zuckte direkt vor seinem Gesicht. Er konnte es sehen.

Ihn würgte. Gallenbittere Flüssigkeit füllte seine Mundhöhle und lief heraus und breitete sich rund um Mund und Nase auf dem steinigen Boden aus.

Das Bein gehörte nicht mehr zu ihm. War nicht umhüllt von Gelatine. Lag draußen. Und es zuckte. In langen, unregelmäßigen Abständen.

Es bereitete ihm Übelkeit. Er versuchte, das Auge zu schließen, aber er sah das Zucken durch das Lid hindurch. Es war in ihm.

Wieder würgte sein geschundener Körper Galle hoch. Dabei verrutschte sein Kopf um ein paar Zentimeter. Davon merkte er nichts. Er merkte nur, dass sein Bein aus dem Blickfeld verschwand. Nicht ganz, aber immerhin. Aus dem Augenwinkel nahm er das Zucken weiterhin wahr.

Doch konnte er jetzt auch Himmel sehen und Berge. Gipfel, die weiß leuchteten. Verbunden durch einen langen Grat aus hellem Fels. Und darüber das Blau, ein tiefes und schönes Blau.

Sein Bein zuckte. Sein Herz schlug und setzte aus. Er sah die Berge und den Himmel.

Dann setzte das Herz erneut aus. Und es begann nicht mehr zu schlagen. Nur das Bein zuckte noch drei- oder viermal.

Aber da war Karl Mannhardt bereits endgültig durchs Tor gegangen.

1

»Ich bin ja gespannt, ob die alte Kiste das aushält«, sagte Pablo. »Es sind immerhin neunhundert Kilometer. Einfach! Und wie viel sind wir schon gefahren?«

»Vierzig«, sagte Marielle. »Ungefähr.«

Sie waren auf der Alten Brennerstraße von Innsbruck zum Pass hinaufgefahren und kurvten nun hinunter nach Sterzing. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag. Auf der Landstraße war nicht allzu viel los, und das Wetter war grau und regnerisch.

»Machst du dir Sorgen?«, fragte sie. »Das Auto hat doch schon manches Abenteuer mitgemacht. Warum nicht auch dieses?«

Pablo, der am Steuer saß, schaute kurz zu ihr hinüber. Schön sah sie aus. Er war froh, sie zur Freundin zu haben.

»Wahrscheinlich hast du ja recht. Die Kiste ist nicht totzukriegen. Wird schon gut gehen …«

Bei Sterzing fuhren sie auf die Autobahn, lösten die Mautkarte und hielten sich fortan vorschriftsgemäß an die Höchstgeschwindigkeit von hundertzehn Stundenkilometern – was kein Problem war, denn viel schneller wäre der vollgepackte Astra, den Pablo vor zwei Jahren für elfhundert Euro und drei Kasten Fohrenburger einem Mitstudenten abgekauft hatte, ohnehin nicht mehr gefahren.

Zwischen Franzensfeste und Brixen, dort, wo das Eisacktal breiter und offener wurde, erhaschten sie einen kurzen Blick auf die Spitzen der Geislergruppe.

»Schau!«, sagte Pablo. »Die Dolomiten.« Selbst im grauen Licht des ausklingenden Wintertages sahen die schneeverkrusteten Felsgipfel eindrucksvoll aus. Für Bergsteiger und Kletterer wie Pablo und Marielle ein geradezu berauschender Anblick. Eine Verheißung großer alpiner Abenteuer und im besten Fall auch rauschhaften Klettergenusses. Normalerweise.

Pablo aber spürte, dass Marielle noch nicht so weit war. Dass ihre früher so innige Beziehung zur Natur noch immer gestört war. Dass sie die Liebe zu den Bergen noch nicht wiedergefunden hatte. Dass sie gar nicht hinsehen wollte. Und er fragte sich, wie es ihr und ihm in den Calanques ergehen würde.

Sie fuhren fast die ganze Nacht durch, abwechselnd am Steuer sitzend und auf dem Beifahrersitz dösend. Im Winter beginnen die Nächte früh, und so sahen sie schon ab Trient nichts mehr von der Landschaft. Erahnten das Gebirge nur an den Lichtern hochgelegener Dörfer, Weiler oder einsamer Bauernhöfe.

Bei Verona traten die Alpen zurück, sie kamen in die Po-Ebene und waren nun gezwungen, noch langsamer zu fahren: Wie so oft um diese Jahreszeit herrschte dichter Nebel.

Als sie morgens um zwei die Riviera erreichten, verließen sie die Autobahn und tuckerten hinunter zu einem der jetzt ausgestorben wirkenden Küstenorte. Sie parkten dort, wo der Strand anfing, holten im Schein ihrer Stirnlampen Isomatten und Schlafsäcke aus dem Kofferraum und legten sich, keine fünfzehn Meter vom Meeressaum entfernt, in den Sand.

Wie mild es hier ist, dachte Marielle. Sie spürte Pablos Gutenachtkuss auf der Wange, sie hörte das Meer ganz unaufgeregt atmen, sie sah die Sterne, doch die wollte sie nicht sehen. Ganz schnell schloss sie die Augen. Nein, Sterne wollte sie nicht sehen. Wollte nicht erinnert werden an jene Nächte an der Schattenwand, wo sie vor über einem Jahr um ihr Leben gekämpft hatte. Nur nicht daran denken. Nur schlafen. Alles wegschlafen.

Es war Pablos Idee gewesen: Jetzt, zur Weihnachtszeit, irgendwohin zu fahren, wo man klettern konnte. Ganz entspannt, ohne Winterklamotten, ohne Thermozeug und ohne dicke Fäustlinge. Ohne Eisausrüstung und ohne Erfrierungserscheinungen.

Es hätte auf dem Weg nach Süden gleich mehrere Klettergebiete gegeben, die in Frage gekommen wären. Finale Ligure zum Beispiel oder die Felsgebiete bei Nizza. Oder auch in der Provence: Beaux, die Verdonschlucht, Les Alpilles. Kumpels aus der Kletterhalle hatten Pablo zur Verdon geraten, da wäre die Kletterei viel schöner als sonst wo in Europa. Doch er hatte sich nicht abbringen lassen von seiner Idee, in den fjordartigen Calanques zwischen Marseille und Cassis genussvoll über dem Meer zu klettern. Das, da war er sich gewiss, wäre für Marielle jetzt das Richtige. Großartige Natur, schöne, nicht allzu schwierige Kletterei und ganz besondere Stimmungen. Vielleicht würde ihr das ja helfen, über ihr Trauma hinwegzukommen. Wieder Freude zu finden am Klettern und vielleicht auch an den Bergen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht …

Sie fuhren an der Küstenstraße entlang, um sich die Autobahngebühren zu sparen. Das bedeutete zwar, dass sie viel langsamer vorankamen. Aber sie hatten ja Zeit – und außerdem war es wunderschön.

Der Himmel war leuchtend blau, wolkenlos. Das Meer war blau mit einem bleiernen Schimmer, und weit draußen tanzte die Gischt auf den Wellen. Die Sonne kam so warm durch die Scheibe, dass sie die Heizung ganz herunterschalten mussten. Und es gab Palmen! In Vallauris hielten sie vor einem Straßencafé und gönnten sich ihren ersten original französischen Café au Lait und die besten Croissants, die sie je bekommen hatten. Und wenn auch die Leute winterlich gekleidet waren – in Pelzjacken die Damen, in dicke Mäntel die Herren –, so herrschte doch für Marielle und Pablo Frühling, geradezu hemdsärmeliger Frühling. Und jetzt war sie froh, dass sie sich zu dieser Reise hatte überreden lassen. Die Sonnenstrahlen wärmten ihre Wangen, ihre Nase, die Ohren, den Hals und auch ihre Hände. Und sie glaubte und hoffte, so den Winter vergessen zu können.

Ihr Quartier war eine Jugendherberge inmitten grandios karger Landschaft. Die Calanques waren ein gefährdetes Waldbrandgebiet – es gab nichts als Steine, Rosmarin, Steine, wieder Rosmarin und dazu, zwischen Steinen und Rosmarin, ein paar Pinien, die beim letzten Brand davongekommen waren. Und doch ging von dieser Mischung aus Kargheit und Größe ein Zauber aus, etwas Beruhigendes, ja Meditatives.

In der Jugendherberge »La Fontasse« waren Männer und Frauen in getrennten Schlafräumen untergebracht, was die Freude bei Marielle und Pablo ziemlich stark einschränkte. Aber auf die einsamen Nächte folgten Morgen auf der Terrasse: Frühstück im Freien, im Sonnenschein und mit Blick aufs Meer, das sich etwa hundert Meter tiefer bis zum fernen Horizont erstreckte. Und auf diese Morgen vor dem Haus folgten Tage besonderer Erlebnisse: Wanderungen zu den nahen Buchten, verbummelte Stunden im kleinen Hafen von Cassis, eine Durchquerung der gesamten Calanques von »La Fontasse« bis an den Stadtrand von Marseille und, nach Zaudern und Zögern bei Marielle, schließlich das Klettern in der Bucht En Vau.

Diese wundervolle, einzigartige, geradezu unglaublich beeindruckende Bucht! Von »La Fontasse« führte ein guter Weg hinunter; er senkte sich allmählich hinab in ein Tal, wo das Meer nicht mehr zu sehen, ja nicht einmal mehr zu ahnen war. Nur Steine und Geröll (und natürlich Rosmarin) zur Rechten wie zur Linken. Doch dieses Tal wurde zum Canyon; zwischen dem lockeren Gestein zogen Felsrippen nach oben; für Kletterer vielleicht noch nicht allzu verlockend, aber doch schon ein Gelände, wo man vorsichtshalber das Seil würde benützen müssen. Und dann, nach der nächsten Talwindung, mutierte es endgültig zur Schlucht: steile Felswände ragten aus kleinsplittrigem Gesteinsschutt in den wolkenlosen Himmel; darunter, dem Wegrand nahe, reckten sich zwanzig bis vierzig Meter hohe Felsnadeln empor – beliebtes Ziel all jener Kletterer, denen die Höhe und die Länge einer Tour nicht wichtig waren, die sich begnügten mit diesen »kleinen« sportlichen Zielen.

Bevor sie das Meer sahen, hörten sie es: die Mischung aus dem Geraune, wenn das Wasser über die Kiesel schwappte und sich gleich wieder zurückzog, und der verspielten Fröhlichkeit der Menschen, wie man sie überall an Stränden antrifft. Lautes Lachen, enthusiastisches Geplappere und Rufe, die zwischen den Felsen lauter hallten als anderswo. Und dann standen Marielle und Pablo in der Bucht, an der wie mit dem Lineal gezogenen Linie zwischen Land und Wasser. Blau und grün und vollkommen klar war das Meer. Und ein Stück draußen in dem schmalen Fjord lag ein Segelboot vor Anker.

Als sie zum ersten Mal hierherkamen, warfen sie ihre Rucksäcke auf den Strand, setzten sich darauf und inspizierten die kolossalen Felsen, die das Wasser zu beiden Seiten rahmten. Linker Hand ragte der »Doigt de Dieu« in die Höhe – »der Finger Gottes«, sagte Marielle. Das rechte Ufer bestand aus einer kompakten Wand, in der es laut ihrem Führer unzählige Routen gab. Allein die Namen klangen verlockend – und durchaus ehrfurchtgebietend: »Éperon des Américains«, »Voie Super Calanque«, »Voie Hyper Calanque«, »Spécial Boucherie«, »Voie Hara-Kiri« und »Traversée Gary Hemming«.

Sie entschieden sich für die leichtere »Voie Calanque« – ein Kletteranstieg im fünften Schwierigkeitsgrad, vier nicht allzu lange Seillängen, und um es Marielle noch leichter zu machen, würde Pablo alles vorsteigen. So hatte sie immer ein straffes Seil von oben, musste keine Angst haben, konnte sich ganz auf sich und das Klettern konzentrieren und dabei versuchen, wieder einen Rhythmus zu finden. Und wieder sich selbst zu finden.

Auf einem Band von etwa einem Meter Breite querten sie von der Bucht aus ansteigend hinein in die Wand. Zwanzig Meter über dem Wasserspiegel begann ihre »Voie Calanque« am Stamm eines uralten, zähen, an den Fels geschmiegten Baumes. Das war der Standplatz. Von da ging es in einer kaminartigen Verschneidung geradlinig empor; nicht schwierig, für gute Kletterer eigentlich nur genussvoll.

Aber der wahre Genuss setzte erst weiter oben ein. Da wurde der Fels kompakter, glatter und steiler. Es gab nicht mehr so viele Griffe und Tritte – die wenigen aber waren perfekt.

»Wie eine Himmelsleiter!«, schrie Pablo zu Marielle herunter. »Einfach traumhaft!«

Und was für eine Himmelsleiter! Als Marielle nachkletterte, fühlte sie das Vertrauen, das sie zum Fels hatte, immer gehabt hatte, sie spürte die harten Griffe in ihren Händen, sie begann, das Klettern wieder zu genießen – und wenn sie den Kopf leicht zur Seite neigte oder zwischen ihren gespreizten Beinen nach unten sah, dann schaute sie direkt ins smaragdgrüne Wasser und bis hinab auf den felsdurchsetzten Grund.

Marielle spürte, dass sich in diesen Momenten etwas in ihr löste, das sich etwas zu befreien schien. In ihrer Seele wurde Platz für das Schöne. Und sie nahm die Eindrücke jetzt geradezu euphorisch auf. Was sie sah, machte sie glücklich: weißer Kalkfels, darüber der blaue Himmel und darunter das Meer, grün und rein und schön.

Die »Voie Calanque« endete auf einer weitläufigen, einsamen, karstigen Hochfläche, dem Plateau de Castelvieil. Es sah hier aus wie überall in den Calanques: Steine, Rosmarin, Pinien, Steine. Dazwischen verkohlte Baumleichen. Und überall ein großartiger Blick auf das Mittelmeer.

»Es müsste toll sein, hier eine Nacht zu verbringen«, schwärmte Pablo.

Und Marielle stimmte ihm zu. »Vielleicht zum Abschluss unseres Kletterurlaubs?«

»Warum erst am Schluss?«, sagte er. »Es wäre doch super, Silvester hier zu feiern!«

* * *

Paul Schwarzenbacher rollte durch die Innsbrucker Altstadt. Der Schnee, der in den letzten Tagen gefallen war, lag zu graubraunen Haufen zusammengeschoben an Straßenrändern und Hausecken. Die Stadt war ruhig, ruhiger als sonst. An Silvester würden die Touristenscharen wieder hereinbrechen, würden die Fußgängerzone rund ums Goldene Dachl belagern und ihre Freude haben am Feuerwerk, das noch die Berge jenseits des Inns erhellte. Jetzt, zwischen den Feiertagen, waren es vor allem die Einheimischen, die unterwegs waren. Missglückte Weihnachtsgeschenke wurden umgetauscht, und wer nicht beim Skifahren war oder, alternativ, sich nicht in sonnigere Gefilde geflüchtet hatte, traf sich in den Cafés, Beisln, Restaurants. Der Stress der Vorweihnachtszeit war vorüber, das emotional grenzwertige Fest auch – jetzt kam für viele die eigentliche »staade Zeit«. Und dann gab es natürlich noch die Schnäppchenjäger, Leute wie Schwarzenbacher, die genau wussten, dass viele Dinge gleich nach den Weihnachtsfeiertagen erheblich günstiger zu bekommen waren als davor.

Schwarzenbacher lenkte seinen Rollstuhl in die Maria-Theresien-Straße und fuhr zur Tyrolia-Buchhandlung. Die Neuerscheinungen interessierten ihn nicht. Auch das hatte ihn seine Erkrankung gelehrt: Es macht keinen Sinn, der Erste sein zu wollen. Er stöberte bei Romanen, deren Erscheinungsjahr schon ein wenig zurücklag. Fand einen Vargas Llosa für sechs Euro neunzig zum Beispiel. Hardcover, der Umschlag minimal eingerissen. Entschied sich dann aber für David Gutersons »Schnee, der auf Zedern fällt« – als preisreduziertes Taschenbuch für drei fünfzig.

»Das nehm ich mit«, sagte er an der Kasse und reichte der Verkäuferin das Buch hinauf. »Könnten Sie es mir auch einpacken?«

»Gern«, sagte die junge Frau. »Soll es noch weihnachtlich sein oder neutral?«

»Das ist egal«, sagte Schwarzenbacher. »Einfach irgendwie einpacken.«

Als er gezahlt hatte, fiel ihm noch etwas ein. Ein Buch, das er sich besorgen wollte, von dem er aber nichts weiter wusste als das Grundthema, um das es darin ging.

»Ich seh im Computer nach«, sagte die Verkäuferin. »Den Namen des Autors wissen Sie auch nicht?«

»Nein. Nur dass es um Gerichtsmedizin geht. Muss das Begleitbuch zu einer Ausstellung sein, die in Berlin gezeigt worden ist. Aber ich könnte natürlich erst mal selbst im Internet suchen …«

»Nein, nein«, sagte die Frau. »Dazu sind wir ja da. Das werden wir schon finden.«

Sie fand es aber nicht. Fand andere Titel, die sie Schwarzenbacher empfehlen wollte. »Also«, sagte sie, »da hätte ich ›Dem Tod auf der Spur‹. Untertitel: ›Zwölf spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin‹. Von einem Michael Tso…«

»Nein, nein, nein«, wehrte Schwarzenbacher ab. »Das kenn ich. Das ist nur ein Lesebuch. Das andere, das ich meine, muss viele Abbildungen haben. Sehr detaillierte Abbildungen.«

Er sah zur Buchhändlerin hinauf. Irgendetwas in ihrem scheuen Blick provozierte ihn, sodass er hinzufügte: »Es sind diese Abbildungen, die mich interessieren …«

* * *

Am Nachmittag des 31. Dezember wünschten Marielle und Pablo dem schnurrbärtigen Herbergsvater Jean-Pierre einen guten Rutsch ins neue Jahr, sagten ihm, dass sie die Nacht draußen verbringen würden, er solle sich keine Sorgen machen, und dass sie spätestens am nächsten Nachmittag wieder zurück wären. Dann schulterten sie die vollgepackten Rucksäcke und machten sich auf den Weg: hinab ins En Vau und dann auf einem Steig hinauf zu ihrem Plateau.

Es war eine Plage, denn die Rucksäcke waren schwer, und die Isomatten ragten darüber hinaus. Damit enge Kaminrinnen hinaufzukommen war alles andere als einfach.

Aber dann waren sie oben, fanden weit vorn an der ins Meer geschobenen Landzunge einen ebenen Platz, und hier packten sie alles aus: die Matten, die Schlafsäcke, eine Flasche Champagner, eine Flasche 7 Up und eine Flasche Mineralwasser. Eine große Stange Baguette hatte Pablo an den Skihalterungen außen am Rucksack befestigt gehabt. Das restliche »Festmahl« war in Tupperboxen verstaut: Sie hatten im Supermarkt in Cassis zwei Packungen tiefgekühlter Krabben gekauft, Mayonnaise in der Tube, ein Stück Bistrosalami und an der Käsetheke verschiedene Sorten aus Schafs- und Ziegenmilch. Dazu noch weiße Weintrauben, ziemlich teuer. Aber das durfte für eine so besondere Nacht keine Rolle spielen. Zu guter Letzt waren sie in einer Pâtisserie in der Avenue Victor Hugo zwanzig Minuten lang in der Schlange gestanden, um sich Pralinen in eine kleine Geschenkbox samt Schleifchen und Tragegriff einpacken zu lassen – das war hier so üblich, ob man dies nun brauchte oder nicht.

»Überraschung!«, sagte Marielle spitzbübisch grinsend.

Und dann holte sie, so wie ein Zauberer das Kaninchen aus dem Zylinder, den Gaskocher aus ihrem Rucksack, danach einen kleinen Topf und, abgefüllt in zwei Frischhaltetüten, Nescafé und Milchpulver.

»Du bist verrückt!« Pablo strahlte sie an. »Schleppst auch das ganze Zeug noch hier rauf. Aber eines hast du übersehen. Es gibt kein Wasser hier. In den ganzen Calanques gibt es kaum irgendwo Wasser. Zumindest kein Trinkwasser. Nur Salzwasser. Davon allerdings genug.«

Sie grinste übers ganze Gesicht, dann gab sie der Mineralwasserflasche mit dem Fuß einen Stoß.

»Dummkopf«, sagte sie.

* * *

Rechtsanwalt Dr. Helmut M. Reuss schaute zu, wie Schwarzenbacher sich die Stufen zum Eingang seiner Kanzlei in der Bienerstraße hinaufquälte. Er war an das schmiedeeiserne Geländer herangefahren, hatte sich eingeklammert und so aus dem Rollstuhl gezogen. Nun arbeitete er sich Stufe für Stufe hoch, während Reuss wie teilnahmslos am oberen Treppenabsatz stand und Schwarzenbacher in seinen enormen Anstrengungen beobachtete.

»Als dieses Haus gebaut worden ist«, sagte er, »gab es entweder noch keine behinderten Menschen, pardon: ich meine Menschen mit Handicap, oder es war allen einfach egal. Du musst also schon entschuldigen, dass dich kein barrierefreier Zugang erwartet …«

»Geh scheißen …«, schnaubte Schwarzenbacher halblaut zwischen den zusammengebissenen Zähnen hindurch.

»Du bist doch selber schuld«, sagte Reuss. »Du hättest mich anrufen können. Wir hätten uns auf einen Kaffee in der Stadt getroffen. Wie sonst auch. Aber du …«

»Mein Leben ist auch so langweilig genug«, sagte Schwarzenbacher schwer schnaufend, als er die Stufen überwunden hatte, »da muss ich nicht noch mit Fleiß immer das Gleiche tun.«

»Sturer Kerl«, sagte Reuss und grinste. »Brauchst du deinen Rollstuhl hier heroben?«

Schwarzenbacher schüttelte den Kopf. »Bis zu einem Stuhl und einer Tasse Kaffee werd ich es schon noch schaffen – mit Gottes und mit deiner Hilfe. Aber du könntest runtergehen und was holen. In der Tüte, die dranhängt, ist etwas für dich. In Geschenkpapier! Ein verspätetes Weihnachtsgeschenk. Aber bitte keine falschen Sentimentalitäten. War ein Sonderangebot.«

Ein paar Minuten später saßen sie in Reuss’ hellem Besprechungsraum. Die Wände in einem zarten Ocker, gekrönt von leuchtend weißem Stuck. Ein ovaler Glastisch, sechs braune Lederstühle mit hohen Rückenlehnen. An der einzigen Wand, die nicht von einer Tür oder von Fenstern durchbrochen war, hing ein riesiges Gemälde: wild, vielfarbig, ungerahmt.

Während Reuss an der Espressomaschine hantierte, die auf der Anrichte stand, versuchte Schwarzenbacher in dem Gemälde zu lesen, es zu entschlüsseln. Er hatte es eigentlich immer lieber, wenn moderne Künstler irgendwas hineinschrieben in ihre Bilder. Oder wenn im Museum auf kleinen Metallschildern die Titel dabeistanden. Aber auch ohne Titel: Es gefiel ihm. Die Farbakzente, das Nebeneinander von geradezu im Widerspruch stehenden Farben, die harten schwarzen Pinselstriche, die das Gewoge und das Über- und Untereinander wie willkürlich zu brechen schienen – all das erinnerte ihn an Musik, an Jazz, an … Er versuchte herauszufinden, an welches Stück von Larry Coryell ihn das Bild erinnerte, welche Musik sich paaren lassen würde mit dieser Malerei. Er kam nicht drauf. Aber er beschloss, zu Hause die alte Doppel-LP »The Essential Larry Coryell« herauszukramen und, die Stimmung dieses Bildes im Gedächtnis, wieder mal anzuhören.

»Du hast Glück, dass ich da bin«, sagte Reuss, als er zwei Cappuccini auf den Glastisch stellte. »Wir haben die Kanzlei zwischen Weihnachten und Neujahr zugemacht. Das ganze Haus ist leer. Die Kollegen machen Urlaub, das Personal ist in den Urlaub geschickt, niemand ist hier. Ich mag das. Da kann ich in aller Ruhe mal Dinge in Ordnung bringen, die lange liegen geblieben sind. Kein Zeitdruck, keine Termine, keine Mitarbeiter, die irgendwas von einem wollen. Aber …«, Reuss nippte am schaumigen Cappuccino, »aber sag mal: Wie geht es dir? Und was verschafft mir die Ehre?«

Er packte das Präsent aus dem Geschenkpapier, begutachtete den Titel des Buches und dankte mit einem Nicken und einem Lächeln.

»Ich hatte nicht viel zu tun«, sagte Schwarzenbacher. »War nur so unterwegs. Und da dachte ich mir …« Er leckte sich den Milchschaum von der Oberlippe. »Also, da dachte ich mir: Schau doch mal vorbei beim Herrn Staranwalt. Wahrscheinlich ist er nicht da. Aber vielleicht ja doch. Und siehe da …«

Reuss lächelte und sah Schwarzenbacher erwartungsvoll an.

»Nun gut. Ich will nicht lange drum herumreden: Mir ist wieder mal die Decke auf den Kopf gefallen. Weihnachten. Kling, Glöckchen, klingeling. Du verstehst? Mir ist langweilig, verdammt langweilig. Und da habe ich mir gedacht, wir könnten uns endlich mal mit der einen oder andern Geschichte befassen. Du weißt, was ich meine.«

Helmut Reuss wusste genau, worauf sein Gegenüber hinauswollte. Die beiden, den früheren Kriminalbeamten und den Staranwalt, verband mehr als gegenseitige Sympathie. Sie hatten die gleiche, etwas eigenartige Obsession – sie waren fasziniert von nie aufgeklärten Kriminalfällen in den Bergen.

»Wenn einer seine Frau verschwinden lassen möchte«, hatte Schwarzenbacher einmal gesagt, »dann muss er mit ihr nur auf eine Bergtour gehen. Im Karwendelgebirge zum Beispiel. Wenn sie am schmalen Steig stolpert und in den Abgrund stürzt – wie sollte man es dem Ehemann beweisen, dass er nachgeholfen hat? Das Gebirge ist ideal für den perfekten Mord.«

»Den fast perfekten Mord«, hatte Reuss damals angefügt. »Den fast perfekten Mord. Irgendetwas verrät doch immer, was wirklich geschehen ist, oder?«

Jeder von ihnen hatte seine eigene kleine, bizarre Sammlung von Zeitungsberichten, ältere und neuere, über solche unaufgeklärten Fälle. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Vermutungen und Verdächtigungen dazu. Wenn sich diese Vermutungen zu überschneiden begannen, dann wähnten sie sich auf einer vielversprechenden Fährte.

Alte Fälle. Die bei den Behörden längst in den Aktenkellern schlummerten. Verbrechen, die kaum noch jemanden interessierten außer den Hinterbliebenen der Opfer. Und wahrscheinlich den Tätern, die sich nie ganz sicher sein konnten, nicht doch noch überführt zu werden.

* * *

Sie sahen die Sonne im Meer untergehen. Der letzte Sonnenuntergang in diesem Jahr. Der Himmel spielte in allen Farbtönen zwischen Goldgelb und Orange, zwischen Azur und hellem Violett. Das Meer lag glatt, beinahe wellenlos, es ging fast kein Wind, und so konnten sie sich freuen auf eine ruhige Nacht – ruhig, was das Wetter anging.

Sie hatten gegessen und getrunken, jetzt genossen sie die besondere Stimmung des Augenblicks. Still saßen sie nebeneinander, beide mit angewinkelten Knien; Marielle hatte die Arme auf die Knie und das Kinn auf die Arme gelegt, Pablo hatte sie um die Schulter gefasst. So saßen sie im Licht der untergehenden Sonne, in der Stunde des ausklingenden Silvestertages.

Irgendwann brach sie das Schweigen: »Wenn wir nachher einschlafen … ich meine, um acht oder um neun … ich weiß nicht, ob ich dann zu Mitternacht noch mal wach zu kriegen bin.«

»Ich stell den Handywecker«, sagte Pablo. »Wär doch schad, wenn wir diesen Jahreswechsel verschlafen würden.«