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»… Genk âne wek »… Geh ohne Weg den smalen stek …« den schmalen Steg …«
VOLKSLIED AUS DEM 14. JAHRHUNDERT MEISTER ECKHART ZUGESCHRIEBEN
 

»Schreibe, was du siehst und hörst!«
SCIVIAS VON HILDEGARD VON BINGEN
Godehard war zurück. Mit einer Kette aus bunten Steinen, die er mir bei unserem Wiedersehenskuss um den Hals legte. Glatt, kalt, schwer ließen mich die Steine keinen Augenblick vergessen, dass ich sie trug. »Meine kleine Frau«, sagte er dabei und küsste mein Handgelenk über der Uhr.
Mein Besuch bei ihm zu Hause stand bevor. Beim Buchhändler lagen jetzt immer öfter Päckchen, die keine Bücher enthielten. »Schön sein muss auch die kluge Frau.« Einen beigen Schal, mit rotblauen Schuhen bedruckt, fand ich, reine Seide, sagte das Etikett am Saum; eine Puderdose, silbern mit Perlmutteinlage für die Handtasche; ein Fläschchen, nein, Flakon, Ma Griffe; einen Lippenstift von Helena Rubinstein. Das letzte, das größte Paket überreichte er mir selbst.
»Du sollst schön sein, kleine Hilla.« Godehards Augen hatten einen sonderbaren weichen Glanz, so sah die Großmutter aus auf dem Weg zur Kommunionbank. »Schöner als alle anderen. Das hier habe ich für dich ausgesucht. Sag nichts. Probier es zu Hause an. Du wirst aussehen wie eine Prinzessin. Meine Prinzessin.«
Ich bugsierte das Paket in Bus und Bahn nach Hause, schlich mich, nach allen Seiten spähend, in den Holzstall, verstaute das Ding unterm Tisch bei den Schachteln mit den Steinen. Wartete, bis die Luft im Haus rein war. Vor dem dreiteiligen Spiegel im Schlafzimmer der Eltern probierte ich es an. Ein grünschwarz changierendes, knisterndes Kleid zog ich aus knisterndem Seidenpapier, Cocktail-Kleid nannte man so etwas, eng und ausgeschnitten vorne und hinten, aber mit einem Bolero. Wie sehr hatte ich Doris, meine feine blonde Freundin von der Realschule, damals um so ein Jäckchen beneidet.
Das seidigglatte Futteral saß wie eine zweite Haut. Ich war in eine andere Haut geschlüpft. Godehards Haut. Kleider machen Leute? Und ob! Aus Hilla Palm, Kenk vun nem Prolete, machte dieses Kleid … Ja, was eigentlich? Ich holte meine weißen Pumps aus dem Schrank. Stellte ein Bein vor, legte den Kopf schief, lächelte mich an: meine kleine Hilla. Stemmte die Hand mit der Uhr am Gelenk in die Hüfte und nickte mir zu: meine Prinzessin. Legte mir die Steine um den Hals, zog das Jäckchen über und sah mir tief in die Augen: meine kleine Frau.
Prüfung bestanden. Frau. Prinzessin. Meine Kleine. Passten die Worte zu mir? Wie oft hatte ich derlei schon gelesen. Aber wollte ich das auch leben?
Den Bruder weihte ich ein. Für die Mutter machte ich das Kleid zu einer Spende von Monika; zu eng geworden, ze spack. Sie lade mich zu ihrem Geburtstag ein. Würde es spät, könne ich bei ihr übernachten.
Das aber hatte ich nicht vor. Den letzten Zug von Köln nach Großenfeld kurz nach zehn könnte ich bequem erreichen.
»Wie Aschenputtel«, lachte ich, als ich Godehard am Samstagnachmittag auf dem Bahnhof entgegenlief, unterm Popelinmantel von Cousine Hanni das herrliche Kleid.
»Den ziehen wir gleich aus«, schloss mich Godehard in die Arme. »Komm, alle sind schon gespannt auf dich.«
Wind vom Rhein fuhr mir unter den Mantel, zerrte ihn auseinander. »Alle? Ich denke, wir fahren zu deinen Eltern?«
»Zu meinen Eltern? Nein. Die sind gar nicht zu Hause. Du kommst zu mir. Aber wenn du willst, kann ich dir das Haus zeigen.«
»Aber … Ich dachte … Deine Eltern …«
»Ein anderes Mal, kleine Hilla, wir haben doch noch so viel Zeit. Wie schön du bist.«
Ohne den Dom eines Blickes zu würdigen, lenkte Godehard den Wagen aus der Innenstadt hinaus, am Rhein entlang, ich verdrehte den Hals nach den Türmen, bis auch die Spitzen verschwanden. In Köln und nicht zuerst im Dom. Das gab mir einen Stich.
»Immer noch gut katholisch?«, fragte Godehard leichthin, und da ich mit der Antwort zögerte, fuhr er fort: »Geht dir vielleicht so wie mir: nicht ganz dabei und nicht ganz davon weg. Heute Abend ist ein Cousin von mir da. Lukas will Pastor werden. Hat schon die Diakonweihe. Mit dem kannst du dich ja mal unterhalten.« Godehard schien aufgeregt, redete in einem fort, von denen, die kommen, und denen, die nicht kommen würden. Ich hörte kaum zu. Hatte mir angewöhnt, gelegentlich ein Hm, Soso, Achnein einzuwerfen und meinen Gedanken nachzuhängen.
Alle Aufregung verflogen, nun, da ich wusste, nicht Godehards Eltern waren es, die mich erwarteten. Offensichtlich handelte es sich um eine Cocktail-Party, wo, gemäß Dr. Oheim, »vor allem junge Menschen, in besonders zwangloser Form etwa zwischen achtzehn und zwanzig Uhr zusammenkommen …«. Denn »eine gut vorbereitete Cocktail-Party ist etwas sehr Nettes, Spritziges – allerdings nicht ganz Billiges«. Ein nettes, spritziges Stündchen würde ich bleiben und dann ab nach Hause. Montag gab es eine Mathearbeit.
Die Stadt ließen wir hinter uns, auf der Landstraße ging es Richtung Sauerland, in einem Waldstück fuhr Godehard langsamer und bog kurz darauf ab. Mitten zwischen die Bäume. Bremste. Hielt an. Ich presste die Knie zusammen. Eine Schranke versperrte die Weiterfahrt. Godehard stieg aus, schloss auf, klappte den Balken hoch, wir fuhren durch, schloss wieder ab.
»Hör mal«, fragte ich irritiert, »wie kommen denn die anderen hier durch?«
»Die anderen? Ach, die müssen einen Umweg machen, kommen von der anderen Seite. Die kennen das.« Godehard lachte. »Ich bring dich schon nicht in Blaubarts Burg.«
Trotzdem: Wie sollte ich von hier wieder wegkommen? Pünktlich zu meinem letzten Zug?
»Keine Sorge«, beruhigte er mich. »Irgendjemand wird dich sicher nach Hause fahren – wenn du nicht bleiben willst. Bei mir.«
Ich schaute auf die Uhr. Minutenlang nichts als Bäume und kein Haus in Sicht.
»Gehört alles dazu«, sagte Godehard mit einer ausladenden Handbewegung, ganz wie im Märchen vom gestiefelten Kater, der überall behauptet: »Das gehört meinem Herrn, dem Grafen.« Schließlich ging der Wald in ein parkähnliches Gelände über, die Wege, kniehoch buchsbaumeingefasst, von Bogenlampen erleuchtet, Kies knirschte; ein langgestrecktes, mehrstöckiges Gebäude kam in Sicht. »Herrenhaus«, schoss mir durch den Kopf, und dass ich mir so die Keyserling’schen Häuser vorstellte, Häuser für Barone und Komtessen – oder für Kakaofabrikanten.
Godehard bog vom Hauptweg ab, unter den Rädern wurde es wieder still. Er fuhr jetzt im Schritttempo und kurbelte das Fenster hinunter: »Hier rechts siehst du das Haus unseres Gärtners; dahinter die Stallungen. Drüben wohnt der Butler mit seiner Familie. Dort der Bungalow meines Bruders, und hier sind wir bei mir. Hier bei mir.«
Der Wagen hielt vor einem doppelstöckigen Backsteinhaus, blassrote Ziegel, die Rahmen um Fenster und Türen aus einem helleren Stein, die Mauern über und über mit knospendem Weinlaub bedeckt wie bei Schönenbachs Gärtnerei, unserem Haus gegenüber. Fehlte nur noch die Katze auf dem Sims. Durch die Wiese mit blühenden Tulpen und Narzissen führte ein schmaler Pfad auf die dunkle, mit Schnitzwerk verzierte Tür. Grüne Fensterläden mit Eisenmännchen befestigt, genau wie an unserem Haus. Nur war dieses hier mehr als doppelt so groß. Für nur eine Person. Im Dämmerlicht schienen die Mauern direkt aus dem Gras zu wachsen. Das Haus gefiel mir sehrsehr gut.
»Gefällt es dir?«, freute sich Godehard. »Das alte Jagdhaus. Aber der Jäger wohnt jetzt in der Stadt. Der Schulweg war für die Kinder zu weit.« Zwischen den Bäumen, die die Wiese umgaben, standen Autos. Ein paar Motorroller. Saxophontöne aus den geöffneten Fenstern, ein verrauchter Bass sang »God’s my lord, heart and soul« oder so ähnlich.
»Komm, gib mir den Mantel.« Godehard griff nach meinen Schultern, streifte mir den Hanni-Mantel ab, über die Schwelle schritt ich im Godehard-Kleid.
Aus der engen Diele – nur ein Zwölfender über der Flurtür erinnerte noch an den ehemaligen Bewohner – ging es gleich weiter in einen großen Raum oder kleinen Saal, jedenfalls in ein Zimmer, größer als jedes, das ich aus Privathäusern kannte. Offenbar hatte man im Erdgeschoss Wände entfernt und ein paar Stützbalken aus rauchgeschwärztem Holz eingezogen.
Die Partygäste drängten sich uns entgegen, eingehüllt in eine Wolke aus Zigaretten, Rasierwasser, Deo, Parfüm. Alle redeten durcheinander, die weiter hinten reckten die Köpfe nach uns, bis Godehard den Arm hob und »Ruhe, still jetzt!« gezischelt wurde.
»Fräulein Hildegard Elisabeth Maria Palm«, stellte Godehard mich vor, »ihr dürft aber Hilla sagen«, und ich schüttelte Hände, schmale, breite, kräftig und labbrig, trocken und feucht, lächelte mit geschlossenen Lippen und kam mir wie die Königin von England vor. Nur dass die sich nicht mit jedem Händedruck verlegener fühlte. Doch die anderen schienen genauso froh wie ich, als die Zeremonie vorbei war, verteilten sich rasch im Saal, wo an der Wand auf langen Tischen – jawohl, die weißen Tischdecken hingen gemäß Dr. Oheim bis fast auf den Boden hinunter – Schüsseln, Geschirr, Besteck, Gläser und ein Bowlegefäß standen. Ein Kellner, zwei Serviermädchen.
Im vorderen Teil des Raumes gab es hohe, runde Tische, darauf Aschenbecher und Zigaretten, Roth-Händle, Gitanes, Senoussi, HB. »Bei einer Cocktail-Party müssen genügend Tabakwaren und die dazugehörenden Aschenbecher bereitgestellt werden.« Am liebsten hätte ich ein paar Päckchen für Friedel eingesteckt, die mir vor Jahren mit dem Lexikon eine so große Freude gemacht hatte. Eine Fläche hinter den Tischen war freigeräumt; sicher würde dort getanzt werden. Irgendwo wurden Witze erzählt, ab und zu Gelächter.
Fast ehrerbietig füllte eines der Serviermädchen mein Glas. »Diese Bowle musst du unbedingt probieren«, drängte Godehard, »hab ich selbst gemischt. Die süßen Früchte essen wir später.« Er schnappte nach meinem Ohrläppchen. »Wie schön du dir deine Haare gemacht hast. Und wie ich mich schon darauf freue, die Nadeln rauszuziehen.«
Das konnte er gleich haben. In Erwartung seiner Eltern hatte ich mein Haar kunstvoll zu einem seriösen Turm drapiert. Mit ein paar Handgriffen waren die Nadeln draußen, ich schüttelte die Strähnen über die Schulter. »Besser so?«
Godehard schien enttäuscht. »Hätt ich gern selbst gemacht.« Er fuhr mir ins Haar, packte meinen Nacken und drückte spielerisch zu. »Komm, wir schauen mal, was da los ist.«
Vor dem Plattenspieler – »Summertime, Ella Fitzgerald«, sagte Godehard – stritt ein Grüppchen um die nächste Runde. Die vorletzte der zehn LPs war gerade nach unten gefallen.
Ein Pärchen, das Mädchen in einem rosa Kleid, bleistifteng und wie meines mit Bolero, der junge Mann wie Godehard in Anzug und feingestreiftem Hemd mit schmaler Seidenstrickkrawatte, hielt sich locker um die Hüften gefasst, in der freien Hand Martinis, seiner mit einer Olive, ihrer mit einer Maraschino-Kirsche. »Marokkaner-Kirsch« nannte die Tante die kandierte Frucht, die sie aus der Kochsendung mit Clemens Wilmenrod kannte. Auch die beiden wollten weiter Jazz hören. Namen wie Louis Armstrong, Bessie Smith, Count Basie und Miles Davis wurden ausgerufen wie Hauptgewinne.
Eine zweite kleinere Gruppe scharte sich um einen Mann, den Godehard mir als seinen Vetter vorstellte, Student der Ökonomie an der London School of Economics. Alles an ihm war exakt, bis auf drei Stellen hinterm Komma genau: der Haarschnitt, der geknöpfte Kragen, die Fliege. Aber die Schuhe. Sie verrieten, dass in Markus Moigenbruchs Kopf mehr vorging als Gewinn und Verlust, Steuern und Rückstellungen. Sozusagen auf Schritt und Tritt verrieten sie seine Sehnsucht, aus der Reihe zu tanzen in diesen Schuhen aus dunkellila Leder mit gelben lochgestanzten, grüngesteppten Einsätzen auf Spann und Ferse, purpurnen Schnürriemen und spitz, zum Aufspießen spitz, die dünnen Enden, leicht schnabelförmig nach oben gebogen, so bewegte sich der Ökonomiestudent durchs Leben. Zumindest in seiner Freizeit. Ich konnte meinen Blick von diesen Schuhen – sie mussten ein Vermögen gekostet haben – nicht lösen. Erst recht nicht, als ich entdeckte, dass in den lilagelben Schuhen rosa Socken steckten. Moigenbruch schwenkte eine LP in ihrer Papphülle. Aus sonderbar verdrehter Perspektive schauten vier lachende Jungenköpfe mit Kindergarten-Topffrisur in Anzug und Krawatte über eine Art Treppengeländer wie aus einer Kiste: The Beatles in gelben Großbuchstaben. Rechts unten, kleiner, der Titel: Please, Please Me. Darunter noch kleiner, hellblau: With Love Me Do and 12 other songs.
»Beatles, nie gehört«, schallte es aus der Gruppe der Jazzanhänger. Dies sei das erste Album der Gruppe, erklärte der Vetter, gerade herausgekommen, er habe sich gleich eins gesichert, wir sollten doch erst mal hören. Jede Wette, die seien bald die Nummer eins. Unterstützt wurde er von einem schlaksigen Jungen, der in Jeans und offenem Hemdkragen James Dean nachstrebte, und einem Mädchen, das in seiner schneidergrau kostümierten Eckigkeit an Astrid erinnerte und mit durchdringender Stimme behauptete, sogar Radio BBC habe dieser Gruppe gerade eine ganze Stunde gewidmet.
»Sehen süß aus«, befand ein Mädchen. »Aber die Haare?«, meinte ein zweites unschlüssig. »Wär nichts für meinen Vater. So einen dürfte ich nicht mit nach Hause bringen.«
»Nach Hause vielleicht nicht«, antwortete die Erste vielsagend, worauf sich die beiden kichernd ihre Gläser nachfüllen ließen.
Die dritte, stärkste Gruppe wurde von einem Mädchen in Hosen angeführt. Langes aschblondes Haar, dichter Pony bis in die Augen, enger schwarzer Pulli, schwarze enge Hosen, flache schwarze Schuhe. Ich musste lachen, dachte an meine Färbekünste, als ich aus Protest gegen Gott und die Welt, das Leben im allgemeinen und die Pappenfabrik im besonderen meine sämtlichen Kleider existentialistisch-schwarz gefärbt hatte, worauf die Tante mich voller Entsetzen eine »Ecksteinspezialistin« genannt hatte. So ähnlich glaubte sie es in einem Artikel über die zügellose Jugend in Frankreich gelesen zu haben.
Auch das Mädchen hielt eine LP in der Hand und wurde unterstützt von einem jungen Mann, Anzugträger mit Rollkragenpulli, ebenfalls schwarz. Jetzt seien sie an der Reihe, sagte er in einem müde-vornehmen Ton, er habe nichts gegen diese schwarze Musik, viel Seele, aus der Hefe komme diese Musik, wisse er alles, aber die Wurzeln unserer Kultur lägen doch anderswo, lägen doch hier. Er nahm der Schwarzgekleideten die Platte aus der Hand und schwenkte sie überm Kopf, rief »La belle France« und das hier sei nun die neueste Platte von Juliette Gréco, Texte von Prévert und Brassens, sogar von Sartre, Jean-Paul Sartre, wiederholte er, als dulde allein dieser Name keine Ablehnung. Zwei Gedichte von ihm habe die Gréco sich selbst aussuchen dürfen. Und, spielte er seinen letzten Trumpf aus, ihre Mutter sei im Widerstand gegen die Nazis gewesen; die kleine Juliette habe mit ihr im KZ Ravensbrück gesessen.
Betretenes Schweigen.
»Der Abend ist doch noch lang«, beschwichtigte Godehard, souverän in seiner Rolle als Gastgeber. »Also Amerika hatten wir ja schon. Jetzt erst einmal ›Vive la France‹ und dann kommen die, wie heißen sie noch? Die Beatles, die Maikäfer, dran.«
Gesittet standen wir um die kleinen, hohen Tische herum oder saßen auf schmalen Stühlen gegenüber vom Buffet, machten wissende Mienen zu Chansons, von denen ich kaum ein Wort verstand. Drei Jahre Französisch in der Realschule waren fast spurlos an mir vorübergegangen. Juliette Gréco folgten Charles Trenet und Gilbert Bécaud, Charles Aznavour und Yves Montand, die Stimmung wurde zunehmend gedämpfter, die Gespräche verstummten beinah ganz, betreten stierten wir in unsere Gläser, o wie luden diese Lieder doch die ganze Schwere des Lebens auf unsere jungen Schultern. Da half nur noch Bowle. Leise schlich man über die knarrenden Dielen zum Nachschub, immer öfter kamen die Jungen mit stärkerer Kost zurück, Whisky oder Cognac, man lehnte aneinander, umarmte sich, schutzsuchend vor diesem Ansturm französischer Melancholie, erst Edith Piaf mit ihrer krähenden Lebenslust riss uns zurück ins pralle Partyleben.
Dirk Anklamm war der Sohn eines Schulzahnarztes. Das hätte mich warnen müssen. Doch die Aufmerksamkeit eines Oberprimaners vom Ambach-Gymnasium sicherte mir die Achtung der gesamten Klasse, nicht nur die der Mädchen. Zumal ich nicht die geringsten Anstrengungen unternommen hatte. Im Gegenteil. Anklamm war mir lästig. Vor allem, wenn er so unverhohlen zuversichtlich nach der Schule beim Brunnen im Park stand. Tag für Tag fragte er, ob er mir meine Tasche abnehmen dürfe, die ich ihm großzügig überließ. Er trug sie dann bis zur Bushaltestelle, Astrid, die denselben Weg hatte, kaum eines Blickes, geschweige denn eines Wortes würdigend.
Kam der Bus, gab er mir die Tasche mit einer ausladenden Geste wieder zurück, verbeugte sich und platzierte sich beim Papierkorb, von wo aus er mir am längsten nachwinken konnte. Fuhr der Bus los, hielt er die Grußhand mitten in der Bewegung an, als habe er das Zeichen zur Weiterfahrt gegeben.
Was wir miteinander sprachen, schien auch ihm nicht wichtig zu sein. Wichtig war, jedermann sah: Dirk Anklamm brachte ein Mädchen zum Bus. Einmal in der Woche tranken wir zusammen eine Cola in der Milchbar an der Bushaltestelle. Das genügte, damit wir in den Augen der anderen miteinander »gingen«. Mir war das recht. Milchbar und Anklamm erfüllten ihren Zweck. Ich war eine wie alle anderen. Und hatte so meine Ruhe. Mein Alleinunterhalter schirmte mich auf angenehme Art und Weise von wirklichen Gefühlen ab. Ich wollte nicht spielen und erst recht nicht wollte ich nicht-spielen. Fürs eine war mir meine Zeit zu schade, fürs andere mein Herz. Ich wollte keine Liebe. Ich wollte Abitur.
Dann machte Dirk Anklamm den Führerschein, durfte einen roten VW mit Klappverdeck fahren und lud mich zu sich nach Hause ein. Zu seinen Eltern.
Bei Maternus hatte es sich schon herumgesprochen: Dat Hilla hätt dat Hicksen.
»Jo, bissjen blass bis de ja noch«, nahm mich Lore Frings gleich unter ihre Fittiche, als ich am nächsten Morgen meine Sachen ins Spind hängte, und zu den Frauen gewandt: »Dat es keine Quatsch, dä Papst …«
»… es am Hickse jestorwe«, ergänzten die Frauen den Satz im Chor und lachten.
In den vergangenen Jahren hatte ich hier einiges gehört, was nicht in meinen Büchern stand. Jedenfalls nicht so. Doch was immer auch die Frauen erzählten, ich hatte es nicht anders für wahr genommen als die Geschichten aus meinen Büchern. Ihre Wirklichkeit, die der Frauen und ihrer Geschichten, ging mich nichts an. Jetzt war das anders. Jetzt war ich eine von ihnen.
So, wie sie heute in der Mittagspause die Köpfe zusammensteckten, wusste ich gleich, dass es wieder einmal um Männer ging, die nicht so wollten, wie sie sollten. Dräckskääls. Seit wir den Prokuristen in die Flucht geschlagen hatten, nahmen die Frauen mir gegenüber kein Blatt mehr vor den Mund. Heute ging es um Erika, die wegen einer Bauchfellentzündung krankgeschrieben war.
»Von wejen Bauchfellentzündung«, höhnte Anita. »Da war wat janz anderes im Bauch.« Sie hatte es nötig! Vor drei Jahren hatte man sie hier halbtot aus einer Blutlache gezogen.
»Sie machen et aber auch all falsch«, dozierte Traudchen Kradepohl. Bis zum Tod Doktor Zehnders aus Strauberg hatte sie dessen Praxis geputzt und galt daher in medizinischen Fragen als Kapazität. »Mit ner Stricknadel. Nä, nä, dat muss doch zu ner Blutverjiftung führen.« Traudchen sprach Dondorfer Platt, doch sobald es um die Wissenschaft ging, verstärkte sie ihre Autorität durch Hochdeutsch, so rein, wie die Zunge es hergab.
»Un wat häls de von Seife?« Elsbeth war nun auch schon seit Jahren hier beschäftigt. Ihr aschiges Haar, vom häufigen Blondieren brüchig, stand wie Krepppapier um ihr rosiges Gesicht.
»Seife?« Traudchen wiegte bedächtig den Kopf. Sie war schon hoch in den Fünfzigern, bekam Witwenrente, langweilte sich aber zu Hause und ging allmorgendlich zum Pillenpacken wie andere Gassi mit dem Hündchen. »Ihr seid meine liebste Familie«, sagte sie gern, und so behandelte sie die Frauen auch. Kein Montag verging ohne ein ordentliches Stück Selbstgebackenes von Traudchen, und am Monatsende, wenn der Abschlag den Wochenlohn aufbesserte, gab sie im Café Haase einen aus.
»Seife? Wat meins de mit Seife?«
»Na, wat wohl. Waschen sischer nit! Trinken! Seife trinken, mein ich.« Elsbeths rosige Wangen verfärbten sich ins Purpurne.
»Seife? Igitt!«, rief Anita, zerrte den Schinken von ihrem Brot und würgte ihn unzerkaut hinunter. »Da weiß isch ja noch wat Besseres!«
»Jo, wie vor Johre, wie mir disch unger dä Dür rusjetrocke 47 han«, fuhr ihr Lore über den Mund, und Anita zog den Kopf ein. Sie war seit zwei Jahren verheiratet, hatte aber noch keinen Nachwuchs. Erst wenn sie ein Kind in die Welt gesetzt habe, so ihr Mann, Kollege meines Vaters in der Kettenfabrik, dürfe sie zu Hause bleiben. »Isch tu, wat isch kann, und der Ejon auch«, so Anita, »aber et klappt nit.«
»Seife trinken? Nä«, entschied Traudchen, »viel zu jefährlich. Allerdings …«
Traudchen liebte Pausen. Liebte es, wenn die Frauen an ihren Lippen hingen wie dem Pastor auf der Kanzel.
»Allerdings, wat dann allerdings?«, drängte Margot. Seit die Kürschnerei in Erpenbach dichtgemacht hatte, saß auch sie bei Maternus am Band, kam aber immer mit Lippenstift zur Arbeit und trug auffällig elegante Schuhe. Jedenfalls bis zum Spind. Da hielt sie ihre Latschen parat.
»Naja, et kann helfen«, gab Traudchen zu. »Aber besser ist doch heiß baden. So heiß, wie et die Haut verträscht. Un dann Persil rein, eine janze Packung. Dat der Schaum auch rischtisch dursch un dursch jeht.«
»En janze Packung? Is dat nötisch? Wat en Verschwendung! Do krisch isch jo sechsmol met jewäsche«, ging es aufgeregt durcheinander.
»Eine janze Packung!« Traudchen blieb hart. »Dat muss sisch doch lösen da drin! So wie dä Dräck aus dä Kleider.« Sie kicherte verhalten.
»Lösen tut sisch dat am besten mit Rizinusöl.« Das war Marga Schweppes, lebenslustig, noch keine dreißig.
»Dat sieht man!«, höhnten die Frauen. Marga erwartete das vierte Kind. »Dä muss mesch nur ankucke«, pflegte sie entschuldigend zu sagen.
»Rizinusöl! Dat jeht am falsche Loch eraus!« Die Frauen kreischten.
»Ach wat!«, schaltete sich Maria Posomierski ein. Sie hielt sich meist aus allem heraus, was auch mit dem seltsamen Tod ihres Mannes zu tun hatte. Immer wieder musste sie erzählen, wie ein Auto »dat Scheusal« buchstäblich von ihrer Seite gerissen hatte, was von den Frauen als ausgleichende Gerechtigkeit begrüßt wurde, und ihnen jedesmal aufs neue eine eigentümliche Genugtuung verschaffte. Alle wandten sich Maria zu, die ihre Lippen über die Zähne nach innen zog und die Augen zusammenkniff, als prüfe sie uns auf Vertrauenswürdigkeit. Sie lebte jetzt in einer Onkelehe, wie man das nannte, mit einem Arbeitskollegen ihres Verstorbenen, wegen der Rente. Kinderlos.
»Ach wat!«, wiederholte sie. »Dat Beste is ein Motorrad.«
Jetzt war auch Traudchen mit ihrem Doktorlatein am Ende.
»Mach schon«, drängte Lore, »die Pause ist jleisch vorbei. So wat ze wisse, könne mir doch all jebrauche.« Sie warf mir einen schnellen entschuldigenden Seitenblick zu.
»Also drauf auf dat Motorrad und dann über Stock un Stein. Dat darf sisch nit drin festsetzen! Je pucklijer, desto besser! Isch weiß, wovon isch rede!« Maria Posomierski strich sich übern Kittel, von der wohlgerundeten Brust übern flachen Bauch bis zu den Oberschenkeln. Mit neidischen Blicken folgten die Frauen der Bewegung. Fast alle hatten ein paar Kilo zu viel, aber dat Maria, auch nit mehr die Jüngste, hatte ein Fijürschen, dat musste man ihm lassen!
Lore erhob sich. »Komm Hilla, dat reischt! Ja, hier bei uns lerns de wirklisch wat für et Leben. Nu, komm, dat is wirklisch nix für disch.«
»Ävver früh jenuch, sonst is et zu spät«, fügte Maria noch hinzu, dann heulte die Sirene und schickte uns mit diesem rätselhaften Schlusssatz zurück ans Fließband.
 

In den nächsten Tagen war ich vom Fahrrad kaum noch runterzukriegen. Wie vor Jahren, als ich vor der Pappenfabrik in den Alkohol geflohen war, raste ich nach der Arbeit einfach drauflos, raus aus dem Dorf, weg von dem glatten Asphalt, vorbei an Karrenbroichs Hof, durch zerfetzte Kuhfladen, trocken gedörrt wie surrealistische Plastiken. Glühende Luft krümmte das reglose Laub, Staub stieg wie Dampf aus den Feldwegen und überzog das verdorrende Buschwerk mit stumpfem Grau. Auf dem Damm schaute ich nach Nicki aus, ihrem roten Röckchen im grünen Gras.
Schon nach kurzer Zeit wäre ich am liebsten abgestiegen, jeder Knochen verlangte nach Ruhe, nach weichem Sand, einem ruhigen Blick unter die hohe blaue Himmelsschale. Hilla Selberschuld ließ das nicht zu. Hilla Selberschuld drohte mit Wörtern für die Lichtung, so, dass ich mit Meersternichdichgrüße doppelt schnell in die Pedale trat. Todmüde kroch ich abends ins Bett, froh und traurig zugleich, dass Bertram noch weg war. Ich schloss die Augen, Nickis Bild stieg auf, lebendiger Trost.
 

Von Monika kam eine Karte: »Did you get your last tram?« Englisch fanden wir chic. »Everything o.k.«, schrieb ich zurück. Sehr weit entfernt fühlte ich mich von dem, was mein Leben vor der Lichtung ausgemacht hatte, vom Cäcilienfest der katholischen Jugend, von Kirmes und Cola in der Eisdiele, dem Rumstehen an Ecken, dem Kichern und Aufgeregttun. Selbst in der Erinnerung daran konnte ich mich nicht mehr wiederfinden.
 

Ob ich mich erkältet hätte, fragten die Frauen bei Maternus, wenn ich alle Stunden zur Toilette rannte.
»Dat Mädschen is aus dem Lot, isch weiß aber nit waröm«, hörte ich Lore im Gespräch mit Traudchen. »Dat Hilla hat doch alles jeschafft. Und jetz auch noch auf die höhere Schul. Ob et Liebeskummer hat? Man sieht et jo nie met nem Jong.«
Sobald ich dazukam, priesen sie den Kaffee im Sonderangebot bei Mini.
 

Samstagabend weichte die Mutter den Drillich des Vaters im kochend heißen Wasser ein und machte sich mit Gießkanne und Harke auf zum Friedhof. Ich zog Rock und Unterhose aus und tauchte, die Beine über der Wanne gespreizt, den Unterleib in die Lauge, einmal, zweimal, siebenmal, bis ich die Hitze aushalten konnte, auch die Beine in die glitschige Brühe zog und mich mit zusammengebissenen Zähnen zu den ölverdreckten Blaumännern in die Schmierseife hockte. Feuerrot brannte mein Bauch, flammte die Haut bis zu den Knien, die weiß zwischen Ober- und Unterschenkel aus dem glühenden Fleisch herausragten. Blutrot die Haut, sonst nichts.
Warten machte mich mürbe, porös, durchlässig für Angst, Verzweiflung, Verstörung. Immer sah ich sie beide auf mich zukommen: Erlösung, Verwerfung. Lebte in zwei Zeiten, noch hier und schon drüben, und dazwischen: Niemandsland, Niezeitsland. Das Warten.
Im Tageslicht warteten die Dinge mit mir, nahmen mir einen Teil des Wartens ab, mein wandernder Blick konnte die Last auf die Dinge verteilen. Alltag nahm mich in Anspruch, die Pillen bei Maternus, die Geschichten der Frauen, der Missmut der Mutter – »Du bringst disch noch um mit dem Fahrrad!« – lenkten mich ab, auf den holprigen Feldwegen musste ich achtgeben.
Nicht so des Nachts. Mit jedem Atemzug drückte das Dunkel mich tiefer ins Warten, tiefer in die Angst. Warten: die Mutter der Angst. Vom Warten ausgelaugt, verspürte ich von Tag zu Tag stärker den Drang, laut zu schreien, alles hinwegzufegen, die Hitze, die Sonne, die Weiden am Rhein, die Dächer von den Häusern und die Wörter von den Seiten der Bücher, leer und wüst sollte die Erde sein, wie vor allem Anbeginn.
Konnte Rosenbaums Brief für mich noch gelten? »Du bist Deine Geschichte. Lass nicht zu, dass andere Deine Geschichte schreiben.« Schöne Sprüche?
Als mich früh am Morgen Krämpfe weckten, war ich zu erschöpft für Freude und Triumph. Lautlos schlüpfte ich aus dem Bett, schnallte mir eine Binde am Taillengummi fest, zog mich an und schlich aus dem Haus, rannte durch die menschenleeren Straßen zum Rhein. Die Kirchturmuhr schlug fünf. Die Luft, noch blass und kühl und ein wenig feucht, kräuselte die Haut, ein leichter, feuchter Flaum, o flaumenleichte Zeit der ersten Frühe. Doch es würde wieder heiß werden. In den Auen hing der Tau wie Schweißperlen an den Gräsern. Grillen und Vögel zirpten und tirilierten, quirlten ihre Stimmen wild durcheinander, als wollten sie alles Wichtige noch vor der Hitze erledigen.
»Du jehst noch ens en de Binsen«, pflegte die Großmutter zu sagen, wenn sie mir kundtat, dass ich unausweichlich ins Verderben steuern würde. Schon von weitem sah ich sie beieinanderstehen, graues Grün, die fahlbraunen Wedel gebogen von einer leichten Brise aus dem Westen. Ich dachte an den Großvater, der uns Flöten geschnitzt und die Sprache des Schilfs gelehrt hatte, diese luftige Zwiesprache zwischen Binsen und Wind. Nein, ich war nicht in die Binsen gegangen.
Ich ließ mich zwischen die dürren Stecken auf die hartgetrocknete Erde fallen und wartete. Wartete auf Tränen, Erlösung, die doch jetzt aus mir herausbrechen mussten wie im Frühjahr die Knospen aus den Zweigen. Oder Regen, in jedem Roman wäre jetzt ein erquickender Regen vom Himmel herabgefallen, hätte mich reingewaschen, die Seele gelöst, endlich auch einmal meine Seele ganz, aber hier badete ich nur in Schweiß, war ich nichts als Krampf und Schweiß. Sich in Tränen auflösen, das sagt sich so dahin. Die Tränen, die meine Angst hätten wegschwemmen können, meine Scham, meine Schuld, meine Schuld, meine übergroße Schuld: Die Tränen kamen nicht. Scham und Schuld blieben in mir stecken. Eingekapselt in gefrorene Tränen. Ich trug sie zurück durch die Straßen, die sich allmählich belebten, Arbeiter kamen von der Nachtschicht zurück, andere machten sich zur Frühschicht auf. Ich trug meine Kapsel zurück nach Hause, wo ich log, ich sei in der Morgenmesse gewesen. Trug sie ans Fließband zu Maternus und wieder zurück in die Altstraße 2. Mit der Kapsel würde ich leben können wie Onkel Mätes mit seiner Kriegsverletzung, einem Granatsplitter, der wanderte, wie er sich ausdrückte, von der Hüfte durch den Körper, wer weiß, wohin. Nur nicht ins Herz.
 

Abends schlich ich mich vor den dreiteiligen Spiegel im Schlafzimmer der Eltern. Hier hatte ich in Godehards Kleid gestanden, einen Fuß vor dem anderen, Hand in die Hüfte, meine Prinzessin, meine kleine Frau. Auf dem Doppelbett die rostrote Steppdecke, in der Luft der vertraute muffige Geruch zu selten gewaschener Körper. In meinem Rücken über den Paradekissen im Goldrahmen Gottvater auf seinem Thron, keine Miene verziehend hinter seinem dichten weißen Bart. Ich starrte mich an, bis sich der Umriss meines Gesichts vernebelte, und mir war, als unterschiebe sich ihm ein zweites, blutig zerschlagen. Ehe es vollends auftauchen konnte, kniff ich die Augen zusammen, riss sie weit auf, vertrieb das Gespenst mit ein paar Lidschlägen und betrachtete meinen Körper, nackt bis auf die Binde am Taillengummi, wie man einen Gegenstand mustert, bevor man sich für oder gegen seinen Kauf entscheidet.
Fürs Menschenauge war die Kapsel unsichtbar. Wovon man nicht laut spricht, das ist nicht da. Ich sehe was, was du nicht siehst. Niemals sehen wirst. Das Warten war vorüber, die Angst vorbei. Die Scham blieb. Die Schuld. Die Wörter für die Lichtung steckten in mir wie eine Kugel im Muskelfleisch; ein Fremdkörper, eingekapselt im gesunden Gewebe. Nur dafür, dass die Kapsel verknöcherte, musste ich noch sorgen.
 

Schon immer war ich gern allein gewesen. Einsamkeit war Freiheit. Meine Freiheit hieß Einsamkeit. Jetzt wurde dieser Zustand unerlässlich. Öfter noch als vor der Lichtung ging ich den anderen aus dem Weg. In den Ferien war das nicht schwer.
Kam ich von Maternus heim, schlang ich ein Brot hinunter und machte mich mit dem Fahrrad davon. An den Rhein, in die Wiesen, die Weiden, nur zur Großvaterweide fuhr ich nicht. Auch den Notstein vermied ich; dort könnte mir Sigismund auf seinem grünen Fahrrad entgegenfahren, könnten Hilla und Sigismund liegen, im Gras. Weg von allem, was war, wollte ich, dorthin, wo es kein Bild von mir gab, keine Erinnerungen, und so fuhr ich den schmalen Fußweg dicht am Rhein entlang, der nach Strauberg und weiter zum Anleger führte, einer Fähre, nahe einem Auwäldchen, meist zu nass für Spaziergänger. Hier war ich noch nie gewesen, hier war mir alles neu. Siehe, ich mache alles neu. Alles neu machen würde ich, Hilla Selberschuld verschwinden lassen. Verschwinden – doch nicht wie vormals Hilla Palm in den Büchern, den Welten, die es schon gab und wo man nie wusste, wohin sie einen führten. Ich wollte sichergehen. Hatte ich mir nicht schon einmal erschrieben, was ich brauchte? Eine Ferienreise, einen finnischen Freund? Nun würde ich, Hilla Palm, mir eine ganze Welt erschaffen, Welten nach meinen Bedürfnissen, allein mir untertan, zugetan, allein mir erreichbar. Eine Welt der Milde, der Schönheit, der Selbstvergessenheit. Aufgehen wollte ich im Selbst einer Petra Leonis, in ihrer Welt mich verströmen, in die Wörter-Dinge, verschwinden in ihren Molekülen, Atomen, sie beseelen mit meinem Atem, Leben einhauchen, bis ich atemlos versinken würde in ihnen allen. Ohne zu lügen würde ich, könnte ich so von Grund auf glücklich sein, anders sein, mir ein Leben zuschreiben, das saß wie angeboren.
So bezog ich mit meiner Kladde – ich war seit den Heften Schöne Wörter, schöne Sätze den Karos treu geblieben – eine Mulde im Sand inmitten eines Erlengebüschs.
»Beati dies – Schöne Tage«, schrieb ich aufs Deckblatt. Und darunter: »Tagebuch von Petra Leonis.« Vom Meer schrieb ich, das ich nie gesehen hatte, tauchte ab in das Meer meiner Bilder, schwang mich auf in den Himmel meiner Wörter, goldenstaubig, mag sein, Katzengold, goldfarben gewiss, bunt belichtert und gefiltert, reiste dort herum zwischen Möwen und Heringsschwärmen, weißen Wolkenfischen und Jumbojets, durch immer neue Kraft und Herrlichkeit, und meines Reiches wird kein Ende sein.
»Meer«, schrieb ich und schmeckte das Salz auf der Haut, schrieb »Sand« und spürte ihn rau zwischen meinen Zehen. Ich konnte die Wörter fühlen, wie Berührungen, denen ich in der Wirklichkeit auswich. »Warm«, schrieb ich, und meine Haut erlebte die Wohligkeit angenehmer Temperaturen, »Blütenduft«, schrieb ich, und meine Nase schwelgte in Düften, ich hörte, sah, schmeckte, fühlte und roch, was immer ich schrieb.
Davon trug mich der Rhythmus, davon und immer weiter ins Meer, wie die Strömung des Rheins, der Rhythmus der Wörterfolge, irgendwann wichtiger als die Wörter selbst, das Strömende, Bewegende, Tragende, die Strömung unter der Strömung, die den Wörtern ihre Bedeutung zuschliff, bis sie rund und glatt und hart wurden wie jahrmillionenalte Kiesel. Rhythmus war Zukunft und die Zukunft ein Meer. Immer weiter schwamm ich hinaus, ohne Furcht, ohne Angst, ohne Erschöpfung, bis zu meiner Insel, die ich Samtsee nannte. Schrieb von Bambushütten, von Palmen, dem Strand, offen, leer, voller endloser Möglichkeiten. Schrieb von Muscheln und Vögeln, Bilder fern von Raum und Zeit, Bilder gespeist von Eindrücken Gauguin’scher Gemälde aus meinem Buch für besondere Leistungen und von Erzählungen Somerset Maughams, wo Männer den Lava-Lava tragen und die Mynah-Vögel in den Kokospalmen am Ufer einer Koralleninsel kreischen. Alles war mir vertraut, im Innersten verwandt. In diesem lauteren Paradies gab es keine Sorgen, kein Leid. Unerreichbar dem Bösen, dem Trug, der Täuschung, dem Verrat. Unerreichbar. Ich hörte das Wasser, hörte den Gesang der Fische und Nixen, den Gesang des Windes und der Wellen, sah den Sonnenuntergang über dem Meer und ahnte das Glück. Das Meer, das Meer, was war das Meer? Ein Wort unendlicher Wörter voll, unerschöpfliches All pha Beet, alles verzehrend, alles vermehrend, zerfließend, ergießend, beladen und gesunken, den Winden erlegen, den Winden ergeben, dem Mond, ruhig und still, grün an den Uferrändern, rosa und lila, golden, kupfern und blau, sieghaftes Blau und dunkel zur Tiefe hin, wo ich hinabstieg, in einen Garten hinab zur kleinen Meerjungfrau, vor ihrem Sündenfall der Liebe, ohne Herz, aber mit einer betörenden Stimme. So wollte ich leben, herzlos und unberührbar, aus grünem Glas, aber meine Stimme perlmutterglänzend und betörend.
In dieses Meer tauchte ich, Hilla Palm, ein, wann immer es nottat, mich reinzuwaschen von der Wirklichkeit.
Wörter waren nicht länger ein Schlüssel zur Welt, sie waren Amulette, boten Schutz vor den Zumutungen der Wirklichkeit. Doch allein den Wörtern auf meinem Papier, den von mir geschriebenen, war zu trauen.
Hier, und nur hier, war alles, wie es schien zu sein, eine große offene Welt, und die Welt ein Garten, in dem der Böse das Schlechte vergaß und der Gute seine Tugend genoss. Ich, Petra Leonis, ging von Hütte zu Hütte mit einem Gefühl wachsender Besänftigung, wachsenden Vertrauens. Anfangs waren die Hütten, die Strände, war alles menschenleer. Aber das war nicht traurig. Nur ruhig. Still. Die geschriebenen Dinge waren meine Freunde. Ich bewegte mich unter Freunden. Alles war mir zugetan, bis zum letzten Sandkorn, dem dünnen Vogelschrei, dem orchideenduftenden Wind. Große, langgestreckte, von einem südlichen Himmel überwölbte Sätze geleiteten mich durch eine heile Welt in ein nie verdämmerndes Licht. Und wenn es denn einmal dunkel wurde, dann so, dass dieses Dunkel mein Herz warm umhüllte. Drängten sich Bilder oder gar Wörter für die Lichtung herauf, wand ich meine Wörter, die erlaubten Wörter, zu besonders prächtigen Girlanden, ließ den Wind in endlosen Schleifen fächeln, die Gardenien in tausend Adjektiven duften, Kolibris durch blaue Zeilen schwirren, färbte die Morgendämmerung rosa, lila und grau, ließ die Milchstraße flirren, den Vollmond, Halb- und Sichelmond in kunstvollen Brechungen auf den Wellen schimmern, bis ich übersatt war vor so viel papierener Harmonie.
Sonntags beim Mittagessen kamen der Vater, die Mutter, die Großmutter, der Bruder und ich dem Bild einer Familie am nächsten. Wir waren beim Nachtisch, als ich mit Mickels Diagnose herausrückte. Bertram hatte mich endlich dazu ermutigt.
»Ich will nen Kauhauboii als Mann«, plärrte es aus dem Radio in die sprachlose Runde. Der Vater senkte den Kopf noch tiefer über das Apfelkompott. Die Großmutter ließ den Löffel fallen und bückte sich nicht danach.
Die Mutter machte ein Geräusch, als verletze etwas sie in der Kehle. »En Wohnung en Kölle? Un wer soll dat bezahle?«
Die Mutter sah den Vater an wie früher, wenn sie ihm von einer Missetat berichtet hatte. Diesen Blick, der die Stellung des Vaters als Familienoberhaupt ohne Wenn und Aber anerkannte, zeigte die Mutter nur noch selten.
Der Vater war nicht mehr der Alte. Immer rücksichtsloser klapperte ihn die Großmutter morgens, bevor sie um fünf zur Messe im Kapellchen aufbrach, mit den Herdringen aus dem Schlaf, und die Scheiben, die ihm die Mutter sonntags vom Braten schnitt, wurden dünner. Er, der früher den Fisch aus der Dose, Hering in Tomatenmark, ganz für sich allein bekommen hatte, während wir den Soßenrest im Kartoffelbrei verrührten, beschwerte sich nicht, schien es kaum zu bemerken. Die Schwäche des Vaters stärkte die beiden Frauen. Ich hatte daran keine Freude.
»Für Auswärtsstudierende gibt es siebzig Mark mehr. Zum Wohnen.« Auch ich sah den Vater an. Der fixierte das Kofferradio unterm Kruzifix.
»Chinchin, chinchin, chinchin chilu, ich finde das Glück und die Liiebe dazu«, tirilierte eine Frauenstimme.
»Mach doch ens ener dat Radio us«, brummte der Vater.
Bevor der Vater zu kränkeln anfing, hatte die Mutter, sobald er hereinkam, das Radio abgedreht, nachdem er einmal so heftig die Aus-Taste gedrückt hatte, dass der kleine Apparat beinah vom Brettchen gekippt wäre.
Jetzt zuckte sie nur die Schultern und blieb sitzen. Ich sprang auf und schaltete ab.
»Alleen en Kölle! Sone Jroßstadt: Dat es Sodom und Jomorrha«, räsonierte die Großmutter.
»Aber dat Hilla is doch vernünftig genug!« Sogar Bertram war sitzen geblieben. So wie ich, stürzte er meist nach dem letzten Happen davon. Um zwei war Anpfiff.
»Und dann«, ich spürte Bertrams Fuß auf meinem, »wohnt doch da auch der Kardinal!«
Der Vater warf den Löffel in die Kompottschale und stemmte sich mit beiden Händen von der Tischplatte hoch.
»Josäff!«, empörte sich die Mutter, und der Vater ließ sich auf den Stuhl zurückfallen. »Nun sach doch auch mal wat!«
Wie oft hatte ich diesen Satz in meiner Kindheit gehört. Ängstlich, verärgert, empört, meist eine Mischung, in der die Angst den Ton angab. Die war nun ganz aus der Stimme der Mutter verschwunden.
Der Vater schob den Stuhl zurück und knurrte, ohne einen der Anwesenden eines Blickes zu würdigen: »Waröm soll dat Kenk nit no Kölle trecke? Wenn et dat bezahle kann. Los mesch en Ruh. Isch ben möd.«
Früher wäre den Worten des Vaters geducktes Schweigen gefolgt. Heute, noch bevor er die Tür hinter sich ins Schloss gedrückt hatte, leise, behutsam – früher hatte er keinen Raum verlassen, ohne die Tür zu knallen -, brach in seltener Einheit aus Mutter und Großmutter entrüsteter Protest.
»Wat es denn met däm los?« Die Großmutter hielt es nicht länger am Tisch. Melissengeist war fällig. Doppelte Portion. »Dä kritt jet vun mir ze hüre!«
»Mach dat Radio widder an!«, maulte die Mutter und stapelte die Kompottschalen auf. »Jäv mer dinge Teller. Alleen en Kölle. Nä, nä, wenn de ne Jong wärst. Ävver so als Mädsche. Nä, sach isch.«
»Mama«, sagte ich, »ich bin neunzehn, im nächsten Semester zwanzig.«
»Semester, Semester«, äffte die Mutter, »meins de, dat macht desch vernünftijer? Nä!« Die Mutter klatschte die Hand aufs Wachstuch, wie sonst nur die Tante. »Mit mingem Willen nit!« Und noch einmal auf Hochdeutsch: »Mit meinem Willen nischt!«
Das war unerhört! Noch nie dagewesen. Die Mutter widersprach dem Vater.
Ich suchte Bertrams Blick; der hatte es jetzt eilig. »Ich muss«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Amo, amas, amat. Denk an die drei Könige.«
»Jo, maat nur all, dat ihr fottkütt!« Die Stimme der Mutter hatte ihren weinerlich vorwurfsvollen Ton wiedergefunden. »Mir künne jo he de Dräcksärbeed mache. Vom Läse, Lesen, wöd mer nit satt. Dat merk der ens! Un du«, sie packte den Bruder beim Arm. »Du bes öm acht widder he!«
 

Es klopfte. Ich schrak zusammen. Mein Holzstall war tabu. Niemand, nicht einmal Bertram durfte mich hier stören.
Es klopfte. Draußen stand der Vater in Mantel und Hut. Auf seinem Gesicht ein Ausdruck, den ich an ihm kannte, wenn ihm der Prinzipal mit schnarrender Stimme und abgehackten Bewegungen auseinandersetzte, wie er den Garten gestaltet zu sehen wünschte. Und nun nahm der Vater auch noch den Hut vom Kopf und drehte ihn unbeholfen in den Händen, ein paar Zentimeter nach rechts, ein paar Zentimeter nach links.
»Du?«, sagte ich. »Was is?«
So nah beieinander hatten wir lange nicht gestanden. Ich in meinem Stall, meinem Refugium, im Schutz meines Trostgestells; der Vater draußen. Für zwei war in meiner Zuflucht kein Platz.
»Has de Zeit?«, fragte der Vater. Seine Hände hielten den Hut jetzt still, und die Narbe auf seiner Wange war hochrot und zuckte bis unters Auge.
»Ist was?«, sagte ich noch einmal. »Klar hab ich Zeit.«
Ich wollte nicht, dass der Vater vor mir stand wie vor dem Prinzipal. So hatte der Wäschemann vor den Frauen gestanden, wenn er die Entscheidung erwartete für oder gegen das teurere Korsett, die Bettwäsche, Biber einfach uni oder doppelt mit Muster floral. Beinah unheimlich war mir dieser Vater.
»Komms de jitz? Oder nit?« Der Vater setzte den Hut auf. Ich war froh, die bekannte barsche Ungeduld in seiner Stimme wiederzufinden. »Mach fix, die do drinne brauche uns nit ze sehe.« Der Vater fasste mich beim Arm. Ich zuckte zurück. Wir sahen uns an wie ertappt.
»Isch jeh schon mal vor.« Der Vater wandte mir den Rücken zu. Ich schaute in den Klappspiegel und fuhr mir mit dem Kamm durchs Haar.
Seit unserer Fahrt nach Köln war ich mit dem Vater nicht mehr allein gewesen. Damals in Köln, das war in der Fremde gewesen, im Niemandsland, Wunderland, wo wir aus unseren gewohnten Rollen hatten herausschlüpfen können, uns ein stückweit neu erfinden, zueinander hatten finden können. In Dondorf mit dem Vater in ein Geschäft zu gehen: undenkbar. In ein Wirtshaus erst recht nicht. Und durch die Straßen?
An Piepers Eck holte ich ihn ein. Unschlüssig schaute er nach rechts, nach links. Ich ahnte, was er überlegte. Sollten wir links durch die belebte Dorfstraße gehen oder rechts am Friedhof vorbei, wo uns kaum einer sehen würde. Wohin es ging, war klar: an den Rhein.
»Komm«, sagte ich und wandte mich nach links.
Mitten durchs Dorf ging ich neben dem Vater, sah, wie sich meine Füße in den schmuddeligen Turnschuhen neben seinen bewegten. Sein linker Fuß in einem hohen orthopädischen Stiefel. Sein rechter im blankgewienerten Halbschuh. Das ließ sich die Mutter nicht nehmen. Ich gehe neben dem Vater, sagte es in meinem Kopf. Hilla Palm geht neben Josef Palm die Dorfstraße entlang, an der Post vorbei, am Krankenhaus vorbei, durch das Tor vom Schinderturm, ich registrierte die quadratischen Platten, mit denen die Bürgersteige gerade neu belegt worden waren; die dünnen Kastanien, mit Gurten an Holzpflöcken befestigt, wie die Zucht so die Frucht, hier und da ein Hundehaufen. Ein klarer warmer Tag, der Himmel blau und rein wie frische Wäsche. Die Straße sonntagsstill und mittagsleer.
Der Vater stumm wie ich. Sein Bein in dem plumpen Schuh schlug bei jedem Schritt zur Seite aus wie ein störrisches Pferd, so, dass ich immer weiter nach links rückte, bis ich mich dicht an die Fensterscheibe von Alma Maders Hutladen drücken musste, wollte ich nicht Gefahr laufen, den Vater zu berühren.
Der Vater trat neben mich. »Seit wann interessierst de disch für Hüte?« Seine Stimme klang rau, beinah erstickt, als unterdrücke er, was in der Kehle schon auf die Zunge drängte. Hätte er am liebsten so wie ich gesagt: Weißt du noch? Weißt du noch, wie wir einmal vor einem ganz anderen Schaufenster standen, auf der Hohe Straße in Köln? Das Wissen der Welt in zwölf Bänden.
»Nä, Papa, wat soll isch denn mit nem Hut.« Ich versuchte lustig zu klingen, unbefangen – was für ein Wort! -, und musste doch hören, dass meine Stimme heiser war wie die seine. Zu sonderbar schien mir dieses Sichverstehen und Verständigen, jenseits der gesprochenen Worte, ich ahnte, dass ich mich hätte geborgen fühlen können, wenn … Wenn nicht so vieles vorher geschehen wäre, das erst ausgesprochen werden musste. Da war der Geruch von Tabak, von Schweiß, von Mann. Ich rückte vom Vater ab und wechselte auf die rechte Seite. Hier konnte ich beliebig zur Straße ausweichen.
Ich nahm nicht wie sonst das Fahrrad. Unter die Füße nahm ich den Weg, Schritt für Schritt, frei sollten meine Blicke über Häuser und Menschen schweifen, über Orte und Erinnerungen. Im Rhythmus meines Körpers, allein mit der von mir selbst erzeugten Geschwindigkeit. Ich mochte meine Blicke nicht beschleunigen, nichts aus dem Augenwinkel betrachten: In den Blick fassen wollte ich. Festhalten. Allein auf mich gestellt. Meinen eigenen Blick, mein eigenes Tempo, mein eigener Transporteur. Keine Flüchtigkeit. Ich wollte Dauer. Festhalten und loslassen, wie es mir gefiel. Ich wollte nirgendwohin, nur ankommen da, von wo ich aufgebrochen war, Altstraße 2. Wollte mir einprägen, was da war und was da gewesen war. Da gewesen sein wird. Schreib auf, was du hörst und siehst. Schmecken, riechen, fühlen, hören und sehen nach meinem Maß.
Wie meine Westentasche, sagt man, wenn etwas sehr vertraut ist. Doch gehört man wirklich an einen Ort oder sogar zu einem Ort, so ist das mehr. Es ist, als habe man mit einem fühlenden und denkenden Wesen zusammengelebt. Eine Vertrautheit, wie sie in einer treuen Freundschaft, besser, Kameradschaft, reift. Denn das Dorf war ja nichts, was ich mir hatte aussuchen können wie einen Freund. Es war Kameradschaft. Wir hatten miteinander auskommen müssen. Durch dick und dünn.
So in Gedanken versunken, war ich schon ein gutes Stück die Dorfstraße hinaufgegangen. Ich kannte jedes Haus, und die Häuser kannten mich. Die von Jalousien wie mit schweren Lidern bedeckten Fenster glichen wissenden Augen, die ihre Neugier nicht allzu deutlich zeigen wollten. Was hatten sie nicht alles beobachtet in meinen Jahren, die mir plötzlich lang und abenteuerlich und verwegen vorkamen.